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»›Ein sehr eigenartiges Verbot‹, bemerkte Frau Fyne nach einem kurzen Schweigen. ›Er schien das Kind zu lieben.‹
Sie schien verlegen. Ich suchte den Grund anderswo, sei es in der Halsstarrigkeit eines Mannes, der sich keiner Schuld bewußt und nun dabei war, seinen ›Verfolgern‹, wie er sie nannte, die Stirne zu bieten; oder in der Furcht, durch ein weicheres Gefühl seine trotzige Abwehr bedroht zu sehen; vielleicht auch lag eine gewisse Selbstverleugnung darin, um dem Mädchen den Anblick ihres Vaters vor Gericht zu ersparen, des Betruges angeklagt, als Schwindler verurteilt. – Das konnte auch als Beweis eines gewissen Feingefühls gelten.
Frau Fyne wußte nicht, was sie denken sollte. Sie meinte, es könnte auch bloße Härte gewesen sein. Die Leute aber, unter die das Mädchen geraten war, hatten keinen Schimmer von Feingefühl. Dessen war sie ganz sicher. Frau Fyne fühlte sich gar nicht imstande, mir nur einen Begriff von ihrer unglaublichen Gemeinheit zu geben. Flora hatte ihr später einiges von ihrem Leben in jenem Hause unten in Limehouse erzählt. Es war unglaublich. Es überstieg Frau Fynes Begriffe. Es war ein Grad von Verwilderung, den sie nie für möglich gehalten hätte.
Ich dagegen hielt ihn sehr wohl für möglich. Ich konnte mir leicht vorstellen, wie das arme Mädchen beim Eintritt in jenes Haus erschreckt und verletzt worden sein mochte – um ihre Vergangenheit beneidet, während sie wehrlos, auf Gnade und Ungnade, Leuten ausgeliefert war, denen Herzenstakt oder auch nur Wärme völlig fehlten, die unfähig waren, ihr Elend zu verstehen, plump, neugierig –, die ihre Schüchternheit als Verachtung, ihr scheues Zurückweichen als Stolz mißdeuteten. Die Frau des ›ekelhaften Menschen‹ war lächerlich albern und eitel. Von den zwei Töchtern des Hauses neigte die eine zur Frömmelei, die andere war eine richtige Range; beide waren von rauher Gemütsart – wenn von Gemüt überhaupt die Rede sein konnte. Die ziemlich zahlreichen Männer der Familie waren beschränkt und mürrisch oder beschränkt und zu Scherzchen geneigt. Keiner in der ganzen Rotte war barmherzig genug, das Mädchen einfach allein zu lassen. Im Anfang wurde viel von ihr hergemacht, unter verletzender Begönnerung. Die Verbindung mit dem großen de Barral schmeichelte der Eitelkeit der Leute auch noch im Augenblicke des Zusammenbruchs. Sie schleppten das Mädchen zu ihrem Bethaus, wo die Versammlung sie anstarrte, und gaben Unterhaltungen für andere Wesen ihrer Art, wobei das Mädchen mit pharisäerhafter Selbstzufriedenheit zur Schau gestellt wurde. Flora wußte nicht, wie sie sich gegen die Taktlosigkeiten, Frechheiten und Anmaßungen wehren sollte. Sie lebte unter den Leuten als ein leidendes Opfer, zitternd in jedem Nerv, als würde sie gepeitscht. Nach der Verhandlung wurde ihre Stellung noch schlechter. Beim geringsten Anlaß und oft sogar ohne Anlaß wurde sie gescholten oder durch den Vorhalt ihrer Abhängigkeit gedemütigt. Die frömmelnde Tochter hielt ihr ihre Fehler vor, die andere verspottete sie unter bissiger Aufzählung ihrer Vorzüge und war auch immer dabei, wegen irgendeines ›Burschen‹ einen Streit vom Zaune zu brechen. Die Mutter half unweigerlich ihren Töchtern und fügte von sich aus noch irgendwelchen verletzenden Schimpf hinzu. Ich muß sagen, daß sie sich der Abscheulichkeit ihres Verhaltens wahrscheinlich nicht bewußt waren. Sie waren ja untereinander auch nicht liebreich. Ihre ewigen Zänkereien untereinander waren gleich widerwärtig wegen der Anlässe wie auch wegen des Geistes niedrigster Selbstsucht, in dem sie geführt wurden. Die Frauen schienen einen Hauptspaß an Lärmszenen zu haben und waren immer bereit, zusammen, wegen unglaublich nichtiger Anlässe, über das unglückliche Mädchen herzufallen. So war Flora einmal in Wut und Verzweiflung gebracht worden, hatte, in ihren geheimsten Gefühlen getroffen, unvermittelt gesehen, wie tief Menschen sinken können, und das alles tatsächlich wegen einer verlegten Häkelei, an der die wilde der beiden Töchter arbeitete. Jawohl, das war der Anlaß zu einer der übelsten Auseinandersetzungen, die in ihrer Wiederholung natürlich die denkbar ungünstigste Wirkung auf den unfertigen Charakter des Mädchens haben mußten, dieses erbarmungswürdigsten unter allen Opfern de Barrals. Das alles weiß ich von Frau Fyne. Um halb neun Uhr an einem kalten Regenabend tauchte das Mädchen im Hause der Fynes auf. Sie war ohne Hut, wie sie eben das Haus da unten in Poplar verlassen hatte, war barhäuptig den weiten Weg bis in die Nähe von Sloane Square gelaufen, ohne anzuhalten, ohne anders als zu einem Schluchzen Atem zu holen.
›Wir hatten Gäste zu Tisch‹, sagte die Schwester des Kapitäns Anthony bekümmert.
Sie hatte die Hausglocke läuten hören und sich erstaunt gefragt, was es wohl sein mochte. Das Zimmermädchen hatte es fertiggebracht, ihr unauffällig die Nachricht zuzuflüstern. Die Dienstboten waren erschreckt über den Einbruch des aufgeregten Mädchens in schmutzbespritzten Kleidern, dem die feuchten Haarsträhnen über die blassen Wangen fielen. Doch kannten sie sie von früher her. Das war nicht das erste-, es war auch nicht das letztemal, daß sie sie sahen. Sobald sie sich von ihren Gästen entfernen konnte, stürzte Frau Fyne die Stiegen hinauf.
›Ich fand sie im Kinderschlafzimmer auf dem Fußboden, den Kopf an die Wiege der Kleinsten gelehnt; die Älteste saß aufrecht im Bett und sah durch das Zimmer nach ihr hin.‹
Nur ein Nachtlicht brannte im Zimmer. Frau Fyne hob das Mädchen auf, führte sie in Herrn Fynes kleines Ankleidezimmer jenseits des Flurs, setzte sie an das Feuer, damit sie sich trocknen könnte, und ließ sie allein. Sie mußte zu ihren Gästen zurück.
Für die Fynes mußte es wohl eine sehr peinliche Überraschung gewesen sein. Später gingen sie beide hinauf und fragten das Mädchen aus. Flora sprang bei ihrem Eintritt auf. Sie hatte ihr feuchtes Haar gelöst. Ihre Augen waren trocken, glühten vor Wut.
Ich kann mir den kleinen Fyne vorstellen, wie er mit würdiger Anteilnahme zuhörte, um sich dann würdig in das eheliche Schlafgemach zurückzuziehen. Frau Fyne beruhigte das Mädchen; glücklicherweise war ein Bett da, das im Ankleidezimmer für sie aufgeschlagen werden konnte.
›Aber was konnte man schließlich tun‹, schloß Frau Fyne. Und dieser ständig wiederkehrende Ausruf, der die Schwierigkeit der Frage sowohl wie ihre eigene gute Absicht dartat, ließ mich wie gewöhnlich Frau Fyne freundlicher ansehen.
Am nächsten Morgen ganz früh, lange bevor Fyne in sein Bureau fortmußte, tauchte ›der ekelhafte Mensch‹ auf, vielleicht nicht ganz unerwartet, aber doch überraschend, wenn nicht anders, so wegen der Schnelligkeit seines Handelns. Nach allem, was Flora selbst Frau Fyne erzählte, schien es, daß er, ohne etwa merklich weniger ›ekelhaft‹ zu sein als seine Familie, doch in einer etwas geheimnisvollen Weise seine Macht zum Schutze des Mädchens eingesetzt hatte. ›Nicht, daß er mich lieb hätte‹, erklärte Flora. ›Ich bin sicher, daß er mich nicht lieb hat. Ich könnte es nicht ertragen, wenn irgend jemand von diesen Leuten mich lieb hätte. Wenn ich denken sollte, daß er mich lieb hätte, würde ich mich lieber ertränken, als mit ihm zurückgehen.‹
Denn natürlich war er gekommen, um ›Florrie‹ heimzuholen. Der Auftritt spielte sich im Eßzimmer ab. Das Frühstück wurde unterbrochen, die Schüsseln wurden kalt, das Toast des kleinen Fyne wurde lederzäh. Fyne hatte seinen Stuhl verlassen und stand nun mit dem Rücken zum Feuer, die Zeitung lag auf dem Fußboden, die Dienstboten waren hinausgeschickt, Frau Fyne saß stocksteif auf ihrem Platz, das Mädchen neben sich, und der ›ekelhafte Mensch‹, der fast ohne Gruß hereingepoltert war, blickte von Fyne zu Frau Fyne, als belustigte er sich über etwas, was er von ihnen wußte. Schließlich begann er etwas spöttisch seine Rede: er entschuldige sich nicht, daß er Fyne und seine ›liebe Frau‹ beim Frühstück störe, denn es sei ja natürlich, daß sie sie (mit einem Nicken gegen das Mädchen hin) keinen Augenblick länger als unerläßlich nötig auf dem Halse haben wollten. Er sei so rasch wie irgend möglich gekommen, denn er habe sich ja um sein Geschäft zu kümmern. Er nämlich beziehe kein fabelhaftes Gehalt (dies mit einem Blick auf Fyne) in einem prächtig eingerichteten Bureau. Er nicht. Er habe es aus eigener Kraft bis zum Arbeitgeber gebracht und fühle sich nun verpflichtet, mit gutem Beispiel voranzugehen.
Ich denke mir, daß der Bursche die Verblüffung, in die seine Gegenwart Herrn und Frau Fyne stürzte, gut gemerkt hatte und in Muße genoß. Plötzlich wandte er sich dem Mädchen zu. Frau Fyne gestand mir, daß sie alle drei stumm, wie leblos dasaßen. Er wandte sich dem Mädchen zu: ›Was sollen die Späße, Florrie? Du solltest sie lieber bleiben lassen. Wenn du dir einbildest, daß ich in ganz London herumrennen und dich suchen würde, so oft du dich mit deiner Tante und deinen Kusinen zankst, dann irrst du dich! Ich habe nicht die Zeit dazu!‹
Zanken! – das war ein Ausdruck, der einem den Atem nehmen konnte; denn in der Auseinandersetzung wegen der Häkelei waren die Worte ›Sträfling‹ und ›Bettler‹ gefallen, im Augenblick, bevor Flora de Barral davongerannt war. Jawohl, diese selben Worte! So hatte wenigstens das Mädchen am Abend zuvor Frau Fyne erzählt. Der Ausdruck Zanken in Verbindung mit ihrer Erzählung hatte einen eigenen Beigeschmack, eine geradezu lähmende Wirkung. De Barrals Verwandter ging unvermittelt zur Großmut über: ›Die Tante hat mir aufgetragen, dir zu sagen, daß es ihr leid tut. Da! Und Amelie (die wilde Schwester) wird dir nichts mehr zuleide tun, darauf will ich sehen! Nun kannst du zufrieden sein! Denk' an deine Stellung!‹
Kühner gemacht durch die Totenstille im Zimmer, wandte er sich mit kalter Unverschämtheit an Frau Fyne: ›Was ich sage, ist, daß die Leute verträglich sein sollten. Sie kann es nicht leiden, wenn man sie neckt. Dann tut sie gleich großartig. Sie kann nicht den geringsten Scherz von Leuten vertragen, die doch ebenso gut sind wie sie. Wir sind einfache, gerade Menschen. Wir mögen das nicht. Und so fängt der Wirbel immer an.‹
Unempfindlich gegen das eisige Starren der drei Augenpaare, die, wenn die Märchen unserer Kindheit über die Macht des menschlichen Blickes wahr sind, jeden Tiger hätten zähmen müssen, unempfindlich dagegen schlug der unbeirrbare Gewerbetreibende aus London-Ost seine Fänge, bildlich gesprochen, in das arme Mädchen und schickte sich an, sie als Fraß seinen Jungen beiderlei Geschlechts heimzuschleppen. ›Die Tante hat daran gedacht, dir deinen Hut und deinen Mantel zu schicken. Ich habe sie unten im Cab.‹
Frau Fyne sah gedankenlos aus dem Fenster hinaus. Vor der Türe im Regen stand eine vierrädrige Droschke. Der Kutscher mit der kegeligen Kapuze über dem Wachsleinwandhut rann über und über von Wasser. Das triefende Pferd sah aus, als hätte man es halb bewußtlos aus einem Brunnen gezogen. Frau Fyne fand in dem Anblick trotz seiner Kümmerlichkeit eine gewisse Erleichterung, weil er sie von dem Zimmer ablenkte und von der Stimme des liebenswürdigen Besuchers, die nun voll billiger Salbung das verirrte Schaf ermahnte, zu der gottgewollten Herde zurückzukehren. ›Komm, Florrie, rühr' dich! Ich kann nicht den ganzen Tag dastehen und auf dich warten.‹
Frau Fyne hörte alles das mit an, ohne sich vom Fenster wegzurühren. Fyne, am Kamin, konnte auch nichts weiter tun als zuhören und zusehen. Ich möchte es gar nicht versuchen, ihre Qualen zu schildern; gerade ihre Gutmütigkeit muß sie ins Unerträgliche gesteigert haben. Das Mädchen hielt die Hände im Schoß, das Haupt wie in tiefen Gedanken gesenkt; und der andere fuhr in seiner Predigt fort. Er verdammte darin die Undankbarkeit, hob die Sündigkeit der Hoffart hervor – zugleich mit der sprichwörtlichen Tatsache, daß sie ›vor dem Fall kommt‹. Es gab auch einige deutliche Hinweise auf die Gefahr alberner Ansichten und die Nachteile eines hitzigen Temperaments. Damit verdarb man es sich mit den besten Freunden. ›Und wenn irgend jemand in der Welt je Freunde nötig hatte, dann bist du es, mein Mädel!‹ – Sogar die Ehrfurcht vor der väterlichen Gewalt wurde ins Treffen geführt. ›In der ersten Stunde seines Unglücks hat mir dein Vater geschrieben, ich sollte mich um dich kümmern. Vergiß das nicht. Jawohl, mir, einem einfachen Mann. Lieber mir, als irgendeinem seiner noblen Westendfreunde. Darum kommst du nicht herum. Und ein Vater ist ein Vater, ganz gleich, was für eine Suppe er sich eingebrockt hat. Du wirst wohl nicht deinen eigenen Vater beiseite schieben wollen, oder?‹
Es war schwer zu sagen, ob er mehr töricht als grausam war oder mehr grausam als töricht. Frau Fyne glaubte mit dem Feingefühl der Frau aus seinem salbungsvollen Ton eine höhnische Unterabsicht herauszuhören, etwas noch Niedrigeres als bloße Grausamkeit. Sie blickte rasch über die Schulter zurück und sah, wie das Mädchen beide Hände zum Kopf hob und sie wieder in den Schoß fallen ließ. Fyne am Kamin schien das Opfer eines bösen Zaubers, der Bewegung und der Sprache beraubt, doch offenbar gequält. Es gab eine kurze, tote Pause, und dann verstieg sich der ›ekelhafte Mensch‹ (er mag in seiner Art wirklich bemerkenswert gewesen sein) zu unverhohlenem Spott.
›Nun? . . .‹ Wieder ein Schweigen. ›Wenn du dich etwa bei dem Herrn und der Dame da in Kost und Quartier gegeben hast, dann sag' es lieber gleich. Ich mag mich nicht in einen Handel mischen, von dem ich nichts weiß. Aber ich möchte nicht wissen, wie sich dein Vater dazu stellen wird, wenn er einmal herauskommt . . . Oder glaubst du etwa, daß er gar nicht mehr herauskommen wird?‹
In diesem Augenblick, sagte mir Frau Fyne, begegnete sie den Augen des Mädchens, und in denen stand etwas, was sie veranlaßte, die eigenen niederzuschlagen. Zugleich hatte sie auch ein Gefühl, als würde sie am liebsten sich die Finger in die Ohren stecken. Sie beherrschte sich allerdings, und der ›einfache Mann‹ ging mit einer erstaunlichen Beweglichkeit vom Spott zu versteckter Drohung über.
›Du hast also . . . wie? Gut und schön! Bevor ich aber heimgehe, laß mich doch noch fragen, mein Mädel, ob es nicht später einmal für deinen Vater recht unangenehm sein könnte, daß du uns jetzt so abgetan hast? Denk' darüber nach!‹
Er sah sein Opfer lauernd an. Flora sprang so unvermittelt auf, daß er zurückfuhr. Auch Frau Fyne erhob sich, und sogar von ihrem Gatten wurde der Bann genommen. Doch das Mädchen ließ sich wieder in den Stuhl fallen und wandte den Kopf Frau Fyne zu. Diesmal war es kein zufälliges Zusammentreffen flüchtiger Blicke. Es war eine überlegte Verständigung. Auf meine Frage, welcher Art diese wohl gewesen sein mochte, meinte Frau Fyne, sie wüßte es nicht. ›War es eine Bitte um Hilfe?‹ riet ich. ›Nein‹, sagte sie. – ›War Angst darin, Ärger, Niedergeschlagenheit, Ergebung?‹ – ›Nein! Nein! Nichts davon.‹ Aber es hatte sie geängstigt. Sie dachte heute noch daran. Hatte sich seit damals eingebildet, einen entfernten Abglanz dieses Ausdrucks in allen Blicken des Mädchens zu sehen: in den aufmerksamen, in den zufälligen – sogar in den dankbaren Blicken, noch während der weichsten Stimmungen.
›Hat sie also auch ihre weichen Stimmungen?‹ fragte ich gespannt. Frau Fyne, in ihre Erinnerungen verloren, beachtete meine Frage nicht. Alle ihre geistigen Kräfte waren auf die Ergründung dieses unbegreiflichen Blickes gerichtet. Die allgemeine Überlieferung des Menschengeschlechtes lehrt uns, daß die Blicke das hauptsächlichste Verständigungsmittel der Frauen sind. Frau Fyne zeigte sich ehrlich bemüht, mir einen Begriff zu geben, vielleicht ebensosehr, um über ihre eigene Verlegenheit wegzukommen, wie um meine Neugierde zu befriedigen. Sie runzelte bei der Anstrengung die Brauen, wie man es manchmal bei Kindern sieht. (Das Köstliche bei Frauen ist es ja gerade, daß sie so oft klugen Kindern ähneln – ich meine sogar die mürrischsten, bissigsten, verblühtesten unter ihnen – mitunter.) Sie runzelte also die Brauen, sagte ich, und ich schickte mich an, ihr schüchtern zuzulächeln, als sie plötzlich mit etwas völlig Unerwartetem herausplatzte.
›Es war entsetzlich lustig‹, sagte sie.
Ich nehme an, es muß sie befriedigt haben, wie ich plötzlich ernst wurde, denn sie sah mich freundlich an.
›Jawohl, Frau Fyne,‹ sagte ich, nicht länger lächelnd, ›ich verstehe. Es hätte sogar auf der Bühne noch furchtbar sein müssen.‹
›Oh‹, unterbrach sie mich – und es schien, als wollte sie ein Erschauern unterdrücken, als sie sich plötzlich wieder mit gefalteten Armen in ihre alte Stellung zurücklehnte. ›Aber es war nicht auf der Bühne, und es waren nicht ihre Lippen, die lachten.‹
›Ja, es muß entsetzlich gewesen sein‹, stimmte ich zu. ›Und dann mußte sie schließlich doch fort, nehme ich an? Sie sagten gar nichts?‹
›Nein‹, sagte Frau Fyne. ›Ich läutete und befahl einem der Dienstmädchen, den Hut und Mantel aus dem Wagen zu holen. Und dann warteten wir.‹
Ich kann mir nicht denken, daß es je ein solches Warten gegeben hat, außer vielleicht in einem Gefängnis, irgendwann am Morgen einer Hinrichtung. Das Dienstmädchen erschien mit dem Hut und dem Mantel. Und dann, immer noch wie am Morgen einer Hinrichtung, wo man dem Verurteilten, soviel ich weiß, ein Frühstück vorsetzt, dann brach Frau Fyne das lastende Schweigen, aus der Besorgnis heraus, das todbleiche Mädchen sollte etwas Warmes zu sich nehmen, bevor es das Haus zu einer endlosen Wagenfahrt durch das rauhe Wetter verließ. ›Du mußt wirklich versuchen, etwas zu essen!‹ Dabei war sie ganz auf der Höhe ihrer sonstigen Entschlossenheit. Dann wandte sie sich im gleichen Ton dem ›ekelhaften Menschen‹ zu: ›Vielleicht nehmen auch Sie Platz und trinken eine Tasse Kaffee!‹
Der würdige ›Arbeitgeber‹ setzte sich nieder. Vielleicht war er durch Frau Fynes gebieterische Art eingeschüchtert, denn gerade damals dachte sie nicht daran, ihn versöhnlich zu stimmen. Er setzte sich nieder, recht lässig, wie ein Mann, der sich sehr gegen seinen Willen in zweifelhafter Gesellschaft befindet. Er nahm unliebenswürdig die Tasse entgegen, die ihm Frau Fyne reichte, nippte widerwillig ein- oder zweimal daran und stellte sie dann nieder, als fürchtete er eine Ansteckungsgefahr von dem Kaffee der ›Gigerl‹. Dabei schoß er geheimnisvoll leere Blicke auf den kleinen Fyne, der wohl an jenem Morgen überhaupt zu keinem Frühstück kam. So wenig wie das Mädchen übrigens. Die rührte die Hände nicht aus dem Schoß, bis ihr bestellter Retter von seiner halbvollen Tasse aufstand.
›Nun gut! Wenn du von dem gütigen Anerbieten der Dame keinen Gebrauch machen willst, so kann ich dich ebensogut sofort nach Hause nehmen. Ich wünsche mein Tagewerk zu beginnen. Ich schon!‹ Ein paar bleierne, drückende Minuten später, nachdem Flora ihren Hut und Mantel angelegt hatte, sahen die Fynes reglos, ohne ein Wort, zu, wie die beiden den Raum verließen.
›Sie wandte sich kein einziges Mal nach uns um‹, sagte Frau Fyne. ›Sie ging einfach hinter ihm drein. Nie ist mir die elende Abhängigkeit von Mädchen, von Frauen, so niederdrückend zum Bewußtsein gekommen. Das war ein Musterbeispiel. Denn ein junger Mann – jeder Mann – hätte auf den Straßen Steine klopfen oder sonst etwas der Art tun können – sich anwerben lassen oder . . .‹
Das war sehr richtig. Frauen können nicht hingehen und sich auf den Landstraßen oder sonstwo ihr Brot verdienen, auch nicht, wenn Würde, Unabhängigkeit oder das Leben selbst auf dem Spiel stehen. Was mich aber bestimmte, Frau Fynes Redefluß zu unterbrechen, das war meine lebhafte Überraschung über die Tatsache, daß der ehrenwerte Bürger das Mädchen, für das doch sonst auf der Welt nirgends Platz zu sein schien, so bereitwillig in seinem Hause duldete. Und nicht nur duldete, sondern offenkundig wünschte. Großmütige Neigungen konnte ich ihm nicht zugestehen. Denn nach allem, was ich von ihm gehört hatte, schien er mir nicht der Mann, der solchen Neigungen etwa hemmungslos nachgegeben hätte.
›Ich gebe zu, daß ich seinen Beweggrund nicht verstehe‹, rief ich aus.
›Eben darüber war auch John zuerst erstaunt‹, sagte Frau Fyne. Damals war es schon zu einer Nähe, um nicht zu sagen Vertraulichkeit zwischen uns gekommen, die es ihr erlaubte, von ihrem Gatten als von John zu sprechen. ›Sie müssen wissen, daß er die ganze Zeit über den Mund nicht aufgetan hatte‹, fuhr sie fort. ›Ich tadele seine Zurückhaltung nicht, im Gegenteil. Was hätte er sagen können? Ich konnte sehen, wie nachdenklich er den Mann beobachtete.‹
›Und so hat also Herr Fyne zugehört, beobachtet und nachgedacht‹, sagte ich. ›Das ist ein ausgezeichneter Weg, um zu einem Schluß zu kommen. Und darf ich fragen, zu welchem Schluß er endlich gekommen ist? Warum er schließlich aufgehört hat, sich über das Unerklärliche zu wundern? Denn Menschlichkeit kann ich als Erklärung nicht gelten lassen. Es wäre zu ungeheuerlich!‹
›Es war auch nichts der Art‹, versicherte mir Frau Fyne, etwas verletzt, als hätte ich es gewagt, des kleinen Fyne geistige Gesundheit anzuzweifeln. Fyne hatte sich sehr vernünftig die Aufgabe gestellt, den Eigennutz zu entdecken. Ich hätte ihm so viel Zynismus gar nicht zugetraut. Er sagte sich, daß für Leute dieser Art (neben religiösen Befürchtungen oder dem eitlen Stolz auf die eigene Rechtlichkeit) nur das Geld, nicht großer Reichtum, aber Geld, gerade ein wenig Geld, den Maßstab für Tugend, Eifer, Weisheit bildet – für alles so ziemlich. Das Mädchen war ja aber ganz arm. Der Vater saß im Gefängnis, nach einem so völligen Bankrott, wie er seit Jahrzehnten nicht erlebt worden war. Und da dämmerte es Fyne auf, daß eben dies der Grund sein mochte. Der große Krach, der Wirbel, in dem so viele Millionen verschwunden waren! War es möglich, daß sie wirklich alle bis auf den letzten Pfennig verschwunden waren? War nicht irgendwo etwas Greifbares davon übrig, ein kleines Bruchstück von dem stolzen Bau?
›Das ist's‹, hatte Fyne ausgerufen und damit seine Frau erschreckt, etwa eine halbe Stunde, nachdem de Barrals Vetter mit de Barrals Tochter fortgegangen war. Das Ehepaar saß immer noch im Eßzimmer, und für ihn war es Zeit, den Elementen die Stirne zu bieten, um hinzugehen und seinem Lande ein neues Tagewerk zu weihen. Alles, was er im Augenblick sagen konnte, um die Außerachtlassung seiner gewohnten, stummen Würde zu erklären, war:
›Der Bursche bildet sich ein, daß de Barral irgend etwas beiseite geschafft hat!‹
Dies war der Schluß, zu dem Fyne gelangt war, und als Beweis führte er die Tatsache an, daß man von vielen Leuten wußte, die vor einem Bankrott ähnliche Vorsorge getroffen hatten. Auch in de Barrals Falle war es möglich. Fyne ging in seinem plötzlichen Zynismus sogar so weit, zu behaupten, daß es sehr möglich wäre.
Er setzte seiner Frau ausführlich auseinander, daß de Barral sicher niemanden ins Vertrauen gezogen haben würde. Aber der niederträchtige Vetter habe es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, es müßte so sein. Er war eigennützig und unbarmherzig in seiner Dummheit, hatte sich aber doch die feste Absicht zurechtgelegt, Forderungen an de Barral zu stellen, wenn dieser aus dem Gefängnis kommen sollte. Und zwar mit der Begründung, er habe sich, wie er es nannte, um de Barrals Tochter ›gekümmert‹. Diese Hoffnung nährte er wohl ganz im stillen und hielt sie sogar vor seiner Frau geheim.
Das leuchtete mir völlig ein. Dieser Glaube erklärte seine merkwürdige Geheimnistuerei bei allen Anlässen, bei denen er für das Mädchen eingetreten war. Er war der einzige Beschützer, den sie hatte. Es schien Floras Geschick zu sein, sich immer von Verrat und Lüge umgeben zu sehen, die in ihrem Herzen jeden besseren Trieb und allen Glauben an Liebe und Vertrauen unterdrückten. Es hätte hingereicht, um ein zartes Gemüt in Verfolgungswahn oder sonst einen Irrsinn zu treiben. Ich weiß nicht, wie weit einem Menschen der Sinn für Humor treu bleiben kann. Vielleicht bis zum Fuße des Galgens. Nach dem Bilde aber, das ich von Flora de Barral gewonnen hatte, fürchtete ich, daß ihr der Sinn für Humor überhaupt fehlte. Sie hatte geweint, als der täppische Hund der Fynes sie verlassen hatte. Das Tier war sicher nicht falsch. Es war offen, einfältig und lächerlich. Die Entrüstung des Mädels über des Hundes Mangel an Heuchelei war vielleicht lustig anzusehen, nicht aber in sich heiter.
Wie du dir vorstellen kannst, hatte ich keine übergroße Eile, die Unterhaltung darüber aufzunehmen, ob Fynes Reise nach London gerechtfertigt, angebracht, erfolgversprechend oder sonst etwas sein konnte. Nicht, daß ich etwa dem kleinen Fyne, der mit seinem Hund da draußen in der Diele saß, mißtraut hätte. (Sie verhielten sich überraschend ruhig dort draußen. Konnten sie eingeschlafen sein?) Ich hatte das Gefühl, daß entweder meine Lebensweisheit oder mein Gewissen in dem Feldzug zu Schaden kommen würden. Und kein Mann wird sich gern einer innerlichen Schädigung aussetzen. Ich wollte keinen Krieg mit Frau Fyne. Ich hätte viel lieber noch etwas von dem Mädchen gehört. Darum sagte ich:
›Und so fuhr sie also mit dem ehrenwerten Rohling weg.‹
Frau Fyne zuckte leicht die Schultern: ›Was sonst hätte sie tun können?‹ Ich stimmte ihr mit einer gleich hoffnungslosen Gebärde bei. Es ist für ein Mädchen wie Flora de Barral nicht gar so einfach, Ladenmädel zu werden, oder Nähterin oder auch nur Kellnerin. Sie hätte sich von Anfang an nicht darauf einstellen können. Sie lag im Banne des denkbar niedrigsten Geschicks. Und war selbst nicht niedrig genug dafür. Es ist zu beachten, wie viele Leute ganz und gar nicht für das Geschick geboren scheinen, das sie auf dieser Welt erwartet. Damit du nicht etwa glaubst, daß ich ganz voreingenommen auf Seiten des Mädchens stehe, so will ich sagen, daß sie es entschieden nicht fertigbrachte, sich in dem einfachen, tugendhaften und, so glaube ich, alkoholfreien Haushalt beliebt zu machen. Allerdings ist es meine Überzeugung, daß ein Engel es auch nicht fertiggebracht hätte. Es hat keinen Sinn, auf Einzelheiten einzugehen; es muß genügen, wenn ich feststelle, daß sie, bevor noch ein Jahr um war, wieder an der Türe der Fynes stand.
Diesmal war sie von einem stämmigen Burschen begleitet. Sein großes, blasses Gesicht zeigte ein dummschlaues Lächeln, mit einem gewissen Ärger gemischt. Seine Kleider waren neu, und die unbeschreibliche Kühnheit ihres Schnittes, von einem genre, wie es ihr nie zuvor unter die Augen gekommen war, erschreckte Frau Fyne, die eben in Hut und Jacke in die Halle kam; denn sie war am Ausgehen, um eine neue Pianistin, ein Mädchen, im Hause einer Freundin anzuhören. Der Bursche sprach Frau Fyne ohne jede Verlegenheit an und bat sie, ›das dumme Ding keinesfalls mehr zu uns zurück zu lassen‹. Es habe, so sagte er, während der letzten drei Wochen nichts als ›Krach‹ zu Hause gegeben, immer ihretwegen. Die ganze Familie sei des ewigen Streitens herzlich überdrüssig. Sein Alter habe ihm aufgetragen, sie an diese Adresse hier zurückzubringen und zu bestellen, er wünsche der Dame und dem Herrn von Herzen Glück dazu. Sie habe nicht gesunden Menschenverstand genug, um ein einfaches, ehrliches englisches Heim schätzen zu können, und solle lieber draußen bleiben.
Der junge Bursche mit dem finnigen Gesicht ärgerte sich über die Geschichte, die ihm sein Prinzipal aufgehalst hatte. Er hatte deswegen ein nachmittägliches Stelldichein mit einer gewissen jungen Dame versäumen müssen, mit seiner Braut. Doch gedachte er heimzusausen und am gleichen Abend noch kurz nach ihr zu sehen, auf die Gefahr hin, die Sache hier ›übers Knie brechen zu müssen‹. – ›Leb wohl, Florrie, viel Glück, und hoffentlich brauch' ich dein Gesicht nie mehr zu sehen!‹
Dabei rannte er mit der Hast eines Verliebten hinaus und ließ die Hallentür weit offen. Frau Fyne hatte keine Worte gefunden. Sie war viel zu bestürzt, um auch nur richtig atmen zu können. Doch blieb sie geistesgegenwärtig genug, um des Mädchens Arm zu fassen, als es gleichfalls auf die Straße hinausrennen wollte – mit der Hast der Verzweiflung, denke ich mir, und wohl mit irgendeinem todtraurigen Ziel vor Augen.
›Sie hielten sie mit eigener Hand auf, Frau Fyne?‹ sagte ich. ›Ich denke doch, daß sie wirklich fort wollte? Das Mädchen ist keine Schauspielerin, wenn ich mich nicht sehr irre.‹
›Ja! Ich mußte einige Kräfte aufwenden, um sie hereinzuziehen.‹
Frau Fyne hatte keine Schwierigkeit, die Wahrheit zu bekunden. ›Sie müssen wissen, daß ich eben ausgehen wollte, als die beiden auftauchten. So fand ich mich also, sobald der unerfreuliche junge Mensch weggerannt war, mit Flora allein und konnte nichts weiter tun, als sie in der Halle festhalten und nach den Dienstboten rufen, damit die Türe geschlossen würde.‹
Wie es so meine Gewohnheit oder meine Schwäche oder meine Gabe ist – ich weiß nicht recht, was –, machte ich mir mein eigenes Bild von der Geschichte. Ich kann wirklich nichts dafür. Und das Bild, wie Frau Fyne, für eine besondere Nachmittagsveranstaltung angezogen, in ihrer Vorhalle mit einem wildäugigen, todblassen jungen Mädchen rang, hatte einen eigenen dramatischen Reiz.
›Wirklich!‹ murmelte ich.
›Oh, Sie können mir glauben, daß sie sich wehrte‹, sagte Frau Fyne. Sie preßte kurz die Lippen aufeinander und fuhr dann fort: ›Die Frage, ob sie eine Schauspielerin ist, wollen wir allerdings offen lassen.‹
Frau Fyne saß wieder mit gekreuzten Armen da. Ich sah die Tochter des feinsinnigen Dichters vor mir, die das Leben als Ganzes mit seinen unausbleiblichen Begleiterscheinungen hinnahm und darunter auch vor allem den Selbsterhaltungstrieb und die Eigennützigkeit jedes Lebewesens. ›Die Tatsache bleibt trotzdem bestehen, daß Sie – Sie selbst, nach Ihren eigenen Worten, sie hereingezogen haben‹, wiederholte ich in spaßhaftem Ton, aber mit ernster Absicht.
›Was sollte man tun!‹ rief Frau Fyne mit fast komischer Verzweiflung aus. ›Wollen Sie mir etwa vorwerfen, daß ich zu impulsiv bin?‹
Und sie fuhr mit der Versicherung fort, daß sie das im geringsten nicht sei. Sie habe es immer mit größtem Nachdruck vertreten (wohl ihren jungen Freundinnen gegenüber, denke ich mir), daß man sich vor den Impulsen hüten müsse. Immer! Doch sei ich ja nicht dagewesen und hätte Floras Gesicht nicht gesehen. Sonst würde es mich wohl bis zu diesem Tage verfolgen. Niemand, der nicht ein Herz von Stein in der Brust hatte, würde ein junges Menschenkind mit solchem Gesicht allein auf die Straße hinausgelassen haben.
›Und verfolgt es Sie selbst nicht, Frau Fyne?‹ fragte ich.
›Nein, jetzt nicht‹, sagte sie unversöhnlich. ›Vielleicht, wenn ich sie hätte laufen lassen . . . Schließen Sie aber daraus nicht, daß ich etwa meine, sie hätte damals Komödie gespielt, weil sie nach anfänglicher Gegenwehr schließlich doch dablieb. Sie gab ganz plötzlich nach. Sie fiel uns in die Arme, mir und dem Stubenmädchen, das bei meinem Ruf heraufgekommen war und . . .‹
›Und dann wurde die Türe geschlossen‹, ergänzte ich den Satz auf meine Art.
›Jawohl, die Türe wurde geschlossen‹, bejahte Frau Fyne mit einem langsamen Heben und Senken des Kopfes.
Ich fragte sie nicht nach Einzelheiten. Eines weiß ich bestimmt, und das ist, daß Frau Fyne an jenem Nachmittag nicht zu der musikalischen Veranstaltung ging. Sie verzichtete wahrscheinlich nur sehr ungerne auf den Genuß, in kleinem Kreise eine vielversprechende junge Pianistin, ein Mädchen, zu hören, die seither eine anerkannte Künstlerin geworden ist. Über die Gefühle des kleinen Fyne, als er knapp eine halbe Stunde vor dem Abendessen auf dem Umwege über seinen Klub vom Amt heimkam, bin ich nicht unterrichtet. Doch glaube ich annehmen zu dürfen, daß sie in der Hauptsache gütig waren, obwohl es mir ganz möglich scheint, daß er im ersten Augenblick der Überraschung einen Fluch oder auch zwei zu unterdrücken hatte.
Das Kurze vom Langen der Geschichte ist, daß die Fynes sich am nächsten Tage entschlossen, eine reiche alte Dame ihrer Bekanntschaft ins Vertrauen zu ziehen. Gewisse alte Damen gewinnen mit den Jahren eine jugendliche Gefühlsfrische zurück, Lebensbejahung, Freude an der Abwechslung und die Lust zu allerlei Versuchen. Die alte Dame zeigte rege Teilnahme: ›Lassen Sie mich das arme Ding doch sehen!‹ Daraufhin wurde es so eingerichtet, daß sie Flora de Barral in Frau Fynes Empfangszimmer an einem Tage zu sehen bekam, an dem niemand sonst da war; sie ermahnte das Mädchen in entzückend mütterlichem Ton: ›Der einzige Weg, mein Kind, über unsere Sorgen wegzukommen, ist, sie zu vergessen. Sie müssen die Ihren vergessen. Es ist ganz einfach. Sehen Sie mich an. Ich vergesse die meinen immer. In Ihrem Alter muß man heiter sein.‹
Später, sobald sie mit Frau Fyne allein war, erklärte sie dieser: ›Ich hoffe doch, das Kind wird es fertigbringen, heiter zu sein. Ich kann keine traurigen Gesichter um mich haben. In meinem Alter braucht man heitere Gesellschaft.‹
Und in dieser Hoffnung nahm sie Flora de Barral für die Wintermonate nach Bournemouth mit, als Vorleserin und Gesellschafterin. Sie hatte ihr gütig scherzend gesagt: ›Wir wollen uns gute Tage machen. Ich bin keine mürrische alte Frau.‹ Doch nach ihrer Rückkehr nach London suchte sie sofort Frau Fyne auf. Sie hatte entdeckt, daß Flora nicht von Natur heiter war. Wenn sie Anstrengungen machte, es zu scheinen, so wurde es noch schlimmer. Die alte Dame konnte es nicht ertragen. Und dann, um es gerade heraus zu sagen, konnte sie es erst recht nicht ertragen, jemanden um sich zu haben, der sie nicht liebte. Sie war ganz sicher, daß Flora sie nicht liebte. Warum? Das konnte sie nicht sagen. Überdies hatte sie zu wiederholten Malen das Mädchen dabei überrascht, wie es sie auf sehr eigene Weise ansah. O nein! – Keine bösen Blicke! – Nur ein ungewöhnlicher, unverständlicher Ausdruck. Und wenn man dann daran dachte, daß ihr Vater im Gefängnis war, zusammen mit allen möglichen Verbrechern – so fühlte man sich unbehaglich. Wenn das Kind sich nur bemüht hätte, seine Sorgen zu vergessen! Aber das hatte sie offenbar nicht gekonnt oder gar nicht gewollt. Und das war doch wohl ein wenig wunderlich – oder? Im ganzen genommen hielt sie es vielleicht für besser . . .
Frau Fyne beeilte sich, dem unausgesprochenen Schlußsatz zuzustimmen: ›O gewiß, gewiß!‹ und fragte sich dabei, was mit Flora wohl als nächstes geschehen sollte; doch war sie über die Sinnesänderung der alten Dame in bezug auf Flora de Barral nicht sonderlich überrascht. Sie verstand sie beinahe.
Als nächstes kam eine deutsche Familie an die Reihe, eine Festlandsbekanntschaft der Frau von einem von Fynes Bureaukollegen. Flora mit den rätselhaften Blicken wurde ohne große Überlegung hingeschickt. Da es nicht für notwendig gehalten worden war, die Leute voll ins Vertrauen zu ziehen, so erwarteten sie weder, daß das Mädchen sonderlich heiter sein würde, noch auch fühlten sie sich durch den unbeschreiblichen Ausdruck seiner Blicke beunruhigt. Die deutsche Dame war durchaus alltäglich. Es waren zwei Jungen zu beaufsichtigen; auch sie waren durchaus alltäglich, nehme ich an; und Flora zeigte sich allem Anschein nach sehr aufmerksam. Wenn sie die Knaben irgend etwas gelehrt hat, so muß sie das durch Eingebung allein fertiggebracht haben, denn sie hatte ja gewiß keine Ahnung vom Lehrberuf. Doch war es hauptsächlich ›Konversation‹, was von ihr verlangt wurde. Es erscheint als ein ganz ungewöhnliches Zusammentreffen: Flora de Barral, die mit zwei kleinen deutschen Jungen regelmäßig, fleißig, gewissenhaft ›Konversation macht‹, um sich ihr Brot auf dieser Welt zu verdienen; einer Welt, die ihr die Vergangenheit beschert hatte, wie wir sie kennen, und eine vielleicht noch unerfreulichere Zukunft für sie bereit hielt. Aber vielleicht war es gar nicht so schlimm. Sie schrieb wenigstens, daß ihre Pflicht sie angenehm betäube. Sie hatte es gelernt, den ganzen Tag lang ›Konversation zu machen‹, mechanisch, geistesabwesend, wie im Traum. Ein böser Traum muß es gewesen sein. Am schlimmsten ging es ihr, wenn ihr Dienst beendet war; dann saß sie des Abends allein in ihrem kleinen Zimmer eingeschlossen und erwachte allmählich aus dem dumpfen Hindämmern zum vollen Bewußtsein ihrer Lage, wie ein Mensch, der beim Erwachen etwas Giftiges neben sich erblickt, eine Schlange zum Beispiel. Auch sie fühlte den wilden Antrieb, das Ding wegzuwerfen, schreiend davonzurennen und sich irgendwo zu verbergen.
In diesem Abschnitt ihres Lebens pflegte Flora de Barral oft an Frau Fyne zu schreiben, wenn auch nicht regelmäßig. Ich weiß nicht, wie lange sie weiter noch ›Konversation gemacht‹ und gelegentlich mitgeholfen hätte, die wohlgefüllten Linnenschränke des reichen deutschen Haushalts zu beaufsichtigen, wenn nicht der Herr des Hauses in der freien Zeit, die ihm sein Beruf ließ (er war Kaufmann und sehr häuslich), eine seelische Verwandtschaft mit der alten Dame aus Bournemouth bewiesen hätte. Es ergab sich nämlich, daß auch er geliebt sein wollte.
Er war übrigens kein Eroberer – kein Wüstling, der Küsse raubte und Türen einrannte. Noch während er den Pfad der Tugend verließ, blieb er ein ehrbarer Kaufmann. Vielleicht wäre es für Fräulein de Barral besser gewesen, wenn er sich als einfacher Rohling gezeigt hätte. Doch er machte sich an sein finsteres Vorhaben in gefühlvoller, vorsichtiger, fast väterlicher Art und glaubte sich bei der hübschen Waise vor jeder Gefahr sicher. Das Mädchen war trotz all seiner Erfahrung viel zu unschuldig und fühlte sich auch noch nicht hinlänglich als Frau, um diesen versteckten Annäherungen zu mißtrauen. Sie bemerkte sie tatsächlich gar nicht. Sie hielt den Mann für wohlwollend – für den ersten unverkennbar wohlwollenden Menschen, der ihr je begegnet war. Sie war so unschuldig, daß sie die Wut der Hausfrau gar nicht verstehen konnte. Denn, wie du dir ja denken kannst, war der weibliche Scharfblick nicht allzulange zu täuschen gewesen. Um so weniger, da die Frau älter war als der Mann. Der Mann war, wie es sich meistens trifft, so feig wie ehrbar und fand kein Wort zu Floras Verteidigung. Er stand dabei, hörte zu, wie sie mit den bittersten und empörendsten Vorwürfen überschüttet wurde, und nickte nur von Zeit zu Zeit oder runzelte die Brauen. Es wird dir einen Begriff von des Mädchens Unschuld geben, wenn ich dir sage, daß sie den Grund des ganzen Ausbruchs zunächst darin suchte, ihr wahrer Name und ihre Verwandtschaft mit einem Sträfling seien ans Licht gekommen. Sie war unter falschem Namen hinausgeschickt worden – als bestempfohlene Waise aus guter Familie. Ihr Kummer, ihre brennenden Wangen, ihre Bemühungen, ihr Bedauern wegen der Täuschung auszusprechen, wurden als Schuldbekenntnis angesehen. ›Sie haben versucht, Unehre über mein Haus zu bringen‹, schrie ihr die Frau ins Gesicht.
Da hast du ein Mißverständnis, wie es im Buch steht! Flora de Barral, die zwar die Schande empfand, aber an die Schuld ihres Vaters nicht glaubte, gab heftig zurück: ›Trotz allem bin ich ebenso ehrenwert wie Sie!‹ Daraufhin verfiel die Frau fast in Wutkrämpfe. ›Ich lasse Sie augenblicklich auf die Straße setzen!‹
Flora wurde nicht buchstäblich auf die Straße gesetzt, glaube ich, aber mit Sack und Pack an Bord eines Dampfers nach London gebracht. Habe ich dir schon gesagt, daß die Leute in Hamburg wohnten? Nun gut – sie wurde spät an einem regnerischen Winterabend an die Kais geschickt, in Begleitung irgendeines frechen Lakaien oder sonst jemandes, der sich unverschämt gegen sie benahm und sie an Bord verließ, glühend vor Entrüstung, das Haar halb gelöst, zitternd vor Aufregung und wohl knapp daran, in Krämpfe zu verfallen. Hätte sich nicht die Stewardeß, die gute Seele, ohne viel zu fragen, ihrer angenommen und sie in die Damenkajüte gebracht (glücklicherweise war sie leer), so ist es wohl durchaus nicht gewiß, ob sie England je erreicht hätte. Ich weiß nicht, ob jemals ein Strohhalm einen Ertrinkenden gerettet hat, aber ich weiß, daß ein einziger Blick hinreichen kann, um völlige Verzweiflung zu hemmen. Denn in Wahrheit sind ja wir alle Triebwesen, nicht für die Verzweiflung geschaffen. Selbstmord scheint mir sehr häufig das Ergebnis geistiger Müdigkeit – nicht die Schlußfolge wilder Tatkraft, sondern nur völligen Zusammenbruchs. Diese Schiffsstewardeß schien keine menschlichen Leiden außer der Seekrankheit zu kennen, sprach von dem voraussichtlichen Wetter für die Überfahrt – es würde eine rauhe Nacht geben, meinte sie – und bestand in berufsmäßiger Geschäftigkeit darauf, das Fräulein solle es sich sofort hier unten in der Kabine bequem machen lassen – als dächte sie an nichts als an ihr Trinkgeld; und diese ruhige, sachliche Aufmerksamkeit genügte, um die Schatten des Todes rings um die lähmende Müdigkeit und Denkunfähigkeit zu zerstreuen, die so oft die Vorstellung des Nichtseins auch den Jungen nahebringt. Flora de Barral legte sich nieder, schlief vielleicht auch. Jedenfalls überlebte sie die Überfahrt über die Nordsee und erzählte Frau Fynes alles, ohne etwas zu verschweigen oder einem Tadel zu begegnen – denn Frau Fynes Ansichten waren bei aller Genauigkeit durchaus nicht engherzig. Sie sprach, soviel ich weiß, jeder Frau das unbeschränkte Recht zu, auf ihre Art dieser von Männern mißleiteten Welt zu entrinnen.
Es ist festzuhalten, daß die arme Flora auch in London, nachdem sie Zeit zur Überlegung gehabt hatte, weit davon entfernt blieb, sich den wahren Grund ihrer schändlichen Entlassung klarzumachen. Sie empfand nur quälend bis zum Irrsinn die Demütigung darin.
›Und haben Sie sie aufgeklärt?‹ wagte ich zu fragen.
Frau Fyne zuckte die Schultern, mit philosophischer Ergebung in alle die Notwendigkeiten, die vielleicht nicht bestehen sollten. ›Aber es mußte ja etwas gesagt werden‹, murmelte sie. Sie habe dem Mädchen genug gesagt, um sie von sich aus zu dem rechten Schluß kommen zu lassen.
›Und tat sie das?‹
›Ja, natürlich. Sie ist keine Gans!‹ gab Frau Fyne kurz zurück.
›Dann ist ihre Erziehung wohl vollendet‹, bemerkte ich etwas bitter. ›Glauben Sie nicht, daß man ihr Gelegenheit geben sollte . . .‹
Frau Fyne verstand sofort, was ich sagen wollte.
›Nicht diese eine Gelegenheit‹, wehrte sie etwas schnippisch ab. ›Sie können leicht dazu raten, aber ich –‹
›Ich rate nicht dazu. Ich habe nur gefragt. Es lag doch nahe genug, zu fragen, was Sie denken.‹
›Es kommt darauf an, was ich fühle. Und meine Gefühle sind stärker als ich. Sie können sich vorstellen,‹ fügte sie etwas milder hinzu, ›daß meine Gefühle hauptsächlich meinem Bruder gelten. Wir haben einander sehr lieb gehabt. Der Altersunterschied war nicht sehr groß. Sie wissen ja, glaube ich, daß er nur wenig jünger ist als ich. Er war ein feinfühliger Junge, zur Nachdenklichkeit geneigt. Es wäre sinnlos, bestreiten zu wollen, daß keiner von uns sich zuhause recht glücklich fühlte. Sie haben ja wohl gehört . . . Ja? Nun, mir ging es noch schlechter als ihm, das will ich Ihnen gerne eingestehen. Er ging davon, zu irgendwelchen entfernten Verwandten meiner Mutter, die mein Vater, glaube ich, gar nicht kannte. Ich möchte mich jedes Urteils über ihre Handlungsweise enthalten.‹
Hier unterbrach ich Frau Fyne. Ich hatte davon gehört. Fyne war im allgemeinen nicht sehr mitteilsam, aber er war stolz auf seinen Schwiegervater – ›Carleon Anthony, den Dichter, Sie wissen ja‹. Stolz auf seinen Ruhm, ohne seinen Charakter zu billigen. Ich habe ihn auch stark im Verdacht, daß er deswegen gierig die Theorie aufgriff, das poetische Genie sei dem Wahnsinn verwandt; das hatte er aus irgendeinem dummen Buch, das vor Jahren mal in aller Leute Händen war. Ihm erschien es als die lauterste Wahrheit, klar wie die Sonne. Er bekannte sich blind dazu, langweilte mich auch zuweilen damit. Einmal hatte ich ihn, einfach nur, um ihm den Mund zu schließen, gefragt, ob ihm diese Theorie, die er für so unwiderleglich hielt, nicht wegen seiner Frau und der lieben Kinder einige Sorgen mache? Er durchbohrte mich mit einem mitleidigen Blick und gab mir in seiner feierlichen Baßstimme zu bedenken, es sei eine wohlerwiesene Tatsache, daß Genie nicht erblich sei.
Ich sagte darauf nur ›so, wirklich nicht?‹ und ließ ihn in dem Glauben, mich durch einen unumstößlichen Beweis zum Schweigen gebracht zu haben. Er aber fuhr fort, von seinem berühmten Schwiegervater zu sprechen, und teilte mir im Verlaufe eben jenes Gespräches folgendes mit: Die Liverpooler Verwandten seiner toten Frau hatten sich in begreiflicher Sorge an den Dichter gewandt und eine freundschaftliche Besprechung über die Zukunft des Jungen angeregt; daraufhin hatte der entrüstete (doch immer feinsinnige) Dichter einen Antwortbrief voll höflicher, nichtssagender Floskeln geschrieben und damit die Liverpooler Leute tödlich beleidigt. Diese witzigen Auslassungen, die im Grunde ja nur der Ausdruck von Demütigung und Wut waren, erschienen ihnen so herzlos, daß sie den Jungen einfach behielten. Sie ließen ihn zur See gehen, nicht etwa weil er ihnen im Wege war, sondern weil er inständig um die Erlaubnis dazu gebeten hatte.
›Oh, Sie wissen das‹, sagte Frau Fyne nach einer Pause. ›Nun gut – ich kam mir sehr verlassen vor. Dazu noch diese Berufswahl – so ungewöhnlich, so unglücklich, möchte ich sagen. Ich war sehr bekümmert. Ich hätte mir gewünscht, daß er sich auszeichnen – oder doch in der Gesellschaft bleiben sollte, wo wir gemeinsame Gedanken, Interessen und Bekannte hätten haben können. Glauben Sie nicht, daß ich ihm entfremdet bin. Aber es ist einfach so, daß ich ihn nicht kenne. Es war mir unendlich schmerzlich, bei seinem letzten Hiersein feststellen zu müssen, daß sich zwischen uns kein Gesprächsstoff mehr finden ließ.‹
Während Frau Fyne von ihrem Bruder sprach, ließ ich meine Gedanken aus dem Zimmer hinaus zu dem kleinen Fyne wandern, der, indem er mich mit seiner Frau allein gelassen, sozusagen seinen häuslichen Frieden meiner Ehre anvertraut hatte.
›Schön, Frau Fyne, kommt es Ihnen aber dann nicht so vor, als ob es unter diesen Umständen am einfachsten wäre, Ihren Bruder für sich selbst sorgen zu lassen?‹
›Wenn ich Ihnen aber sage, daß ich Gründe zu der Annahme habe, er könne unter gewissen Umständen nicht für sich selbst sorgen?‹ Sie zögerte merkwürdig verschämt und weckte damit meine Neugier. Dann fügte sie mit gemachter Sicherheit hinzu: ›Seeleute sind recht empfindlich, glaube ich.‹
Ich brach in ein Gelächter aus, das aber die Kälte in ihrem starren Blick nur steigerte.
›Das sind sie. Unglaublich! Hoffnungslos! Meine liebe Frau Fyne, Sie sollten es lieber aufgeben! Sie machen Ihren armen Mann nur unglücklich damit!‹
›Und ich selbst bin auch ganz unglücklich. Es ist wirklich unsere erste Meinungsverschiedenheit . . .‹
›In bezug auf Fräulein de Barral?‹ fragte ich.
›Überhaupt unsere erste. Es ist wirklich unerträglich, daß dieses Mädchen der erste Anlaß sein muß. Ich meine doch, daß er nachgeben sollte.‹
Sie rückte ihren Stuhl ein wenig, nahm das Buch auf, in dem ich am Morgen gelesen hatte, und begann geistesabwesend darin zu blättern.
Da sie ihren Blick von mir gewandt hatte, glaubte ich das Zimmer verlassen zu dürfen. Die Stimmung darin war für des kleinen Fyne häuslichen Frieden hoffnungslos geworden. Du kannst leicht lachen. Aber den Feierlichen ist alles feierlich. Ich war lebensklug genug, um das zu begreifen.
Ich schlüpfte also in die Diele hinaus. Der Hund schlummerte zu Fynes Füßen. Der muskulöse kleine Mann, der auf seine Ellbogen gestützt über die Felder hinaussah, bot ein Bild der Verlorenheit. Er wandte rasch den Kopf; da er mich aber allein sah, fiel er unvermittelt in die trübe Betrachtung der Landschaft zurück.
Ich sagte laut und deutlich: ›Ich bin herausgekommen, um eine Zigarette zu rauchen‹, und setzte mich neben ihn auf die kleine Bank. Dann dämpfte ich die Stimme: ›Duldsamkeit ist eine unendlich schwere Kunst‹, sagte ich. ›Für gewisse Leute schwieriger als Heldentum. Schwieriger als Mitleid.‹
Ich vermied es, ihn anzusehen. Ich wußte gut genug, daß ihm diese Eröffnung nicht behagen würde. Allgemeine Feststellungen waren nicht nach seinem Geschmack. Er mißtraute ihnen. Ich brannte mir eine Zigarette an, nicht weil ich rauchen, sondern weil ich noch einen Augenblick lang den Ratschlag überlegen wollte, den diplomatischen Rat, mit dem ich ihn zu überrumpeln gedachte. Ich fuhr halblaut fort:
›Ich bin zu dieser Erkenntnis durch die Entdeckung gekommen, die ich, seitdem Sie uns verlassen, habe machen können. Ich hatte von Anfang an meinen Verdacht. Und nun bin ich gewiß. Was Ihre Frau in dieser Sache nicht vertragen kann, ist, daß Fräulein de Barral ist, was sie ist.‹
Er machte eine Bewegung, aber ich sah ihn nicht an und fuhr unbewegt fort: ›Das ist nämlich – daß sie eine Frau ist. Ich habe einen gewissen Begriff von Frau Fynes geistiger Einstellung auf die Gesellschaft mit ihren Ungerechtigkeiten, mit ihrem grausamen oder lächerlichen Herkommen. Nie wird sich Ihre Frau weigern, irgendeiner noch so kühnen Tat, die sich gegen all dieses richtet, ihre Zustimmung zu versagen. Die Lehren, die sie, soviel ich weiß, in die hübschen Köpfe ihrer jungen Freundinnen pflanzt, sind geradezu von Rachedurst erfüllt, predigen sozusagen Feuer und Schwert auf dem Gebiet der Sittlichkeit. Doch steht mir kein Urteil darüber zu, inwieweit das klug ist. Ich werde es mir nicht erlauben, darüber zu urteilen. Mir scheint nur, als sähe ich schon, wie die entzückenden Schülerinnen sich nacheinander an den Fackeln versengen und sich die Finger an den Schwertern zerschneiden, die ihnen Frau Fyne geliefert hat.‹
›Meiner Frau ist es sehr ernst mit ihren Überzeugungen‹, murmelte Fyne plötzlich.
›Jawohl, gewiß!‹ stimmte ich ebenso leise wie bisher zu. ›Aber es ist doch nur eine Verstandesübung. Ich will eben feststellen, daß Frau Fyne aufhört, duldsam zu sein, sobald sie es mit Wirklichkeiten zu tun bekommt. Daß sie es, mit anderen Worten, Fräulein de Barral nicht verzeihen kann, daß sie eine Frau ist und als solche handelt. Und doch ist es nicht nur vernünftig und natürlich, sondern überhaupt ihre einzige Möglichkeit. Eine Frau, die gegen die Welt steht, hat nur in sich selbst Hilfsquellen. Sie muß als das handeln, was sie ist. Sie verstehen, was ich meine.‹
Fyne murmelte durch die Zähne, daß er mich verstehe. Doch schien er nicht sonderlich bei der Sache. Er erwartete von mir, ich sollte ihm aus einer schwierigen Lage heraushelfen. Ich weiß nicht, inwieweit das minder würdigen Ehepaaren glaublich erscheinen mag, ihm aber schien es ein sehr weittragender Zwischenfall, sich in einer Meinungsverschiedenheit mit seiner Frau zu befinden. Fast ein Unglück.
›Es sieht so aus, als läge mir nichts daran, was aus ihrem Bruder wird‹, sagte er. ›Und doch, wenn schließlich . . .‹
Ich wurde etwas ungeduldig, erhob aber die Stimme nicht.
›Was denn!‹ sagte ich. ›Die Anlage, ins Zuchthaus zu kommen, hat insofern eine Ähnlichkeit mit dem Genie, als auch sie nicht erblich ist. Und was sonst kann man dem Mädchen vorwerfen? Die ganze Kraft ihres tiefen Gefühls, die sie sonst in dem sinn- und hoffnungslosen Kampfe gegen die Gesellschaft verbrauchen müßte, könnte sie jetzt in treuer Liebe an den Mann binden, der ihr die Hand bietet, von ihrem traurigen Schicksal loszukommen. Die anderen Schwierigkeiten will ich gar nicht erwähnen.‹
Ich schielte aus den Augenwinkeln nach Fyne und stellte fest, daß er gespannt zuhörte. Er meinte, ich hätte alles das seiner Frau sagen sollen. Das war durchaus vernünftig. Aber ich hatte Frau Fyne aufgegeben. Ich fragte ihn, ob er den Eindruck hätte, daß seine Frau ihm einen Brief für seinen Bruder mitgeben würde?
Nein. Das glaubte er nicht. Es gab da gewisse Gründe, die Frau Fyne abhielten, ihre Bedenken dem Papier anzuvertrauen. Fyne sollte damit beauftragt werden. Er zweifelte aber nicht daran, daß sie sich doch zum Schreiben entschließen würde, falls er bei seiner Weigerung beharrte.
›Sie wünscht nicht, daß ich gehe, außer in der vollen Überzeugung, daß sie im Recht ist‹, sagte Fyne feierlich.
›Sie ist recht anspruchsvoll‹, meinte ich. Und dann überlegte ich mir, daß sie daran gewöhnt war. ›Würde es denn unter dem gar nicht gehen?‹
›Sie meinen doch nicht, daß ich nachgeben sollte, oder?‹ fragte Fyne in erschrecktem Flüstertone.
Da es eben das war, was ich meinte, ließ ich die Angst in ihm sich auswirken. Er wurde unruhig. Und wenn das Wort in Verbindung mit einer so würdigen Persönlichkeit am Platze ist: er tanzte förmlich. Sobald aber einmal der furchtbare Verdacht ihn sozusagen bis zu den Fersen durchdrungen hatte, da wurde er ganz ruhig. Er sah starr in die weite Landschaft hinaus, die viele Meilen weit durch gelbe, sonnendürre Halden begrenzt war. Die Stirn des Hügels zeigte die weiße Narbe des Steinbruchs, in dem kaum sechzehn Stunden vorher Fyne und ich in der schrecklichen Erwartung herumgekrochen waren, den zerschmetterten Leichnam eines Mädchens zu finden. Bei mir selbst stellte sich noch die Erinnerung an mein erstes Zusammentreffen mit ihr ein. Gewiß war sie sehr nahe am Rand hingegangen und hatte dabei wohl mit dem trüben Entschluß gekämpft. Jetzt aber, da sie durch einen sehr unerwarteten Zufall an einen Mann geraten war, hatte sie einen anderen Weg gefunden, um der Welt zu entgehen. Der Welt, wie sie sich ihr bot – ohne Obdach, ohne Brot, ohne Ehre. Noch das Beste, was sie darin hätte finden können, wäre ein karges Maß von Mitleid gewesen, das sich mit den Jahren naturgemäß auch verringert hätte. Der Hilferuf des verlassenen Kindes Flora an das Mitleid der Fynes war unwiderstehlich gewesen. Doch nun war sie zur Frau geworden, und Frau Fyne zeigte sich unerbittlich vor der ersten ihrer rein weiblichen Handlungen, vor dem Triumph ihrer Weiblichkeit, möchte ich sagen. Es ist wahr, daß Frau Fyne eben nicht wünschte, daß Frauen Frauen sein sollten. Ihre Lehre ging dahin, sie sollten sich in rücksichts- und geschlechtslose Plagegeister verwandeln. Im Grunde ihres Wesens war sie eingefleischte Theoretikerin. Ich habe keine Ahnung, wie es Flora de Barral ihrer Meinung nach hätte anfangen müssen, sich aus höchst unerfreulichen Lebensumständen zu befreien. Doch glaube ich, es wäre ihr leichter gefallen, dem Mädchen sogar ein Verbrechen zu verzeihen; zum Beispiel einen Einbruch in den Schreibtisch der alten Dame in Bournemouth. Und dann war auch – denn Frau Fyne war selbst eine sehr weibliche Frau – ihr Eigentumsbegriff sehr stark entwickelt. Und wenn sie auch nicht viel mit ihrem Bruder anfangen konnte, so mochte sie es doch nicht mit ansehen, wie er ihr von einer anderen Frau genommen wurde. Von einem ganz dummen, kleinen Mädel. Von so einem Mädel noch dazu. Nichts ist wahrer, als daß in dieser Welt die Unglücklichen kein Recht haben, ihre Fähigkeiten zu gebrauchen – als ob Unglück ein menschlicher Hinderungsgrund wäre. Fynes Gefühle (ganz natürlich, denn er war ja ein Mann) waren gefestigter. Er hatte sich ein gut Teil seiner Zuneigung bewahrt. Ich hörte zwar, wie er ›verdammt ärgerlich!‹ vor sich hinmurmelte, doch wußte ich, daß er nur an die Unversehrtheit seines häuslichen Friedens dachte. Ich hielt die Augen auf den Hund gerichtet, der zusammengerollt mitten in der Diele lag, und fragte halblaut, obenhin: ›Ja. Warum wollen Sie sich nicht überzeugen lassen?‹
Nie sah ich den kleinen Fyne weniger feierlich. Er zischte die unerwartet bildhafte Versicherung durch die Zähne, es würde allerhand Überredung brauchen, um ihn dazu zu bringen, daß er ›einem armen Teufel von Mädel, das ohnedies unglücklich genug war, die Suppe versalzen sollte.‹ Er schnaubte förmlich. Er sah immer noch nach dem fernen Steinbruch hin und wurde, glaube ich, durch den Anblick gerührt. Ich antwortete mit der Versicherung, es sei ferne von mir, ihm zu etwas Grausamem zu raten. Sicherlich hatte er schon längst die Festigkeit meiner Grundsätze bezweifelt, denn er fuhr so jäh herum, als hätte er auf den ersten Schritt vom geraden Wege ab gelauert.
›Was meinen Sie denn dann eigentlich? Daß ich nur so tun sollte?‹
›Nein! Was für ein Unsinn! Das wäre ja unmoralisch. Allerdings muß ich Ihnen gestehen, daß ich im Zweifelsfalle lieber etwas Unmoralisches als etwas Grausames tun wollte. Was ich sagen wollte, ist ganz einfach, daß Sie nun, da Sie an die Wirksamkeit einer Einmischung nicht glauben, das tun sollten, was Ihre Frau von Ihnen wünscht. Das hieße als Gentleman handeln – und selbstlos überdies, denn ich kann mir sehr gut vorstellen, wie widerwärtig es Ihnen sein mag. Ganz allgemein gesprochen, ist eine selbstlose Handlung immer auch eine moralische Handlung. Ich sage Ihnen was: ich werde mit Ihnen gehen!'
Er fuhr herum und sah mich überrascht und mißtrauisch an. ›Sie wollen mit mir gehen?‹ wiederholte er.
›Sie verstehen mich nicht‹, sagte ich, belustigt von der ungläubigen Abwehr in seiner Stimme. ›Ich muß morgen früh in die Stadt. Fahren wir zusammen. Sie haben doch ein Reiseschach.‹
Sein Gesicht, durch mancherlei Empfindungen zerfurcht, glättete sich etwas bei der Aussicht auf eine Partie. Ich sagte ihm, daß ich in den Docks zu tun hätte und ihn daher bis zum Schiff begleiten würde.
›Wir wollen uns den Weg in das wilde Ostend durch gute Reden verkürzen!‹ ermutigte ich ihn.
›Mein Schwager wohnt im Hotel, im Easternhotel‹, sagte er und wurde wieder düster. ›Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo das ist.‹
›Ich kenne es. Ich will Sie an der Türe in der tröstlichen Gewißheit verlassen, daß Sie das Rechte tun, da es einer Dame so gefällt und niemandem schaden kann.‹
›Glauben Sie das? Niemandem schaden!‹ wiederholte er zweifelnd.
›Ich versichere Ihnen, daß es zu gar nichts führt‹, sagte ich mit allem Nachdruck, den ich aufbringen konnte, erreichte damit aber nur, daß sich der feierliche Mißmut in seinen Zügen verstärkte.
›Um mir aber jeden möglichen Vorwurf zu ersparen, müßte ich vorher noch meine Frau davon überzeugen, daß das Ganze zu nichts führen kann‹, wandte er gewichtig ein.
›O Sie Kasuist!‹ sagte ich und setzte nichts hinzu, weil in demselben Augenblick Frau Fyne in die Diele herauskam. Wir standen beide bei ihrem Eintreten auf. Ihr klarer, farbloser, gerader Blick umfing uns prüfend. Ich hielt ihn lächelnd aus, Fyne aber bückte sich sofort nieder, um den Hund freizulassen. Er brauchte ziemlich lange dazu. Als er sich wieder aufrichtete, fuhr zugleich auch der Hund mit einem Sprung aus tiefstem Schlummer in ungeahnte Tätigkeit empor. Unter dem Wirbelsturm seines sinnlosen Kläffens und Heulens nahm ich die Hand, die Frau Fyne mir etwas hölzern entgegenstreckte, und beugte mich ehrfurchtsvoll darüber. Sie schritt ohne ein weiteres Wort den Pflasterweg hinunter. Fyne war ihr vorausgegangen und erwartete sie bei der Gartentüre. Sie gingen hinaus und die Straße hinunter, Seite an Seite, aufrecht und gemessen, und hinterließen in mir (ich weiß nicht, warum) den Eindruck, als hätten sie die ganze Landschaft zu eigen genommen; rings um sie her stand eine kleine Staubwolke, die der im Kreise tanzende Hund aufwirbelte. Vielleicht hatte mir ihre Überlegenheit doch Eindruck gemacht. Welche Art von Überlegenheit? Vielleicht lag sie gerade in ihrer Beschränktheit. Es war klar, daß keiner von beiden eine besonders hohe Meinung von mir mit fortgenommen hatte. Was mir aber naheging, das war die Gleichgültigkeit ihres Hundes. Er pflegte sonst zumindest einmal während jeder unserer Begrüßungen in vollem Saus auf mich zuzustürzen und mir schließlich mit einem Löwensatz bis zur Brust heraufzuspringen. Diesen schönen Brauch hatte er diesmal unterlassen, trotzdem ich mich einwandfrei und sogar besonders liebenswürdig benommen und ihm Kuchen angeboten hatte; es schien mir ein Wahrzeichen für meine endgültige Scheidung vom Haushalt der Fynes. Auch mußte ich vielleicht daran denken, wie er an einem gewissen Tage die arme Flora de Barral im Stiche gelassen hatte, die doch so krankhaft überempfindlich war.
Ich setzte mich in der Diele nieder und stellte mir, vielleicht von der geheimen Abneigung gegen die Fynes geleitet, in aller Ruhe vor, daß Kapitän Anthony doch wohl ein feiner Kerl sein mußte. Zwar konnte er nach allem, was ich von ihm wußte, auch ein gefährlicher Schwindler oder geradezu ein Schuft sein. Er hatte ein elendes, hoffnungsloses Mädchen dazu gebracht, ihm heimlich nach London zu folgen. Allerdings hatte das Mädchen seither geschrieben, nur hatte sich Frau Fyne über den Inhalt des Briefes nicht recht ausgelassen. Er war unbefriedigend und kündigte, soviel ich ihren etwas geheimnisvollen Andeutungen hatte entnehmen können, nicht die unmittelbar bevorstehende Hochzeit an. Vielleicht hatte Frau Fyne ihre Unerfahrenheit auch in die Irre geführt. Wer wollte die Ahnungslosigkeit einer Frau wie Frau Fyne ergründen, die in der Theorie keine Grenzen gelten ließ und von der wirklichen Welt doch nichts wissen wollte! Es wäre lustig gewesen, wenn sie den ganzen Lärm um nichts gemacht hätte. Doch wies ich um der Ehre der Menschheit willen diesen Verdacht von mir.
Ich stellte mir Kapitän Anthony als einfachen und romantischen Mann vor. Das war viel erfreulicher. Genie ist nicht erblich, Temperament aber kann es wohl sein. Und er war der Sohn eines Dichters, der die bewundernswerte Gabe gehabt hatte, den Alltag zu verschönen und über sich hinaus zu heben und noch die hoffnungslosesten Herkömmlichkeiten des sogenannten verfeinerten Daseins rührend zart und bezaubernd erscheinen zu lassen.
Was mir unverständlich blieb, das war Frau Fynes eigennützige Einstellung. Gefühlsmäßig brauchte sie ja diesen ihren Bruder so wenig! Was konnte es ihr so oder so ausmachen – wenn man schon die reine Menschlichkeit außer acht ließ, die doch zum mindesten abwartendes Verhalten verlangt hätte. Wenn nicht vielleicht auch hier das blinde Gesetz am Werke war, daß in dieser Welt des Zufalls die Glücklosen immer irgendwie ins Unrecht gesetzt werden müssen.
Und wie ich nun darüber nachdachte, wie sehr wir doch alle zur Ungerechtigkeit neigen, dämmerte mir, an der Wegbiegung sozusagen, ein Schein von Hinterhältigkeit auf. Vielleicht war sich Frau Fyne selbst dessen gar nicht bewußt. Aber mir schien plötzlich ihr Leitgedanke nicht der zu sein, ihren Bruder zu halten, für sich zu bewahren, sondern der, ihn endgültig loszuwerden. Sie dachte gar nicht daran, irgend etwas aufzuhalten. Dazu war sie viel zu vernünftig. So ziemlich jeder Mensch, der noch außerhalb einer Idiotenanstalt lebte, wäre dazu vernünftig genug gewesen. Sie versuchte nachdrücklich, unter Fynes vollster Zustimmung Verwahrung einzulegen, um für die Zukunft jede Verbindung unmöglich zu machen. Eine solche Handlungsweise mußte das Paar den Fynes für immer entfremden. Sie verstand ihren Bruder so gut wie das Mädchen. Wurden sie glücklich, dann konnten sie die ausgesprochene Feindseligkeit nie vergessen. Und fiel die Ehe schlecht aus . . . nun, dann lief es auf das gleiche hinaus. Dann war wohl von keinem von beiden zu erwarten, daß er mit seinen Schmerzen zu der bewährten Unglücksprophetin kommen würde.
Jawohl, das mußte ihr Beweggrund sein. Die Eingebung eines vielleicht unbewußten Machiavellismus. Entweder fürchtete sie sich davor, eine Schwägerin zu haben, um die sie sich während der langen Abwesenheit des Gatten zu kümmern haben würde. Oder sie fürchtete die mehr oder weniger starke Möglichkeit, daß ihr Bruder sich vielleicht überreden lassen würde, der See, der Zuflucht seiner unglücklichen Jugend, zu entsagen, sich an Land seßhaft machen und seiner Schwester diese unerwünschte weibliche Verwandtschaft vor die Nase setzen könnte. Sie wollte Schluß machen – vielleicht einfach, weil sie der fortwährenden Anstrengungen zum Guten wie zum Bösen müde war, was ja bei der Mehrzahl der gemeinen Sterblichen so manche widerspruchsvolle Handlungsweise erklärt.
Ich war mir nicht bewußt, Frau Fyne in meinen Gedanken unter die gemeinen Sterblichen eingereiht zu haben. Dazu war ihre ruhige Selbstsicherheit wohl zu groß. Der kleine Fyne aber, als ich ihn am nächsten Morgen (durch das Fenster des Abteils) erspähte, wie er den Bahnsteig dahergerannt kam, der kleine Fyne also erschien mir als ein recht gewöhnlicher, abgehetzter Sterblicher, der gerade noch mit knappster Not seinen Zug erwischt hat. Die wässerigen Augen, die wilde Aufregung im Gesicht, die Zerfahrenheit, alle die gewöhnlichen Merkmale waren da und wurden durch seine angeborne Würde noch unterstrichen, die ihn wie ein zerzaustes Gewand umwehte. Hatte er – so fragte ich mich gespannt – seiner Frau bis zum letzten Augenblick Widerstand geleistet und war dann vor dem letzten ihrer Beweggründe, wie vor einer plötzlich auf ihn gerichteten Kanone, die Straße lang gerannt? Ich öffnete die Wagentür, und ein kräftiger Bahnwärter puffte ihn von hinten in das Abteil, gerade als das Ende der ländlich kurzen Plattform ihm unter den Füßen wegglitt. Er war sehr außer Atem, und ich wartete mit einiger Neugier auf den Augenblick, wo er die Sprache wiedergewinnen würde. Der Augenblick kam. Er sagte etwas keuchend ›Guten Morgen!‹ blieb dann einige Minuten still, holte endlich aus seiner Tasche das Reiseschach hervor, hielt es in der Hand und sah mich fragend an.
›Ja, gewiß!‹ nickte ich, sehr enttäuscht.«