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Ich sah den alten Mann auf seiner Bahre,
Sein Haar war dünn und weiß, auf seiner Stirn
Die Spur von Sorgen vieler, vieler Jahre,
Von Sorgen, die zu End' nun und vergessen.
Und ringsum Trau'r aus Aller Antlitz schaut,
Des Weibes Thräne fiel und Kinder klagten laut.
Bryant.
Mit dem Vorrücken des Tages gerieth die Garnison von Boston in geschäftige Bewegung. Derselbe Lärm, dieselbe Thätigkeit, dasselbe kühne Benehmen auf der einen, und der nämliche furchtbare Widerstand auf der andern Seite zeigte sich wieder wie an jenem Schlachtmorgen im vergangenen Sommer. Der stolze Geist des königlichen Befehlshabers konnte nur mit Ingrimm die kühne Unternehmung der Kolonisten mitansehen, und in früher Stunde schon ergingen seine Befehle, dieselben aus ihrer Stellung zu vertreiben. Alle Kanonen, welche den Hügel erreichen konnten, wurden herbeigeschafft, um die Amerikaner zu belästigen, welche ruhig in ihrer Arbeit fortfuhren, während die Kugeln von allen Seiten an ihnen vorbeipfiffen. Gegen Abend wurde eine bedeutende Truppenmacht eingeschifft und nach dem Kastell geführt. Washington erschien in eigener Person auf den Höhen und immer deutlicher konnte man alle militärischen Anzeichen eines beabsichtigten entschlossenen Angriffs auf der einen und eines hartnäckigen Widerstands auf der andern Seite erkennen.
Doch die traurige Erfahrung von Breed's hatte eine Lehre gegeben, die noch wohl im Gedächtniß war. Dieselben Führer sollten auch bei der kommenden Scene die Hauptrolle übernehmen und es war nöthig, manche von den Ueberbleibseln der nämlichen Regimenter zu verwenden, welche bei der früheren Gelegenheit so stark geblutet hatten. Die halbgeübten Landleute aus den Kolonien wurden nicht länger verachtet und die kühnen Operationen des vergangenen Winters hatten die englischen Generale belehrt, daß in dem Maaße, als die Mannszucht unter ihren Feinden Fortschritte machte, ebenso auch in ihren Manövern eine kräftigere Führung der Massen zu bemerken war. Auf diese Art verstrich der Tag unter Vorkehrungen. Tausende von Männern in beiden Heeren schliefen diese Nacht unter den Waffen, mit der Erwartung vor sich, beim Erwachen am nächsten Morgen auf das Schlachtfeld geführt zu werden.
Nach der Langsamkeit ihrer Bewegungen ist es nicht unwahrscheinlich, daß der großen Mehrzahl der königlichen Streitkräfte die Dazwischenkunft der Vorsehung nicht schmerzlich fiel, welche ihnen jedenfalls Ströme von Blut und wohl gar die Schmach einer Niederlage ersparte. Einer jener plötzlichen, diesem Klima so eigenthümlichen Stürme erhob sich in der Nacht, Menschen und Vieh vor sich hertreibend, und Alle nöthigend, vor diesem mächtigen Kampfe der Elemente in ihrer Schwäche Schutz zu suchen. Die goldenen Augenblicke gingen verloren und nachdem er so viele Entbehrungen ertragen und so manches Leben umsonst geopfert hatte, traf der grimmige Howe endlich seine Vorkehrungen, um eine Stadt zu verlassen, über welche das englische Ministerium seit Jahren mit aller Bitterkeit und wie sich nun zeigte, auch mit der Unmacht blinder Rachsucht seinen Grimm ausgegossen hatte.
Diesen plötzlichen aber nothwendigen Entschluß in Vollzug zu setzen, war übrigens nicht das Werk einer Stunde. Da es jedoch der Wunsch der Amerikaner war, ihre Stadt so wenig als möglich beschädigt zurück zu erhalten, so unterließen sie es, den Vortheil weiter zu treiben, den sie durch Besetzung jener Höhen gewonnen hatten, welche den größten Theil des Ankerplatzes so wie eine neue und verwundbare Seite der Vertheidigungswerke der königlichen Armee beherrschten. Während man durch eine regellose, unmächtige Kanonade den Schein von Feindseligkeiten aufrecht zu erhalten sich bemühte, wobei aber das Feuer mit so wenig Eifer geleitet wurde, daß es den Anschein erhielt, als sollte es eine bloße Belustigung der Theilnehmenden zum Zwecke haben – war der eine Theil emsig mit den Vorbereitungen zum Abzug beschäftigt, während der andere unthätig den Augenblick erwartete, wo man wieder friedlich in den Besitz seines Eigenthums zu gelangen hoffte. Es ist unnöthig, den Leser zu erinnern, daß die vollkommene Beherrschung der See durch die Britten zudem noch jeden ernstlichen Versuch, ihre Bewegungen aufzuhalten, völlig unnütz gemacht haben würde.
Auf diese Art war eine Woche verflossen, nachdem der Sturm sich gelegt hatte – und während dieser ganzen Zeit zeigte der Platz all die Freude und Trauer, die ganze Eile und all' den Lärm, welche ein so unvorhergesehenes Ereigniß wohl hervorbringen mußte.
Gegen das Ende eines dieser geschäftigen, unruhigen Tage sah man einen kleinen Leichenzug aus einem Hause heraustreten, welches lange als die Wohnung einer der stolzesten Familie in der Provinz bekannt gewesen war. Ueber dem Außenthor des Hauses war eine Trauerfahne mit dem ›springenden Wild‹ von Lincoln aufgesteckt, umringt von den gewöhnlichen Symbolen der Sterblichkeit, in der Mitte das seltene Sinnbild der ›blutigen Hand‹. Dieses Zeichen heraldischer Trauer, das in den Provinzen nur bei dem Tode einer Person von hoher Wichtigkeit angewendet wurde – eine Sitte, die seitdem längst mit den Gebräuchen der Monarchie verschwunden ist – hatte die Blicke einiger müßigen Jungen auf sich gezogen, welche allein in diesem drängenden Augenblick in so weit unbeschäftigt waren, daß sie das Daseyn desselben bemerken konnten. Von diesen losen Gesellen allein begleitet, nahm der melancholische Zug seinen Weg nach dem benachbarten Kirchhofe der Königs-Kapelle.
Die breite Bahre war mit einem so weiten Leichentuche bedeckt, daß es beim Eintritt in das Innere der Kirche auf der steinernen Schwelle hinstreifte. Hier trat ihm der Geistliche entgegen, dessen wir schon bei mehr als einer Gelegenheit erwähnt haben und schaute mit einem Blicke besonderer Theilnahme auf den einzelnen, jugendlichen Leidtragenden, der dicht hinter dem Sarge in seiner Trauerkleidung folgte. Die Ceremonie nahm übrigens ihren Fortgang mit der gewöhnlichen Feierlichkeit, und das Gefolge bewegte sich langsam tiefer nach dem Innern des heiligen Gebäudes. Dem jungen Manne zunächst kamen die wohlbekannten Gestalten des kommandirenden Generals der Britten und seines schnell besonnenen begünstigten Lieutenants. Zwischen denselben ging ein Offizier von untergeordnetem Rang, der trotz seines verstümmelten Zustandes bei der Langsamkeit des Marsches im Stande gewesen war, die Ohren seiner Gefährten selbst bis zu dem Augenblick, wo sie mit dem Geistlichen zusammentrafen, durch eine Erzählung von nicht geringem Interesse und scheinbar großem Geheimniß an sich zu fesseln. Ihnen folgte der übrige Theil des Zugs, der nur aus der Suite der beiden Generale und einigen wenigen Dienern bestand, wozu wir etwa noch jene Müßiggänger hinzuzählen könnten, die sich neugierig hinter ihren Fußstapfen herein stahlen.
Als der Gottesdienst zu Ende war, wurde dieselbe geheime Unterredung zwischen den beiden Anführern und ihrem Gefährten wieder aufgenommen und fortgesetzt, bis sie an dem offenen Grabgewölbe in einem entfernten Winkel des Kirchhofs anlangten. Hier endete das leise Gespräch und Howe's Auge, das bis jetzt in tiefer Aufmerksamkeit auf den Sprecher geheftet gewesen, begann nach jenen gefährlichen Hügeln hinzuwandern, welche seine Feinde besetzt hatten. Diese Unterbrechung schien den Reiz der heimlichen Unterhaltung vernichtet zu haben, und die besorgten Mienen der beiden Führer verriethen, wie bald ihre Gedanken von der Erzählung eines großen Privatunglücks zu ihren eigenen schwereren Sorgen und Pflichten zurückgekehrt waren.
Der Sarg wurde vor der Oeffnung aufgestellt und die Gehülfen des Küsters traten vor, ihr Amt zu verrichten. Als das Bahrtuch weggezogen wurde, zeigten sich zwei Särge vor den sichtbar erstaunten Blicken der Zuschauer. Der Eine war mit schwarzem Sammt überkleidet, mit silbernen Nägeln beschlagen und in der reichsten Pracht menschlichen Stolzes geschmückt, während der Andere in der einfachen Nacktheit der hölzernen Hülle dalag. An der Vorderseite des Ersten erhob sich eine große Silberplatte, mit langer Inschrift und mit den gewöhnlichen heraldischen Devisen verziert; an dem Zweiten waren blos die beiden Anfangsbuchstaben J. P. auf den Deckel eingegraben.
Die ungeduldigen Blicke der englischen Generale gaben dem Dr. Liturgy zu verstehen, wie kostbar ihnen jeder Augenblick geworden sey, und in kürzerer Zeit, als wir zu unserer Beschreibung bedürfen, waren die Leichen des hochgebornen Mannes der Macht und seines namenlosen Gefährten in die Gruft gesenkt und an der Seite jenes Weibes, das im Leben für Beide eine so furchtbare Geißel gewesen war, der Verwesung überlassen. Nachdem sie aus Achtung für den jungen Leidtragenden noch einen kurzen Augenblick gezögert, entfernten sich die anwesenden Herrn alle zusammen von dem Orte der Trauer, da sie Lionel's Wunsch, zurückzubleiben, bemerkten; eine Ausnahme davon machte der schon erwähnte verstümmelte Offizier, welchen der Leser auf den ersten Blick als unsern Polwarth erkannt hat. Nachdem die Leute den Stein wieder über die Oeffnung der Gruft geschoben und ihn durch eine schwere eiserne Stange mit starkem Schlosse verwahrt hatten, übergaben sie den Schlüssel der Hauptperson bei dieser Handlung. Er empfing ihn schweigend, drückte ihnen Gold in die Hand und winkte ihnen zu gehen.
Im nächsten Augenblick hätte ein oberflächlicher Beobachter glauben können, Lionel und sein Freund seyen die einzigen lebenden Besitzer des Kirchhofs gewesen. Aber unter der anstoßenden Mauer, zum Theil durch die zahlreichen Ecksteine der Beobachtung entzogen, sah man die Gestalt eines tief zur Erde gebeugten Weibes, deren Körper durch den Mantel, den sie nachläßig um sich geschlagen hatte, nothdürftig verhüllt war. Sobald die beiden Herrn sich allein sahen, traten sie diesem trostlosen Wesen langsam näher.
Ihre nahenden Fußtritte blieben nicht unbemerkt; doch statt diejenigen anzusehen, die so augenscheinlich sie anzureden wünschten, drehte sie sich nach der Mauer und begann, sich selbst unbewußt, mit dem Finger die Buchstaben einer Schiefertafel nachzuzeichnen, welche in das Mauerwerk eingefügt war, um die Lage von der Gruft der Lechmeres anzudeuten.
»Wir können nicht mehr thun,« sagte der junge Leidtragende: – »alles Uebrige ist nun einer Macht anheim gegeben, welche gewaltiger ist, als irgend eine auf Erden.«
Die schmutzige Hand, die unter dem rothen Gewande hervorsah, zitterte, fuhr aber in ihrer sinnlosen Beschäftigung immer noch fort.
»Sir Lionel Lincoln spricht mit Euch,« sagte Polwarth, auf dessen Arm der jugendliche Baronet sich lehnte.
»Wer!« schrie Abigail, indem sie ihre Hülle von sich warf, so daß ihre eingesunkenen Züge deutlich hervortraten, auf denen das Elend in wenigen Tagen neue furchtbare Verheerungen angerichtet hatte: – »ich hatte vergessen – ich hatte vergessen! der Sohn folgt dem Vater: aber auch die Mutter muß ihrem Kinde in's Grab folgen!«
»Er ist ehrenvoll beerdigt mit Denen von seinem Geblüt und neben dem Manne, der seine einfache Unschuld liebte!«
»Ja, er wohnt besser im Tode als früher im Leben! Gott sey Dank! er kann nie mehr Kälte noch Hunger erdulden!«
»Ihr werdet finden, daß ich für Eure künftige Bequemlichkeit Vorsorge getroffen und ich hoffe, daß das Ende Eures Lebens glücklicher als dessen Frühling seyn wird.«
»Ich bin allein,« sprach das Weib mit wildem Tone, »das Alter wird mich meiden und die Jugend wird mit Verachtung auf mich blicken! Meineid und Rache lasten schwer auf meiner Seele!«
Der junge Baronet schwieg; aber Polwarth nahm sich das Recht, zu antworten:
»Ich will nicht zu läugnen wagen,« fing der würdige Kapitän an, »daß Beides sehr traurige Gefährten sind; aber ich zweifle nicht daran, daß Ihr irgendwo in der Bibel einen passenden Trost für jedes besondere Verbrechen finden werdet. Laßt mich Euch eine herzhafte Diät anempfehlen und ich stehe Euch dann für ein gutes Gewissen. Ich habe nie gefunden, daß diese Vorschrift je fehlgeschlagen hätte. Schaut Euch um in der Welt – fühlt je ein wohlgenährter Bösewicht Gewissensbisse? Nein; nur dann, wenn sein Magen leer ist, fängt er an, über seine Fehler nachzudenken! Ich möchte Euch sogar als Mittel rathen, daß Ihr bald mit etwas Nahrhaftem anfanget, denn für jetzt zeigt Ihr durchaus viel zu viel Knochen, um auf einen gedeihlichen Zustand schließen zu lassen. Ich möchte Euch wahrlich nichts Betrübendes sagen, aber wir Beide könnten uns eines Falls erinnern, wo die Nahrung zu spät kam.«
»Ja, ja, sie kam zu spät!« murmelte das innerlich betroffene Weib: – »Alles kommt zu spät! selbst die Reue, fürcht' ich!«
»Sprecht nicht so,« bemerkte Lionel: »Ihr versündigt Euch gegen die Verheißungen Dessen, der nie falsch gesprochen hat.«
Abigail warf einen furchtsamen verstohlenen Blick auf ihn, der die geheime Angst ihrer Seele ausdrückte, während sie halblaut wisperte:
»Wer war Zeuge von dem Ende der Mrs. Lechmere? Schied ihr Geist in Frieden?«
Sir Lionel verharrte abermals in tiefem Stillschweigen.
»Ich dachte es;« fuhr sie fort, – »'s war keine Sünde, die auf dem Todtbette vergessen bleiben konnte! Uebles zu sinnen und Gott laut anzurufen, daß er darauf schaue! Ach! und ein Gehirn zum Wahnsinn zu treiben und eine Seele, wie seine, bis zur Nacktheit auszuziehen! Geht,« fuhr sie fort und winkte ihnen mit Ernst hinweg – »Ihr seyd jung und glücklich; warum solltet ihr noch in der Nähe des Grabes verweilen? Verlaßt mich, daß ich unter den Gräbern beten kann! Wenn noch etwas den bittern Augenblick zu versüßen vermag, so ist's das Gebet.«
Lionel ließ den Schlüssel, den er in der Hand hielt, zu ihren Füßen fallen und sagte, ehe er sie verließ:
»Jene Gruft ist geschlossen für immer, wenn sie nicht noch einmal in künftiger Zeit auf Euer Verlangen geöffnet wird, um Euch an der Seite Eures Sohnes nieder zu legen. Die Kinder Derer, welche sie bauten, sind alle hier versammelt, mit Ausnahme von zweien, welche nach der andern Halbkugel ziehen werden, um ihre Gebeine dort beerdigen zu lassen. Nehmt ihn und möge der Himmel Euch vergeben, so wie ich vergebe.«
Er ließ eine schwere Börse neben dem Schlüssel niederfallen und ohne weiter ein Wort zu reden, nahm er wieder Polwarth's Arm und beide verließen zusammen den Ort.
Als sie durch den Thorweg in die Straße einbogen, warf jeder einen verstohlenen Blick nach dem entfernten Weibe. Sie hatte sich auf ihre Knie emporgerichtet, ihre Hände hatten einen Eckstein erfaßt und ihr Gesicht war fast bis zur Erde herabgebeugt, während an dem Zittern ihrer Gestalt und ihrer demuthsvollen Haltung deutlich zu sehen war, daß ihr Geist mit dem Herrn mächtig um Gnade rang.
Drei Tage nachher traten die triumphirenden Amerikaner in die weichenden Fußstapfen der königlichen Armee. Die Ersten unter Denen, welche nach den Gräbern ihrer Vätern eilten, fanden den Leichnam eines Weibes, das, dem Anschein nach, in der Strenge der Jahreszeit den Tod gefunden hatte. Sie hatte, in dem vergeblichen Bemühen, ihr Kind zu erreichen, das Gewölbe aufgeschlossen, doch hier hatte ihre Stärke sie verlassen. Ihre Glieder waren sittsam auf dem welken Grase ausgestreckt; ihre Züge waren ruhig und zeigten im Tode die sanften Spuren jener auffallenden Schönheit, welche ihre Jugend ausgezeichnet, aber auch verrathen hatte. Das Gold lag noch unberührt an der Stelle, wo es niedergefallen.
Die erstaunten Städter, diesen schreckenvollen Anblick meidend, eilten zu anderen Orten, um nach den Veränderungen und der Zerstörung in ihrer geliebten Geburtsstadt zu schauen. Aber ein Nachzügler der königlichen Armee, der des Plünderns halber zurückgeblieben und bei der Unterredung der beiden Offiziere mit Abigail zugegen gewesen war, folgte ihnen kurz nachher. Er hob den Stein, senkte den Leichnam hinab und verschloß das Grab; dann warf er den Schlüssel weit weg, hob das vernachläßigte Gold auf und verschwand.
Der Schiefer ist längst an der Mauer verwittert, der Rasen hat den Stein bedeckt, und nur noch Wenige sind übrig, welche die Stelle bezeichnen können, wo die Familien der Lechmere und Lincoln gewohnt waren, ihre Todten zu beerdigen.
Sir Lionel und Polwarth schritten im tiefsten Stillschweigen nach der langen Werfte, wo ein Boot sie aufnahm. Sie wurden nach der vielbewunderten Fregatte hingerudert, die zum Auslaufen bereit unter leichtem Segel dalag, um ihre Ankunft noch zu erwarten. Auf dem Verdeck trafen sie Agnes Danforth, die Augen sanft in Thränen schwimmend, obgleich eine tiefe Röthe ihre Wangen bedeckte, als sie den gezwungenen Abzug der Fremdlinge mit ansah, welche sie nie geliebt hatte.
»Ich bin blos geblieben, Ihnen den Abschiedskuß zu geben, Cousin Lionel,« sagte das freimüthige Mädchen, indem sie ihn zärtlich begrüßte, »und nun lassen Sie mich Ihnen Lebewohl sagen, ohne die Wünsche zu wiederholen, die, wie Sie wissen, in meinen Gebeten für Sie laut werden.«
»So wollen Sie uns verlassen?« sagte der junge Baronet, der jetzt zum Erstenmal seit langer Zeit wieder lächelte. »Sie wissen, daß diese Grausamkeit –«
Er wurde durch ein lautes Husten Polwarth's unterbrochen, der sich näherte, und die Hand der Dame ergreifend, seinen Wunsch, sie für immer zurückzuhalten, wenigstens zum fünfzigsten Mal wiederholte. Sie hörte ihn schweigend und anscheinend mit vielem Respekt, obwohl ein Lächeln sich über ihre Ernsthaftigkeit hinstahl, noch ehe er geendet hatte. Sie dankte ihm sodann mit geziemender Artigkeit und sprach ein letztes, entscheidendes Nein. Der Kapitän empfing seinen Korb wie ein Mann, dem schon öfter Aehnliches widerfahren, und lieh dem eigensinnigen Mädchen höflich seinen Beistand, um sie in das bereit stehende Boot zu heben. Hier wurde sie von einem jungen Mann in der Uniform eines amerikanischen Offiziers empfangen. Sir Lionel glaubte zu bemerken, wie die Röthe ihrer Wangen sich noch erhöhte, als ihr Begleiter ihre Gestalt sorgfältig in einen Mantel hüllte, um sie vor dem Einflusse der Seeluft zu schützen. Statt nach der Stadt zurückzukehren, steuerte das Boot, das eine Flagge trug, geradeswegs nach dem von den Amerikanern besetzten Ufer. Die nächste Woche vermählte sich Agnes mit diesem Herrn im Schooße ihrer eigenen Familie. Sie nahmen bald darauf ruhigen Besitz von dem Hause in der Tremontstraße und von dem ganzen bedeutenden Vermögen der Mrs. Lechmere, welches ihr zum Voraus von Cäcilien als Brautgabe geschenkt worden war.
Sobald sämmtliche Passagiere am Bord waren, setzte sich der Kapitän der Fregatte durch Signale mit seinem Admiral in Einverständniß und erhielt als Erwiederung den erwarteten Befehl, zur Vollziehung seines Auftrags zu schreiten. In wenigen Minuten glitt das rasche Fahrzeug an den Höhen von Dorchester vorüber, indem es seine Kanonen nach den gegenüberliegenden Hügeln abfeuerte und im Vorüberfahren eiligst seine Segel entfaltete. Die Amerikaner indeß blickten schweigend darauf nieder und ließen es unbelästigt den Ocean gewinnen, wo es mit der wichtigen Nachricht von der beabsichtigten Räumung in möglichster Schnelle nach England segelte.
Ihm folgte in Kurzem die übrige Flotte und seit dieser Zeit wurde die lang unterdrückte, unglückliche Stadt Boston nie mehr von einem bewaffneten Feinde heimgesucht.
Während ihrer Ueberfahrt nach England fand Lionel und seine edle Gefährtin gehörige Muße, über Alles, was ihnen begegnet war, nachzudenken. Vereint und im vollsten Vertrauen, verfolgten sie die Abschweifungen des Verstandes, welche den irren Vater so eng und geheimnißvoll an sein schwaches Kind gefesselt hatten, und indem sie mit ihrem Nachsinnen in die geheimen Quellen seiner krankhaften Eingebungen einzudringen sich bemühten, waren sie leicht im Stande, die Vorfälle, die wir im Vorliegenden zu schildern versucht haben, aller Dunkelheit und jedes Zweifels zu entkleiden.
Der Irrenwärter, der dem flüchtigen Wahnsinnigen nachgesendet worden, kehrte nie wieder in sein Geburtsland zurück. Keine Anerbietungen von Verzeihung konnten den unvorsätzlichen Urheber des Todes, der den Baronet getroffen, dazu vermögen, seine Person noch einmal der Macht des englischen Gesetzes anzuvertrauen. Vielleicht war er sich eines Beweggrundes bewußt, den Niemand, als ein innerer Mahner entdecken konnte. Lionel, der erfolglosen Bemühungen endlich müde, gab Agnesen's Gemahl den Auftrag, denselben in eine Lage zu versetzen, wo er durch Fleiß sein künftiges Auskommen reichlich gewinnen konnte.
Polwarth starb erst sehr spät. Trotz seines verstümmelten Beines gelang es ihm mit Hülfe seines Freundes, die Leiter der Beförderung durch regelmäßiges Vorrücken fast bis zu ihrem Gipfel zu ersteigen. Am Schlusse seines langen Lebens schrieb er Gen. Bart. und M. P.General, Baronet und Parlamentsmitglied. A. d. U. hinter seinen Namen. Als England von dem Einfalle der Franzosen bedroht war, zeichnete sich die Garnison, welche er befehligte, dadurch aus, daß sie besser als jede andere im Königreich verproviantirt war, und es ist kein Zweifel, daß sie nöthigenfalls einen ihren Hülfsquellen entsprechenden Widerstand geleistet haben würde. Im Parlament, worin er für einen von Lincoln's Flecken saß, zeichnete er sich besonders durch die Geduld aus, mit welcher er den Debatten zuhörte, und durch die besondere Herzlichkeit seines ›Ja‹ bei jedem Votum für Beisteuer, das er abzugeben hatte. Bis zum Tage seines Todes blieb er ein standhafter Verfechter der Vorzüge einer reichlichen Diät, in allen Fällen physischen Leidens, ›besonders‹, wie er mit unnachgiebiger Hartnäckigkeit hinzuzusetzen pflegte, ›in Fällen der Schwäche von fieberischen Symptomen her.‹
Ein Jahr nach ihrer Ankunft starb Cäcilien's Oheim, nachdem er kurz zuvor seinen einzigen Sohn zu Grab getragen hatte. Durch dieses unvorhergesehene Ereigniß wurde Lady Lincoln die Erbin seiner großen Reichthümer, sowie einer alten Baronie, die ohne Unterschied des Geschlechts dem nächsten Erben zufiel. Von dieser Zeit bis zum Ausbruch der französischen Revolution lebten Sir Lionel Lincoln und Lady Cardonnel, wie Cäcilie nun genannt wurde, im süßesten Einverständniß mit einander; der sanfte Einfluß ihrer Liebe milderte und lenkte nach Belieben das fieberische Temperament ihres Gemahls. Das Erbstück der Familie, jene so oft erwähnte krankhafte Reizbarkeit, wurde in dem gleichmäßigen Laufe ihres Glücks vergessen. Zur Zeit, als der härteste Druck auf die brittische Constitution befürchtet wurde, und die Minister in ihrer Politik den Grundsatz befolgten, den ganzen Reichthum und alle Talente der Nation zu ihrem Beistand zu versammeln, um die bestehende Administration zu stützen, erhielt der reiche Baronet eine Peerschaft für sich und seine Familie. Vor dem Schluß des Jahrhunderts wurde er noch weiter zu dem Rang eines Grafen befördert, dessen erloschener Name in früheren Zeiten eine der Würden des älteren Zweigs seiner Familie gebildet hatte.
Von all' den Hauptpersonen in der vorhergehenden Erzählung ist nicht eine mehr am Leben. Selbst Cäcilien's und Agnesen's Rosen haben lange seitdem aufgehört zu blühen, und der Tod hat sie in Frieden und Unschuld zu all' den Vorangegangenen versammelt. Die historischen Fakta unserer Erzählung fangen an durch die Länge der Zeit dunkel zu werden, und es ist mehr als wahrscheinlich, daß der glückliche und überreiche englische Peer, der sich jetzt das Haupt des Hauses Lincoln nennt, nie etwas von der geheimen Geschichte seiner Familie erfuhr, so lange ihr Wohnort in einer entfernten Provinz des brittischen Reiches gewesen war.