Joseph Conrad
Spiel des Zufalls
Joseph Conrad

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VI
Eine mondlose Nacht, der Himmel voller Sterne, tiefes Dunkel über dem Wasser

»Im Meßraum fand Powell Herrn Franklin, der an einem Stück kalten Salzfleisch mit dem Tischmesser herumsäbelte. Er war feuerrot im Gesicht, rollte die Augen vor Anstrengung und erklärte, das Vorlegemesser, das zur Einrichtung der Messe gehörte, sei nirgends zu finden. Der gleichfalls anwesende Steward beschuldigte aufgeregt den Koch. Der Bursche schleppe alles in seine Kombüse und verliere es dann. Herr Franklin versuchte ihn mit ernster Eindringlichkeit zu besänftigen.

›Genug davon. Genug. Wir, die wir nun alle die Jahre zusammen auf dem Schiff waren, haben doch wahrhaftig anderes zu tun, als untereinander Händel zu beginnen.‹

Herr Powell dachte verzweifelt: ›Nun fängt er wieder an.‹ Denn diese Eröffnung hatte für ihn keine Geheimnisse mehr. Er wunderte sich auch nicht, daß er den Ersten das gewohnte Lied anstimmen hörte, sobald sich der Steward übellaunig zurückgezogen hatte. An diesem Morgen hatte das Kreuzmarssegel-Drehreep nachgegeben (wohl infolge eines schadhaften Gliedes), und etwa fünfzehn Meter Kette und Drahtseil, zugleich mit ein paar schweren Eisenblöcken, waren mit ungeheurem Krach von oben auf die Hütte herabgepoltert.

›Haben Sie dabei den Kapitän beobachtet, Herr Powell? Ja?‹

Powell gab aufrichtig zu, daß er selbst viel zu erschreckt gewesen sei, als das ganze Zeug heruntergekommen war, um sonst noch etwas beachten zu können.

›Der Flaschenzug ging ihm haarscharf am Kopf vorbei‹, fuhr der Erste erschüttert fort. ›Keine Spanne weit weg. Und was tat er? Schrie er vielleicht oder sprang beiseite oder sah auch nur hinauf, ob nicht die ganze Takelung in tausend Stücken auf uns herunterregnen würde? Es ist ohnedies ein Wunder, daß es nicht so kam. – Nein, er machte einfach kurz halt, ohne Staunen zu zeigen; er muß den Luftzug gespürt haben, während der eiserne Flaschenzug an seinem Gesicht vorbeiflog. – Nun sah er nur darauf hinunter, wie das Ding zu seinen Füßen lag – und ging wieder weiter. Ich glaube, er zuckte mit keiner Wimper. Das ist nicht mehr natürlich. Der Mann ist wie betäubt.‹

Er seufzte lächerlich auf, und Herr Powell suchte eben ein Grinsen zu unterdrücken, als der Erste, scheinbar am Rande seiner Beherrschung, hinzufügte: ›Nächstens wird er zu trinken anfangen. Merken Sie auf meine Worte! Das ist das Nächste.‹

Herr Powell fühlte sich abgestoßen.

›Sie haben den Kapitän so gerne und scheinen doch gar nicht zu bedenken, was Sie über ihn reden. Ich bin nicht sieben Jahre mit ihm zusammengewesen, aber ich weiß, daß er nicht der Mann ist, der etwa zu trinken anfangen könnte. Und dann – warum zum Teufel sollte er es tun?‹

›Warum zum Teufel, fragen Sie? Teufel – wie? Nun, kein Mensch ist vor dem Teufel sicher – und das muß Ihnen als Antwort genügen‹, keuchte Herr Franklin nicht unfreundlich. ›Einmal – es ist schon lange her – hätte ich beinahe selbst zu trinken angefangen. Was sagen Sie dazu?‹

Herr Powell zeigte eine höfliche Ungläubigkeit. Der stämmige, schlagflüssige Erste sah aus, als wollte er vor Verzweiflung bersten. ›Bei mir machte es das schlechte Beispiel. Ich war jung und kam in gefährliche Gesellschaft, benahm mich wie ein Esel – jawohl, so wahr Sie mich hier sitzen sehen, – und trank, um zu vergessen. Hielt es für eine richtige Wohltat.‹

Powell sah den grotesken Franklin mit wachsender Anteilnahme an und mit dem halb belustigten Mitgefühl, das ungebetene Geständnisse von Leuten in uns erwecken, mit denen wir uns innerlich nicht verwandt fühlen. Zugleich begann er ihn auch ernsthafter zu betrachten. Die Erfahrung hat ihren Reiz. Der Erste Offizier fuhr fort:

›Wäre meine alte Dame nicht gewesen, so wäre ich wohl zum Teufel gegangen. Aber ich dachte rechtzeitig an sie. Es gibt nichts besseres als die Sorge um eine alte Dame, um einen zur Besinnung und dazu zu bringen, den Dingen ins Gesicht zu sehen. Aber wie es eben das Pech will, lebt Kapitän Anthonys Mutter nicht mehr. Er hat, soviel ich weiß, nicht eine Seele, zu der er gehört. Oder doch ja, ich glaube, er sagte einmal etwas von einer Schwester. Aber die ist verheiratet. Sie braucht ihn nicht. Ja. In den alten Zeiten pflegte er mit mir zu sprechen, als wären wir Brüder‹, prahlte der Erste wehmütig. ›Franklin‹, sagte er dann wohl – ›das Schiff ist mein nächster Verwandter, und es sieht mir nicht aus, als sollte es sich gegen mich kehren. Und ich nehme an, Sie sind der Mann, den ich in dieser Welt am längsten kenne.‹ So pflegte er mit mir zu reden. Kann ich ihm den Rücken drehen? Nun hat er seinem Schiff den Rücken gedreht; so weit ist es gekommen. Nun hat er niemanden als seinen alten Franklin. Aber was kann einer denn tun, um die Dinge wieder so zu machen, wie sie waren und sein sollten. Sein sollten, sage ich!‹

Der Blick seiner hervorquellenden Augen war furchtbar starr. Herr Powell hatte den unwiderstehlichen Eindruck: ›Er sieht aus wie ein trauriger, gekochter Hummer‹, fühlte aber gleich darauf einen gewissen Ärger aufsteigen. ›Großer Gott,‹ sagte er, ›Sie wollen doch nicht etwa im Ernst sagen, daß Kapitän Anthony in schlechte Gesellschaft geraten ist? Wovor wollen Sie ihn denn retten?‹

›Gerade das meine ich‹, versicherte der Erste, und die handgreifliche Torheit machte die Behauptung eindrucksvoll, – weil sie so verwegen schien. ›Nun, Sie haben eine eiserne Stirne‹, sagte Jung Powell und fühlte sich innerlich hilflos. ›Ich denke mir, der Kapitän würde Sie halbtot schlagen, wenn er wüßte, wie Sie sich auslassen.‹

›Und es sollte mir recht sein‹, stieß der glühend ergebene Franklin hervor. ›Mag er es doch tun, wenn er nur hinterher das Schiff säubern wollte von . . . Sie sind ja nur ein Jungmann und können von mir aus hingehen und ihm erzählen, was Sie wollen. Mag er doch seinem alten Franklin erst die Seele aus dem Leibe boxen und hinterher darüber nachdenken! Mir soll alles recht sein, wenn ich ihn nur zu sich selbst bringe. Aber so etwas tun ja Sie natürlich nicht. Sie sind schon recht. Nur haben Sie noch nicht begriffen, daß die Dinge mitunter ganz anders sind, als sie aussehen. Es gibt Freundschaften, die keine sind, und Ehen, die keine sind . . . Puh! Schien alles in Ordnung – Nicht? Nicht die leiseste Andeutung mir gegenüber. Ich gehe auf Urlaub, und als ich zurückkomme, da ist alles vorbei. Unwiderruflich! Kein Wort zuvor. Keine Warnung. Nicht einmal ein ›Wie denken Sie darüber, Franklin?‹ oder sonst etwas der Art. Und das ist der Mann, der früher kaum etwas tat, ohne meinen Rat einzuholen. Was denn! Er konnte nicht einmal einen neuen Rock vom Schneider übernehmen, ohne – Sobald der Kerl mit ein paar neuen Kleidern an Bord kam, ob nun in London oder in China, da war immer das erste: ›Herr Franklin soll in die Kajüte kommen. Geben Sie's weiter.‹ Und ich also in die Kajüte. ›Sehen Sie doch einmal meinen Rücken an, Franklin! Sitzt alles gut, ja?‹ Und ich darauf: ›Erstklassig, Herr‹, oder was eben sonst die Wahrheit war. Das oder sonst etwas. Immer die Wahrheit. Immer. Und er wußte es gut; und darum wagte er diesmal nicht offen zu reden. Er redete von Handwerkern, von Veränderungen in der Kabine. Puh . . . Anstatt mir kerzengerade zu sagen: ›Wünschen Sie mir Glück, Herr Franklin!‹ Das wäre der rechte Weg gewesen, um es mich wissen zu lassen. Gott allein mag wissen, was die beiden sind. Vielleicht ist sie ebensogut seine Tochter wie . . . Sie sieht dem alten Knaben nicht ähnlich. Kein bißchen. Kein bißchen. Es ist ganz schrecklich. Sie mögen wohl den Mund aufreißen, junger Mann, aber um Gottes willen, da Sie sich nun einmal mit den Leuten eingelassen haben, halten Sie Augen und Ohren offen für den Fall . . . für den Fall, daß . . . Ich weiß nicht was. Irgend etwas. Man könnte sich wohl fragen, was hier auf See geschehen sollte! Nichts! Und doch – wenn ein Mann hinter dem Rücken Gefängniswärter genannt wird . . .

Herr Franklin barg einen Augenblick lang sein Gesicht in den Händen und Powell schloß den Mund, der tatsächlich offen gestanden war. Er schlich sich lautlos aus der Messe hinaus. ›Der Erste ist verrückt‹, dachte er. Es war seine feste Überzeugung. Trotzdem fühlte er an diesem Abend seine innere Ruhe zumindest durch die Kraft und Beharrlichkeit dieser Verrücktheit beeinträchtigt. Er konnte sie nicht mit der Verachtung zurückweisen, die sie verdiente. War das Wort ›Gefängniswärter‹ wirklich ausgesprochen worden? Merkwürdig genug, daß der Erste sich auch nur einbilden sollte, ein solches Wort gehört zu haben! Ein sinnloses, unwahrscheinliches Wort! Und doch bot es seinem Grübeln etwas wie einen Ruhepunkt, gerade weil es in dem zusammenhanglosen Gejammer des anderen die einzige klare und feste Behauptung darstellte. Powell dachte darüber immer noch nach, als er um acht Uhr abends hinaufkam, um die Wache zu übernehmen. Es war eine mondlose Nacht, der Himmel voller Sterne, tiefes Dunkel über dem Wasser. Eine stetige Westbrise ließ die Segel oben vollstehen. Franklin musterte beide Wachen mit halblauter Stimme, wie zu einem Begräbnis, und näherte sich dann Powell:

›Der Kurs ist Ostsüdost!‹

›Ostsüdost, Herr.‹

›Alle Segel gesetzt, Herr Powell.‹

›Ist recht, Herr.‹

Der andere zögerte ein wenig, seine gefühlvollen Augen glitzerten silbern in dem beschatteten Gesicht. ›Eine ruhige Nacht vor uns. Ich wüßte nicht, daß es besondere Befehle gäbe. Eine ereignislose, ruhige Nacht. Ich nehme an, daß Sie den Kapitän wohl nicht zu sehen bekommen werden. Früher einmal pflegte er gerade während dieser Wache heraufzukommen und einen Plausch mit dem von uns anzufangen, der dann eben auf Deck war. Aber jetzt sitzt er in der verdammten Sternkajüte und grübelt. Gefängniswärter, wie?‹

Herr Powell ging ein paar Schritte von dem Ersten weg und sagte in gehöriger Entfernung ein herzhaftes ›Verdammt!‹ vor sich hin. Es war niederträchtig langweilig, hatte aufgehört, lustig zu sein. Das feindselige Wort ›Gefängniswärter‹ hatte der ganzen Sachlage einen Anschein von Wirklichkeit gegeben.

 

Franklins groteske sterbliche Hülle war vom Hüttendeck verschwunden, um die verdiente Ruhe zu suchen, wenn die betrübte Seele es dazu kommen lassen würde. Herr Powell, ein wenig traurig für den dicken, kleinen Mann, fragte sich zweifelnd, ob er zur Ruhe kommen würde. Für sich selbst mußte er feststellen, daß der Zauber einer ruhigen Nachtwache auf Deck, wobei man seine Gedanken durch Raum und Zeit wandern lassen kann, rettungslos verdorben worden war. Was ihm am meisten zu Herzen gegangen war, das war die ziemlich offene Andeutung, daß man Frau Anthony für mitschuldig hielt. Es ärgerte ihn. Nach seinen eigenen Worten mir gegenüber fühlte er für Frau Anthony eine rechte ›Schwärmerei‹. Schwärmerei ist gut; ganz besonders deswegen, weil er mir nicht genau erklären konnte, was er damit meinte. Aber er fühlte eine Schwärmerei, sagte er. Der dumme Franklin mußte wohl geträumt haben. Das war es! Er hatte alles geträumt. Esel. Und doch gesellte sich in Powells Kopf zu dem Schimpfnamen die Vorstellung von Gefängnis und Flucht. Es wurde ihm sehr unbehaglich. Und gerade da (es mochte eine halbe Stunde oder länger her sein, daß er Franklin abgelöst hatte), gerade da kam Herr Smith allein auf die Hütte herauf wie ein gleitender Schatten und lehnte sich neben ihn an die Reling. Jung Powell empfand seine Gegenwart unangenehm. Er schickte sich an, wegzugehen, aber der andere begann zu sprechen – und Powell blieb, wo er war, als würde er durch eine geheimnisvolle Kraft zurückgehalten. Das Gespräch, das Herr Smith begann, hatte nichts Bemerkenswertes. Er begann über die Postdampfer im allgemeinen zu sprechen und schien ziemlich angelegentlich herausbringen zu wollen, welchen Dienst es wohl von Port Elizabeth nach London gäbe. Herr Powell wußte es nicht bestimmt, glaubte aber, es müßte mindestens zweimal im Monat Verbindung mit England geben. ›Denken Sie daran, uns zu verlassen, Herr? Mit dem Dampfer heimzufahren? Vielleicht mit Frau Anthony?‹ fragte er ängstlich.

›Nein, nein, wie könnte ich das!‹ Herr Smith wurde völlig aufgeregt, für seine Verhältnisse heißt das, was nicht viel sagen wollte. Er habe nur gefragt, um etwas zu reden zu haben. Kein Gedanke an Heimfahren. Man könnte nicht immer tun, was man gerne möchte, und darum schämte man sich in gewissen Augenblicken des Lebens. Das sollte nicht heißen, daß man nicht weiterzuleben wünschte, o nein!

Er sprach achtlos, langsam, mit häufigen Pausen und so leise, daß Powell sich anstrengen mußte, um die Sätze aufzufangen, die sozusagen ins Meer fielen. Tatsächlich schienen sie die Mühe nicht zu lohnen. Es war das ziellose Gerede eines Menschen, der insgeheim einer Gedankenfolge nachhängt, weit entfernt von den müßigen Worten, die wir so oft äußern, um mit unseren Mitmenschen in Fühlung zu bleiben. Eine Stunde verging. Es schien, als könnte sich Herr Smith nicht entschließen, hinunterzugehen. Er wiederholte sich. Wieder sprach er von einem Leben, dessen man sich schämen müßte. Mit einem solchen Leben müsse man sich abfinden, solange es keinen Ausweg gäbe, keine mögliche Lösung. Er fing sogar nochmals von dem Dampferdienst an der afrikanischen Ostküste an, und Jung Powell mußte ihm nochmals sagen, daß er nichts davon wüßte.

›Alle vierzehn Tage, haben Sie doch gesagt, dächte ich‹, beharrte Herr Smith. Er regte sich, schien sich mit Mühe von der Reling zu lösen. Seine lange, dürre Gestalt wuchs zu hölzerner Geradheit und schien Feindseligkeit zu atmen, gegen den milden Frieden der Luft, des Himmels und der See ringsum; er sandte ein leises Murmeln in die Nacht hinaus, in dem Herr Powell das Wort ›abscheulich‹, dreimal wiederholt, zu verstehen glaubte, das aber bald in die etwas lautere Feststellung überging: ›Der Augenblick ist gekommen – zu Bett zu gehen.‹ Ein kaum hörbarer Seufzer folgte.

›Ich schlafe sehr gut‹, fügte Herr Smith in seiner gedämpften Sprechweise hinzu. ›Aber der Augenblick, in dem man auf See die Augen aufschlägt, der ist so fürchterlich. Diese Tage! Oh, diese Tage! Ich wundere mich, wie irgend jemand imstande ist . . .

›Ich liebe das Leben‹, bemerkte Herr Powell.

›Oh, Sie! Sie haben nur an sich selbst zu denken. Sie haben sich Ihren Platz geschaffen. Nun, es ist sehr angenehm, zu fühlen, daß Sie freundlich gegen uns sind. Meine Tochter hat geradezu eine Vorliebe für Sie gefaßt, Herr Powell!‹

Er murmelte gute Nacht und glitt davon. Jung Powell fragte sich, leicht angewidert, nach dem Sinn des ganzen Geredes. Kein anderer als der groteske Franklin hatte ihn schließlich zu dieser Zweifelsucht gebracht. Mißtrauen war ihm nicht angeboren. Und er blieb sorgfältig darauf bedacht, in seinen Gedanken Frau Anthony von diesem Mann der rätselhaften Worte, ihrem Vater, getrennt zu halten. Gleich darauf stellte er fest, daß der Lichtschein aus den zwei Stückpfortenklappen von Herrn Smiths Schlafraum erloschen war. Der alte Herr war erstaunlich rasch zu Bett gegangen. Kurz nachher ging auch die Lampe unter dem vorderen Deckfenster des Salons aus; und das war das Zeichen, daß der Steward das Geschirr abgeräumt und sich für die Nacht zurückgezogen hatte.

Jung Powell hatte mitten im tiefen Dunkel der Nacht, das über seinem Kopf durch die Sterne, unten aber nur durch die wenigen Schiffslichter unterbrochen war, das regelmäßige Hin und Her des wachhabenden Offiziers aufgenommen. Die Lampen unter dem achteren Deckfenster brannten die ganze Nacht hindurch. Weit achtern fiel der Lichtschein aus den beiden Sternkajüten über die See; er sah ihn, sooft er in die Richtung ging. Die Messingbeschläge der Reling blitzten auf, und die schwacherleuchtete Gestalt des Mannes am Ruder zeichnete sich wie in phosphoreszierenden Umrissen gegen den schwarzen, sternenflimmernden Hintergrund des Horizonts ab.

In der Stille des Schiffs, die durch die völlige Stille der weiten See ringsum noch vertieft zu werden schien, sagte sich Powell, daß etwas Geheimnisvolles in Leuten wie Franklin sei, und sogar in Leuten wie er selbst. Das war natürlich ein merkwürdiger und fast unnatürlicher Gedanke für den wachhabenden Offizier eines Schiffs auf hoher See, und mochte die Nacht auch noch so ruhig sein. Warum in aller Welt zerbrach er sich nur den Kopf darüber? Warum konnte er nicht alle die Leute einfach vergessen? Es sah aus, als hätte ihn der Erste mit seiner eigenen krankhaften Ergebenheit angesteckt. Er hätte es nie für möglich gehalten, daß er je so närrisch sein würde. Aber das war er – ganz offenbar. Er war närrisch, in einer Art, die er nie vorausgesehen hatte. Als er in seiner Selbstzergliederung fortfuhr, entdeckte er, daß die Triebfedern seiner Handlungsweise gleichfalls im Dunklen lagen.

›Ich kann mich immer wieder dabei ertappen, daß ich Dinge tue, von denen ich keine Vorstellung habe‹, dachte er. Und während er am Besanmast vorbeiging, sah er eine Taurolle auf Deck liegen, die beim Aufräumen übersehen worden war. In einer durchaus nicht geheimnisvollen Regung bückte er sich im Vorübergehen, um sie aufzuheben und an ihren Nagel zu hängen. Diese Bewegung brachte seinen Kopf in gleiche Höhe mit der Abschlußscheibe des achteren Deckfensters – des achteren Deckfensters, über dem ganz privaten Teil des Salons, der ausschließlich dem Eheleben des Kapitäns Anthony vorbehalten war; des Teiles, will ich dich erinnern, der von dem Rest des verbotenen Raums durch zwei schwere Vorhänge getrennt war. Ich erwähne diese Vorhänge, weil Herr Powell selbst mich an diesem Punkte an das Bestehen dieser merkwürdigen Einrichtung erinnerte.

Er erinnerte mich daran, nach so langer Zeit, immer noch mit einer Art Zerknirschung: ›Sobald ich mich gebückt hatte, um die Rolle aufzunehmen – es war der Besanausholer – da bemerkte ich, müssen Sie wissen, daß ich gerade in den Teil des Salons hinuntersehen konnte, der durch die Vorhänge besonders abgeschlossen werden sollte. Verstehen Sie mich?‹ beharrte er.

Ich sagte, daß ich ihn verstünde. Und er fuhr fort, meine Aufmerksamkeit auf das wunderbare Ineinandergreifen kleiner Tatsachen zu lenken; nach so vielen Jahren klang immer noch etwas wie ehrfürchtige Scheu in seiner Stimme mit, als er über das planmäßige Wirken des Zufalls sprach, des Schicksals, der Vorsehung, nenne es, wie du willst! ›Denn beachten Sie, Marlow,‹ sagte er und sah mich mit ganz runden Augen an, die zu dem ehrwürdigen grauen Anflug seines Schläfenhaars in lustigem Widerspruch standen, ›beachten Sie, mein lieber Herr, alles hing nur davon ab, daß die Leute, die abends das Hüttendeck aufgeräumt, die Taurolle auf Deck gelassen hatten, und daß früher am Tage das Marssegeldrehreep in ganz unverständlicher und überraschender Weise losgeworden war; daß endlich das Kettenende über die Lukenränder weggeschlagen und die farbige Abschlußscheibe des Deckfensters zertrümmert hatte. Das Wappen von Liverpool war darauf abgebildet gewesen; ich weiß nicht warum, höchstens vielleicht, weil die Ferndale in Liverpool beheimatet war. Es war dickes Spiegelglas. Nun, der obere Teil war in Scherben gegangen, und sobald die Dinge oben in Ordnung waren, hatte Herr Franklin den Zimmermann angestellt, um den Schaden mit ein paar gewöhnlichen Glasscheiben auszubessern. Ich weiß nicht, wo er sie herhatte; ich glaube, die Leute, die die neuen Bücherkästen in des Kapitäns Kabine einbauten, hatten ein paar übrige Scheiben an Bord gelassen. Der Zimmermann lag den ganzen Nachmittag auf den Knien und werkte mit Kitt und Mennig. Es war natürlich durchaus keine Musterarbeit, als es fertig war, aber doch gut genug, um den Regen draußen zu halten und das Licht einzulassen. Fensterglas. Und natürlich dachte ich nicht daran. Ich bückte mich einfach nach dem Tau, fand meinen Kopf keine Spanne weit von den Fensterscheiben weg und – zum Henker! Ich erwischte mich selbst! Keine halbe Stunde früher hatte ich mir gesagt, es sei unmöglich, zu sagen, was im Kopf der Leute vorgehe, was hinter ihren Worten stehe oder was sie etwa im Sinne hätten. Und hier nun erwischte ich mich selbst bei einem Schelmenstück, wie es gemeiner nicht gedacht werden kann. Denn sobald ich mich erst einmal gebückt hatte, blieb ich in der Stellung, äugte, spähte, sah jedenfalls dorthin, wo ich einfach nicht hinzusehen hatte. Vielleicht zunächst nicht mit Bewußtsein. Wer Augen hat, das wissen wir ja, läßt sich nicht abhalten, Dinge zu sehen, solange Dinge vor ihm zu sehen sind. Als erstes sah ich das Ende des Tisches und ein Servierbrett, das darauf festgeschraubt war; es war ein besonderes Ding, für den Gebrauch auf See, mit einem Gestell für ein paar Flaschen, einen Wasserkrug und Gläser. Das Glitzern dieser Dinge traf mein Auge zuerst. Dann aber sah ich auch den Kapitän dort unten sitzen. Allein, soviel ich entnehmen konnte, und ich konnte auch ganz gut den Rest des Raumes überblicken, bis zu dem Pianino, das sich dunkel von der Atlasholzvertäfelung der Schotten abhob. Ich fuhr fort hinunterzusehen. Das tat ich. Und ich wußte nicht einmal, daß ich mich damals meiner selbst geschämt hätte. Es war Franklins Schuld, der immer von dem Manne sprach und ihn dermaßen für sich in Anspruch nahm, daß er tatsächlich unser Eigentum geworden zu sein schien. Franklins und meines. Es klingt wie ein Spaß, aber tatsächlich hatte man Kapitän Anthony gegenüber das Gefühl. Ihm zuzusehen schien nicht so sehr viel schlimmer, als Franklin zuzuhören, wenn er über ihn schwätzte. Nun, es hat ja keinen Sinn, Entschuldigungen für etwas zu suchen, das unentschuldbar ist. Ich beobachtete; aber ich hoffe doch, Sie werden mir glauben, daß in meiner Niedertracht trotz allem keine Feindseligkeit lag. Im Gegenteil. Nun will ich Ihnen erzählen, was er tat. Er goß sich aus einer Flasche ein. Ich sah jede Bewegung und sagte mir dabei spöttisch, als wollte ich in Gedanken Franklin auslachen: ›Hallo, jetzt fängt ja der Kapitän schließlich doch zu trinken an!‹ Goß ein wenig Brandy oder was es schon war, in ein hohes Glas voll Wasser, trank etwa ein Viertel davon und stellte das Glas in den Behälter zurück. ›Alle Anzeichen einer wahren Ausschweifung‹, sagte ich mir und lachte dabei über die Ahnungslosigkeit des guten Franklin. Er erschien mir gerade damals in seiner Eifersucht und seinen Befürchtungen als ein ungeheurer Esel. Ein Monat würde nicht hinreichen für einen Mann, um auf diese Weise betrunken zu werden. Der Kapitän saß in einem der drehbaren Armstühle, die rings um den Tisch angeschraubt waren; ich hatte ihn gerade unter mir, und als er den Stuhl etwas drehte, da sah ich ihm sozusagen den Rücken hinunter. Er trank noch einen kleinen Schluck und griff dann nach einem Buch, das auf dem Tisch lag. Ich hatte es vorher nicht bemerkt. Das alles war das Vorgehen eines verzweifelten Trunkenbolds, nicht wahr? Erschlug das Buch auf und hielt es sich vors Gesicht. Wenn das die Art war, wie er das Trinken betrieb, dann brauchte ich mich nicht zu sorgen. Das konnte ihm keine Gefahr bringen. Und was andere Gefahren betraf, so kann ich Ihnen versichern, daß kein Mensch hätte geborgener aussehen können als er, wie er dort unten saß. Mich erfüllte die größte Verachtung für Franklin, während ich auf Kapitän Anthony hinuntersah, der mit einem Glas stark gewässerten Brandys neben sich lesend in seiner Kajüte saß, in einer ruhigen Nacht – der ruhigsten, klarsten vielleicht während einer günstigen Überfahrt. Und wenn Sie mich fragen, warum ich mein ekelhaftes Spionieren nicht aufgab, so will ich es Ihnen wohl sagen. Kapitän Anthony las gerade damals sehr viel; und auch ich habe sehr große Vorliebe für Bücher. Noch heutigentags kann ich an keinem Buch vorbei, ohne nachzusehen, was es ist. Es war ein dicker Band, den er dort unten hatte. Kleiner, enger Druck, zweispaltig – ich sehe es noch vor mir. Ich wollte den Titel am Kopf der Seite herausbringen. Ich habe sehr gute Augen, aber er hielt es nicht richtig – ich meine, für mich dort oben. Nun, es war irgendeine Geschichte, soviel konnte ich lesen. Plötzlich warf er das aufgeschlagene Buch umgekehrt auf den Tisch, sprang auf, als hätte ihn irgendwas gebissen, und ging nach achtern davon.

Die Scham ist eine merkwürdige Sache. Ich hatte mich schlecht benommen und war mir dessen bewußt, aber ich fühlte keine Scham darüber, bis mich die Angst aufschreckte, bei meiner ehrenwerten Beschäftigung ertappt zu werden. Ich schlich mich zum Vorderende des Hüttendecks und trieb mich dort herum. Das Gesicht und die Ohren brannten mir, ich war froh, daß es dunkle Nacht war, denn ich erwartete jeden Augenblick die Schritte des Kapitäns hinter mir zu hören. Ich war nämlich ganz sicher, daß er an Deck kommen würde. Dann überlegte ich mir, daß ich ihm lieber von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten sollte, und ging langsam achtern, darauf gefaßt, ihn aus dem Niedergang auftauchen zu sehen, bevor ich noch bis dahin gekommen sein würde. Ich dachte sogar daran, er könnte mich auf irgendeine Weise entdeckt haben. Aber das war ja natürlich unmöglich, wenn er nicht etwa hinten am Kopf auch Augen hatte. Ich hatte sein Gesicht dort unten keinen Augenblick gesehen. Es war unmöglich; ich war in Sicherheit. Ich kam mir ganz verworfen vor und doch, erklären Sie sich's, wie Sie wollen, es lag mir nichts daran. Und da der Kapitän nicht auf Deck erschien, so reizte es mich, in meiner Niedertracht fortzufahren. Ich wollte noch einmal hinuntersehen. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, welcher teuflische Einfluß am Werke war, wenn es nicht Franklins Gewäsch war, das ja wirklich hingereicht hätte, jeden Mann zu verderben; denn es erweckte eine ungesunde Neugier, die in meinem Falle alle Hemmungen des gewöhnlichsten Anstands überwand.

Ich wollte nicht Gefahr laufen, in einer verdächtigen Späherstellung von dem Kapitän erwischt zu werden. Auch auf den Mann am Steuer hatte ich Rücksicht zu nehmen. So wählte ich also den Ausweg – und ich bin heute noch sprachlos über meine Heimtücke – mich ganz natürlich auf den Rand des Oberlichts zu setzen. Als ich mich dann vorbeugte, fand ich, wie ich es erwartet hatte, daß ich durch den oberen Rand der Abschlußscheibe hinuntersehen konnte. Das Schlimmste, was mir geschehen konnte, wenn ich zu lange in dieser Stellung blieb, war, von dem Mann am Ruder verdächtigt zu werden, daß ich dort hinten eingeschlafen war. Im übrigen mußten mich meine Ohren beim leisesten Geräusch auf der Kajütentreppe sofort warnen.

Als ich aber so dasaß, war mein Gesichtswinkel verschoben. Auch das Sehfeld war kleiner. Nun hatte ich das Tischende, das Servierbrett und den Armstuhl gerade unter mir. Der Kapitän war noch nicht zurückgekommen. Das Pianino konnte ich jetzt nicht sehen. Andererseits sah ich steil von oben die zugezogenen Vorhänge, die die Kabine teilten und ihr vorderes Ende gerade in der Höhe des Deckfensters abschnitten, kaum eine Spanne von dem Tischende entfernt. Sie waren aus schwerem Stoff und liefen an einer dicken Messingstange mit irgendeiner Vorrichtung, die die Ringe am Herumgleiten verhinderte, wenn das Schiff rollte. Gerade damals aber lag das Schiff fast so ruhig wie ein Modell in einem Glaskasten; und die eng zugezogenen Vorhänge, die vielleicht absichtlich etwas zu lang geschnitten waren, rührten sich so wenig wie eine feste Mauer.‹«

 

Marlow stand auf, um sich eine neue Zigarre zu holen. Die Nacht war bis zu der Stunde vorgeschritten, die man ihre tiefste nennen könnte. Die Stunde, die jedem haßerfüllten Vorhaben am günstigsten ist; die rechte Stunde für Verzweiflung und Gier – und für alle Auflehnung gegen die bestehenden Dinge, die der Geist der Finsternis dem Menschen eingeben kann. Die Stunde des unheimlichen Schweigens, des Schauerns und der toten Müdigkeit, die Stunde, wo der Verbrecher auf Raub ausgeht, und Opfer der Schlaflosigkeit in die tiefste Verzweiflung versinken: die Stunde vor der ersten Morgendämmerung. Ich konnte es feststellen, denn während Marlow durch das Zimmer gegangen war, hatte ich nach der Uhr auf dem Kaminsims gesehen. Er allerdings sah nicht in die Richtung, obgleich ich es für möglich halte, daß es auch ihm zum Bewußtsein gekommen war, wie schnell die Zeit verging. Er ließ sich schwer in seinen Sitz fallen.

»Unser Freund Powell«, hob er wieder an, »schien ängstlich bemüht, mich mit der Örtlichkeit in der Kajüte unten genau vertraut zu machen. Mich reizte dabei mehr die moralische Atmosphäre, die merkwürdige Spannung, die aus Falschheit und verzweifeltem Tatendrang geschaffen war und der Atmosphäre eines Schiffes auf hoher See ihre Reinheit nahm; dahin hatte der großherzige Anthony seine Beute gerettet, indem er sich zu gleicher Zeit als ein Raubtier zeigte, als ein körperloser Geist und als ›der großmütigste der Menschen‹. Die letztere Bezeichnung schoß über das Ziel hinaus, denn tatsächlich war ja an ihm nichts Ungeheuerliches; er war einfach ein gewöhnlicher Sterblicher, nur vielleicht etwas eigenwilliger und selbstsicherer als die meisten, sowohl in seiner Rauheit wie in seinem Feingefühl.

Über die Handlungsweise des Herrn Powell nun, anständig oder nicht, möchte ich jedes Urteil unterlassen. Er fand einen krankhaften Reiz darin, einen ahnungslosen Mann zu beobachten – noch dazu einen so anziehenden und geheimnisvollen Mann, wie es Kapitän Anthony war. Er wünschte noch einen Blick auf ihn zu werfen. Er nahm an, daß der Kapitän bald zurückkehren würde, erstens wegen des zu zwei Dritteln vollen Glases und auch wegen des Buchs, das er so heftig niedergelegt hatte. Gott mag wissen, welche plötzliche Erregung Anthony hatte so jäh aufspringen lassen. Ich bin überzeugt, daß für ihn das Lesen nur ein Betäubungsmittel für die eigene Großmut war, die, wie alle überspannten Gefühle, unablässig an seinem kräftigen Körper nagte. Vielleicht war er nur in seine eigene Kajüte gestürzt, um frei und in völlig undurchdringlicher Abgeschiedenheit aufstöhnen zu können. Jedenfalls verweilte er dort. Und Jung Powell hätte vielleicht müde werden und zu Gewissensbissen kommen können, hätte sich ihm nicht die Erkenntnis aufgedrängt, daß er nicht alleine der höchst unziemlichen Beschäftigung oblag, Kapitän Anthonys Bewegungen zu belauern.

Powell erklärte mir, daß er keinen Laut aus dem Salon hörte oder hören konnte. Das erste Anzeichen war eine kaum merkliche Bewegung in den Vorhängen, ganz leicht und wellig, eben noch merkbar für die geschärfte Aufmerksamkeit eines geheimen Spähers; denn es ist nicht zu leugnen, daß unsere Fähigkeiten sich viel besser zeigen, wenn wir sie zum Bösen verwenden (wobei man nicht erwischt zu werden wünscht) als zu einem einwandfreien Beginnen.

Powell wurde mißtrauisch, ohne noch an eine bestimmte Person oder Sache zu denken. Er wurde mißtrauisch gegen die Vorhänge selbst und beobachtete sie. Sie sahen ganz harmlos aus. Und gerade, als er das Ganze als eine Sinnestäuschung abtun wollte, merkte er eine zitternde Bewegung an dem Fleck, wo die beiden Teile zusammenstießen. Jawohl! Noch jemand außer ihm hatte Kapitän Anthony belauert. Er gab völlig harmlos zu, daß er darüber entrüstet war. Das war des Guten doch zu viel. In diesem Gemütszustand erschreckte es ihn noch mehr, Fingerspitzen an dem dunklen Stoff herumhantieren zu sehen. Dann faßten sie den Rand des übergreifenden Vorhangs und verweilten dort – nur Finger, Knöchel und sonst nichts. Es sah schauerlich aus. Powell sah mit ungeheurem Widerwillen darauf hinunter, als plötzlich eine Hand sichtbar wurde, eine kurze, alte, fette, runzelige Hand, die sich in den Lichtkreis der Lampe schob, von einem weißen Handgelenk gefolgt, einem Arm mit grauem Ärmel, bis zum Ellbogen, über den Ellbogen hinaus, und sich zitternd nach dem Servierbrett ausstreckte. Diese Hand wirkte gespenstisch, über jedes Maß unheimlich, und dabei töricht. Doch anstatt die Flasche zu fassen, wie Powell es erwartet hatte, schwankte die Hand greisenhaft zitternd zu dem Glas, ruhte einen Augenblick auf seinem Rand, so schien es wenigstens von oben, und zog sich mit einem Ruck zurück. Die kralligen Finger der anderen Hand verschwanden im gleichen Augenblick, und Jung Powell konnte sich, während er auf die regungslosen Vorhänge hinunterstarrte, einen Augenblick lang der Einbildung hingeben, er hätte geträumt.

Doch diese Einbildung hielt nicht lange vor. Nachdem Powell seine erste Regung, die Kajütentreppe hinunterzurasen und an des Kapitäns Türe zu hämmern, unterdrückt hatte, traf er Anstalten, sich vom Bootsmann ablösen zu lassen. Seine Gefühle waren in völligem Durcheinander, sein Geist aber ganz klar. Er blieb beim Deckfenster stehen, um das Servierbrett im Auge behalten zu können.

Der Kapitän erschien immer noch nicht im Salon. ›Hätte er es getan,‹ sagte Powell, ›so hätte ich gewußt, was ich tun mußte. Ich hätte einfach mit dem Ellbogen die Scheibe eingedrückt.‹

Ich fragte ihn, warum.

›Das wäre das einfachste Mittel gewesen, um ihn von dem Servierbrett wegzuhalten‹, erklärte er mir. ›Meine Kehle war so eingetrocknet, daß ich nicht sicher war, ob ich würde laut genug schreien können. Und das war ja auch nicht der Augenblick für ein lautes Geschrei.‹

Als der Bootsmann verschlafen und brummig auf die Hütte kam, fand er den Zweiten Offizier über das Ende des Deckfensters gekrümmt, in einer Stellung, die von heftigen Schmerzen eingegeben sein konnte. Powells Stimme war so verändert, daß der Mann, trotz seines natürlichen Unwillens über die nächtliche Störung, Powells Behauptung wortlos hinnahm, er sei von einem plötzlichen Unwohlsein befallen worden.

Die Schnelligkeit, mit der der kranke Mann das Deck verließ, muß den Bootsmann immerhin wundergenommen haben. Doch hatte Powell es im Augenblick, wo er die Türe vom Achterdeck in den Salon geöffnet hatte, fertiggebracht, seine Erregung zu beherrschen. Er trat rasch, doch ohne Lärm ein und befand sich in dem dunklen Teil des Salons; der grelle Lampenschein von der anderen Seite drang nur oberhalb der Messingstange herüber, an der die Vorhänge liefen. Die Türe von Herrn Smiths Kabine lag im dunklen Teil. Powell ging daran vorbei und stellte durch einen kurzen Seitenblick fest, daß sie nicht ganz geschlossen war. ›Jawohl,‹ sagte er mir, ›der alte Mann muß durch den Spalt herausgelugt haben. Das weiß ich ganz gewiß; aber nicht ich war es, nach dem er aushorchte und spähte. Entsetzlich! Natürlich muß er maßlos erschrocken sein, als er jemanden, den er nicht erwartet hatte, eintreten hörte und sah. Er konnte ja unmöglich wissen, weshalb ich hineinkam, doch muß es ihn heftig beunruhigt haben, denke ich mir. Beunruhigt! Er muß wie vom Blitz gerührt, gelähmt gewesen sein.‹

Powells einzige klare Absicht war es, das verdächtige Glas beiseite zu schaffen. Er hatte keinen anderen Plan, keine andere Absicht, keinen anderen Gedanken. Es irgendwie auf die Seite bringen, es packen und damit hinausrennen.

Du weißt, wie unbedingt einen eine fixe Idee beherrschen kann; nicht vernunft-, sondern rein gefühlsmäßig, in einer Art übersteigerter Erregung. Unter einem solchen Antrieb stürzen sich Männer blindlings durch Feuer und Wasser, überwinden die wütendsten Widerstände, und nichts kann sie aufhalten – als, zuzeiten, ein Sandkörnchen. Für sein blindes Vorhaben hatte Jung Powell Zeit genug. (Gewiß lag ihm der Gedanke an Frau Anthony zugrunde.) Was ihn im entscheidenden Augenblick innehalten ließ, das war das vertraute, harmlose Aussehen der gewohnten Dinge, das ruhige Licht, das offene Buch auf dem Tisch, die Einsamkeit, der Friede, die Traulichkeit des Raumes. Er hielt das Glas in der Hand. Alles, was er zu tun hatte, war, sich ungesehen durch die Vorhänge wieder zurückzuschleichen, lautlos in das Dunkel auf Deck hinaufzulaufen und das Zeug ungesehen über Bord zu werfen. Eine Minute oder noch weniger. Alles, was daraus folgen konnte, wäre schlimmstenfalls das Staunen über das spurlose Verschwinden eines Trinkglases gewesen, ein lächerliches Rätsel, das niemand an Bord hätte lösen können. Das Sandkorn, über das Powell in seinem verzweifelten Lauf stolperte, war ein sekundenlanger Zweifel an der Richtigkeit seiner eigenen Wahrnehmungen, weil die trauliche Geborgenheit der gewohnten Dinge unberührt schien. Er glaubte sogar seinen Augen nicht. Er mußte alles geträumt haben, ›Ich träume auch jetzt noch‹, sagte er sich. Und sehr wahrscheinlich muß er auch einige Augenblicke lang wie ein Mann ausgesehen haben, der im Stehen schläft oder in Hypnose ist, ein Glas mit gewässertem Brandy in der Hand.

Was ihn erweckte und zugleich seine Füße an den Fleck nagelte, war eine Donnerstimme, die ihn fragte, was er da täte. Wie Donner wenigstens klang sie in seinen Ohren. Anthony hatte die Türe seiner Sternkajüte geöffnet und natürlich die Stimme erhoben. Was sonst hätte man von ihm erwarten sollen? Und der Ausruf konnte ja wohl ziemlich laut gewesen sein, wenn du den Anblick bedenkst, der sich ihm bot. Da vor ihm stand sein Zweiter Offizier, ein anscheinend wohlerzogener, anständiger junger Mensch, der, obwohl auf Wache, das Deck verlassen und sich in den Salon geschlichen hatte, augenscheinlich in der unsagbar gemeinen Absicht, den Rest von seines Kapitäns Brandy auszutrinken! Da stand er also, mit dem Glas in der Hand erwischt!

Doch gerade das Ungeheuerliche des Anblicks brachte Anthony nach dem ersten Ausruf zum Schweigen; und Jung Powell fühlte, wie ihm der finstere Blick seines Kapitäns durch und durch ging. Anthony kam langsam vorwärts. Als er sich entdeckt sah, war Powells erste Regung gewesen, das Glas auf den Boden zu werfen. Er fühlte etwas wie panischen Schreck. Doch tief in ihm arbeitete noch sein Verstand, und der Gedanke hielt ihn zurück, daß er, wenn er das Glas zerschmetterte, nichts würde beweisen können, und daß die Geschichte, die er zu erzählen hatte, völlig unglaubwürdig war. Der Kapitän kam langsam vorwärts; als er ihm Auge in Auge gegenüberstand, brachte es Powell, wie behext und gelähmt, eben noch fertig, mit einem Finger auf Deck hinaufzuweisen und die Erklärung dazu zu stammeln: ›Bootsmann auf der Hütte‹.

Der Kapitän neigte leicht den Kopf dazu, als wollte er sagen: ›Schon recht‹ – und das war alles. Powell hatte keine Stimme, keine Kraft. Die Luft schien kaum mehr zu atmen. Dunstig, stickig, ekelhaft, wie heiße Gallerte, die jede Bewegung erschwerte. Mit ungeheurer Anstrengung hob er das Glas ein wenig und zwang dabei seine starren Lippen, eben noch verständlich die Worte zu bilden:

›Vergiftet!‹

Anthony sah einen Augenblick, nur einen Augenblick darauf hin und dann wieder hart in das Gesicht seines Zweiten Offiziers. Powell fügte ein hitziges ›Ich glaube‹ hinzu und setzte das Glas auf das Servierbrett zurück. Der Blick des Kapitäns folgte der Bewegung und kehrte dann starr wieder zu Powells Gesicht zurück. Der junge Mann zeigte nochmals mit dem Finger empor und quetschte dann aus seiner wie von Eisenklammern gedrosselten Kehle hintereinander fünf Worte der Erklärung hervor: ›Durch das Deckfenster. Die Fensterscheibe.‹

Daraufhin zog der Kapitän die Augenbrauen sehr hoch, während Jung Powell beschämt, doch zu allem entschlossen, mehrmals eindringlich nickte. Er wollte damit sagen: Jawohl, jawohl. Er habe das getan. Er habe gespäht . . . Der Blick des Kapitäns wurde nachdenklich. Und nun, da das Geständnis vorbei war, wich die eiserne Klammer von Powells Kehle und machte einer ziellosen Angst Platz, die sich von seiner Brust aus in alle Glieder und Teile seines Körpers auszubreiten schien. Seine Beine zitterten ein wenig, sein Blick war trübe, er fühlte nur noch Erwartung. Dabei war er aber lebendig genug. Auf eine Bewegung Anthonys zischte er heiser heraus:

›Nicht, Herr! Rühren Sie es nicht an!‹

Der Kapitän schob Powells ausgestreckten Arm beiseite, nahm das Glas und hob es langsam gegen das Lampenlicht. Die Flüssigkeit, ganz matt bernsteinfarben, war klar, und der Kapitän schien durch einen Blick Powells Aufmerksamkeit auf diese Tatsache hinlenken zu wollen. Powell versuchte das Wort ›gelöst‹ auszusprechen, vermochte es aber nur mit größter Kraft zu denken, ohne es über die Lippen bringen zu können. Erst als Anthony das Glas niedergesetzt und sich ihm wieder zugewandt hatte, bekam er seine Stimme wieder soweit in die Gewalt, daß er sich ein hastiges, angestrengtes Flüstern abzwingen konnte – ein Flüstern, das ihn selbst entsetzte.

›Vergiftet! Ich schwöre es! Ich habe es gesehen! Vergiftet! Ich habe es gesehen!‹

Kein Muskel in des Kapitäns Gesicht zuckte. Er zeigte eine Ruhe, die einem den Atem nehmen konnte. Das tat sie auch bei Jung Powell. Dann ließ sich Anthony zum erstenmal vernehmen.

›Haben Sie das? . . . Wer war es?‹

Powell atmete endlich frei auf. ›Eine Hand‹, flüsterte er ängstlich. ›Eine Hand und der Arm – nur der Arm – so!‹

Er streckte seinen Arm aus, langsam, verstohlen, zitternd, in getreuer Nachahmung, ließ die Spitzen zweier Finger und des Daumens zusammengedrückt einen Augenblick über dem Glas verweilen – und zeigte dann das ruckhafte Zurückziehen.

›So‹, wiederholte er in finsterer Erregung. ›Dahinter hervor.‹ Er packte die Vorhänge, sah den schweigenden Anthony an, warf sie zurück und enthüllte den vorderen Teil des Salons. Niemand war zu sehen.

Powell hatte nicht erwartet, irgend jemanden zu sehen. ›Aber,‹ sagte er mir, ›ich wußte wohl, daß ein Ohr da lauschte und ein Auge an die Spalte der Kajütentüre geheftet war. Furchtbarer Gedanke! Und die Türe lag in dem Teil des Salons, der noch im Schatten der zweiten Vorhanghälfte geblieben war. Ich wies darauf hin und nehme an, daß der alte Mann dort drinnen meinen Wink wohl bemerkte. Der Kapitän zeigte eine großartige Selbstbeherrschung. An seinem Gesicht hätte man nichts ablesen können. Vielleicht war er etwas nachdenklicher als gewöhnlich. Und Grund genug zum Nachdenken war ja auch da. Nur ich konnte nicht richtig denken. Mein Hirn nahm immer wieder eine Art Anlauf und blieb dann wie tot. Ich hatte jedes Bewußtsein von Zeit verloren und mochte den Kapitän Tage oder Monate lang angestarrt haben, bevor ich ihn scharf flüstern hörte: ›Kein Wort!‹ Das jagte mich aus meiner Erstarrung auf und ich antwortete: ›Nein! Nein! Nicht einmal Sie hätten es wissen sollen!‹

Ich wollte ihm mein Vorgehen, meine Absicht erklären, aber ich las in seinen Augen, daß er mich verstand, und war nur zu froh, es dabei bewenden lassen zu können. Da standen wir nun einander gegenüber, wie betäubt, hilflos vor der Frage: ›Was nun?‹

Ich hatte Kapitän Anthony für einen Mann aus Eisen gehalten, bis zu dem Augenblick, wo ich ihn plötzlich den Kopf wütend nach rechts und links werfen sah, wie ein von den Hunden gestelltes Wild, das nicht weiß, nach welcher Seite es ausbrechen soll . . .‹«

 

»Tatsächlich,« bemerkte Marlow, »war es kein schlechter Vergleich, zu sagen ›von den Hunden gestellt‹; ein besserer vielleicht, als Herr Powell selbst wußte. Das Erscheinen Floras in diesem Augenblick mußte die Spannung bis zum Zerreißen steigern. Sie kam scheinbar ganz unbefangen, aber doch nicht ohne eine unbestimmte Furcht heraus. Anthonys Ausruf beim ersten Anblick Powells war bis in ihre Kajüte gedrungen, wo sie, wie sich ergab, eben dabei gewesen war, ihr Haar zu bürsten. Sie hatte sogar die Worte verstanden: ›Was machen Sie da?‹ und die ungewohnt laute Stimme – seine Stimme – die das um diese Stunde sonst herrschende Schweigen durchbrach, hätte auch jemanden andern erschrecken können, der weit weniger Anlaß zu steter gespannter Erwartung hatte als diese Sklavin von Anthonys tyrannischer Großmut. Sie konnte keine Ahnung haben, an wen die Frage gerichtet war; sie klang nur in ihrem Herzen wieder, wie Anthonys Stimme es immer tat. Völliges Schweigen folgte. Sie wartete ängstlich, bis sie es nicht länger ertragen konnte und mit dem stummen Ausruf der Überlasteten: ›Mein Gott! Was gibt es nun wieder?‹ die Türe öffnete und in den Salon hinaussah. Ihr erster Blick fiel auf Powell. Als sie den Zweiten Offizier allein mit Anthony fand, war es ihre erste Regung, sich zurückzuziehen; doch ihre geschärfte Beobachtungsgabe entdeckte etwas Verdächtiges in der Haltung der beiden, und so kam sie langsam näher.

›Ich sah Frau Anthony zuerst,‹ erzählte Powell, ›weil ich mit dem Gesicht zu ihrer Türe stand. Der Kapitän folgte meinem Blick, sah rasch über die Schulter zurück und legte sofort den Finger an die Lippen, um mich zu warnen. Als ob ich etwa hätte vor ihr ein Wort laut werden lassen! Frau Anthony trug einen Schlafrock aus einem grauen Stoff, mit roten Aufschlägen und mit einer dicken roten Schnur um die Taille. Ihr Haar war gelöst. Sie sah wie ein Kind aus; ein blasses Kind mit großen blauen Augen und einem roten Mund, der, leicht geöffnet, einen Schimmer von weißen Zähnen sehen ließ. Als sie sich dem oberen Tischende näherte, fiel das Licht voll auf sie. Doch wohl ein merkwürdiges Kind! Ich erinnere mich auch, daß man sie nicht als Kind empfinden konnte. Wissen Sie,‹ rief Herr Powell aus, der offenbar, wie viele Seeleute, fleißig las, ›wissen Sie, wie sie mir erschien, mit den großen Augen und dem wie hilfesuchenden Ausdruck in ihrer ganzen Persönlichkeit? Wie eine verlorene Seele! Kapitän Anthony war auf sie zugegangen, um sie von meinem Tischende, wo das Servierbrett stand, ferne zu halten. Ich hatte sie nie zuvor so nahe nebeneinander gesehen, und nun fiel mir der große Gegensatz auf. Es war ganz wunderbar, denn Kapitän Anthony sah mit seinem gestutzten Bart, der dunkel verbrannten Gesichtsfarbe, der feinen Nase und dem schmalen Kinn ganz afrikanisch aus, wie ein Maure etwa. Sein Hals war bloß; er hatte den Kragen und die Jacke abgelegt und den Kittel seines Schlafanzugs angezogen, während er vom Salon weggegangen war. Ich glaube ihn heute noch vor mir zu sehen. Auch Frau Anthony. Sie sah von ihm zu mir – ich glaube, ich sah wohl schuldbewußt oder erschreckt aus – und von mir zu ihm und schien erraten zu wollen, was zwischen uns vorging. Dann stieß sie plötzlich ein ›Was ist geschehen?‹ hervor, das an mich gerichtet schien. Ich murmelte: ›Nichts, nichts, Madam‹, was sie wahrscheinlich gar nicht hörte.

Sie müssen nicht glauben, daß dies alles etwa lange gedauert hätte. Sie hatte sich über unser Benehmen erschreckt und wandte sich nun mit leiser Klage an den Kapitän: ›Was verheimlichst du mir?‹ Eine unmittelbare Frage, wie? Ich weiß nicht, welche Antwort der Kapitän hätte geben können. Bevor er aber noch die Augen aufschlagen konnte, rief sie: ›Oh! Da ist ja Papa!‹, im Ton größter Erleichterung. Gleich darauf aber sah sie wieder mich an, als hielte sie furchtsam den Atem an. Ich betrachtete sie so gespannt, daß, wie soll ich sagen, ihr Ausruf in meinem Gehirn zunächst keinen Widerhall auslöste. Ich bemerkte auch noch, daß sie etwas näher an Kapitän Anthony herangeglitten war, bevor es mir einfiel, den Kopf abzuwenden. Ich kann Ihnen sagen, mein Kopf erstarrte geradezu in der Drehstellung vor Schreck, als ich den alten Mann erblickte. Er hatte es gewagt! Sie denken wohl, ich hätte ihn als verrückt betrachten müssen. Aber das konnte ich nicht. Es wäre gewiß richtig gewesen. Aber ich konnte es nicht! Sie hätten ihn sehen sollen. Zunächst einmal war er vollständig angezogen und hatte sogar noch die Mütze auf dem Kopf, gerade wie damals, als er mich zwei Stunden früher auf Deck verlassen und dazu mit seiner sanften Stimme gesagt hatte: ›Der Augenblick ist gekommen – zu Bett zu gehen!‹ Und dabei hatte er doch daran gedacht, dies hier zu tun, sich in seiner dunklen Kajüte zu verbergen und zuzusehen, wie das Zeug seine Wirkung tun würde. Ein kalter Schauer rann mir über den Rücken. Er hielt beide Hände in den Jackentaschen, die Arme eng an seinen aufrechten, mageren Körper gepreßt, und schlurrte mit seinen kurzen Schritten durch den Salon. Auf jeder seiner alten, weichen Wangen lag ein roter Fleck, als hätte ihn jemand gezwickt. Er hielt den Kopf ein wenig gesenkt und sah von unten her gespannt nach dem Kapitän und Frau Anthony, die eng nebeneinander am anderen Ende des Salons standen. Die kalte, schamlose Berechnung darin! Seine Tochter war da; und ich bin sicher, daß er gesehen hatte, wie der Kapitän, um mich zu warnen, den Finger an die Lippen gelegt hatte. Dann war er ganz kalt herausgekommen! Es überstieg meine Begriffe, kann ich Ihnen versichern. Nach diesem ersten Schauer tötete seine Gegenwart jede andere Fähigkeit in mir – Staunen, Entsetzen, Entrüstung. Ich hatte gar keine ausgesprochene Empfindung mehr, als wäre er immer noch der alte Herr, der sich jeden Tag auf Deck vertraulich mit mir zu unterhalten pflegte. Möchten Sie das glauben?‹

Herr Powell forderte alle meine Verwunderung für diesen innerlichen Vorgang heraus«, fuhr Marlow nach einer kurzen Pause fort. »Doch wäre mein Staunen nicht zugleich mit aller meiner Aufmerksamkeit von der genauen Verfolgung des Falles beansprucht gewesen, so hätten mich trotzdem seine Feststellungen über seine eigene Person schwerlich gewundert, oder sie wären mir doch zumindest als das wenigst Wunderbare an der ganzen Sache erschienen. Auch als das am wenigsten Interessante. Meine Anteilnahme zielte anderswohin. Und gerade dort konnte er natürlich nur die Oberfläche sehen. Die Innenseite der Vorgänge, die sich vor seinen Augen abspielten, war ihm, dem Augenzeugen, gründlicher verborgen als mir, der nun Jahre nachher seinen Worten lauschte. Die Krisis, die sich in jenem Augenblick in Flora de Barrals Schicksal vollzog, lag jenseits seines Urteilsvermögens, erschien ihm sozusagen natürlich. Und seine eigene Gegenwart während der Szene hatte einen so merkwürdigen Grund, daß es mir überlassen blieb, mich ganz für mich über den jungen Mann zu verwundern, der, vom reinen Zufall hingeführt, die Ereignisse dieser Nacht ausgelöst hatte.

Jede Situation, sei sie nun durch Torheit oder Weisheit geschaffen, hat ihr eigenes psychologisches Moment. Die damalige Sachlage war nicht durch Jung Powells Benehmen geschaffen worden, das aus knabenhafter Impulsivität und unwillkürlicher Klugheit seltsam gemischt war – nicht geschaffen, das könnte ich nicht sagen – aber doch den zunächst Beteiligten sinnenfällig geworden. Was wäre geschehen, wenn er über seine Entdeckung Lärm geschlagen hätte? Aber das tat er ja nicht. Er war ganz erfüllt von dem Gedanken an Frau Anthony und bewies eine Zurückhaltung weit über seine Jahre. Das tun nette Kinder öfters, und sicher nicht aus Überlegung. Sie haben ihre eigenen Eingebungen. Jung Powells Eingebung bestand darin, daß er ›schwärmerisch‹ für Frau Anthony empfand. ›Schwärmerisch‹ ist wirklich der rechte Ausdruck. Und so stand er zwischen ihnen wie ein Kind, feinfühlig, eindrucksfähig, bildsam – doch unfähig, sich ein Urteil über das Geschaute zu bilden.

Ich weiß nicht, wieviel das meine wert sein mag; aber ich glaube, daß gerade damals die Spannung der verkehrten Situation ihren Höhepunkt erreicht hatte. Von allen Formen, die uns das Leben bietet, ist die eine die schwerste, die zu ihrer gänzlichen Erfüllung ein Paar braucht. Die Paarung ist der letzte Sinn des Menschenschicksals. Und wenn zwei Wesen, die sich aufeinander zugetrieben, zueinander hingezogen fühlen, dem Drang widerstehen, ihn nicht begreifen wollen und sich freiwillig der . . . der Umarmung enthalten, im letzten Sinn des Wortes, dann begehen sie eine Sünde gegen das Leben, dessen Forderung so einfach ist. Heilig vielleicht. Und die Strafe dafür ist eine steigende Verwickelung, eine qualvolle, krampfhafte Überspannung der Gefühle, das tiefste Leid, aus dem ja vielleicht schließlich etwas Großes hervorgehen mag, verbrecherisch oder heldenhaft, verrückt oder weise – oder vielleicht nur ein fester, wenn auch verzweifelter Entschluß.

Als Powell seinen Blick von dem alten Herrn wegwandte, bemerkte er, wie Kapitän Anthony, der schwarz wie ein Afrikaner neben der lilienweißen Flora stand, sein Taschentuch herauszog und sich den Angstschweiß von der Stirne wischte – wie ein Mann, der sich am Ende seiner Kräfte fühlt. ›Und das war kein Wunder‹, meinte Powell dazu. Dann sagte der Kapitän: ›Solltest du nicht lieber in deine Kabine zurückgehen?‹ Dabei meinte er Frau Anthony und versuchte, ihr zuzulächeln. ›Warum siehst du so erschreckt aus? Diese Nacht ist wie jede andere.‹

›Was‹, wie mir Powell dazu sehr ernsthaft bemerkte, ›eine Lüge war . . . Kein Wunder, daß er schwitzte.‹ Daran kannst du sehen, welchen Wert Powells Randbemerkungen hatten. Frau Anthony antwortete darauf: ›Warum schickst du mich fort?‹

›Warum? Damit du schlafen gehst. Damit du ausruhen kannst.‹ Und Kapitän Anthony runzelte die Brauen. Dann fügte er scharf hinzu: ›Sie bleiben hier, Herr Powell. Ich werde Sie sofort brauchen.‹

Powell hatte sich übrigens bisher nicht vom Fleck gerührt. Flora schien seine Gegenwart nicht störend zu empfinden. Er selbst hatte den Eindruck, daß er für die drei Leute völlig belanglos war. Er sah Frau Anthony so unbefangen an, wie die Katze im Sprichwort den König. Auch Frau Anthony sah nach ihm hin. Sie rührte sich nicht, von einer unerklärlichen Vorahnung befallen. Sie war im Hinblick auf Anthonys Großmut bis an die letzten Grenzen ihrer Duldsamkeit gekommen. Sie fühlte sich als Beute einer ungewöhnlichen Angst vor fremden geheimnisvollen Einflüssen, fühlte, daß sie in die Einsamkeit, die innere Verlorenheit zurückgestoßen werden sollte, die ihr ganzes Leben unerträglich gemacht hatte. Doch so nahe neben Anthony, wie sie es lange nicht gewesen war, empfand sie auch – wie damals im Garten – die Macht seines persönlichen Zaubers. Die starre Ruhe, mit der sie ihn ansah, gab ihr das Aussehen einer Verzauberten, oder, sagen wir, eines Mediums im Tiefschlaf, dem jedes Bewußtsein für die Umgebung fehlt.

Nachdem er Herrn Powell verboten hatte, wegzugehen, verfiel der Kapitän in Schweigen. Plötzlich strich Frau Anthony mit einer entschlossenen Handbewegung ihr loses Haar zurück und trat noch näher zu Anthony hin. ›Papa ist auch noch auf‹, sagte sie, ohne aber nach Herrn Smith hinzusehen. ›Warum das? Und du? Ich kann so nicht weiter, Roderick – zwischen euch beiden. Tu's nicht!‹

Anthony unterbrach sie, als wäre ihm plötzlich die Zunge gelöst worden. ›O ja, dein Vater ist da. Und . . . warum nicht. Vielleicht ist es ganz gut, daß du herauskamst. Zwischen uns beiden? Ist es das? Ich will nicht vorgeben, daß ich dich nicht verstehe. Ich bin nicht blind. Aber ich kann nicht länger für etwas kämpfen, das ich nicht gehabt habe. Ich weiß nicht, was deiner Meinung nach geschehen sein sollte. Etwas ist ja auch geschehen, nur brauchst du dich nicht zu fürchten. Kein Schatten kann dich treffen – weil ich aufgebe. Ich könnte nicht sagen, daß wir beide, dein Vater und ich, viel darüber geredet haben; aber das Kurze vom Langen ist, daß ich lernen muß, ohne dich zu leben, was, wie ich dir einmal gesagt habe, unmöglich war. Damals habe ich die Wahrheit gesprochen. Nun aber bin ich fertig mit dem Kämpfen, dem Warten, dem Hoffen. Ja. Du sollst gehen.‹

In diesem Augenblick hörte Herr Powell, der (wie er mir gestand) mit verständnisloser Scheu zuhörte, hinter seinem Rücken ein frohlockendes Kichern. Es durchschauerte ihn, wie er sagte, noch lange nachher, wenn er nur daran dachte; damals aber jagte es ihm nur einen neuen Schauer über den Rücken hinunter und vermochte im übrigen nicht, seine gespannte Aufmerksamkeit von der Szene abzulenken, die sich vor seinen Augen und auch vor seinen Ohren abspielte, denn gerade in jenem Augenblick erhob Kapitän Anthony grimmig seine Stimme. Vielleicht hatte auch er das Kichern des alten Mannes gehört.

›Dein Vater hat ein Beweismittel gefunden, das mich einhalten läßt, wenn es mich auch nicht überzeugt. Nein! Ich kann nicht darauf antworten. Ich – ich wünsche nicht, darauf zu antworten. Ich ergebe mich einfach. Er soll seinen Willen haben, mit dir – und mit mir. Nur,‹ fügte er in düster gedämpftem Ton hinzu, ›nur wird es ein wenig Zeit brauchen. Ich habe dich nie angelogen. Nie. Ich gebe nicht nur meine Siegeshoffnung aus der Hand, sondern mein Leben. In wenigen Tagen, sobald wir im Hafen sind, im Augenblick unserer Ankunft, werde ich, der ich einmal gesagt habe, ich könnte dich nie lassen – werde ich dich lassen.‹

Dem unbefangenen Zuschauer schien es, als verließen Anthony dabei die Kräfte. Meiner Ansicht nach war es die völlige Verkehrtheit seiner Bestrebungen, die Nutzlosigkeit des ewigen Greifens in leere Luft, die ihn nun überwältigte und waffenlos der verrückten, zu allem entschlossenen Aufrichtigkeit des anderen gegenüberstellte. Wie er selbst gesagt hatte, konnte er nicht für etwas kämpfen, was er nie besessen hatte. Er konnte nicht etwas wie das, was jetzt geschehen war, einfach nur seiner eigenen Großmut zuliebe hinnehmen. Das Außergewöhnliche ist nur durch das Gesetzmäßige zu überwinden. Er konnte dem Mann dort drüben nicht einmal einen Vorwurf machen. ›Ich gebe mich selbst geschlagen‹, sagte er etwas fester. ›Du bist frei. Ich lasse dich frei, weil ich muß.‹

Powell, der Augenzeuge, versicherte, daß Frau Anthony bei diesen unverständlichen Worten zu einem Bild der Verwunderung erstarrte, mit erschreckten Augen und wie gefrorenen Lippen. Im nächsten Augenblick aber drang aus ihrem tiefsten Herzen ein Schrei, nicht sehr laut vielleicht, aber doch so durchdringend, daß nicht nur Kapitän Anthony (der nicht nach ihr hinsah), sondern auch der etwas fernerstehende (und gleichfalls unvorbereitete) junge Mann den Atem anhielten. ›Ich will aber nicht freigelassen werden‹, schrie sie.

Im Augenblick darauf war sie so still, daß man sich fragte, ob der Schrei wirklich von ihr gekommen war. Das ruhelose Scharren hinter Powells Rücken hörte kurz auf, zugleich mit dem leisen Kichern. Jung Powell gewahrte beim Umsehen, wie Herr Smith den Kopf hob und die Lider rings um die braunen Augen faltig runzelte, wie ein Mann, der aus weiter Ferne etwas auf sich zukommen sieht. Von weiter Ferne her drang Frau Anthonys Stimme zu Powells Ohr, beschwörend und entrüstet:

›Du kannst mich nicht so wegwerfen, Roderick! Ich will nicht von dir weggehen. Ich will nicht . . .

Powell wandte sich wieder um und entdeckte dabei das Bild, dem Herr Smith so angestrengt entgegengezwinkert hatte: Flora hing an Kapitän Anthonys Hals – ein an sich nicht unschicklicher Anblick, der aber doch die Macht hatte, Jung Powell mit tiefster Verlegenheit zu erfüllen. Das Gefühl war ganz verschieden von dem anderen, das er während des Hineinsehens durch das Deckfenster empfunden hatte, doch auch in diesem Falle empfand er das Unbehagen, wenn nicht das Schuldbewußtsein eines verborgenen Spähers. Die Erfahrung türmte sich auf seinen jungen Schultern auf. Frau Anthonys Haar hing in einer dunklen Masse wie das Haar einer Ertrunkenen über ihren Rücken hinunter. Es sah aus, als würde sie loslassen und zu Boden sinken, sobald ihr Kapitän Anthony den Halt seines Armes entzöge. Doch der Kapitän hatte offenbar durchaus nicht die Absicht. Er stand fest und ruhig da und sah mit finsteren Augen auf Herrn Smith. Eine Zeitlang durchbrach nur das leise, krampfhafte Schluchzen von Herrn Smiths Tochter die Stille. Auch von der Weite gesehen blieb kein Zweifel an der Kraft, mit der Anthony Flora an seine Brust drückte, und plötzlich begann er, als wäre er zum vollen Bewußtsein seiner selbst erwacht, die Frau auf die Kajütentüre zu halb zu tragen, halb zu ziehen. Er hatte den Kopf zärtlich über sie geneigt, besann sich dann plötzlich, wandte sich mit feurigem Blick um und rief Herrn Powell mit einer Stimme zu, in der etwas völlig Ungewohntes mitklang: ›Sie gehen noch nicht auf Deck. Ich wünsche, daß Sie hier unten bleiben, bis ich zurückkomme. Ich habe Ihnen einige Aufträge zu geben!‹

Und bevor der junge Mann antworten konnte, war Anthony, frohlockend unter seiner Bürde, in der Heckkabine verschwunden.

›Aufträge!‹ bemerkte Herr Powell. ›Das war schon recht. Sehr wahrscheinlich. Aber ich dachte mir, daß das wohl Aufträge sein würden, wie sie vielleicht noch nie zuvor einem Deckoffizier erteilt worden waren. Mir wurde ein wenig übel bei dem Gedanken, worauf sie sich wohl beziehen würden. Aber, na ja! Alles, was an Bord eines Schiffes auf hoher See geschieht, muß eben so oder so hingenommen werden. Da gibt es keine besonderen Leute, die man um Hilfe angehen kann. Und so stand ich also dem alten Mann gegenüber, der meiner Obhut übergeben war. Als er merkte, daß ich ihn ansah, begann er wieder durch den Salon zu schlurren. Er hielt die Hände immer noch tief in den Taschen, den Rücken steif wie nur je, nur ließ er den Kopf hängen. Nach einer Weile sagte er in seiner leisen, freundlichen Stimme: ›Haben Sie es gesehen?‹

Powell war verlegen um Worte, die seinen vollen Abscheu hätten ausdrücken können. So sagte er – er mußte ja etwas sagen –: ›Großer Gott! Was haben Sie sich gedacht, Herr Smith, als Sie versuchten . . .‹ Dann brach er ab. Er wagte das furchtbare Wort Gift nicht auszusprechen. Herr Smith hielt in seinem Herumschleichen an.

›Gedacht! Was wissen Sie vom Denken! Ich denke nicht. Etwas in meinem Kopf denkt. Das menschliche Denken ist, wie wenn man von Schnaps trunken ist oder von . . . Man kann es nicht aufhalten. Ein Mann, der denkt, kann sich alles denken . . . Nein! Aber Sie haben es gesehen? Nicht wahr?‹

›Ich sage Ihnen, daß ich es gesehen habe! Ich weiß es gewiß!‹ antwortete Powell mit Entrüstung. ›Ich habe Ihnen die ganze Zeit zugesehen. Sie haben etwas in das Glas getan.‹

Dann schien Powell den Atem zu verlieren. Herr Smith sah ihn neugierig und etwas mißtrauisch an.

›Mein lieber junger Herr, ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Ich frage Sie – haben Sie es gesehen? Wer hätte es geglaubt? Ihre Arme um seinen Hals! Wie denn! Oh haha! Sie haben es gesehen! Nicht wahr? Es war keine Täuschung, oder? Ihre Arme . . . Aber ich habe ihr niemals ganz getraut!‹

›Dann fuhr ich auf ihn los‹, erklärte Herr Powell. ›Ich sagte ihm, er habe Glück gehabt, daß er gerade an Kapitän Anthony geraten sei, einen Mann, wie es unter einer Million keinen zweiten gäbe.‹ Er fing wieder an, hin und her zu schlurren. ›Auch Sie‹, sagte er traurig mit gesenktem Blick. ›Wie? Wunderbarer Mann? Aber wissen Sie denn, wer ich bin? Hören Sie! Ich war der große de Barral! So druckten sie es in allen Zeitungen, während sie eine Verschwörung gegen mich zuwege brachten. Ich habe geherrscht zu meiner Zeit. Und nun bin ich ins Elend gekommen.‹ Seine Stimme erstarb zu einem bloßen Hauch, ›Ins Elend.‹

Er hob die Hände, zog sich die Mütze tief über den Kopf und steckte die Hände in die Taschen zurück, als dächte er daran, in starken Sturm hinauszugehen. ›Aber nicht tief genug ins Elend, als daß ich mich mit dem Unglück abfinden konnte, sie in den Klauen dieses Kerls zu sehen, ohne eine Gegenwehr zu versuchen. Sie wollte nicht auf mich hören. Angst? Dummheit? Ich mußte auf einen Weg bedacht sein, um sie hier herauszubringen. Hätten Sie geglaubt, daß sie sich etwas aus ihm machte? Nein! Hätte irgend jemand es geglaubt? Nein! Sie gab vor, es sei um meinetwillen geschehen. Sie konnte nicht begreifen, daß ich schon vor Monaten ihm an die Gurgel gefahren wäre, wenn ich kein alter Mann gewesen wäre. So hatte ich mich jedesmal zu überwinden, sooft er sie ansah. Meine Tochter! Ah! Jeder Mann, nur nicht er. Und die ganze Zeit über hat mich die kleine Hexe belogen. Das war ihre Heimlichkeit, ihre Verschwörung. Diese Verschwörungen haben den Teufel. Sie hat mich an der Nase herumgeführt, bis es richtig soweit war, daß der Kerkerwärter, der Schuft, ihr Mann, mich unter den Absatz bekam. Verrat! Mich ins Elend gebracht! Tiefer noch als sich selbst. In den Schmutz! Das ist es! Oder nicht? Unter seinen Absatz!‹

Er hielt in seinem Umherwandern inne, packte wieder mit beiden Händen seine Mütze und zog sie sich wütend bis über die Ohren. Powell war ganz Ohr für diese wild abgerissenen Sätze, ganz Auge für das finnige alte Gesicht, als Herr Smith plötzlich schnell wie der Blitz herumfuhr, das Glas des Kapitäns erwischte und den Inhalt mit dem erstickten Ausruf: ›Da ist das Glück‹ hinunterstürzte.

›Ich verstehe nun die Bedeutung des Wortes Verblüffung‹, fuhr Herr Powell fort. ›Das nämlich war mein Gemütszustand. Mein erster Gedanke war: Es ist gar nichts drin. Ich habe geträumt. Ich habe mich ganz schaudervoll geirrt . . .

Herr Smith setzte das Glas nieder. Er stand vor Powell ganz unbefangen, beruhigt, in Lauscherstellung, den Kopf leicht auf eine Seite geneigt, und mahlte mit den dünnen Lippen. Plötzlich zwinkerte er mit den Augen, faßte nach Powells Schulter und brach zusammen, gab haltlos nach, als wäre er ganz weich geworden, so wie ein Stück Seide niedersinkt. Powell faßte unwillkürlich nach seinem Arm und suchte den Sturz aufzuhalten; sobald aber Herr Smith auf den Boden niedergesunken war, gab er ihn frei und trat zurück. Im nächsten Augenblick aber stürzte er schon wieder vor und versuchte, den Körper aufzuheben. Doch sobald er ihn bei den Schultern gefaßt hatte, wußte er auch, daß der Mann tot war. Tot!

Er ließ ihn langsam niedergleiten. Er stand über ihn gebeugt, ohne Angst oder sonst ein Gefühl, fast gleichgültig, weit weg sozusagen. Dann fuhr er nochmals auf, und wäre der Gedanke an Frau Anthony nicht so stark in ihm gewesen, dann hätte er wohl einen lauten Hilfeschrei ausgestoßen. So aber taumelte er nur auf ihre Kabinentüre zu und stieß den Ruf ›Kapitän Anthony!‹ wohl lauter als nötig aus; doch zwang er sich zur Selbstbeherrschung. ›Ich warte auf meine Befehle, Herr‹, sagte er deutlich in festem Ton durch die Türe.

Es war ganz still drinnen; still wie der Tod. Dann hörte er Schritte und die Stimme des Kapitäns: ›Schon recht, ich komme.‹ Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Schotten, wie man mitunter einen Trunkenen gegen eine Mauer lehnen sieht, halb niedergesunken. In dieser Stellung fand ihn der Kapitän, als er herauskam und die Türe rasch hinter sich zuzog. Anthony ließ seinen Blick sofort durch den Salon schweifen. Powell umklammerte, ohne ein Wort zu reden, seinen Arm, führte ihn um das Tischende herum und begann sich zu rechtfertigen. ›Ich konnte ihn nicht hindern‹, flüsterte er zitterig. ›Er war mir zu schnell. Er hat es ausgetrunken und ist umgefallen.‹ Aber der Kapitän hörte nicht zu. Er sah auf Herrn Smith hinunter und dachte vielleicht, es sei ein reiner Zufall, daß nicht sein eigener Körper da liege. Sie hatten keine Lust zum Reden, machten einander nur Zeichen mit den Augen. Der Kapitän packte Powells Schulter wie in einen Schraubstock, sah nach der Türe von Frau Anthonys Kabine, und das war genug. Er wußte, daß der junge Mann ihn verstand. Gewiß. Schweigen! Ewiges Schweigen hierüber. Sogar ihre Blicke wurden verstohlen. Powell sah von dem Körper auf dem Fußboden nach der Kajütentüre des Toten. Der Kapitän nickte und ließ ihn gewähren; und Powell schlich hinüber, öffnete die Türe, hakte sie ein und kam mit ängstlichen Seitenblicken auf Frau Anthonys Türe zurück. Sie beugten sich über den Leichnam. Kapitän Anthony hob ihn bei den Schultern hoch.

Herr Powell erschauerte. ›Niemals werde ich die endlose Reise quer durch den Salon vergessen, Schritt um Schritt, mit angehaltenem Atem. Während der Hälfte des Weges verbarg uns die zugezogene Hälfte des Vorhangs, für den Fall, daß Frau Anthony ihre Türe geöffnet hätte; aber ich atmete erst frei auf, als wir den Leichnam auf sein Schwebebett niedergelegt hatten. Der Lichtschein aus dem Salon ließ den größten Teil der Kajüte im Schatten. Auch Herrn Smiths steif ausgestreckter Körper sah schattenhaft aus, schattenhaft und doch lebend. Sie wissen, daß er sich immer kerzengerade hielt. Wir standen neben dem Lager, als warteten wir auf ein Zeichen von ihm, daß er allein zu sein wünschte. Der Kapitän legte mir den Arm um die Schultern und flüsterte mir ins Ohr: ›Der Steward wird ihn morgen finden.‹

Ich antwortete nicht. Er hatte zu verfügen. Es war vielleicht am besten so. Es hat keinen Sinn, von meinen Gedanken zu reden. Sie drehten sich nicht um mich selbst, nicht einmal um den alten Mann, der mich nun mehr erschreckte als zu seinen Lebzeiten. Mein Mitleid galt einzig nur dem Kapitän. Er flüsterte: ›Ich verlasse mich auf Sie, Herr Powell. Sie sollten nun wieder an Deck gehen. Ich aber . . .‹ Und dabei sah ich, daß er wie zerstreut die Hände an den Kopf legte. Seine letzten Worte aber, bevor er sich aus der Kajüte hinausstahl, klingen mir heute noch deutlich im Ohr; er sprach sie wohl zu sich selbst, nicht zu mir:

›Nein, nein! Ich werde jetzt nicht über den Leichnam stolpern.‹

 

Das also ist es, was unser Powell mir zu erzählen hatte«, schloß Marlow in verändertem Ton. »Mir war es lieb gewesen, zu erfahren, daß Flora de Barral wenigstens vor diesem einen Schatten, der sich über ihren Weg gelegt hatte, bewahrt worden war.

Wir saßen schweigend, und ich überdachte de Barrals Ende, den unwiderstehlichen Druck eingebildeter Leiden, der sich stärker erweist als alle Gewissensbisse und Hemmungen, selbst die der einfachsten Vernunft; auch die böse, giftige Ironie in der Besessenheit, deren Opfer der alte Mann gewesen war.

›Nun gut‹, sagte ich.

›Der Steward fand ihn‹, fuhr Powell fort. ›Er kam um fünf Uhr früh mit einer Tasse Tee in die Kajüte und ließ sie natürlich fallen. Ich war wieder auf Wache. Er stürzte bleich wie der Tod zu mir auf Deck hinauf. Ich hatte es erwartet und doch konnte ich kaum sprechen. ›Gehen Sie und verständigen Sie unauffällig den Kapitän‹, brachte ich mühsam heraus. Er raste davon und murmelte: ›Mein Gott, mein Gott, mein Gott‹ vor sich hin. Und ich will verdammt sein, wenn er nicht förmlich Krämpfe bekam, während er dem Kapitän Meldung zu machen suchte, und im Salon zu schreien anfing: ›Ganz angezogen! Tot! Ganz angezogen!‹ Frau Anthony kam natürlich auch sofort heraus, aber sie fiel nicht in Krämpfe. Franklin, der auch zugegen war, hat mir gesagt, daß sie ihr Gesicht an des Kapitäns Brust verborgen, daß er daraufhin hinausgegangen sei und sie alleine gelassen habe. Es vergingen Tage, bevor Frau Anthony wieder auf Deck zu sehen war. Als ich sie zum ersten Male sprach, gab sie mir ihre Hand und sagte: ›Mein armer Vater hat Sie recht gerne gehabt, Herr Powell.‹ Dann mußte sie sich die Augen trocknen und ich rannte davon, auf die andere Seite des Decks. Man möchte gerne vergessen, daß all dies ihr einst geschehen mußte.‹

Das brachte er aber augenscheinlich nicht fertig, denn als er seine Pfeife angezündet hatte, fuhr er fort, laut vor sich hin zu grübeln: ›Ein ganz starkes Zeug muß es gewesen sein. Möchte wohl wissen, wo er es herhatte. Doch wohl schwerlich von einem gewöhnlichen Apotheker. Nun, er muß es wohl irgendwo hergehabt haben – es kann kaum ein Gran gewesen sein. Bestimmt nicht mehr.‹

»Ich habe meine eigene Ansicht,« bemerkte Marlow, »die bis zu einem gewissen Grade die übermäßig grauenvolle Annahme eines vorbedachten Verbrechens hinfällig macht. – Auch hier hatte der Zufall hereingespielt. Nicht Herr Smith war es, der das Gift erlangt hatte. Es war der große de Barral gewesen. Und es war nicht für den damals unbekannten, großherzigen Eroberer Floras bestimmt gewesen, sondern für den bekannten Finanzmann, dessen Unternehmungen mit Großmut nichts zu tun hatten. In den Tagen seiner Größe hatte er seinen Leibarzt gehabt. Ich glaube mich sogar zu erinnern, daß der Mann während der Verhandlung aufgerufen wurde, um über die eine oder die andere nebensächliche Einzelheit auszusagen. Ich kann mir vorstellen, daß de Barral ihn aufgesucht hat, sobald er, wie es ja nicht anders denkbar war, die Möglichkeit eines ›Triumphs seiner neidischen Feinde‹ – einer schweren Verurteilung – erfaßt hatte.

Ich zweifle daran, daß es aus Liebe oder um Geld geschehen sein könnte, – aber vielleicht hat ihm der Arzt aus Mitleid das gegeben, was Herr Powell ein ›starkes Zeug‹ nannte. Nach allem, was Powell als Augenzeuge über die Verwendung und Wirkung zu sagen weiß, nehme ich als sicher an, daß das Pulver in einer Kapsel enthalten war und daß de Barral diese am letzten Tage seines Prozesses bei sich getragen haben muß; vielleicht mit einem Heftstich in der Westentasche angenäht. Er machte keinen Gebrauch davon. Warum? Hat er im letzten Augenblick noch an sein Kind gedacht? Oder war es Mangel an Mut? Wir können es nicht sagen. Aber er fand die Kapsel in seinen Kleidern, als er aus dem Gefängnis herauskam. Sie war bei der Untersuchung übersehen worden, wenn eine solche überhaupt stattgefunden hatte. Der Zufall hatte de Barral eine Waffe in die Hand gegeben. Und nur der Zufall, der große Zufall in Herrn Powells Leben, zwang den alten Mann, die scheußliche Waffe gegen sich selbst zu kehren.

Ich setzte meine Ansicht Herrn Powell auseinander, der ihr sofort beipflichtete, weil er sie in gewissem Sinne für Frau Anthonys Vater günstig fand. Dann schwenkte er die Hand. ›Denken wir gar nicht weiter darüber nach.‹

Ich stimmte ihm bei, und gleich darauf bemerkte er träumerisch: ›Ich bin mit Kapitän Anthony und seiner Frau zusammengeblieben und fast sechs Jahre lang durch die ganze Welt gesegelt. Fast so lange wie Franklin!‹

›O ja! Was wurde aus Franklin?‹ fragte ich.

Powell lächelte: ›Er verließ die Ferndale etwa ein Jahr nachher und ich rückte an seinen Posten auf. Kapitän Anthony hatte ihn für ein Kommando empfohlen. Sie können sich ja natürlich vorstellen, daß Kapitän Anthony nicht etwa einen Mann wie einen Handschuh beiseite werfen konnte. Aber Frau Anthony hatte für Franklin wenig übrig. Ich wüßte nicht, daß sie je auch nur das leiseste Wort gegen ihn gesagt hätte; doch Kapitän Anthony konnte wohl ihre Gedanken lesen.‹

Und wieder schien sich Powell in die Vergangenheit zu verlieren. Da mir plötzlich der Gedanke an die Fynes durch den Kopf ging, fragte ich:

›Sind Kinder da?‹

Powell fuhr zusammen: ›Nein! Nein! Sie haben keine Kinder gehabt.‹ Dann schwieg er wieder und paffte aus seiner kurzen Stummelpfeife.

›Wo sind sie jetzt?‹ wollte ich weiter wissen, als läge mir daran, festzustellen, daß alle Befürchtungen Fynes unangebracht und leer gewesen waren, wie es unsere Befürchtungen oft sind; daß es also keine unerwünschten Kusinen für seine lieben Mädchen gab, keine Gefahr eines Einbruchs in ihr makelloses Heim. Powell wandte sich mir langsam zu, und seine Pfeife qualmte in seiner Hand weiter.

›Wissen Sie es nicht?‹ fragte er mit tiefer Stimme.

›Was soll ich wissen?‹

›Daß die Ferndale vor etwa vier Jahren verloren gegangen ist? Gesunken. Zusammenstoß. Und Kapitän Anthony ging mit ihr unter.‹

›Sagen Sie das nicht!‹ rief ich ganz aufgeregt, als hätte ich Kapitän Anthony persönlich gekannt. ›Ist – ist Frau Anthony mit untergegangen?‹

›Sie könnten ebensogut fragen, ob ich untergegangen bin‹, gab Powell zurück, so bockig, daß es mich überraschte. ›Sie sehen mich hier vor sich, nicht wahr?‹

Er schien förmlich kampflustig; angesichts meines verwunderten Blicks aber glättete er sein gesträubtes Gefieder und fuhr nachdenklich fort:

›Jawohl. Gute Männer gehen dahin, als wäre auf der Welt kein Platz für sie. Es scheint wirklich, daß es Dinge gibt, die, wie die Türken sagen, ›geschrieben stehen‹. Oder das Schicksal schlägt versuchshalber zu und verfehlt dabei mitunter sein Ziel. Sie erinnern sich, ich erzählte es Ihnen ja, wie knapp wir auf meiner ersten Reise mit ihnen der Gefahr entgingen, bei Nacht gerammt zu werden. Dieses andere Mal war es gerade ums Morgengrauen. Eine tote Flaute und ein Nebel dazu, daß man ihn hätte mit dem Messer schneiden können. Nur hatten wir keinen Sprengstoff an Bord. Ich war gerade an Deck und erinnere mich noch, wie der verfluchte, mörderische Kasten längsseit auftauchte und Kapitän Anthony (wir waren zusammen) ausrief: ›Großer Gott! Was ist das! Rufen Sie alle Mann an Deck, Powell, damit sie sich retten können. Diesmal haben wir kein Dynamit an Bord. Ich hole die Frau! . . .‹ Ich schrie, die ganze Deckwache schrie. ›Krach!‹

Powell keuchte noch bei der bloßen Erinnerung. ›Es war ein Dampfer der belgischen Grünsternlinie, die Westland‹ fuhr er fort, ›befehligt von einem dieser Draufgänger-Kapitäne. Flaherty hieß er, und ich hoffe, er wird ohne Absolution sterben. Die Westland schnitt die gute alte Ferndale halb entzwei, und nach dem Zusammenstoß gab es ein tödliches Schweigen. Als nächstes hörte ich den Kapitän vom Achterdeck her brüllen: ›Lassen Sie Ihre Maschinen langsam voraus gehen!‹ Und vom Vorderkastell der Westland her antwortete ein Geheul: ›Jawohl, jawohl!‹ Dann begann eine ganze Horde von Kerlen dort oben im Nebel herumzutoben. Sie warfen uns die Rettungsleinen dutzendweise herunter, das muß ich sagen. Ich und der Kapitän befestigten eine davon unter Frau Anthonys Armen. Ich erinnere mich noch, daß sie ein mattes Lächeln zeigte.

›Holt vorsichtig an‹, brüllte ich den Leuten auf dem Dampfer zu. ›Ihr habt eine Frau an dem Tau!‹

Der Kapitän sah, daß sie sicher oben ankam. Dann liefen wir unser Deck ab, um festzustellen, ob niemand zurückgeblieben sei. Als wir zurückkamen, sagte der Kapitän: ›Da ist es nun also vorbei mit ihr, Powell. Das liebe, alte Ding! Auf See in den Grund gebohrt!‹

›Ja, es ist wirklich vorbei‹, sagte ich. ›Aber es hätte schlimmer sein können. Klettern Sie an diesem Tau hoch, Herr, um Gottes willen. Ich werde es Ihnen festhalten!‹

›Was denken Sie!‹ sagte er ärgerlich. ›Die Reihe ist nicht an mir! Hinauf mit Ihnen!‹

Das waren wohl die letzten Worte, die er im Leben gesprochen hat, denke ich. Ich verstand gut, daß er als letzter sein Schiff verlassen wollte, und so turnte ich so schnell wie möglich hinauf, und die verdammten Narren oben packten mich gleich, zogen mich an Bord, durch die ganze Bemannung und den dümmsten Wirbel durch, den ich in meinem Leben je gesehen habe. Irgend jemand brüllte von der Brücke herunter: ›Habt ihr sie alle an Bord?‹ und ein Dutzend verdammte Esel schrien, alle auf einmal: ›Alle gerettet, alle gerettet!‹ Und dann setzte der verfluchte Irländer auf der Brücke, während ich noch ›Nein! Nein!‹ brüllte, daß ich glaubte, es würde mir den Kopf zerreißen, setzte er die Maschine achteraus. Setzte die Maschine achteraus – und ich kämpfte wie ein Wilder, um mir Gehör zu verschaffen und natürlich . . .

Ich sah Tränen, die in dichten Tropfen über Powells Gesicht liefen. Die Stimme brach ihm.

›Die Ferndale sackte weg wie ein Stein, und Kapitän Anthony ging mit ihr unter, die schönste Seele, die je im Leib eines Seemanns wohnte. Ich tobte wie ein Wilder, wie ein Teufel, und eine Schar von Narren tanzte um mich herum und fragte: ›Sind Sie nicht der Kapitän?‹

›Ich war nicht wert, die Schuhriemen des Mannes zu lösen, den ihr ersäuft habt‹, brüllte ich sie an . . . Nun, nun – ich konnte selbst sehen, daß es keinen Sinn hatte, ein Boot auszusetzen. Man hätte es längsseit nicht mehr gesehen. Keinen Sinn! Und denken Sie nur, Marlow, ich war es, der hingehen und es Frau Anthony beibringen mußte! Sie hatten sie irgendwo hinuntergeführt, in einen Salon erster Klasse. Ich mußte hingehen und es ihr sagen. Dieser Flaherty, Gott verzeih ihm, kommt zu mir, weiß wie ein Leintuch, kommt zu mir und sagt: ›Ich denke, Sie sind der geeignete Mann!‹ Gott verzeih ihm! Ich wäre tausendmal lieber gestorben. Eine Menge gütiger Damen, Passagiere, schwatzte aufgeregt um Frau Anthony herum – der reine Papageienkäfig. Der Schiffsarzt ging vor mir her. Er flüstert nach rechts und links, und plötzlich ist alles still. Jawohl, ich hätte tot sein mögen. Aber Frau Anthony benahm sich großartig.‹

Hierbei brach Powell richtig in Tränen aus. ›Niemand konnte anders, als Kapitän Anthony lieben. Stellen Sie sich selbst vor, was er ihr war. Und doch war sie es, die mir half, mich zusammenzureißen, bevor noch eine Woche um war.‹

›Ist Frau Anthony jetzt in England?‹ fragte ich nach einer Weile.

Er trocknete sich ohne alle falsche Scham die Augen. ›O ja!‹ Er sah sich nach Zündhölzern um, und während er sich nach der Schachtel unter dem Tisch bückte, fügte er hinzu: ›Und nicht einmal sehr weit von hier. Das kleine Dorf dort oben – Sie wissen ja . . .

›Nein! Wirklich! Oh, ich verstehe.‹

Herr Powell rauchte angelegentlich, mit undurchdringlichem Gesicht. Aber so leichten Kaufes konnte ich ihn nicht davonlassen. Der schlaue Fuchs! Das also war der Grund seiner geheimnisvollen Leidenschaft für das Herumsegeln im Flusse, seiner Vorliebe für die kleine Bucht.

›Und ich nehme an,‹ sagte ich, ›daß Sie immer noch so ›schwärmerisch‹ wie nur je empfinden. Wie? Wäre ich Sie, dann würde ich Frau Anthony einiges über diese Schwärmerei erzählen! Warum denn nicht?‹

Er konnte gerade noch die Pfeife auffangen, die ihm entfallen wollte. Wenn aber das, was die Franzosen effarement nennen, jemals auf einem menschlichen Gesicht zu lesen war, so war es damals bei ihm der Fall, als Beweis seiner Bescheidenheit, seines Feingefühls und seiner Unschuld. Er sah aus, als fürchtete er, daß jemand meine kühne, fast gotteslästerliche Andeutung gehört haben könnte, – als hätten uns nicht anderthalb Meilen einsamen Marschlandes, mit Deichen, von der nächsten menschlichen Behausung getrennt. Dann schien ihm aber diese beruhigende Tatsache einzufallen, denn er gestattete ein Aufleuchten seiner Augen; es war wie der Abglanz eines innerlichen Feuers, das im innersten Heiligtum seines Herzens von einer Ergebenheit genährt wurde, so rein wie die irgendeiner Vestalin.

Es blitzte auf und verging wieder. Er lächelte verschämt und seufzte:

›Pah! Verrückt! – Sie könnten was Besseres wissen‹, sagte er dann, eher traurig als verärgert. ›Aber ich vergesse, daß Sie ja Kapitän Anthony nicht gekannt haben‹, schloß er nachsichtig.

Ich erinnerte ihn daran, daß ich Frau Anthony kannte; früher sogar als er – der doch nun ihr alter Freund war – sie je zu Gesicht bekommen hatte. Und als er mir sagte, daß Frau Anthony von unseren Zusammenkünften erfahren habe, da hätte ich gerne gewußt, ob sie Wert darauf legen würde, mich zu sehen. Herr Powell wollte sich damals nicht darüber äußern. Als wir aber das nächste Mal in der Bucht lagen, sagte er: ›Sie wird sich sehr freuen. – Sie sollten am besten gleich heute hingehen!‹

Der Nachmittag war weit vorgeschritten, als ich mich dem Landhaus näherte. Die Milde eines schönen, vergehenden Tages umgab mich in wohltuender Ruhe; sie sprach zu mir aus der Stille der schattigen Wiesen, der reinen Luft, des blauen Himmels. Es ist schwer, die Erinnerung an die Erregungen, den Jammer, die Versuchungen und die Verbrechen des selbstsüchtigen Menschengeschlechts im Angesicht der reinen und makellosen Natur wachzuhalten. Während ich den traumlosen Frieden rings um das malerische Dorf, dem ich zuging, einatmete, war es mir, als müßte er überall herrschen, auf dem ganzen Erdball, mit Wasser und Land, in den Herzen aller seiner Bewohner.

Flora kam mir an die Gartentüre herunter entgegen; sie war nicht mehr der merkwürdig anziehende, bekümmerte, weiße Nebelhauch, der durch die bösen Träume dieses Lebens hintrieb. Auch wie eine verlorene Seele sah sie nicht aus. Ich stammelte ganz töricht: ›Wieder auf dem Lande, Fräulein . . . Frau . . .‹ Sie war sehr gütig, erwiderte den Druck meiner Hand, doch waren wir beide ein wenig verlegen. Dann lachten wir ein bißchen. Dann wurden wir ernst.

Ich bin kein Freund der Abenddämmerung. Du weißt ja, wie dumm und zwiespältig das Dämmerlicht ist. Sie aber war dabei ganz sie selbst. Sie war wie ein schöner, ruhiger Nachmittag, nicht einmal sonderlich vorgeschritten. Eine Frau wenig über dreißig, mit blendender Haut, matten Farben, prachtvollem Haar, glatten Brauen, einem feinen Kinn und nur mit den Augen der Flora aus den alten Tagen, völlig unverändert.

In dem Zimmer, in das sie mich führte, fanden wir ein Fräulein Soundso – ich verstand den Namen nicht. Eine unaufdringliche, sozusagen verwaschene, ältere Person in Schwarz. Gesellschafterin. Alles tadellos. Sie kam und ging, setzte sich auch gelegentlich hin, mit irgendeiner Näherei. Als sie schließlich die brennende Lampe hereinbrachte, hatte ich alle Einzelheiten erfahren, die bei dieser Geschichte wirklich ins Gewicht fallen. Es wäre ja auch nicht zu erwarten gewesen, daß zwischen mir und der einstigen Flora de Barral das Gespräch sich gerade nur um das Wetter hätte drehen sollen.

Die Lampe hatte einen rosa Schirm; in diesem Licht schien sie ständig zu erröten, sah so wundervoll jung aus, wie sie in dem tiefen, hochlehnigen Armstuhl vor mir saß. Ich fragte:

›Wollen Sie mir nicht sagen, was Sie in dem berühmten Brief geschrieben haben, der Frau Fyne so aufgeregt und Herrn Fyne veranlaßt hat, sich in der groben Art einzumengen?‹

›Der Brief war eine Roheit‹, sagte sie ernsthaft. ›Ich war rücksichtslos gestimmt und schrieb rücksichtslos. Ich wußte, daß sie nicht einverstanden sein würde, und schrieb ganz verrückt. Es war das Echo ihres eigenen dummen Geredes. Ich sagte ihr, daß ich ihren Bruder nicht liebte, daß ich aber keinerlei Hemmungen fühlte, ihn zu heiraten.‹

Sie unterbrach sich, zauderte, und meinte dann mit einem scheuen Versuch zu lächeln:

›Ich war tatsächlich der Meinung, daß ich mich verkaufte, Herr Marlow. Und ich war stolz darauf. Was ich nachher litt, das könnte ich Ihnen nie sagen; denn meine Liebe zu meinem armen Roderick kam mir erst nach Folterqualen von Wut und Demütigung zum Bewußtsein. Ich hatte ihn im Verdacht, daß er mich verabscheute; doch konnte ich es meines Vaters wegen auf den Beweis nicht ankommen lassen. Oh! Ich wäre nicht zu stolz dazu gewesen! Doch ich hatte auf die Gefühle des armen Papas Rücksicht zu nehmen. Roderick benahm sich vollendet, aber ich kam mir vor, als läge ich auf der Folter und dürfte nicht einmal schreien. Papas Vorurteil gegen Roderick war mein größter Kummer. Es war zum Verzweifeln. Es erschreckte mich. Oh, was habe ich mich elend gefühlt! Ich bin sicher, daß sie in der Nacht, in der mein armer Papa so plötzlich starb, irgendeine Auseinandersetzung gehabt hatten, meinetwegen. Aber ich wollte nicht länger gegen mein eigenes Herz angehen. Ich konnte es nicht!‹

Nach einer kurzen Pause sagte sie hastig:

›Die Wahrheit will heraus, Herr Marlow.‹

›Jawohl‹, sagte ich.

Sie fuhr nachdenklich fort:

›Kummer und Glück wechselten zuerst ab wie Schatten und Licht. Monatelang lebte ich in einem Gefühlsdämmern. Aber es war ruhig, es war warm . . .

Wieder unterbrach sie sich, dann griff sie weiter zurück: ›Nein, in dem Brief war nichts Böses. Er war einfach verrückt. Was wußte ich damals vom Leben? Nichts. Aber Frau Fyne hätte es besser verstehen müssen. Sie schrieb etwas später ihrem Bruder einen Brief. Jahre nachher erlaubte mir Roderick ihn zu lesen. Ich fand darin diesen Satz: ›Durch Jahre habe ich versucht, mir dieses Mädchen zur Freundin zu machen; aber ich warne Dich ein letztes Mal: sie hat die Gemütsart einer herzlosen Abenteuerin . . .‹ ›Abenteuerin!‹ wiederholte Flora langsam. ›Mag es sein. Ich habe ein schönes Abenteuer erlebt!‹

›Es war also schön?‹ fragte ich teilnahmsvoll.

›Das Schönste in der Welt! Denken Sie nur! Ich liebte und war geliebt, ungestört, in vollem Frieden, ohne Reue, ohne Angst. Die ganze Welt, das ganze Leben schienen mir umgestaltet. Und wieviel habe ich gesehen! Wie gut waren die Menschen zu mir! Roderick war überall so beliebt. Ja, ich habe Güte und Sicherheit gekannt. Die gewohntesten Dinge erschienen mir in einem neuen Licht, mit einem Liebreiz umkleidet, den ich nie geahnt hätte. Sogar das Meer selbst . . . Sie sind Seemann. Sie haben Ihr Leben auf See verbracht. Aber wissen Sie denn, wie herrlich die See ist, wie stark, wie wundervoll, wie freundlich, wie mächtig . . .

Ich lauschte verwundert und gerührt. Sie schwieg nur einen Augenblick.

›Es war zu schön, als daß es hätte währen können. Aber nichts kann mir die Erinnerung nehmen . . . Glauben Sie nicht, daß ich mich beklage. Ich bin jetzt nicht einmal traurig. Ja, ich bin glücklich gewesen. Aber ich denke auch noch an die Zeit, wo ich unglücklich war über jedes erträgliche Maß, über alle Verzweiflung hinaus. Ja, Sie wissen davon. Und auch später noch. Es gab an Bord der Ferndale eine Zeit, wo nur die kurzen Augenblicke mir Erleichterung brachten, in denen ich ein wenig mit Herrn Powell auf dem Hüttendeck plaudern konnte. Sie mögen ihn – nicht wahr?‹

›Ausgezeichneter Bursche!‹ sagte ich warm. ›Sehen Sie ihn öfter?‹

›Natürlich. Ich kenne ja kaum jemand sonst auf der Welt. Ich stehe allein. Und er hat soviel Zeit. Seine Tante ist vor einigen Jahren gestorben. Er tut gar nichts, glaube ich.‹

›Er mag das Meer,‹ bemerkte ich, ›er liebt es.‹

›Er scheint es aufgegeben zu haben‹, murmelte sie.

›Warum denn nur?‹

Sie schwieg. ›Ist es vielleicht, weil er sonst etwas mehr liebt?‹ fuhr ich fort, ›Oh, kommen Sie, Frau Anthony, lassen Sie mich nicht den Eindruck von hier mit fortnehmen, daß Sie eine selbstsüchtige Person sind, die die Erinnerung an vergangenes Glück hütet, wie ein reicher Mann seinen Schatz, und den Armen vor der Türe vergißt.‹

Ich erhob mich, um zu gehen, denn es wurde spät. Sie stand etwas erregt auf und ging mit mir in die tiefe Dunkelheit des Gartens hinaus. Sie hielt meine Hand in der ihren und sagte dann genau mit der Stimme der Flora aus den alten Tagen, im selben Tonfall, in dem das alte Mißtrauen mitklang, der Zweifel an sich selbst, die Narbe der Wunde sozusagen, die ihr in früher Jugend geschlagen worden war: ›Halten Sie es für möglich, daß er mich gerne mag?‹

›Fragen Sie ihn doch selbst! Sie sind tapfer.‹

›Oh, ich bin tapfer genug‹, gab sie mit einem Seufzer zurück.

›Dann tun Sie es. Denn wenn Sie es nicht tun, dann werden Sie dem geduldigen Mann ein bitteres Unrecht zufügen.‹

Ich ging und ließ sie sprachlos zurück. Als ich am nächsten Tage sah, wie Powell sich anschickte, an Land zu gehen, bat ich ihn, Frau Anthony meine Empfehlungen zu bestellen. Er versprach es zu tun.

›Hören Sie, Powell,‹ sagte ich, ›wir haben einander durch Zufall kennengelernt.‹

›Gewiß, ja‹, gab er zu und setzte sich den Hut zurecht.

›Und die letzte Weisheit des Lebens besteht darin, jeden Zufall zu nutzen, der sich bietet‹, fuhr ich fort. ›Glauben Sie nicht daran?‹

›Goldene Wahrheit‹, meinte er ungeduldig.

›Nun, vergessen Sie es nicht!‹

›Oh! Ich! Ich warte längst nicht mehr, daß sich etwas bietet‹, sagte er und sprang an Land.

Er kehrte zur Flutzeit nicht zurück. Ich setzte mein Segel, und eben, als ich vom Ufer losgekommen war, tauchten in der Dämmerung hinter der dunklen Scheune zwei Gestalten auf und blieben stehen, schweigend, undeutlich.

›Sind Sie das, Powell?‹ rief ich hinüber.

›Mit Frau Anthony‹, kam seine Stimme eindringlich durch die schweigende, weite Marsch. ›Ich segle heute Nacht nicht. Ich muß Frau Anthony nach Hause bringen.‹

›Dann muß ich alleine fort‹, rief ich.

Floras Stimme wünschte mir bon voyage, in einem freundlichen, doch etwas zitterigen Ton.

›Sie werden bald von mir hören‹, brüllte Powell plötzlich, als mein Boot gerade die Mündung der Bucht erreicht hatte.

Das war gestern«, schloß Marlow und wiegte sich träge in dem Armstuhl. »Ich habe noch nichts gehört; aber ich erwarte es jeden Augenblick . . . Was zum Teufel hast du so spöttisch zu grinsen? Ich fürchte mich nicht, mit einem Freund in die Kirche zu gehen. Zum Teufel, wenn ich auch noch so sehr an den Zufall glaube, so bin ich doch nicht geradezu ein Heide . . .«

 

Ende

 


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