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Marlow tauchte aus dem tiefen Schatten des Büchergestells auf, um sich von dem kleinen Tische neben mir eine Zigarre zu holen. Als er so im vollen Lichte stand, sah ich in seinen Augen einen leicht spöttischen Ausdruck, unter dem er gemeinhin sein geheimes Staunen darüber zu verbergen pflegt, wie schwer sich die Menschen in ihrer Überspanntheit die einfachsten Dinge auf dieser Welt machen.
Er suchte sich sehr umständlich die Zigarre aus, brannte sie an und wandte sich dann zu mir. Ich hatte ihm schweigend zugesehen.
»Ich nehme an,« sagte er, und der Spott in seinen Augen ließ den Ton schärfer klingen, »es scheint dir hoch an der Zeit, daß ich dir etwas Entscheidendes mitteile. Ich meine, etwas über die psychologischen Hintergründe dieses traurigen Geheimnisses in der Kajüte, das Herrn Franklin, den Ersten Offizier, so nachdrücklich beschäftigte und sogar die heitere Unschuld des Herrn Powell in Mitleidenschaft gezogen hatte, des Zweiten Offiziers der Ferndale unter Kapitän Anthony –, dem Sohn des Dichters, du weißt ja‹.«
»Jetzt wirst du mir wahrscheinlich beichten wollen, daß du nichts herausgebracht hast«, sagte ich mit gespielter Entrüstung.
»Das könnte dir wohl passen! Ich werde es aber nicht tun. Ich habe wohl etwas herausgebracht. Obwohl ich zugebe, daß ich eine Zeitlang verwirrt war. Aber ich habe jetzt unseren Powell häufig unter den günstigsten Umständen gesehen – und überdies ganz unerwartet eine Nachrichtenquelle entdeckt . . . Doch lassen wir das. Die Mittel gehen dich ja nichts an, soweit sie nicht zu unserer Geschichte gehören. Ich will zugeben, daß eine Zeitlang der altjüngferliche Zeitvertreib, zwei und zwei zusammenzusetzen, kein brauchbares Ergebnis geliefert hat. Ich spreche nun als Forscher – als ein Mann der logischen Schlüsse. Nach allem, was wir von Roderick Anthony und Flora de Barral wissen, konnte ich natürlich nicht auf einen gewöhnlichen ehelichen Zwist schließen, der sich etwa in weniger als einem Jahr so zugespitzt hätte. Wenn du mich fragst, was ein gewöhnlicher ehelicher Zwist ist, so will ich dir sagen, daß es eine Meinungsverschiedenheit über ein Nichts ist; ich meine, über eine der Nichtigkeiten, derentwegen, wie Herr Powell uns bei unserer ersten Begegnung sagte, die Leute an Land so gerne Streit anfangen, um sich dann aus müßiger Rechthaberei in Haß hineinzusteigern, aus krankhafter Ehrsucht, oder auch nur, um ein Schauspiel zu geben. Hier auf Erden gibt es keine Schauspieler, die zu niedrig oder unbekannt wären, als daß sie nicht doch eine Galerie fänden; eben die Galerie, die das Spiel durch verstohlene Zurufe, ärgerliche Ratschläge, belustigte Randbemerkungen oder verborgenes Mitleid vergiftet. Die Anthonys waren ja aber frei von allen schädlichen Einflüssen. Auf See gibt es keine Galerie, siehst du wohl. Dort hörst du kein quälendes Echo deiner eigenen Nichtigkeit, denn entweder brüllt die mächtige Stimme der Elemente unter dem Himmelsgewölbe, oder eine vollkommene Stille täuscht dir den Frieden der Unendlichkeit vor.
Als ich mir Flora de Barral im tiefsten Jammer vorstellte und Roderick Anthony, hingerissen von seinem stürmischen Zärtlichkeitsdrang, da fragte ich mich: Ist das alles schon vergessen? Was hatte sich zwischen sie gedrängt und sie einander so schnell und gründlich entfremdet, da sie doch fern von allen Versuchungen, mitten im Frieden der See lebten, in so völliger Abgeschlossenheit, daß wir ohne die eifersüchtige Ergebenheit des gefühlvollen Franklin, die Powells Aufmerksamkeit erregt hatte, weder Erinnerung daran noch Beweis dafür hätten.
Ich will gleich gestehen, daß ich zunächst Flora de Barral im Verdacht hatte. In der Welt, wie sie jetzt eingerichtet ist, sind die Frauen immer die Hälfte der Bevölkerung, die zuerst verdächtigt wird. Es gibt gute Gründe dafür. Diese Gründe sind bei ein wenig Überlegung so leicht ersichtlich, daß es schade um meine Zeit wäre, wenn ich sie dir auseinandersetzen wollte. Nur das eine will ich sagen: daß die Rolle, die den Frauen zugefallen ist, und die wir ›Einfluß‹ nennen, eine verborgene, geheimnisvolle Tatkraft in sich schließt, der nicht ganz zu trauen ist, wie anderen Naturkräften auch, die sich infolge unseres unvollkommenen Verständnisses für uns im Dunkel auswirken.
Wären Frauen keine Naturkräfte, blind in ihrer Gewalt und launisch dabei, so würde man ihnen nicht mißtrauen. So aber kann man nicht anders. Du wirst mir sagen, daß diese Macht in Flora de Barrals Person ja von Anthony eingefangen und daher . . . Nun gut. Er war gut mir ihr fertig geworden, aber schließlich hat ja der Mensch auch die Elektrizität eingefangen. Sie leuchtet ihm auf seinen Wegen, wärmt sein Heim und wird ihm vielleicht sein Abendessen kochen – ganz wie eine Frau. Aber welche Art von Eroberung würdest du das wohl nennen? Der Mensch weiß nichts von ihr. Er muß mächtig aufpassen, was er mit seiner Gefangenen tut. Und je größere Ansprüche er an sie stellt, im Übermaß seines Stolzes, desto wahrscheinlicher wird es auch, daß sie sich gegen ihn kehren und ihn zu Asche verbrennen wird . . .«
»Ein weit hergeholter Vergleich«, bemerkte ich kühl. Marlow war in den Lehnstuhl im Schatten des Büchergestells zurückgekehrt. »Wenn ich aber deine Auffassung gelten lasse, so läuft sie darauf hinaus, daß man die Kraft zu gebrauchen verstehen muß. Und wenn du meinst, daß der Draufgänger Anthony . . .«
»Draufgänger ist gut«, unterbrach Marlow. »Er hungerte und dürstete nach Weiblichkeit, die in sein Leben treten sollte, in einem Maße, von dem sich kein bloßer Frauenliebhaber den leisesten Begriff bilden könnte. Ich nehme an, daß das auch zum guten Teil der Grund für Fynes Abneigung gegen ihn war. Der gute kleine Fyne! Du kannst dir nicht vorstellen, welche höllische Bescherung er während seines kurzen Besuches im Hotel angerichtet hatte. Aber wer hätte auch vermuten sollen, daß Anthony im Grunde ein heldenhafter Charakter war? Es gibt mehrere Arten von Heldentum, und zumindest eine davon ist blödsinnig. Das ist die eine, die sich den Anschein höchsten Zartgefühls gibt. Und gerade dieser einen war augenscheinlich der Sohn des überfeinerten Dichters fähig.
Er ähnelte gewiß seinem Vater, der, nebenbei gesagt, ohne darum zufriedener geworden zu sein, zwei Frauen verbraucht hatte, weil sie an das übersteigerte Feingefühl, das so deutlich aus seinen Versen spricht, nicht herangereicht hatten. Da hast du deinen Dichter! Er verlangt von anderen zuviel. Der Sohn, dem die Gabe versagt war, hatte sich ein Ziel seiner Träume geschaffen, zugleich mit dem Wunsche, in seinem eigenen Verhalten die Träume und die Leidenschaften zu verkörpern, die der Dichter in Verse bringt; in Verse, die ihm lieber sind als sein eigenes Ich – und dieses eigene Ich in den Augen anderer Leute und sogar in seinen eigenen fast göttlich erscheinen lassen.
Hatte nun Anthony den Wunsch, in seinen eigenen Augen göttlich dazustehen? Ich möchte nicht gerne diesen Vorwurf gegen ihn erheben; obwohl es ja tatsächlich andere, weit weniger vornehme Wünsche gibt, die die Welt nicht einmal zu belächeln wagt. Aber ich glaube es nicht; ich glaube nicht einmal, daß in seinem Tun ein bewußtes, überhebliches Selbstvertrauen lag, ein ausgesprochenes Machtgefühl etwa, das Männer so oft in unheimliche oder mißverständliche Lagen bringt. Sieht man von allen Begleitumständen ab (und das ist wohl der Weg, um hinter die Wahrheit zu kommen), so erscheint sein Leben als ein Leben der Einsamkeit, des Schweigens und der Sehnsucht.
Zufälle hatten das Mädchen in seinen Weg geführt; und wenn wir vielleicht über seine stürmische Werbung bei Flora de Barral lächeln müssen, so müssen wir doch auch zugeben, daß dieses scharfe Zupacken so ganz eigentlich die Handlungsweise eines einsamen, sehnsüchtigen Mannes war, eines Mannes, der, wenn er kein ausgemachter Trottel war, lange, glühende Träume ausgesponnen haben mußte, während derer in den unerforschten Tiefen des Herzens die Fähigkeit zu wahrer Leidenschaft reift. Ich weiß auch, daß eine Leidenschaft, wenn sie erst einmal Besitz von einem Manne ergriffen und sich alle seine Fähigkeiten zu einem einzigen Zwecke unterjocht hat, ihn wie unter Sporn und Peitsche in allerart Abenteuer führen kann, in ungeahnte Gefahren, bis an die Grenzen des Irrsinns und des Todes.
Zu einem Manne, der in einem Schweigen gelebt hatte, noch eindrucksvoller gemacht durch das Donnern und Murmeln der weiten See, zu einem Manne, der dem Getratsch der bösen Zungen völlig ferne stand, zu ihm also kommt der muskulöse kleine Fyne, der ausgesprochenste Vertreter der Menschheit, deren Stimme dem andern so fremd ist, sein Schwager, eine Persönlichkeit, die aus der nebelhaften, fernen Menge herausragt. Er kommt und schleudert dem andern mehr Worte an den Kopf, als der je zuvor während einer Stunde zu hören bekommen, rührt dabei Tiefen auf, die Anthony in sich selbst kaum je geahnt hatte, wirft mit Worten wie ›unanständig‹ um sich, deren bloßer Klang schon unerträglich ist. Unanständig! Unerlaubter Vorteil! Er! Unanständig gegen das Mädchen! Grausam!
Gegen solche Anklagen, die mit hitziger Überzeugung vorgebracht wurden, half keine Geringschätzung. Sie erschütterten ihn. Sie schienen noch in der Luft des stickigen Hotelzimmers nachzuklingen, schrecklich, quälend, nicht zu vertreiben, als die Türe aufging und Flora de Barral eintrat.
Er bemerkte nicht einmal, daß sie zu spät kam. Er saß in trübe Gedanken verloren auf dem Sofa. War es richtig? Da er selbst immer offen seine Meinung ausgesprochen hatte, so war er der Ansicht, daß die Leute (außer sie waren Lügner, was natürlich sein Schwager nicht sein konnte) auch nie etwas anderes sagten, als was sie meinten. Die tiefe Bruststimme des kleinen Fyne klang ihm noch in den Ohren: ›Er muß es wissen‹, sagte er sich. Er dachte daran, es wäre das beste, wegzugehen und sie nie wieder zu sehen. Doch da stand sie vor ihm, eine Bitte und ein Vorwurf in Einem. Wie konnte er sie verlassen? Das kam gar nicht in Frage. Sie hatte niemanden. Oder vielmehr, sie hatte jemanden. Den Vater da. Anthony war bereit, ihn auf ihr Wort hin gelten zu lassen. Dieser Vater konnte vielleicht ein Opfer der schauerlichsten Ungerechtigkeit sein. Doch was sollte ein Mann anfangen, der aus dem Gefängnis kam? Ein alter Mann noch dazu. Und dann – was für ein Mann? Was sollte aus ihnen beiden werden? Anthony schauerte leicht zusammen, und das schwache Lächeln, mit dem Flora ins Zimmer getreten war, verflog von ihren Lippen. Sie war an seine stürmischen Zärtlichkeiten gewöhnt, fürchtete sie auch nicht länger. Nie zuvor aber hatte sie diesen Ausdruck an ihm gesehen, und so erwartete sie plötzlich eine neue Härte des Lebens. Er sprang mit seinem gewohnten Ungestüm auf, doch wie gebändigt durch einen plötzlichen Entschluß, und sagte:
›Nein, ich kann dich nicht aus den Augen lassen. Ich habe dich gesehen. Du hast mir deine Geschichte erzählt. Du bist ehrlich. Du hast mir nie gesagt, daß du mich liebst.‹
Sie wartete und dachte dabei, er hätte ihr ja nie Zeit dazu gelassen, sie nie danach gefragt. Und sie wußte es ja selbst auch nicht.
Ich neige zu der Annahme, daß sie es wirklich nicht wußte. Da ein Übermaß an Erfahrung ja nicht eigentlich ihr Los im Leben ist, so ist eine Frau selten in Gefühlsfragen erfahren. Der Mann ist es, der gemeinhin die Fähigkeit hat und auch benutzt, sich über sich selbst klar zu werden. Die Selbstbeherrschung der Frauen ist eine äußerliche Sache; innerlich flattern sie, weil sie vielleicht wirklich im Käfig sitzen, oder sich doch so fühlen, allgemein gesprochen. In Flora de Barrals besonderem Falle war es so, daß sie, seit Anthony plötzlich in ihr hoffnungslos graues Leben getreten war, wie jemand dahinlebte, der durch ein Naturereignis, ein Erdbeben oder ein Ungewitter, aus der Hinrichtungszelle befreit worden ist; nicht gerade entsetzt, denn nichts kann ja furchtbarer sein als der Vorabend der Hinrichtung, aber doch betäubt, benommen, in untätiger Hingabe. Sie fühlte nicht den Wunsch, einen Laut von sich zu geben, ein Glied zu rühren. Sie hatte nicht die Kraft dazu. Warum auch? Und ganz zutiefst, fast unbewußt, empfand sie den Reiz des Gefühls, von dieser Heftigkeit getragen zu werden. Eines Gefühls, das sie nie zuvor in ihrem Leben empfunden hatte.
Und nun war es ihr, als ließe der Wirbelwind plötzlich nach. Als wäre der Rückhalt, der sie vermocht hatte, die Augen zu schließen und sich köstlich hintreiben zu lassen, ins Unbekannte, nicht bemakelt von häßlichen Erfahrungen, als wäre er unsicher geworden, schwankend. Sie versuchte in Anthonys Gesicht zu lesen, in dem tatkräftigen, guten Gesicht, das ihr so rasch vertraut geworden war. Doch sie war noch nicht fähig, den Ausdruck zu verstehen. Erschreckt und entmutigt, an der Schwelle der Jugend in seelisches Leid der bittersten Art gestürzt, hatte sie nicht lesen gelernt, nicht diese Sprache.
Wäre Anthonys Liebe so selbstsüchtig gewesen, wie es die Liebe gemeinhin ist, so hätte die Selbstsucht seine Eitelkeit – oder seine Großmut, wenn du willst – überwogen, und alles dies hätte nie geschehen können. Nie hätte ihm dieser Verzicht in den Sinn kommen können, von dem man nicht recht weiß, ob man darüber lachen oder davor erschauern soll. Es ist auch wahr, daß sich dann seine Liebe nie an die unglückliche Tochter de Barrals geheftet hätte. Doch es war eine Liebe, aus dem seltenen Mitleid geboren, das nichts mit Geringschätzung zu tun hat, weil es aus der überstarken Anlage zur Zärtlichkeit herkommt – einer stolzen, angriffslustigen Zärtlichkeit – der Zärtlichkeit der schweigsamen, einsamen Männer, die sich freiwillig, fast leidenschaftlich außerhalb ihrer Art gestellt haben. Zugleich muß ich aber auch annehmen, daß seine Eitelkeit ganz ungeheuerlich war.
›Was sie für große Augen hat‹, sagte er sich erstaunt. Kein Wunder! Sie sah ihn an, mit aller Kraft ihrer Seele, die langsam aus einem bösen Zauberschlaf erwachte, aus einem Schlaf, in dem sie nur vor Schmerz zucken, doch sich weder hätte weiten noch rühren können. Er tauchte atemlos gespannt in diesen Blick, tief, tief, wie ein irrer Matrose, der sich im Wahnsinn von der Mastspitze in die blaue, unergründliche See stürzt, die so viele Männer zugleich verflucht und geliebt haben. Und seine Eitelkeit war ungeheuer; sie war von dem kleinen Frauenrechtler Fyne zutiefst getroffen worden. ›Ich, ich, Vorteile aus ihrer Hilflosigkeit ziehen! Ich! Unanständig gegen dieses Geschöpf – diese Nebelflocke – diesen lichten Schatten – ganz heimatlos in der häßlichen, schmutzigen Welt! Ich könnte sie mit einem Atemzuge fortblasen‹, sagte er fast verzweifelt vor sich hin. ›Niemals!‹ All das unendlich übersteigerte Feingefühl, das Carleon Anthony in so vielen schönen Versen zum Ausdruck gebracht hat, erfüllte nun mit leidenschaftlicher Gewalt, die sich zu stummem Schluchzen steigerte, die Brust dieses Mannes, der nie in seinem Leben auch nur ein einziges der berühmten Sonette gelesen hatte; eines der Sonette von schwärmerischer, ritterlicher Liebe, von . . . Du weißt ja, es gibt einen ganzen Band davon. In meiner Ausgabe ist ein Bild des Verfassers mit dreißig Jahren, und als ich es neulich Herrn Powell zeigte, da rief er aus: ›Wunderbar! Man könnte es für das Bild von Kapitän Anthony selbst halten, wenn . . .‹ Ich wünschte zu wissen, was es mit dem Wenn auf sich hatte. Aber Powell konnte es mir nicht sagen. Es war irgend etwas . . . Ein Unterschied. Ganz fraglos – vielleicht in der Feinheit der Züge. Der Vater eigensinnig, ganz Gehirnmensch, mit einer krankhaften Scheu vor jeder Berührung, konnte nur in wohllautenden Klängen das besingen, was der Sohn stumm und rückhaltlos empfand.
Von der Vorstellung besessen, die so vielen kräftigen Männern eigen ist, daß nämlich die Frauen zart und seelisch wenig widerstandsfähig sind, fürchtete Anthony irgend etwas sehr Kostbares in diesem Geschöpf zu zerbrechen, zu zerstören, sie eigentlich fast zu ermorden. Das erscheint eine sehr merkwürdige Auswirkung von Fynes Worten. Doch Anthony, nicht gewohnt an das Geschnatter des Festlandes, hatte sich nie die Mühe genommen, zu ergründen, welcher Wert wohl den Worten in Fynes Mund zukommen mochte. Tatsächlich war schon ihre bloße Undeutlichkeit seinem eigenen geraden Sinn zuwider erschienen, der salzig war vom weiten Meer, gestählt in den Winden unter blauem Himmel, offen wie der Tag.
Er hätte seine ganze Entrüstung heraussprudeln mögen. Doch Flora sah ihn mit einer Erwartung an, die ihn bannte. Seine sichtbare Verwirrung machte auch sie verlegen. Er konnte nur wiederholen: ›O ja, du bist ganz ehrlich. Du hättest es tun können, aber ich kann wohl sagen, daß du recht hast. Keinesfalls hast du mir jemals irgend etwas gesagt, was nicht deine Meinung war.‹
›Niemals‹, flüsterte sie nach einer Pause.
Er schien zerstreut, von einer Erregung bedrückt, die sie nicht verstehen konnte, da sie wie Verlegenheit aussah, wie ein Gemütszustand also, der ihr bei diesem Manne fremd war.
Sie fragte sich, was sie wohl gesagt haben konnte; dabei erinnerte sie sich, daß sie in Wahrheit kaum zu ihm gesprochen hatte, außer damals, als sie ihm in großen Umrissen ihre Geschichte erzählt und er sich scheinbar kaum die Geduld genommen hatte, sie anzuhören, denn er hatte ihr fortwährend mit Ausrufen des Zornes und des Schreckens abgewinkt und dazwischen finster gemurmelt: ›Genug! Genug!!‹ War auch plötzlich aus der erzwungenen Ruhe aufgefahren, als wollte er hinaus, um sofort an irgend jemandem Rache zu nehmen. Sie hatte sich damals gesagt, daß er ihre Worte in der Luft abfing, ohne sie jemals einen Gedanken zu Ende entwickeln zu lassen. Ehrlich. Ehrlich. Ja, das war sie wirklich gewesen. Ihr Brief an Frau Fyne war nur von Ehrlichkeit eingegeben gewesen. Doch nun überlegte sie ein wenig traurig, daß sie ihm selbst nie etwas zu sagen gewußt, ihm vielleicht wirklich auch nichts zu sagen gehabt hatte.
›Du sollst aber sehen, daß ich auch ehrlich sein kann‹, brach er in dem drohenden Ton los, an dem sie angefangen hatte, Spaß zu finden.
Sie wartete auf das, was nachkommen sollte, aber er war mit seinen Gedanken wohl wo anders; er sah sich angewidert in dem Zimmer um, als könnte er von den Wänden die Spuren all der Zufallsbewohner ablesen, die einander hier gefolgt waren. Leute hatten gestritten hier in dem Zimmer; waren krank darin gelegen; Elend hatte es darin gegeben, Schurkerei, Verbrechen vielleicht – Tod sehr wahrscheinlich. Dies war nicht der rechte Platz. Er griff hastig nach seinem Hut. Er hatte seinen Entschluß gefaßt. Das Schiff – das Schiff, das er kannte, seit es die Werft verlassen hatte, sein Heim – ihre Zuflucht –, das gesunde, ehrliche Schiff, das war der rechte Platz.
›Gehen wir an Bord, wir wollen dort reden‹, sagte er. ›Und du wirst mich anhören müssen. Denn was immer auch geschieht und was immer die anderen auch sagen, ich kann dich nicht gehen lassen!‹
Du kannst nicht sagen, daß sie (Zweifel hin und her) irgend etwas anderes hätte tun können, als an Bord gehen. Das war für jenen Morgen vereinbart gewesen. Während der Fahrt blieb er ganz still. Anthony war der letzte, der vom bloßen Schicklichkeitsstandpunkt aus einen Menschen verurteilt oder selbst verdientes Mißgeschick verspottet oder verachtet hätte. Er war völlig bereit, den alten de Barral – den Sträfling – auf die Wertung seiner Tochter hin ohne jeden Rückhalt aufzunehmen. Doch eine Liebe wie die seine hat auch ihre eigene Klugheit, wenn sie schon im stolzen Bewußtsein ihrer eigenen Kraft einen Menschen zur Waghalsigkeit verführen kann. Und so fand er, zum erstenmal in diesen letzten Tagen, als wäre er durch den Entschluß zum Verzicht in eine reinere, höhere Zone erhoben worden, Muße zur Überlegung. Er sagte sich: ›Ich kenne den Mann nicht. Sie kennt ihn gleichfalls nicht. Sie war knapp sechzehn, als er eingesperrt wurde. Sie war ein Kind. Was wird er sagen? Was wird er tun? Nein,‹ schloß er, ›ich kann sie nicht zurücklassen, mit dem Mann, der in die Welt treten wird, als stiege er aus dem Grabe.‹
Sie gingen schweigend an Bord, und erst als er sie überall herumgeführt hatte und sie in den Salon zurückgekommen waren, ging er sie in seiner stolzen, herrischen Art an. Zuerst verstand sie ihn nicht. Als sie aber verstand, daß er ihr ihr Wort zurückgab, da wurde sie ganz starr, ihre Hand lag wie tot auf der Tischkante, ihr Gesicht schien aus Marmor gehauen. Alles war vorbei. Es war, wie die abscheuliche Erzieherin gesagt hatte, niemand konnte sie lieben. Demütigung haftete ihr an wie ein Sterbekleid – niemals abzuschütteln, selbst durch dieses Übermaß von Großmut nicht zu erwärmen.
›Jawohl. Hier. Dein Heim. Ich kann es dir nicht übergeben und weggehen, aber es ist groß genug für uns beide. Du brauchst dich nicht zu fürchten. Wenn du es willst, so werde ich dich nicht einmal ansehen. Denke an das graue Haupt, an das du bei Tag und Nacht gedacht hast. Wo soll es ruhen? Wo anders als hier, wo nichts Böses ihm ankann! Verstehst du nicht, daß ich dir nie erlauben würde, mir die Zuflucht hier auf Kosten deiner eigenen Seele zu zahlen? Ich will es nicht. Du bist zu sehr ein Teil meiner selbst. Ich habe zu mir selbst gefunden, seitdem ich dich getroffen habe, und wollte lieber meine eigene Seele dem Teufel verkaufen, als dich aus meiner Obhut lassen. Aber ich muß das Recht dazu haben.‹
Er ging unvermittelt davon, um die Türe, die auf Deck ging, zu schließen, kam durch die ganze Länge des Salons zurück und wiederholte dabei:
›Ich muß das gesetzliche Recht dazu haben. Schämst du dich etwa, die Leute glauben zu lassen, daß du meine Frau bist?‹ Er öffnete die Arme, als wollte er sie an seine Brust ziehen, bezwang aber den Wunsch, schüttelte die geballten Fäuste gegen sie und wiederholte: ›Ich muß das gesetzliche Recht dazu haben, und wäre es nur deinem Vater zuliebe. Ich muß das Recht haben. Wo wolltest du ihn denn hinführen? Zu dem gottverlassenen Pappschachtelfabrikanten? Ich weiß nicht, was mich abhält, ihn in seinem tugendhaften Heim aufzujagen und ihm den Schädel einzuschlagen. Ich mag gar nicht daran denken. Höre mich, Flora. Hörst du, was ich dir sage? Du bist nicht zu stolz, um verstehen zu können, daß auch ich als Mann meinen Stolz habe?‹
Unter den gesenkten Lidern hervor sah er über jede ihrer Wangen eine Träne niederlaufen. Dann ging sie plötzlich aus der Kajüte hinaus. Er blieb einen Augenblick stehen, sammelte sich, prüfte seine eigene Stärke und befragte sein Herz, bevor er ihr hastig folgte. Sie war schon auf dem Kai.
Beim Klang seiner Schritte hinter ihr verließen sie die Kräfte. Wohin sollte sie davor fliehen? Vor dieser neuen Tücke des Lebens, die sich den Anschein von Großmut gab? Sogar seine Stimme war verändert. Der tragende Wirbelwind hatte sie niederfallen lassen, damit sie wieder weiterstolpere, geschwächt von dem neuen Schlag, des seelischen Rückhalts beraubt, der zum Leben notwendiger ist als noch die barmherzigste tatkräftige Hilfe. Sie hatte ihn nie gehabt. Nie. Nicht von Seiten der Fynes. Doch wohin sollte sie gehen? O ja, da war das Dock, eine ruhige Wasserfläche, nahebei. Aber dort war der alte Mann, mit dem sie selbst auf der Strandpromenade Hand in Hand gegangen war. Sie glaubte zu sehen, wie er ihr entgegenkam, erbarmenswert, etwas grauer, mit hilfesuchendem Blick, einen zitternden Arm vorgestreckt. Nun war es an ihr, die Hand dieses Mannes zu nehmen, dem Unbill widerfahren war und der hilfloser war als ein Kind. Wohin sollte sie ihn führen? Wohin? Und was sollte sie ihm sagen? Womit ihn aufheitern, ermutigen, hoffnungsfroher machen? Nichts war da. Himmel und Erde waren stumme, achtlose Zeugen ihrer Begegnung. Doch dieser andere Mann kam knapp hinter ihr drein. Er war schon ganz nahe. Sein feuriges Herz schien Hitze auszustrahlen, die Luft in Schwingungen zu versetzen. Flora war erschöpft, stumpf, fürchtete zu straucheln, war bereit zu stürzen. Sie glaubte seinen Atem zu hören. Eine Welle weicher Wärme ging über sie weg, sie schien den Boden unter den Füßen zu verlieren; und als sie fühlte, wie er seine Hand unter ihren Arm schob, da machte sie keinen Versuch, sich aus dem Griff zu befreien, der sich fest und treu darum zu schließen schien.
Er geleitete sie durch die Gefahren des Kaiverkehrs. Ihr Blick war trübe. Ein Frachtwaggon, der eben verschoben wurde, erschien ihr als ein vorübergleitender Berg. Menschen trieben vorüber wie Nebel. Und die Gebäude, die Schuppen, die unerwarteten freien Plätze, die Schiffe zeigten fremdartige, verschrobene, gefahrdrohende Formen. Sie sagte sich, es sei gut, nicht darüber nachzudenken, was alle diese Dinge im Rahmen der Schöpfung bedeuteten (wenn überhaupt irgend etwas eine Bedeutung hatte) oder ob es einfach nur sinnlose Anhäufungen waren. Sie fühlte, wie sehr ihr immer jede Beziehung zu dieser Welt gefehlt hatte. Sie hing damit nur noch durch diesen einen Arm zusammen, der knapp über dem Ellbogen festgehalten wurde. Es war eine Gefangenschaft. Mochte es so sein. Bis sie auf die Straße hinauskamen und die Droschke vor der Türe warten sahen, sprach Anthony nur einmal; er hob unvermittelt an, doch in einem viel weicheren Ton, als sie ihn je von seinen Lippen gehört hatte.
›Natürlich hätte ich wissen müssen, daß du für einen Mann wie mich, einen Fremden, nichts übrig haben konntest. Schweigen heißt zustimmen. Ja? Wie? Ich wünsche diese Art Zustimmung nicht. Und wenn du nicht eines Tages finden solltest, daß du sprechen kannst . . . Nein, nein, ich werde dich niemals fragen. Wenn es auf mich ankommt, so magst du meinetwegen bis zum Grabe die Lippen versiegelt halten. Aber was ich gesagt habe, mußt du tun.‹
Er beugte sich in zärtlicher Besorgnis über sie. Zugleich fühlte sie, wie, unauffällig doch unverkennbar, ihr Arm gedrückt und leise geschüttelt wurde. ›Du mußt es tun!‹ Ein leises Schütteln, das kein Vorübergehender merken konnte. Und sie waren auch in einem verlassenen Teil des Docks. ›Es muß getan werden. Du hörst mir zu, wie? Oder möchtest du wieder zu meiner Schwester?‹
Sein spöttischer Ton klang, wohl aus Mangel an Übung, unglaublich grimmig und herzlos.
›Möchtest du zu ihr gehen?‹ fuhr er in der gleichen seltsamen Weise fort. ›Deine beste Freundin! Und schön artig sagen: Es tut mir leid! Möchtest du das? Nein! Du könntest es nicht. Es gibt Dinge, die nicht einmal du, armes, liebes, verlassenes Mädel, ertragen könntest. Wie? Lieber sterben. Das ist's. Natürlich. Oder kannst du dir vorstellen, daß du deinen Vater in das Haus dieses gottverlassenen Vetters bringst? Nein! Sag' nichts. Ich kann gar nicht daran denken. Ich würde dir nachgehen und die Türe einschlagen.‹
Seine Stimme brach und es erstaunte sie, wie sehr es nach einem Schluchzen klang. Es erschreckte sie auch. Der Gedanke, der sich ihr aufdrängte, war: ›Er soll nicht!‹ – Er half ihr in die Droschke, ›Oh, er soll nicht, er soll nicht!‹ Sie fürchtete sich noch mehr bei der Entdeckung, daß sie über und über zitterte. Verschüchtert drückte sie sich ganz weit in die Ecke, vermied seinen Blick, sah aber doch das Zucken um seinen Mund und machte eine krampfhafte Anstrengung zu einem Lächeln, das die Starre ihrer Lippen durchbrach und ihre Zähne plötzlich aufeinanderklappern ließ.
›Ich komme nicht mit dir‹, sagte er. ›Ich werde es dem Kutscher sagen . . . Ich kann nicht . . . besser nicht. Was? Ist dir kalt? Komm! Was ist denn? Wir brauchen nur in ein verwünschtes, stickiges Zimmer zu gehen, ein wahres Loch von einem Kontor. Keine Viertelstunde. Ich komme dich holen, in zehn Tagen! Denke nicht zu viel darüber nach. Denke an keinen Mann, keine Frau, kein Kind von der ganzen dummen Rotte, die sich hier herumtreibt. Denke auch nicht an mich. Denke an dich selbst. Ja. Dann wird dir wenigstens nichts nahe kommen können. Sag' nichts. Rühr' dich nicht. Ich werde alles einrichten; und solange dir mein Anblick nicht verhaßt ist – und das ist er nicht – brauchst du dich nicht zu fürchten. Eins von ihren dummen Kontoren mit ein paar nichtssagenden Tintenkulis, armseligen Federfuchsern.‹
Flora de Barral fuhr in der Droschke ab, reglos, ohne Gedanken, nur froh, daß sie ruhen konnte, allein war und doch ohne Anstrengung fortgeführt wurde.
Anthony trieb sich durch Stunden in den Straßen herum, ohne sich abends erinnern zu können, wo er gewesen war – nach Art eines überglücklichen Liebhabers. Nach seinem Gesicht allerdings hätte niemand ihn dafür halten können. Denn es trug keinerlei Anzeichen seliger Erwartung. Überschwenglich war er zwar, doch es war ein eigener Überschwang, der ihn wie ein Feind an der Kehle würgte.
Anthonys letzte Worte zu Flora hatten sich auf das Standesamt bezogen, wo sie zehn Tage später getraut wurden. Während dieser Zeit sah Anthony nichts und niemand, obwohl er sich rastlos da und dort zwischen Menschen und Dingen herumtrieb. Dieser besondere Gemütszustand ist den gewöhnlichen Liebhabern eigentümlich, die ja dafür bekannt sind, daß sie für nichts sonst Augen haben als für die tatsächlich mehr innere Betrachtung der einen menschlichen Gestalt, in der sich für sie die Seele der ganzen Welt in ihrer Schönheit, Vollendung und Mannigfaltigkeit verkörpert. Das muß sehr unterhaltsam sein. Doch Roderick Anthonys Betrachtungen blieb diese Glückseligkeit fremd. Er war kein gewöhnlicher Liebhaber; und er wurde dafür bestraft, als wäre die Natur (von der es ja heißt, daß sie die Leere scheut) so an das Herkommen gebunden, daß sie sich gegen jede Abweichung von der Regel wehrt. Roderick Anthony hatte schon zu leiden begonnen. Vielleicht war das der Grund, daß er sich so müßig unter seinen Mitmenschen herumtrieb, die wohl überrascht und gedemütigt gewesen wären, hätten sie gewußt, wie wenig Gehalt und sogar Körperlichkeit sie in seinen Augen hatten. Doch sie konnten ja etwas so Außergewöhnliches nicht vermuten. Sie sahen ihm während der vierzehn Tage überhaupt nichts Außergewöhnliches an. Der Beweis dafür ist, daß sie bereitwillig Geschäfte mit ihm machten. Ganz offenbar bereitwillig, denn gerade damals wurde ihm von einer Schiffsmaklerfirma, die durchaus nicht an seiner geistigen Vollwertigkeit zweifelte, das Angebot gemacht, sein Schiff für die besondere Aufgabe auf den Azoren zu chartern.
Er wirkte wahrscheinlich gesund genug für alle Anforderungen des Geschäftslebens. Doch bin ich nicht ganz so sicher, ob er wirklich zu jener Zeit völlig gesund war.
So oder so, er griff sofort zu. Die Vorsehung selbst schien ihm die Möglichkeit geboten zu haben, das Mädchen während einer verhältnismäßig kurzen Reise an das Seeleben zu gewöhnen. Das war die Zeit, wo alles, was geschah, alles, was er hörte, zufällige Worte, zusammenhanglose Sätze, als Herausforderung oder Ermutigung erschien, die ihn in seinem Entschluß bestärkte. Und tatsächlich ist die Hingabe an irgendeine Tätigkeit ja wirklich das beste Vorbeugungsmittel gegen Grübelei, Ängste und Zweifel – alles das, was der Tat im Wege steht. Ich glaube sogar, daß ein Bursche, der mit der Absicht umgeht, sich die Kehle abzuschneiden, eine gewisse Erleichterung empfinden müßte, während er sein Rasiermesser sorgfältig abzieht.
Und Anthony bot die größte Sorgfalt auf, um für sich selbst und die arme Flora ein unmögliches Dasein vorzubereiten. Er ging daran, ohne mehr Widerstreben, als wäre er mit Lumpen ausgestopft oder aus Eisen gewesen, statt aus Fleisch und Blut. Ein Dasein, mußt du bedenken, das schon an Land kaum denkbar ist, mitten unter Menschen, unter vielerlei Zerstreuungen, endlosen Möglichkeiten, um den Abstand voneinander wahren zu können. Das aber an Bord eines Schiffes, im tête-à-tête für Tage, Wochen, Monate, nichts als eine seelische Qual sein konnte, und eine unerhört sinnlose Qual noch dazu. Anthony war eine gerade Seele. Seine hoffnungslos männliche Einfalt zeigte sich geradezu rührend darin, daß er daran dachte, eine Frau zu Floras Bedienung zu finden. Es machte ihm lebhaftes Kopfzerbrechen, jemanden von untadeliger Ehrbarkeit zu finden. Als ihm plötzlich die Frau seines Stewards einfiel, mag er wohl mit besonderem Überschwang ›Heureka‹ gerufen haben. Man möchte Anthony nicht gerne einen Esel nennen. Doch wirklich: irgendeine Frau in Riechweite eines solchen Geheimnisses bringen und erwarten, daß sie nicht dahinterkommt . . .!
Keine Frau, und sei sie noch so einfach, könnte so einfältig sein. Ich weiß nicht, wie Flora de Barral ihn in Gedanken nannte, als er ihr mitteilte, er habe unter anderem auch dies getan, um es ihr behaglich zu machen. Ich glaube doch, daß sie trotz aller ihrer Einfalt bestürzt genug gewesen sein muß. Er stand an dem bestimmten Tage vor ihr, äußerlich ruhiger, als sie ihn je zuvor gesehen hatte. Und eben diese Ruhe, das gewählte Benehmen, das er sich als Ehrenmann verpflichtet gefühlt hatte, von da an ein für allemal anzunehmen (außer sie würde sich später einmal entschließen, ihm einen Wink zu geben), machte ihr das Herz noch schwerer, das sich doch der leisesten Schuld unbewußt war.
In der letzten Nacht hatte sie besser geschlafen als während der zehn Nächte vorher. Jugend so gut wie Müdigkeit setzen sich zum Schluß gegen die aufreibendste Nervenspannung durch. Sie hatte geschlafen, war aber mit Tränen in den Augen erwacht. Es war nichts mehr davon zu sehen, als sie ihn in dem schäbigen, kleinen Sprechzimmer im Erdgeschoß traf. Sie hatte ihre Tränen geschluckt. Sie dachte nicht daran, sie ihn sehen zu lassen. Sie empfand es als Ehrenpflicht, die Sachlage ein für allemal hinzunehmen, außer . . . Ach ja, außer . . . Sie verbarg alle ihre Gefühle, doch war das kein Mangel an Aufrichtigkeit ihrerseits. Sie wünschte nichts, als die Wahrheit zu ergründen; zu sehen, was schließlich herauskommen würde.
So schlug sie ihn in seinem eigenen Spiel mit der Ehre, und ihre ungetrübte Fassung verwirrte Anthony ein wenig. Er war es, der stammelte, als es zum Sprechen kam. Das unterdrückte Ungestüm machte ihm die Fortsetzung nach den ersten paar Worten leicht genug. Doch war es, als hätten sie beide von der gleichen bitteren Frucht gekostet. Er dachte, mit einer Trauer, nicht frei von Überraschung: ›Fyne hat mir die Wahrheit gesagt. Ihr liegt gar nichts an mir.‹ Es demütigte ihn, steigerte aber auch sein Mitleid mit dem Mädchen, das in einer dunklen Stunde, herumgestoßen und verzweifelnd, in die Gewalt seines stärkeren Willens geraten war und sich in seine Arme gegeben hatte, wie bei einem nächtlichen Schiffbruch. Flora wiederum zeigte etwas mehr Einblick (denn Frauen sind nie so völlig blind wie Männer) und empfand etwas Mitleid für ihn, bemitleidete sich aber auch selbst. Es war eine Abweisung, eine Ausstoßung. Nichts neues für sie. Und doch empfand sie, die ihre Gefühlsfähigkeit längst schon tot geglaubt hatte, etwas wie Gegenwehr gegen diesen letzten Verrat. Hier brachte sie keine Ergebung auf. Mit einer erzwungenen Stumpfheit sagte sie sich: ›Nun, hier bin ich. Ohne alle Narretei. Es ist nicht mein Fehler, daß ich nichts weiter bin als ein unwürdiger Gegenstand für Mitleid.‹
Und alles dies, was sie sich mit ruhigem Gewissen selbst sagen konnte, half ihr besser, als die leidenschaftliche Verranntheit Roderick Anthony half. Sie war ihrer selbst weit sicherer als er. Das ist der Vorzug bloßer Rechtlichkeit, selbst noch vor übersteigerter Großmut.
So fuhren sie also zur Trauung, ohne daß die Leute der Pension das Geringste vermutet hätten. Sie waren nur etwas aufgeregt, daß eine Herrenbekanntschaft (und ein sehr feiner Herr noch dazu) Fräulein Smith zum ersten Male, seit sie im Hause wohnte, besuchen gekommen war. Als sie zurückkam, denn sie kam alleine zurück, wurden einige Anspielungen auf den Ausflug gemacht. Sie mußte ihre Mahlzeiten mit diesen recht gewöhnlichen Leuten einnehmen. Die Besitzerin, eine hagere, höfliche Frau, versuchte sogar Bekenntnisse herauszulocken. Floras weißes Gesicht mit den tiefen blauen Augen machte ihnen nicht den Eindruck, den es Kapitän Anthony gemacht hatte, als wäre es das wahre Gesicht der leidenden Welt. Ihre gequälte Zurückhaltung vermochte es nicht, die Leute in den Grenzen des Anstandes zu halten.
Nun also, sie kehrte alleine zurück, wie es ja tatsächlich zu erwarten gewesen war. Nach dem Verlassen des Standesamtes waren Flora de Barral und Roderick Anthony in einen der Parks gegangen. Es muß wohl ein Eastendpark gewesen sein, aber ich weiß es nicht bestimmt. Jedenfalls also taten sie das. Es war ein sonniger Tag. Er sagte ihr: ›Alles, was ich auf der Welt besitze, gehört dir. Ich habe dafür gesorgt, ohne meinen Schwager zu behelligen. Sie haben nichts dreinzureden.‹
Sie ging dahin und hatte die Hand leicht auf seinen Arm gelegt. Er hatte ihr beim Verlassen des Standesamts den Arm geboten und sie hatte ihn schweigend angenommen. Sie hielt den Kopf gesenkt und schien manches zu überdenken. Nun sagte sie und meinte die Fynes: ›Sie waren sehr gut zu mir.‹ Daraufhin rief er aus:
›Sie haben dich nie verstanden! Wenigstens nicht recht verstanden. Meine Schwester ist keine schlechte Frau, aber . . .‹
Flora widersprach nicht, fragte sich nur, ob er sie vielleicht so viel besser zu verstehen meinte. Anthony verbannte seine Verwandtschaft aus seinen Gedanken und fuhr fort: Jawohl. Alles gehört dir, ich habe nichts zurückbehalten. Und was nun das Stück Papier angeht, das wir draußen von den beiden Federfuchsern bekommen haben – wäre es nicht gesetzlich vorgeschrieben, so hätte ich nichts dagegen, wenn du's hier sofort zerreißen wolltest. Aber tue das nicht. Außer wenn du eines Tages fühlen solltest . . .‹ Die Stimme brach ihm plötzlich. Sie zögerte nachdenklich einen Augenblick und sagte dann mit einem tapferen Entschluß:
›Ich will auch nichts vor dir zurückbehalten.‹
Sie hatte es gesagt! Doch er in seiner blinden Großmut nahm an, daß sie ihre trostlose Geschichte meinte, und beeilte sich zu entgegnen:
›Natürlich, natürlich! Sag' nichts weiter! Ich bin endlos wach gelegen und habe lange darüber nachgedacht.‹
Er machte mit dem leeren Arm eine Bewegung, als hielte er sich mühsam zurück, der Welt wütend die Faust zu zeigen; sie machte nicht einmal den Versuch, ihn anzusehen; seine Stimme klang fremd, unglaublich leblos im Vergleich zu den Gewittertönen, die auf den weiten Feldern und im dunklen Garten scheinbar den Boden unter ihren müden Füßen erschüttert hatten.
Sie sehnte sich danach. Da er sie seufzen hörte, klopfte Anthony, anstatt der Welt die Faust zu zeigen, leise ihre Hand, die auf seinem Arm ruhte, hörte aber plötzlich damit auf, als hätte er sich verbrannt. Dann, nach einer Pause:
›Du wirst morgen alleine gehen müssen. Ich . . . Nein, ich glaube, ich darf nicht kommen. Lieber nicht. Was ihr beide einander zu sagen habt . . .‹
Sie unterbrach ihn rasch:
›Vater ist unschuldig. Ihm ist bitter Unrecht geschehen.‹
›Ja. Das ist es ja eben‹, beharrte Anthony. ›Und du bist das einzige menschliche Wesen, das es mit ihm ausmachen kann. Du alleine mußt ihn mit der Welt versöhnen, wenn das überhaupt möglich ist. Aber du wirst es natürlich fertigbringen. Du wirst schon die rechten Worte finden. Doch. Und wenn er dich alleine sieht, so wird ihn das besänftigen.‹
›Er ist der liebenswürdigste Mensch‹, unterbrach sie ihn abermals.
Anthony schüttelte den Kopf. ›Es würde endlose Langmut, endlose Liebenswürdigkeit brauchen, um so etwas vergessen zu können. Mir für meinen Teil wäre es lieber gewesen, gleich hingerichtet zu werden und sofort mit allem fertig zu sein. Für dich hätte es nicht schrecklicher sein können – und ich denke mir, daß er wohl hauptsächlich an dich gedacht hat, während die höllischen Paragraphenmenschen ihm vor Gericht zusetzten. An dich. Und nun, denke ich mir, wird wohl dein Anblick das alles wieder in ihm wecken. Alle die Jahre, alle die Jahre . . . Und du, sein Kind, allein in der Welt. Ich wäre verrückt geworden. Denn wenn er selbst gefehlt hätte . . .‹
›Das hat er aber nicht‹, bestand Flora de Barral mit unerwarteter Heftigkeit. ›Du darfst es gar nicht erwägen. Hast du die Verhandlungsberichte nicht gelesen?‹
›Ich erwäge gar nichts‹, verteidigte sich Anthony. Er erinnerte sich eben nur, von der Verhandlung gehört zu haben. Er versicherte ihr, er sei damals von England fort gewesen, auf der zweiten Reise der Ferndale. Er habe eben den Stillen Ozean von Australien herüber gekreuzt und Wochen und Wochen hindurch keine Zeitungen zu Gesicht bekommen. Er unterbrach sich mit dem Ratschlag:
›Du solltest ihm gleich sagen, daß du glücklich bist.‹
Er hatte ein wenig gestammelt, und Flora de Barral antwortete mit einem klaren und bestimmten ›Ja.‹
Ein kurzes Schweigen folgte. Sie zog ihre Hand von seinem Arm. Sie blieben stehen. Anthony sah aus, als wäre eine völlig unerwartete Katastrophe geschehen.
›Oh,‹ sagte er, ›du möchtest nicht . . .‹
›Nein. Ich glaube, es ist besser‹, murmelte sie.
›Sehr richtig. Sehr richtig. Bringe ihn nur morgen gleich an Bord. Halte dich nirgends auf.‹
Sie hatte eine Bewegung unbestimmter Dankbarkeit. Ein plötzliches Gefühl von Frieden, den sie dem Mann vor ihr verdankte. Sie sah zu Anthony auf. Sein Gesicht war finster. Er war meilenweit fort. Sprach wie zu sich selbst:
›Wo sollte er sich auch aufhalten wollen.‹
›Es gibt keinen einzigen Menschen auf der Welt, von dem ich wünschen möchte, daß er jetzt das liebe Gesicht ansähe, oder zu dem ich ihn gerne brächte‹, sagte sie mit merkwürdig schwankender Stimme und streckte ihm freimütig die Hand entgegen. ›Keinen als dich – Roderick.‹
Er nahm ihre Hand und empfand sie in seiner breiten Pranke ganz klein und zart.
›Das ist recht, das ist recht‹, sagte er mit bewußter und etwas hastiger Herzlichkeit; und als schämte er sich plötzlich über den Klang seiner eigenen Stimme, machte er kehrt und ließ das reglose Mädchen einfach stehen. Er widerstand sogar der Versuchung, sich umzuwenden, bis es zu spät war. Der Kiesweg lag leer bis zum Eingangstor des Parks. Sie war fort – verschwunden. Er hatte den Eindruck, irgendein Glück versäumt zu haben. Er fühlte sich traurig. Das klare Bewußtsein seines eigenen Verhaltens, das ihn während der letzten zehn Tage begleitet hatte, war verflogen. Es war erreicht!
Er bummelte ziellos weiter, einer leisen Wehmut hingegeben. Er ging und ging. An diesem Erholungsort, mitten in einer armen Umgebung, waren sehr wenige Leute unterwegs. Unter gewissen Lebensbedingungen bleibt recht wenig Zeit, frische Luft zu schöpfen; und doch gaben sich einige wenige da und dort dem Luxus hin; doch so wenige es auch waren, Kapitän Anthony, obzwar durchaus kein Menschenfeind, empfand ihre Gegenwart störend. Die Einsamkeit war seine beste Freundin gewesen. Er sehnte sich nach einem Platz, um sich niedersetzen und alleine sein zu können. Und in seiner Not kehrten seine Gedanken zur See zurück, die ihm in so reichem Maße diese ersehnte Einsamkeit beschert hatte. Dort, wenn er immer auf seinem Schiff blieb (das ja untrennbar zu ihm gehörte), dort konnte er stets so einsam sein, wie er nur mochte. Ja. Hinaus aufs Meer!
Die Nacht der Stadt, von Lichterreihen durchkreuzt, wie ein Netz aus Flammen über der finsteren Unendlichkeit der Mauern, schloß sich um ihn. Über dem künstlichen Glanz, von ruhelosen, gehetzten Menschen erzeugt, hing schwer das große Dunkel. Anthony, innerlich geneigt, jeden Vorübergehenden zu bemitleiden, jede Gestalt, die sich ihm im Schein einer Straßenlampe zeigte, richtete endlich seine Augen auf eine Gestalt, die ihm in jener Nacht unter einer der Straßenlampen unmöglich begegnen konnte. Auf eine Gestalt, die er nicht kannte. Auf eine Gestalt, eingeschlossen zwischen unübersteigbaren Steinmauern, bis zum nächsten Morgen . . . auf die Gestalt von Flora de Barrals Vater, auf de Barral, den Finanzmann – den Sträfling.
In dem Wort mit seinem Beigeschmack von Schuld und Sühne liegt etwas, das dem Nachdenken Einhalt gebietet. Wir fühlen uns der Macht der Gesellschaftsordnung gegenüber, einer Macht, die an sich und mehr noch in ihren Auswirkungen geheimnisvoll ist. Ob schuldig oder unschuldig, der alte de Barral schien in der Unterwelt geweilt zu haben. Es war unmöglich, sich vorzustellen, was er von dort in diese Welt nicht verurteilter Menschen mit heraufbringen würde. Was würde er denken? Was zu sagen haben? Und was sollte man ihm sagen?
Anthony, leicht verwirrt, wie man es meist ist, wenn man merkt, daß eine Gedankenkette das eigene Fassungsvermögen übersteigt, Anthony tröstete sich in dem Gedanken, daß der alte Mann wahrscheinlich wenig zu sagen haben würde. Er würde überhaupt nicht darüber sprechen wollen. Kein Mann konnte das. Es mußte für ihn eine wahre Hölle gewesen sein.
Und dann hörte Anthony, am Ende des Tages, an dem er neben Flora de Barral die Trauungszeremonie mitgemacht hatte, an Floras Vater zu denken auf, außer noch gelegentlich als an einen Gefangenen in seinem Triumphzug. Er vertiefte sich in Gedanken in die Betrachtung des weißen, feinen, lieblichen Gesichts mit den großen blauen Augen, die er weinen gesehen hatte, fragen, und tief nach ihm selbst sehen, manchmal ungläubig, manchmal in schmerzlichen Zweifeln, doch immer unwiderstehlich in ihrer Kraft, den geraden Weg zu seinem Herzen zu finden und dort einen Widerhall zu wecken, der mehr war als Liebe – so sagte er sich – als Liebe wenigstens, wie die Leute sie verstehen. Mehr? Oder war es nur etwas anderes? Ja. Es war etwas anderes. Mehr oder weniger. Etwas so Unglaubliches, wie die Erfüllung eines berückenden Traumes, während dessen er die Welt zu umfassen gemeint hatte, die ganze, leidvolle Welt – nicht um sich mit ihrer Pracht zu brüsten, sondern um alle ihre Schmerzen zu trösten und zu heilen.
Anthony ging langsam zu seinem Schiff und schlief die Nacht ohne Träume.