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Er muß uns wohl durch das Fenster gesehen haben, als wir in der Jolle des Vierzehn-Tonnen-Kutters, der Marlow, meinem Gastfreund und Schiffsherrn, gehörte, zum Mittagessen fuhren. Wir halfen dem Jungen, den wir bei uns hatten, das Beiboot am Landungssteg festzumachen und gingen dann zu dem Gasthaus am Strand hinauf. Dort fanden wir unseren neuen Bekannten, der in würdiger Einsamkeit sein Mittagmahl am Kopfende eines langen Tisches verzehrte, weiß und unwirtlich wie eine Schneebank.
Die Röte seines scharf geschnittenen Gesichts mit dem kurzen Backenbart und dem welligen, eisengrauen Haupthaar war der einzige warme Lichtfleck in dem düsteren Raum, der durch das stimmungslose Tischtuch noch kälter wirkte. Wir kannten ihn schon vom Sehen als den Eigentümer eines kleinen Fünf-Tonnen-Kutters, den er offenbar allein segelte; er mochte einer der vielen begeisterten Sportsleute sein, die an der Themsemündung kreuzen. Als er aber zum ersten Male den Kellner scharf als »Steward« anredete, da wußten wir, daß er ein richtiger Seemann war.
Nun nahm er auch noch Gelegenheit, diesem selben Kellner die Langsamkeit vorzuwerfen, mit der das Essen aufgetragen wurde. Er tat es mit bemerkenswertem Nachdruck und wandte sich dann zu uns.
»Wenn wir auf See«, sagte er, »so an unsere Arbeit gingen, wie die Leute an Land, hoch und niedrig, an die ihre, dann könnten wir uns nie unser Brot verdienen. Niemand würde uns anheuern, und überdies könnte kein Schiff, das in der wurstigen Art gesegelt würde, je einen Hafen erreichen.«
Seitdem er das Seefahren aufgegeben, sei er nie aus der Verwunderung darüber herausgekommen, daß die gebildeten Leute nicht viel besser wären als die anderen. Keiner schien richtigen Stolz in seine Arbeit zu setzen: von den Spenglern angefangen, die ja einfach Diebe waren, bis hinauf zu den Zeitungsleuten (diese schien er für besonders gebildet zu halten), die nie und unter keinen Umständen einen zutreffenden Bericht über den geringfügigsten Vorfall geben konnten. Diese allgemeine Minderwertigkeit des »Landvolks«, wie er sich ausdrückte, schrieb er dem Mangel an Verantwortungsgefühl und dem Bewußtsein persönlicher Sicherheit zu.
»Sie wissen gut,« fuhr er fort, »daß, was immer sie auch tun, diese dichte, kleine Insel niemals kentern oder leckwerden und mit ihren Frauen und Kindern unter ihnen wegsacken wird.«
Von da an nahm das Gespräch eine besondere Wendung und drehte sich nun ausschließlich um das Leben auf See. Dabei gewann er sofort enge Fühlung mit Marlow, der zu seiner Zeit auch auf See gefahren war. Sie tauschten angeregt Erinnerungen aus, während ich stumm zuhörte, und waren einig darin, daß sie die glücklichste Zeit ihres Lebens als jüngste Offiziere auf guten Schiffen gehabt hatten, ohne andere Sorge auf der Welt als: auf See keine Freiwache zu versäumen und im Hafen keinen Augenblick Zeit und Gelegenheit, um an Land zu kommen. Sie waren auch einer Meinung über den stolzesten Augenblick in diesem Beruf, der nie aus praktischen oder Vernunftgründen ergriffen wird, sondern wegen seines romantischen Beiwerks. Das war der Augenblick, als sie ihre erste Prüfung bestanden und das Seeamt mit dem kostbaren Streifen blauen Papiers in der Hand verlassen hatten.
»An jenem Tage hätte ich die Königin nicht meine Kusine nennen mögen«, rief unser neuer Bekannter begeistert aus.
Zu jener Zeit fanden die Seeamtsprüfungen in St. Catherines Dockhouse auf Tower Hill statt, und er unterrichtete uns davon, daß er eine besondere Vorliebe für jene romantische Stätte habe: links die Gärten, rechts die Hauptfront der Münze, weiter ab die elenden, verfallenden Häuser, dann ein Droschkenstand, ein paar Schuhputzer, die am Rand des Bürgersteigs schwatzten, und ein mächtiges Polizistenpaar, das mit überlegenem Ausdruck nach dem Tor der Gastwirtschaft »Zum schwarzen Roß« jenseits der Straße hinübersah. Dies war der Ausschnitt der Welt, sagte er, der sich seinen Augen am schönsten Tage seines Lebens als erster darbot. Er war aus dem Hauptausgang von St. Catherines Dockhouse herausgetreten, als flügger Zweiter Offizier, nach einer bösen Stunde mit Kapitän R . . ., dem gefürchtetsten der drei Seeamtsprüfer, die damals für die Zulassung von Handelsmarineoffizieren im Hafen von London verantwortlich waren.
»Wir alle, die vor der Prüfung standen,« sagte er, »zitterten in unseren Schuhen beim bloßen Gedanken, vor ›ihn‹ zu kommen. Mich behielt er anderthalb Stunden in der Folterkammer und tat, als haßte er mich. Er hielt eine Hand über die Augen, ließ sie plötzlich sinken und sagte: ›Das genügt!‹ Bevor ich recht begriffen hatte, was er meinte, schob er mir schon einen blauen Zettel über den Tisch zu. Ich sprang auf, als hätte mein Stuhl Feuer gefangen.
›Danke, Herr‹, sagte ich und erwischte den Zettel.
›Guten Morgen und viel Glück‹, grunzte er.
Der alte Türhüter stürzte aus dem Ankleidezimmer heraus, mit meinem Hute in der Hand. Das tun sie immer. Aber er sah mich scharf an, bevor er in schüchternem Flüsterton zu fragen wagte: ›Gut durchgekommen, Herr?‹ Statt jeder Antwort ließ ich ein Goldstück in seine weiche, breite Hand gleiten; und er, mit einem plötzlichen Grinsen von Ohr zu Ohr: ›Nun, ich weiß mich nicht zu erinnern, daß er einen der Herren je so lange zurückbehalten hätte. Zwei Offiziere hat er heute früh schon geworfen, bevor die Reihe an Sie kam. Keine zwanzig Minuten für jeden; das ist so seine Zeit.‹
Ich fand mich unten an der Treppe, ohne die Stufen gemerkt zu haben, als wäre ich sie hinuntergeschwommen. Der schönste Tag meines Lebens. Der Tag, an dem man sein erstes Kommando bekommt, ist nichts dagegen. Denn erstens einmal ist man dann nicht mehr so jung, und zum zweiten bleibt für unsereinen nachher nicht mehr viel zu erwarten. Ja, ja, der schönste Tag im Leben, ohne Frage. Aber es ist eben auch nur ein Tag und nicht mehr. Was nachher kommt, ist so ziemlich die widerwärtigste Zeit für einen Jungmann. Die Jagd nach einem Offiziersposten, ohne mehr aufweisen zu können als ein nagelneues Patent. Es ist ganz erstaunlich, wie nutzlos einem das Stück Eselshaut vorkommt, um das man sich soviel Mühe gemacht hat. Mir ging es nicht gleich auf, daß ein Zeugnis vom Handelsamt noch nicht den Offizier macht, bei weitem nicht. Die Schiffer aber, die ich mit Fragen bestürmte, wußten es sehr wohl. Heute wundere ich mich nicht mehr darüber und mache ihnen auch keinen Vorwurf daraus. Aber diese ›Suche nach einem Schiff‹ ist für einen Jungmann doch recht hart . . .«
Er erzählte dann weiter, wie müde er war und wie entmutigt durch diese Enttäuschung, die so rasch auf den schönsten Tag seines Lebens gefolgt war. Er erzählte uns, wie er durch alle Reedereien der Stadt die Runde machte, regelmäßig von irgendeinem jungen Angestellten ein vorgedrucktes Bewerbungsformular bekam und es dann abends zu Hause ausfüllte. Kurz vor Mitternacht pflegte er auf die Straße zu laufen, um es in den nächsten Briefkasten zu werfen. Und damit hatte es dann sein Bewenden. Mit seinen eigenen Worten: er hätte sie ebensogut sauber adressiert und frankiert in den nächsten Rinnstein werfen können.
Dann traf er eines Tages, als er wieder seinen Leidensweg zu den Docks machte, vor dem Fenchurch Street-Bahnhof einen Freund und ehemaligen Schiffskameraden, der um ein paar Jahre älter war. Er winselte um Mitleid, aber sein Freund hatte eben »ein Schiff bekommen«, am selben Morgen, und jagte nun heim, in dem Zustand äußeren Jubels und innerer Unrast, jedem Seemann geläufig, der nach langer Wartezeit plötzlich einen Posten findet. Der Freund hatte nur wenig Zeit, ihn zu bedauern. Er mußte sich beeilen. Während er davonstürzte, rief er ihm aber doch über die Schulter zurück zu: »Warum gehst du nicht zu Herrn Powell im Heuerbureau und redest mit ihm?« Unser Freund wandte ein, daß er Herrn Powell nicht besser kenne als Vater Adam. Und der andere, fast schon um die nächste Ecke, brüllte noch den Rat: »Geh durch den Privateingang des Heuerbureaus gerade zu ihm hin. Sein Tisch ist am Fenster. Geh kalt hin und sage, ich schickte dich!«
Unser neuer Bekannter sah uns nochmals an und erklärte: »Meiner Treu, ich war so verzweifelt, daß ich ruhig zum Teufel selbst hingegangen wäre, auf die bloße Andeutung hin, er hätte einen Offiziersposten zu vergeben.« An diesem Punkte seiner Erzählung war es, daß er, ohne den Blick von uns zu wenden, den Fluß seiner Rede unterbrach, um seine Pfeife anzuzünden. Dabei erkundigte er sich, ob wir Powell gekannt hätten. Marlow murmelte mit leisem Lächeln, daß er sich seiner sehr gut erinnern könne.
Dann war es still. Unser neuer Bekannter war mit seiner Pfeife übers Kreuz gekommen. Irgendeine Schwierigkeit hatte plötzlich sein Vertrauen in sie zerstört und seiner Vorfreude auf genießerische Hingabe ein Ende gemacht. Um die Kugel im Rollen zu halten, fragte ich Marlow, ob dieser Powell irgendwie bemerkenswert wäre.
»Nicht gerade das«, gab Marlow mit seiner gewohnten Nachlässigkeit zurück. »Im allgemeinen ist es recht schwierig, bemerkt zu werden. Die Leute beachten einen nie genügend, weißt du. Ich kann mich nur deswegen so gut an Powell erinnern, weil er mir als Heuerbas im Hafen von London öfter als einmal während meiner Pilgerfahrt zur See auf weite Fahrt hinausgeholfen hat. Er erinnerte an Sokrates. Ich meine, im wahren Sinne: im Gesicht. Ein philosophischer Geist ist ja nur ein Zufall. Er glich aufs Haar der bekannten Büste des unsterblichen Weisen, wenn du dir diese Büste mit einem weit aus der Stirne geschobenen Zylinderhut vorstellst und mit einem schwarzen Rock über den Schultern. Da ich ihn nie anders gesehen habe, als von der anderen Seite des langen, niedrigen Schalters her, hinter dem die fünf Schreibtische der fünf Heuerbase aufgestellt waren, so wird mir Herr Powell immer als Büste in Erinnerung bleiben.«
Unser neuer Bekannter hatte seine Pfeife in Ordnung gebracht und kam nun vom Kamin zu uns herüber.
»Das Bemerkenswerteste an Powell war, daß er gerade so hieß«, betonte er gewichtig, während sein Haupt in einer Rauchwolke verschwand. »Sie müssen nämlich wissen, daß ich zufällig auch Powell heiße.«
Es war offensichtlich, daß uns diese Eröffnung nicht aus gesellschaftlichen Gründen gemacht wurde. Jede Antwort darauf erübrigte sich. Wir sahen ihn unverwandt und erwartungsvoll an.
Ein oder zwei Minuten lang gab er sich stumm und schlemmerhaft dem Genusse seiner Pfeife hin. Dann nahm er den Faden seiner Geschichte wieder auf und erzählte uns, wie er sich geradeswegs nach Tower Hill begeben hatte. Er war seit dem Prüfungstage nicht mehr dort gewesen, jenem herrlichsten Tag seines Lebens, dem Tag übermütigsten Stolzes. Nun sah es sich anders an. Immer noch nicht hätte er die Königin seine Kusine nennen mögen, diesmal aber aus einem Gefühl tiefster Zerknirschung heraus. Er hielt sich nicht mehr für gut genug zu irgend jemandes Verwandtschaft. Er beneidete die blaunasigen alten Droschkenkutscher auf ihrem Stand, die Schuhputzerjungen am Rande des Bürgersteigs, die mächtigen Schutzleute, die langsam das Gitter der Toweranlagen entlang wandelten, im vollen Bewußtsein ihrer Machtfülle; er beneidete die zinnoberroten Schildwachen, die flott vor der Münze auf und ab liefen, neidete ihnen ihre Stellung im Arbeitskomplex der Welt. Er beneidete sogar die elenden, blassen Bettler mit ihren hageren Gesichtern, die aus Lasteraugen blinzelten und ihre schmierigen Schultern gegen die Torpfeiler des »Schwarzen Rosses« rieben, beneidete sie, weil sie zu weit gesunken waren, um ihre Entwürdigung noch zu empfinden. Ich muß es dem Manne unbedingt zuerkennen, daß er es uns wahrhaft nahe zu bringen wußte, wie bitter er in seiner jugendlichen Hoffnungsfreude enttäuscht worden war, als sich der Platz an der Sonne und die Daseinsberechtigung nicht gleich finden wollten.
Er stieg also die Freitreppe zu St. Catherines Dockhouse hinan, gerade die Treppe, von der aus er etwa sechs Wochen früher den Droschkenstand, die Häuser, die Schuhputzer, die Schutzleute, die Malerei, Vergoldung und die Spiegelscheiben des »Schwarzen Rosses« mit Siegermiene überblickt hatte. Damals war er im Grunde seines Herzens überrascht gewesen, daß diese alle ihm nicht mit Gesang und Weihrauch gehuldigt hatten; jetzt aber (er machte kein Geheimnis daraus) drückte er sich ganz verstohlen an den Glasfenstern des Pförtners vorbei.
»Ich hatte kein Goldstück mehr für Trinkgeld übrig«, bemerkte er grimmig. Der Mann lief ihm nach und fragte: »Was wünschen Sie?« Aber mit einem Blick nach dem ersten Stock hinauf, in dankbarer Erinnerung an Kapitän R . . .s Prüfungszimmer (wie leicht und einfach das alles gewesen war!), rannte er eine Stiege ins Kellergeschoß hinunter und befand sich alsbald an einem Orte voll Dämmern und Geheimnis, mit vielen Türen. Er hatte befürchtet, durch irgendein Eintrittsverbot aufgehalten zu werden. Aber er wurde nicht verfolgt.
Die Kellerräume von St. Catherines Dockhouse sind weitläufig und verwirrend angelegt. Schwache Lichtbündel fallen schräg von oben in das Gewinkel feuchter Gänge. Powell wanderte dort auf und ab wie einer der flüchtigen Urchristen in den Katakomben; und selbst der letzte Rest von Glauben an den Erfolg seines Unternehmens begann ihm nun aus den Fingerspitzen zu entschwinden. An einer dunklen Ecke, unter einem Gasarm, dessen Flamme kleingestellt war, verließ ihn sein Selbstvertrauen ganz und gar.
»Was wollen Sie? Es gehört schon was dazu, einen Wildfremden um einen Gefallen zu bitten! Ich wollte, mein Namensvetter wäre der Teufel selbst gewesen. Ich hatte ein unbestimmtes Gefühl, als wäre mir die Aufgabe dann leichter gefallen. – Ich habe nie stark genug an den Teufel geglaubt, um ihn zu fürchten. Sehen Sie, ein Mann dagegen kann schon recht unangenehm werden. Ich sah mir die verschiedenen festgeschlossenen Türen an, mit der wachsenden Überzeugung, daß ich nie den Mut aufbringen würde, eine davon zu öffnen. Denken wirkt immer ungünstig auf die Nerven. Ich kam zu dem Entschluß, die ganze Sache aufzugeben. Aber zu guter Letzt habe ich doch nicht nachgegeben, und ich will Ihnen sagen, was mich dazu bestimmte. Es war die Erinnerung an jenen verwünschten Pförtner, der mir nachgerufen hatte. Ich war überzeugt, daß der Kerl oben an der Treppe nach mir Ausschau hielt. Wenn er mich fragte, was ich gewollt hätte, wozu er das volle Recht hatte, und ich wußte keine Antwort, so mußte ich dadurch zum mindesten lächerlich wirken, wenn nicht schlimmer. Es wurde mir sehr heiß. Ich sah keine Möglichkeit, mich aus der Affäre zu ziehen.
Ich hatte da unten jede Orientierung verloren. Von den vielen Türen verschiedener Größe hatten einige Oberlichter. Andere aber müssen einfach in Holzräume oder wohin geführt haben; denn als ich es schließlich über mich brachte, eine oder die andere zu versuchen, fand ich sie zu meiner Verwirrung versperrt. Ich stand unentschlossen und unsicher da, wie ein ertappter Dieb. Der gräßliche Keller war still wie ein Grab, und ich hörte mein Herz klopfen. Sehr ungemütlich! Ist mir vorher wie nachher nie wieder geschehen! – Eine größere Tür zu meiner Linken, mit einem wuchtigen Messinggriff, sah aus, als ob sie vielleicht in das Heuerbureau führen könnte. Ich machte einen Versuch, mit zusammengebissenen Zähnen. ›Vorwärts!‹
Die Türe ging ganz leicht auf, und der Raum, in den sie führte, war kaum größer als ein Schrank. Jedenfalls war er nicht größer als dreieinhalb zu vier Meter, und da ich irgendwie darauf gefaßt war, das Heuerkontor groß, düster, kellerartig zu finden, wie ich es von ein oder zwei früheren Besuchen in schattenhafter Erinnerung hatte, so war ich außerordentlich erstaunt. Ein Gasarm hing von der Mitte der Zimmerdecke über einen dunklen, schäbigen Schreibtisch, der mit einer Menge vergilbter, staubiger Akten bedeckt war. Unter der Flamme des einzigen Gasbrenners, der den Raum mit einer Lichtfülle überflutete, saß ein unscheinbarer, kleiner Mann, eifrig schreibend, die Nase fast auf dem Tisch. Sein Kopf war völlig kahl und von annähernd derselben Farbe wie die Papiere. Auch er machte einen ziemlich staubigen Eindruck.
Ich habe nicht festgestellt, ob er Spinngewebe an sich hatte, aber es hätte mich nicht gewundert, wenn welche da gewesen wären, denn der ganze Mann machte den Eindruck, als sei er seit Jahren in diesem Loche eingekerkert gewesen. Die Art, in der er seine Feder sinken ließ und nach mir schielte, war mir sehr unangenehm. Sein Kerker war heiß und stickig, er roch nach Gas und Pilzen und schien mindestens vierzig Meter unter der Erde zu liegen. Massige Papierstöße füllten alle Ecken des Zimmers an, fast bis zur Decke hinauf. Und als mir plötzlich der Gedanke kam, daß dies die Geschäftsräume des Seeamts waren und daß dieser Mensch irgendwie mit Schiffen, Matrosen und mit der See zu tun hatte, da raubte mir das Erstaunen den Atem. Man konnte sich nicht vorstellen, warum das Seeamt wohl dieses kahlköpfige Geschöpf hier unten fronen ließ. Aus irgendwelchem Grunde empfand ich Bedauern und Beschämung darüber, daß ich ihn in seiner Gefangenschaft aufgespürt hatte. Ich erkundigte mich sanft und bekümmert: ›Das Heuerkontor, bitte!‹
Er krächzte mich mit einer verächtlichen, piepsigen Stimme an, daß ich zusammenfuhr: ›Nicht hier. Versuchen Sie den Gang auf der anderen Seite. Straßenseite. Dies ist die Dockseite. Sie haben sich verirrt . . .‹
Er sprach in einem so wegwerfenden Ton, daß ich glaubte, er würde seinen Worten etwa ein ›Sie Idiot‹ folgen lassen, und vielleicht war das wirklich seine Absicht. Aber dann endigte er kurz mit: ›Schließen Sie die Tür ruhig hinter sich!‹
Und Sie können mir glauben, ich habe sie ruhig hinter mir geschlossen. Ruhig und rasch. Der ungebrochene Geist des Burschen machte mir Eindruck. Ich denke manchmal, ob er es wohl fertiggebracht hat, sich Freiheit und eine Pension zu erschreiben, oder ob er aus seinem gaserleuchteten Grab geradeswegs in jenes andere, dunkle gehen mußte, wo niemand würde eindringen wollen. Es war mir eine Freude, zu sehen, daß er noch soviel Schneid hatte, aber ich selbst war nicht im geringsten getröstet. Ich bedachte, daß, wenn Herr Powell ein ähnliches Temperament an den Tag legte . . . Doch nahm ich mir keine Zeit, diesen Gedanken weiter zu verfolgen, und eilte über den Platz am Fuße der Treppe in den Gang, in den man mich gewiesen hatte. Ich versuchte gleich die erste Türe, zu der ich kam, ohne jedes Zögern, denn vom oberen Gang drang laut eine erstaunte, fast empörte Stimme zu mir, die wissen wollte, was ich eigentlich da unten triebe: ›Wissen Sie denn nicht, daß dort der Zutritt verboten ist?‹ donnerte es. Dem Weiteren entzog ich mich hastig, indem ich durch eine Tür trat, die die Aufschrift ›Privat‹ trug. Ich befand mich in einem schmalen, etwa zwei Meter breiten Raum, den eine lange, niedrige Schalterwand von einem geräumigen Zimmer mit gewölbter Decke abtrennte. Das Tageslicht drang nur durch ein vergittertes Fenster ein und durch eine Glastür am anderen Ende des Raumes. Das erste, was ich unmittelbar vor mir sah, waren drei ältere Männer, die eine Art Spiel zu treiben schienen, rund um einen anderen Kerl herum, mit langem, dünnem Hals und hängenden Schultern; dieser stand an einem Pult und schrieb unaufhörlich auf einen großen Bogen, ohne den Dreien anders als durch ein Lächeln Beachtung zu schenken. Sobald ich eintrat, wurden sie alle sehr förmlich, und ich hörte, wie der eine murmelte: ›Nanu, was haben wir denn da?‹
›Ich möchte Herrn Powell sprechen, bitte‹, sagte ich höflich, aber bestimmt. Nichts sollte mich jetzt noch abschrecken können. Dies war ohne Zweifel das Heuerkontor. Es war nach drei Uhr nachmittags, und der Betrieb schien für den Tag beendigt zu sein. Der langhalsige Kerl fuhr unbeirrt in seiner Schreiberei fort. Ich bemerkte, daß er nun nicht mehr lächelte. Die drei anderen steckten am anderen Ende des Zimmers die Köpfe zusammen, wo ein fünfter Mann ihren Sprüngen von einem hohen Stuhle aus zugesehen hatte. Auf ihn ging ich zu, mutig, als sei er der Teufel selbst. Er hatte den einen Fuß auf dem Querholz seines Stuhles aufgestützt und schwang unaufhörlich den anderen, der ein gutes Stück von dem Steinboden entfernt war, hin und her. Er hatte seine Weste oben aufgeknöpft und seinen hohen Hut weit auf den Hinterkopf zurückgeschoben. Er hatte ein rundliches, runzelloses Gesicht und so lebhafte Augen, daß sein grauer Bart wie eine Verkleidung wirkte. Sie sagten eben, er sähe Sokrates ähnlich, nicht wahr? Ich weiß nicht recht. Dieser Sokrates war, glaube ich, ein weiser Mann?«
»Das war er,« stimmte Marlow bei, »und ein wahrer Freund der Jugend. Er predigte ihr in einer besonders aufreizenden Weise. Das war so seine Art.«
»Dann ziehe ich Powell unbedingt vor«, erklärte sofort unser neuer Bekannter. »Er hat mir in keiner Weise gepredigt, alles eher. Er sagte auf mein schüchternes Gemurmel hin ganz freundlich: ›Guten Tag‹. Und dann, mich musternd: ›Ich glaube nicht, daß ich Sie kenne, – oder?‹
›Nein‹, sagte ich, und schon rutschte mir das Herz in die Stiefel hinunter, gerade in dem Augenblick, wo ich alle meine Kaltblütigkeit nötig gehabt hätte. Es gibt nichts Jämmerlicheres in der Welt als Unverschämtheit, die nicht vollendet durchgeführt wird. Aus Angst, schüchtern zu erscheinen, legte ich so selbstverständlich los, daß ich vor mir selbst förmlich erschrak. Er hörte eine Weile zu, sah mir erstaunt und neugierig ins Gesicht und hob dann die Hand. Ich sage Ihnen, ich war herzlich froh, abbrechen zu können.
›Na, Sie sind mir ja ein kalter Junge,‹ sagte er, ›Sie und Ihr Freund! Er saß mir im Genick und kam zwei Wochen lang täglich, bis ein mir befreundeter Kapitän so gut war, ihn anzunehmen. Und kaum ist er versorgt, da schickt er Sie her! Euch Anfängern scheint es egal zu sein, wem ihr die Suppe versalzt!‹
Nun war es an mir, ihn voll Neugierde und Staunen anzusehen. Er hatte nicht sehr laut gesprochen, jetzt aber dämpfte er seine Stimme noch mehr. ›Wissen Sie nicht, daß es gegen das Gesetz ist?‹
Ich fragte mich, wo er eigentlich hinaus wollte, als ich mich plötzlich erinnerte, daß es gesetzlich verboten war, einem Seemann eine Heuer zu verschaffen. Diese Klausel richtete sich natürlich gegen den Schwindel, den die Matrosenmakler betrieben. Es war mir nicht in den Sinn gekommen, daß diese Regel für alle galt, ohne Rücksicht auf die Gründe, denn ich nahm damals eben noch an, daß die Leute an Land ihre Arbeit mit Sorgfalt und Bedacht tun.
Ich war förmlich zerschmettert bei dem Gedanken; aber Herr Powell machte mir sehr bald klar, daß eine Parlamentsakte an und für sich gar keinen Sinn hat. Sie hat nur den Sinn, den man hineinlegt, und der ist mitunter sehr gering. Er habe gar nichts dagegen, hie und da einem jungen Manne zu einem Schiff zu verhelfen, sagte er, aber wenn wir nun so täglich daherkämen, würde es sich bald herumsprechen, daß er es gegen Bezahlung täte.
Das wäre dann recht nett! Der erste Heuerbas im Hafen von London polizeilich vorgeführt und zu fünfzig Pfund Strafe verurteilt . . .! ›Ich muß noch vier Jahre dienen,‹ sagte er, ›bevor ich die volle Pension bekomme. Man könnte die Sache sehr zu meinen Ungunsten auslegen, darüber besteht gar kein Zweifel‹, sagte er. Und dabei hielt er fortwährend das eine Knie hochgezogen, schlenkerte mit dem anderen Bein, wie ein Junge auf dem Gartenzaun, und sah mir mit seinen glänzenden Augen scharf ins Gesicht. Ich war sehr bestürzt, sage ich Ihnen. Die bloße Andeutung, daß irgend jemand es wagen würde, ihn anzuzeigen, machte mich ganz krank.
›Aber nein, so gemein wird doch niemand sein‹, stammelte ich entsetzt. Ich nahm ihm die bloße Annahme einer solchen Möglichkeit fast übel. ›Niemand?‹ sagte er leise vor sich hin. ›Der erstbeste, vielleicht einer der Amtsdiener. Ich habe mich zum Senior dieser Kanzlei hochgearbeitet, und wir sind alle die besten Freunde. Aber glauben Sie nicht, daß mein Kollege dort am nächsten Pult es begrüßen würde, wenn er vier Jahre vor der bestimmten Zeit auf diesen Platz am Fenster vorrücken könnte? Oder auch nur ein Jahr früher, vielleicht? Es ist einfach menschlich!‹
Ich konnte nicht umhin, mich nach den anderen umzusehen. Die drei alten Knaben, die bei meinem Eintritt gefaulenzt hatten, unterhielten sich nun ganz ernsthaft, und der langhalsige Mensch schrieb immer noch. Er schien mir der gefährlichste von allen zu sein. Ich sah ihn von der Seite, und seine Lippen waren fest zusammengepreßt. Nie zuvor hatte ich mir ein menschliches Wesen daraufhin angesehen. Solange man jung ist, will man von der Menschennatur nichts wissen. Meine Beobachtungen fanden ein plötzliches Ende, als ich sah, wie sich die Tür, durch die ich eingetreten war, langsam öffnete und sich ein Kopf mit Dienstmütze hereinschob. Es war der verwünschte Pförtner von der Eingangshalle. Er hatte mich zu Bau gejagt und wollte mich nun wohl auch wieder sprengen. Er kam durch die Kanzlei daher, mit selbstgefälligem Schmunzeln, und spielte mit der Mütze zwischen den Fingern.
›Was gibt's, Symons?‹ fragte Herr Powell.
›Ich habe mich nur umsehen wollen, wo der Herr da hingehen wollte, Herr.‹
›Schon gut, Symons, ich kenne den Herrn‹, erläuterte Herr Powell, ernst wie ein Richter.
›Sehr wohl, Herr. Natürlich, Herr! Aber ich sah den Herrn hier unten mit den Türen Verstecken spielen, und so . . .‹
›Es ist schon gut‹, unterbrach Herr Powell seinen Redeschwall und winkte ihm mit der Hand ab; erst als der alte Wicht hinausgegangen war, blickte er zu mir auf. Ich war stark im Zweifel, was ich tun sollte: dableiben, oder fortlaufen, oder mich entschuldigen.
›Nun also,‹ sagte er, ›wie war doch Ihr Name?‹
Sie müssen nun wissen, daß er mich überhaupt noch nicht nach meinem Namen gefragt hatte, und die Frage setzte mich in neue Verlegenheit. Ich konnte mich nicht entschließen, ihm seinen eigenen Namen sozusagen an den Kopf zu werfen. So zog ich denn als Antwort meinen neuen Prüfungsschein aus der Tasche und legte ihn aufgeschlagen in seine Hand, so daß Charles Powell deutlich zu lesen war.
Er sah auf das Pergament und legte es nach einer Weile ruhig vor sich hin. Ich wußte nicht, ob er eine Bemerkung über den Zufall machen wollte. Bevor er jedoch Zeit hatte, irgend etwas zu sagen, öffnete sich die Glastür mit einem Ruck, und ein großer, lebhafter Mann eilte mit langen Schritten herein. Sein Gesicht unter dem Glanzhut war hochrot. Man konnte sofort erkennen, daß es der Kapitän eines großen Schiffes sein mußte.
Herr Powell flüsterte mir zu, ein wenig zu warten, und begrüßte dann den Fremden.
›Kapitän, ich habe alle Augenblicke erwartet, daß Sie sich Ihre neuen Musterrollen holen. Hier liegen sie alle bereit.‹ Damit wandte er sich zu einem Stoß von Papieren, die neben ihm lagen, und nahm die obersten zur Hand. Ich konnte von meinem Platz aus die Worte ›Schiff Ferndale‹ lesen, die in Rundschrift auf der ersten Seite geschrieben standen.
›Nein, Herr Powell, leider sind sie noch nicht erledigt‹, sagte der Kapitän. ›Ich muß Sie bitten, meinen Zweiten Offizier von der Liste zu streichen.‹ Er schien aufgeregt und besorgt und erklärte, daß sein Zweiter Offizier den ganzen Morgen über an Bord gearbeitet habe. Um ein Uhr sei er an Land gegangen, um etwas Essen zu kaufen, und sei um zwei Uhr noch nicht zurück gewesen. Statt seiner sei ein Bote vom Krankenhaus gekommen, mit einem von einem Arzte unterzeichneten Bericht: Schlüsselbein und einen Arm gebrochen. Hatte sich einfach von einem Zweispänner vor dem Hafentor überrennen lassen, als er über die Straße ging, als hätte er weder Ohren noch Augen im Kopfe. Dabei liege das Schiff klar zur Abfahrt für den nächsten Morgen sechs Uhr.
Herr Powell nahm seine Feder und begann in den Papieren zu blättern. ›Dann müssen wir eben seinen Namen streichen‹, sagte er scheinbar unbekümmert vor sich hin.
›Aber was soll ich tun?‹ platzte der Kapitän los. ›Dieses Amt schließt um vier Uhr. Ich kann nicht in einer halben Stunde einen Offizier finden.‹
›Dieses Amt schließt um vier Uhr‹, wiederholt Herr Powell, überfliegt dabei die Seiten und ergänzt da und dort einen Buchstaben.
›Selbst wenn ich es fertig brächte, heute noch einen Mann zu finden, der in so kurzer Frist antreten könnte, so könnte ich ihn doch hier nicht mehr regelrecht anmustern, nicht wahr?‹ Herr Powell war eingehend damit beschäftigt, die Eintragungen über jenen unglücklichen Zweiten Offizier mit seiner Feder zu durchkreuzen und eine Bemerkung an den Rand zu schreiben.
›Sie könnten ihn selbst an Bord einstellen,‹ sagte er, ohne aufzublicken, ›aber ich bezweifle, daß Sie so leicht einen Offizier finden werden, der so Hals über Kopf zu haben ist.‹
Auf diese Mitteilung, hin blickte der nette Kapitän sehr bestürzt drein. Das Schiff durfte auf keinen Fall die Morgenflut versäumen. Er sollte vor der Ausfahrt in See irgendwo unten an der Flußmündung noch 40 Tonnen Dynamit und 29 Tonnen Sprengpulver an Bord nehmen. Alles war schon für den nächsten Tag festgesetzt. Es würde unglaublichen Wirrwarr und Krach geben, wenn das Schiff nicht rechtzeitig an Ort und Stelle wäre . . . Ich konnte nicht umhin, dies alles mit anzuhören, und wünschte dabei den Schiffer ungeduldig fort, denn ich brannte darauf, zu wissen, warum Herr Powell mich hatte warten lassen. Nach allem, was er mir gesagt hatte, schien es zwecklos, mich noch länger da herumzudrücken. Hätte ich mein Ausweispapier in der Tasche gehabt, dann hätte ich versucht, mich unauffällig davonzumachen. Aber Herr Powell hatte wieder die gleiche Stellung eingenommen wie vorher und schwang das eine Bein hin und her. Mein Papier lag offen auf dem Pulte unter seinem linken Ellbogen, so daß ich nicht gut hingehen und es wegnehmen konnte.
›Ich weiß nicht‹, sagte er nachlässig zu dem hilflosen Kapitän gewandt, starrte mich aber dabei unentwegt an, mit einem Ausdruck, als sei ich nicht vorhanden: ›Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen sagen soll, daß ich einen stellungslosen Zweiten Offizier zur Hand habe.‹
›Soll das heißen, daß Sie ihn hier haben‹, rief der andere aus, indem er sich in dem leeren Warteraum vor der Kanzlei umsah, als sei er bereit, sich mit Gewalt auf alles zu stürzen, was auch nur die geringste Ähnlichkeit mit einem Zweiten Offizier haben könnte. Ich glaube tatsächlich, er war so mit seinen Sorgen beschäftigt, daß er mich überhaupt noch nicht bemerkt hatte. Oder er hatte mich vielleicht für einen Kanzleidiener gehalten, da ich innerhalb des Schalters stand. Als Herr Powell jedoch mit dem Kopf nach mir wies, schwieg er plötzlich und sah mich scharf an, dann beugte er sich zu Herrn Powells Ohr, – er bildete sich wohl ein, zu flüstern, aber ich konnte ihn nur zu gut verstehen: ›Er sieht ganz annehmbar aus.‹
›Gewiß‹, bemerkte der Heuerbas ruhig, indem er mich nicht aus den Augen ließ. ›Er heißt Powell.‹ – ›Ah, ich verstehe‹, sagte der Kapitän, als ginge ihm ein Licht auf. ›Aber kann er denn sofort eintreten?‹
Ich hatte eine Art Vision: mein Zimmer, verteufelt weit draußen, im Norden Londons, noch hinter Dalston. Meine ganze Ausrüstung herumgestreut, und mein leerer Schiffskoffer irgendwo draußen in einem Schuppen untergestellt, den die guten Leute, bei denen ich wohnte, am anderen Ende ihres kärglichen Gartenstreifens stehen hatten. Ich hörte den Heuerbas mit größter Selbstverständlichkeit hinzufügen: ›Er wird heute Nacht schon an Bord schlafen!‹
›Das wäre auch das beste‹, sagte der Kapitän der Ferndale ganz geschäftlich, als sei nun die Sache erledigt. Ich kann nicht sagen, daß ich überwältigt war vor Freude, wie Sie vielleicht annehmen. So war es gerade nicht. Vorerst war ich noch wie außer Atem, so rasch war es gegangen. Es war kaum glaublich, daß dies alles mich betreffen sollte. Doch nachdem er eine Zeitlang mit Herrn Powell geflüstert hatte, so leise, daß ich es nicht verstehen konnte, wurde der Kapitän mit einmal sichtlich bestürzt.
Ich nehme an, er hatte erfahren, daß ich ein Neuling war, ohne Erfahrung als Offizier, denn er wandte sich um und musterte mich, als sei ich zum Verkauf ausgestellt.
›Er ist jung,‹ sagte er vor sich hin, ›sieht aber ganz gut aus . . . Sie sind doch willig und anstellig?‹, dies ganz plötzlich und laut, an mich gewandt, ›und was so dazugehört?‹
Das kam so unerwartet, daß ich gerade nur den Mund auf- und wieder zuklappen konnte, weiter nichts. Aber das genügte ihm. Er tat, als hätte ich ihn betäubt mit Versicherungen meines Diensteifers und guten Willens.
›Natürlich, natürlich, ganz recht!‹ Und dann wandte er sich wieder an den Heuerbas, der immer noch mit dem Bein schlenkerte, und meinte, er könne unmöglich ohne Zweiten Offizier in See gehen. Ich stand dabei, als ginge all das irgendeinen anderen an, dem ich gerne beistehen wollte.
Herr Powell starrte mir immer noch mit seinen glänzenden Augen ins Gesicht. Aber der Schiffer fuhr wieder auf mich los, als wollte er mir den Kopf abreißen:
›Sie sind doch wohl nicht zu erwachsen, um sich etwas sagen zu lassen – oder? Sie haben noch sehr viel zu lernen, wenn Sie es mir vielleicht auch nicht glauben!‹
Ich hatte gute Lust, meine Ehre zu retten und ihm zu sagen, daß ein Kerl, der es überlebt hatte, mehr als anderthalb Stunden von Kapitän R . . . um- und umgedreht zu werden, sicherlich jeder Anforderung, die sein alter Kasten billigerweise stellen konnte, reichlich gewachsen sein würde. Er gab mir aber keine Gelegenheit, diese Dummheit anzubringen, denn bevor ich meinen Mund auftun konnte, hatte er sich schon mit einem neuen Gedanken vertraulich an Herrn Powell gewandt, der, immerzu sein Bein schlenkernd, mich keinen Augenblick aus den Augen ließ.
›Ich werde Ihren jungen Freund gerne nehmen, Herr Powell. Wenn Sie ihn als Zweiten Offizier unterschreiben lassen wollen, nehme ich die Verträge gleich mit.‹
Plötzlich zuckte in mir der Gedanke auf, der nichtsahnende Schiffer der Ferndale könnte es als selbstverständlich angenommen haben, daß ich ein Verwandter des Heuerbases sei. Ich war über diese Entdeckung ganz erstaunt, obwohl ja das Mißverständnis unter den herrschenden Umständen leicht genug begreiflich war. Was ich vielmehr hätte bewundern sollen, war die feine Art, mit der es hervorgerufen und ausgenutzt worden war. Aber ich war damals zu verdutzt, um irgendwelche Feinheiten zu beachten. Meine ganze Besorgnis ging dahin, Aufklärung zu schaffen. Ich war dumm genug, mich außerordentlich darüber zu wundern, daß Powell den Fehler nicht zu merken schien. Ich sah wohl, daß es über sein Gesicht zuckte, aber anstatt den Irrtum zu berichtigen, drehte er sich mit seinem Sitz mir zu und sprach mich mit ›Charles‹ an. Denken Sie bloß! Ich bemerkte sogar, wie er knapp zuvor einen hastigen Seitenblick auf das Dokument warf, denn natürlich hatte er keine Ahnung von meinem Vornamen. ›Nun komm einmal hier vor meinen Tisch, Charles‹, sagte er mit lauter Stimme.
Ich versichere Ihnen, mir schien es zunächst ausgeschlossen, daß er dabei mich meinen konnte. Ich blickte mich sogar nach dem besagten Charles um, aber es war niemand hinter mir, außer dem langhalsigen Gesellen, der noch immer in seine Schreiberei vertieft war, und den anderen drei Heuerbasen, die eben die Röcke wechselten und nach ihren Hüten griffen, um heimzugehen. Es war auch der fleißige Mann mit dem Storchenhals, der, ohne seine Feder niederzulegen, mit seiner linken Hand einen Klappdeckel neben sich aufhob und mich freundlich aufforderte:
›Bitte, kommen Sie hier durch!‹ Ich schritt durch wie im Traum und kam vor Herrn Powell zu stehen, von dem ich unterrichtet wurde, daß unsere Reise zunächst nach Port Elizabeth ginge. Dann schrieb ich meinen Namen unter den Heuervertrag, als Zweiter Offizier des Schiffes Ferndale. Die Reise dürfe eine Zeitdauer von zwei Jahren nicht überschreiten.
›Sie werden ganz gewiß rechtzeitig antreten, wie?‹ erkundigte sich der Kapitän. ›Es würde unsagbar viel Mühe und Kosten verursachen, wenn Sie es nicht täten! Sie haben noch gute sechs Stunden Zeit, um Ihren Kitt zusammenzurichten, und dann werden Sie sich immer noch an Bord einige Stunden aufs Ohr legen können, bevor die Mannschaft am Morgen antritt.‹
Er hatte leicht reden, von Fertigwerden in sechs Stunden, für eine Reise, die eine Zeitdauer von zwei Jahren nicht überschreiten sollte. Er selbst brauchte das Kunststück ja nicht zu leisten. Wo noch dazu der Schiffskoffer in einem Außenschuppen stand, dessen Schlüssel schon seit einer Woche verlegt war, wie ich mich jetzt erinnerte. Aber auch das verursachte mir keine Sorgen. Der Gedanke, daß ich tatsächlich am nächsten Morgen um sechs Uhr in See gehen sollte, war mir noch immer nicht voll zum Bewußtsein gekommen. Es war alles zu schnell gegangen.
Herr Powell, der eben den Heuervertrag in einen langen Umschlag schob, sagte mit einem kühlen Auflachen, ohne uns beide anzusehen: ›Sieh zu, daß du unserem Namen keine Unehre machst, Charles.‹
Und der Schiffer sagt freundlich dazu: ›Es wird schon gehen, denke ich. Ich werde ihn schon im Auge behalten!‹ Dann packt er die Verträge zusammen, murmelt, er wolle noch versuchen, den armen Teufel im Krankenhaus zu besuchen, und geht auf und davon, mit seinem langen, federnden Schritt, nicht ohne mir vorher nochmals einzuschärfen: ›Lassen Sie sich nicht auch wie der arme Teufel von einer Pferdedroschke umfahren, als hätten Sie weder Augen noch Ohren im Kopfe!‹
›Herr Powell,‹ sagte ich schüchtern (es war jetzt außer uns nur noch der langhalsige Mann im Bureau, und auch der stand schon bei der Tür, auf einem Bein, um seine Hosen unten aufzuschlagen, bevor er ging), ›Herr Powell,‹ sagte ich, ›ich bin überzeugt, der Kapitän der Ferndale hat mich für einen Ihrer Verwandten gehalten!‹ Ich war ziemlich besorgt deswegen, wissen Sie, Herr Powell aber scheinbar gar nicht.
»Meinen Sie?‹ sagte er. ›Wie komisch! Denn mir scheint, ich bin etlichen von euch Jungen wirklich in letzter Zeit ein guter Onkel gewesen. Finden Sie nicht auch? Immerhin: wenn es Ihnen nicht paßt, dürfen Sie ihm die Geschichte erklären, sobald Sie auf See sind.‹ – Mir war nicht ganz wohl dabei. Herr Powell hatte mir einen ganz außerordentlichen Dienst geleistet: denn es ist Tatsache, daß für uns von der Handelsmarine die erste Ausreise als Offizier wahrhaftig der Beginn des Lebens ist. Dazu hatte er mir nun verholfen. Ich sagte ihm voll überströmender Dankbarkeit, daß er an dem Tag mehr für mich getan habe, als meine ganze Sippschaft zusammengenommen je zuvor.
›Aber nein, nein!‹ sagte er. ›Ich denke, jene Ladung von Sprengstoffen, die da unten am Flusse liegt, hat am meisten für Sie getan. Vierzig Tonnen Dynamit waren heute Ihr bester Freund, junger Mann!‹
Das war wohl auch richtig. Immerhin sah ich deutlich, daß ich mir selbst nichts zu danken hatte. Als ich aber versuchte, ihm meinen Dank auszusprechen, machte er meinem Stammeln bald ein Ende.
›Beeilen Sie sich nicht so, mir zu danken‹, sagte er. ›Die Reise ist noch nicht zu Ende.‹«
Unser neuer Bekannter schwieg und fügte dann nachdenklich hinzu: »Ein eigener Mensch! Als ob das was ausgemacht hätte! Eigentümlicher Mensch!«
»Es ist sicher unklug, irgendwelche Verantwortung für Handlungen auf uns zu nehmen, deren Folgen wir nicht voraussehen können«, bemerkte Marlow beistimmend.
»Die Folge seiner Handlung war die, daß ich ein Schiff bekam«, sagte der andere. »Das konnte keinesfalls viel schaden«, fügte er lachend hinzu und schien damit unbewußt eine gewisse Abneigung gegen Schulweisheiten auszudrücken.
Aber Marlow ließ sich nicht einschüchtern. Er war geduldig und nachdenklich. Er hatte viele Jahre auf See zugebracht, und ich glaube wirklich, ihm lag das Leben zur See so sehr, weil es die Nachdenklichkeit fördert. Ich spreche von dem Leben auf Segelschiffen, das nun fast ganz der Vergessenheit angehört. Sollte jemand diese Behauptung wundernehmen, so möchte ich nur sagen, daß dieses Leben jedem, der sich ihm widmete, die unschätzbaren Vorteile der Einsamkeit und des Schweigens darbot. Marlow hatte die Gewohnheit, allgemeine Gedankengänge auf eine eigene Weise zu verfolgen, halb im Spaß, halb im Ernst.
»Ich wollte ja auch gar nicht sagen,« meinte er, »daß Ihr Namensvetter, der Heuerbas, Ihnen irgendwie geschadet hätte. Das war wohl auch nicht seine Absicht, und selbst wenn, dann hätte ihm die Macht dazu gefehlt. Schließlich war er doch nur ein Mensch, und die menschliche Unfähigkeit, irgend etwas ausgesprochen Gutes oder Schlechtes zu erreichen, ist durch unser irdisches Dasein bedingt. Mittelmäßigkeit ist unser Kennzeichen. Und vielleicht ist es eben gut so, da wir im allgemeinen die Wirkung unserer Handlungen nicht beurteilen können.«
»Ich weiß nichts von der Wirkung«, entgegnete der andere kampflustig. »Welche Wirkung haben Sie eigentlich erwartet? Ich sage Ihnen, er hat etwas außerordentlich Gütiges getan!«
»Er tat, was er konnte,« entgegnete Marlow sanft, »und wie er selbst zugibt, war das nicht sehr viel. Ich sehe sogar eine gewisse Schadenfreude in der Art, wie er sich Ihnen gefällig erwies. Er brachte es fertig, Sie in Verlegenheit zu setzen. Sie wollten zur See gehen, aber er benutzte die Gelegenheit, Ihren Wunsch zu erfüllen, zu einer Rache. Ich möchte fast glauben, daß Ihre Frechheit ihn geärgert hatte. Und dies war eine ausgezeichnete Gelegenheit, Sie ganz klein zu kriegen. Denn wenn Sie zusagten, war er Sie los, noch dazu mit einem Schein von Menschenfreundlichkeit; und wenn Sie irgendwelche Einwendungen machten (nachdem Sie ihn doch um Hilfe gebeten hatten), stand es ihm frei, Sie als lästigen Eindringling fallen zu lassen. Sie konnten vielleicht aus irgendeinem sehr triftigen Grunde gezwungen sein, abzulehnen. Vielleicht aus Mangel an Mitteln. Die Frist war ja zu ungewöhnlich kurz. Aber nach Lage der Dinge hätten Sie sich dadurch mit Schande bedeckt.«
Unser neuer Freund klopfte die Asche aus seiner Pfeife.
»Ganz falsch«, sagte er. »Ich gehöre nicht zu den Menschen, die ablehnen, obwohl ich zugeben muß, daß es ungefähr so war, als hätte man jemanden um ein Bad gebeten und sei daraufhin sofort über Bord gestoßen worden, um nun, ganz angezogen, unterzugehen oder oben zu schwimmen. Ich hatte aber zunächst gar nicht das Gefühl, als sei ich in tiefes Wasser geraten. Ich verließ das Heuerkontor ganz seelenruhig und spazierte langsam die Straße entlang, als hätte ich zumindest noch eine Woche Zeit, um mich auszurüsten. Aber allmählich erkannte ich, daß die Frist noch kürzer war, als es beim ersten Blick geschienen hatte. Der Nachmittag war schon vorgeschritten; ich hatte noch einiges zu besorgen, verschiedene kleine Geschäfte zu erledigen, ein paar Besuche zu machen. Einer davon galt einer Tante, meiner einzigen Verwandten, die sich mit meinem Vater, solange er lebte, wegen irgendeiner dummen Angelegenheit, bei der es weder Recht noch Unrecht gab, herumgestritten hatte. Sie vermachte mir ihr Geld, als sie später starb. Ich pflegte sie anstandshalber immer zu besuchen. Ich hatte vor Einbruch der Nacht noch so viel zu tun, daß ich nicht mehr wußte, womit ich anfangen sollte. Ich hatte Lust, mich an den Randstein zu setzen und meinen Kopf in die Hände zu pressen. Es war, als sei eine Maschine in meinem Schädel losgegangen. Schließlich setzte ich mich in die erste Droschke, die vorbeikam, und es war schwer, dort sitzenzubleiben, das kann ich Ihnen sagen. Wir fuhren in den Straßen auf und ab, hielten da und dort, und während sich immer mehr Pakete um mich ansammelten, gewann die Maschine in meinem Kopfe immer größere Geschwindigkeit. Die Gemütsruhe der Menschen auf den Straßen wirkte herausfordernd, und gar die Leute in den Geschäften, die waren einfach benommen, rechte Schlafmützen, verblödet. Es ist eigentümlich, wie so ein ungewohnter Gemütszustand einen angreift. Jeder, der nicht an unserer Aufregung teilnimmt, erscheint so unglaublich unfreundlich. Und mein Gemütszustand, aus Hast, wachsender Verzweiflung und Sorge gemischt, war eigentümlich genug. Die Maschine in meinem Kopfe surrte auf höchsten Touren, Stunde um Stunde, bis sie etwa elf Uhr nachts plötzlich abstoppte, als ich mich an dem Eingang zum Hafen befand, vor riesenhaften eisernen Toren in einer toten Wand.«
Diese Tore waren geschlossen und verriegelt. Nachdem der Kutscher seine sieben Sachen vom Dache des Gefährts in Jung Powells Arme hinunterbugsiert hatte, fuhr er dahin und ließ ihn allein, mit einem Schiffskoffer, einem Segeltuchsack und etlichen Paketen auf dem Pflaster zu seinen Füßen. Es war eine dunkle, schmale Durchfahrt, erklärte uns Powell. Die schmutzige Häuserreihe gegenüber schien leer zu stehen, nicht der leiseste Lichtschimmer war zu sehen. Der grellweiße Lichtkegel einer weiterabgelegenen Branntweinschenke ließ das dazwischenliegende Stück der Straße kohlschwarz erscheinen. Einige menschliche Schatten tauchten rätselhaft aus dem Dunkel, als wären sie aus dem Boden emporgewachsen, im schwachen Licht der Torlampen auf. Diese Wesen hatten verstohlene Bewegungen und lautlose Schritte, wie Raubtiere, die um das Lagerfeuer schleichen. Powell sammelte seine Besitztümer um sich und wachte über sie, wie eine Henne über ihre Brut. Eine rauhe, eindringliche Stimme sagte:
»Wollen die Sachen da 'reintragen, Käpten! Ich hab meinen Kollegen schon dabei!«
Es war ein langer, starkknochiger, grauhaariger Grobian mit einem Bulldog-Gesicht, einem verrissenen Leinenhemd und grauen Hosen. Seine Nagelschuhe warfen Riesenschatten, wie Särge. Sein Kumpan, der ihm nicht viel höher als bis zum Ellenbogen reichte, trat vor und ließ dabei ein blasses Gesicht mit überhängender Nase sehen und einem Kinn, das kaum der Rede wert war. Er machte den Eindruck, als sei er eben aus dem Mülleimer gekrochen, mit seiner Sportmütze und dem zerschlissenen, viel zu langen Uniformkittel. Der Rock klaffte vorne, und die ganze weitere Bekleidung bestand aus einem halben Hosenträger, quer über die nackte, knochige Brust gespannt, und einer Hose. Er zwinkerte, wie geblendet von dem scharfen Licht, während sein Fürsprecher, der alte Gauner, unter seinen dichten Augenbrauen hervor düstere Blicke auf Jung Powell schoß.
»Sagt ja, Käpten! Der Bobbie läßt uns schon ein, der kennt uns alle zwei!«
»Ich gab ihm keine Antwort«, fuhr Herr Powell fort. »Ich horchte eben auf Schritte auf der anderen Seite des Tores, die zwischen den Wänden der Lagerschuppen widerhallten, wie in einer verlassenen Stadt voll hoher Gebäude, trostlos dunkel vom Erdgeschoß bis hinauf zum obersten Giebel. Man hätte nie ahnen können, daß kaum einen Steinwurf weiter weg Riesenschiffe in offenem Wasser lagen. Die wenigen Gaslampen rückten da und dort ein Stück Ziegelmauer ins Licht und wirkten wie Luftlöcher in weiten Kellereien – und die einsamen Schritte kamen näher, tapp, tapp. Ein Dockpolizist, sehr wichtig und unnahbar, trat in den Lichtbereich innerhalb des Tores.
›Hallo, was geht hier vor?‹
Er war ehrlich überrascht, aber nach einigem Hin und Her ließ er mich ein, zugleich mit den beiden Strolchen, die mein Gepäck schleppten. Er knurrte sie aber an und schlug das Tor hinter uns mit einem heftigen Krach ins Schloß. Ich war erstaunt, als ich bemerkte, wie viele Nachtbummler sich in der kurzen Zeit im Dunkel angesammelt hatten, ohne daß ich es bemerkt hatte. Kaum waren wir durch das Tor gegangen, da drängten sie sich alle vor und drückten sich gegen das Gitter, lautlos, wie eine Horde grausiger Gespenster. Aber plötzlich begann weiter hinten in der Straße, vielleicht in der Nähe jener Schnapsschenke, eine Rauferei, als sei das Tollhaus losgebrochen: Geheule, Gekreische, ein durchdringender Aufschrei – und bei diesem Radau verschwanden alle die Köpfe hinter dem Gitter.
›Sehen Sie nur an!‹ staunte der Polizist. ›Es ist ein Wunder, daß die nicht mit Ihren Sachen abgefahren sind, während Sie da warteten.‹
›Das hätte ich wohl verhindert‹, sagte ich selbstbewußt. Aber dem Schutzmann machte das keinen Eindruck.
›Na, da hätten Sie viel tun können! Der Sack um die eine Ecke und die Kiste um die andere! Hätten Sie nach beiden Richtungen auf einmal laufen können? Außerdem hätte man Ihnen ein Bein gestellt und Sie niedergeworfen, bevor Sie drei Schritte weit gekommen wären. Ich kann Ihnen sagen, es war ein ganz außerordentliches Glück, daß heute Nacht nicht einer von den richtigen Jungs in der Hauptstraße unterwegs war und Ihr beladenes Fuhrwerk vorbeikommen sah. Ted hier ist ehrlich. Du hältst dich nach der ehrlichen Seite, Ted, was?‹
›Immer schon, Wachtmeister‹, sagte der große Lümmel gefühlvoll. Das andere zerbrechliche Wesen schien stumm zu sein, es humpelte dahin und schleifte den Rand seines Soldatenrocks über das Pflaster.
›Na ja, das kennt man‹, sagte der Polizist. ›Also vorwärts, marsch . . . Er macht's so, weil er zu feig ist für die andere Art‹, vertraute er mir an. ›Es fehlt ihm die nötige Schneid dazu. Aber ich werde die zwei doch nicht aus dem Auge verlieren, bis sie zum Tore draußen sind. Der kleine Kerl da ist ein Teufel. Schneid hätte er zu allem, aber am Schmalz fehlt's halt. Na, na! Sie haben wirklich Glück gehabt, daß Sie mit heiler Haut und allen Ihren Sachen hereingekommen sind!‹
Ich war etwas ungläubig. Es schien undenkbar, daß nach so viel Hast und Schererei meinem glücklichen Anfang eine solche Gefahr gedroht haben sollte.
Ich fragte: ›Geschieht so was öfter, so nahe vor den Docktoren?‹
›Oft? Nein! Natürlich nicht oft! Es kommt eben auch nicht sehr oft vor, daß ein Mann um diese Nachtzeit mit einer Kutsche voll Koffer angefahren kommt, um sich einzuschiffen. Ich bin seit dreizehn Jahren bei der Hafenpolizei und habe es noch nie erlebt.‹
Unterdessen folgten wir meinem Schiffskoffer durch eine schmale, dunkle Gasse zwischen zwei hohen Lagerschuppen hinunter. Der ehrliche Ted und sein kleiner verteufelter Freund, der nur im Trab mit ihm Schritt halten konnte, trugen ihn zwischen sich. Die Flügel seines Waffenrocks flogen hinter dem Kleinen her, so dicht über dem Pflaster, daß es aussah, als führe er auf Rollschuhen. An der Ecke der düsteren Gasse, dicht neben einem gußeisernen Lampenpfosten, ragte ein aufgetakelter Klüverbaum mit Stampfstag, der in einem Pfeilerkopf endete, in die Nacht hinaus. Wir waren am Kai. Die beiden setzten ihren Koffer unter der Lampe nieder, und Ted erkundigte sich mit heiserer Stimme: ›Wo ist Ihr Schiff, Gov'nor?‹
Ich wußte es nicht. Den Schutzmann interessierte meine Unwissenheit.
›Wissen nicht, wo Ihr Schiff ist?‹ fragte er neugierig. ›Und Sie sind der Zweite Offizier? Waren Sie denn noch nicht an Bord?‹
Es hatte wenig Sinn, ihm zu erklären, daß das einzige, was mich mit dem Schiffe verband, ein Werk des Zufalls war. Ich sagte ihm kurz, daß ich das Schiff überhaupt nicht kannte. Darauf meinte er: ›Das seh' ich wohl! Hier ist es, gerade vor Ihnen! Das hier ist's!‹
Sofort flößte die Takelage in der Gasbeleuchtung mir Interesse und Achtung ein. Die Spieren waren fest, die Taue und Ketten stark, und das Ganze machte einen kraftvollen, vertrauenerweckenden Eindruck. Nur ganz schwach vom Licht gestreift, stieg der Schiffsbug über den Kaistufen empor. Alle anderen Teile bildeten einen formlosen Klumpen in der Dunkelheit. Hier stand ich Auge in Auge vor meinem ersten Schritt ins Leben. Wir gingen alle zusammen ein paar Schritte auf dem schmierigen Pflaster weiter, zwischen den Wänden des Schiffes und dem hochaufragenden Warenschuppen, wobei ich mir mein Schienbein elend an dem Landungssteg anstieß. Der Polizist rief das Schiff halblaut in tiefem Baß an: ›Ferndale, ahoi!‹
Ein schwacher, trauriger Ton, wie ein Ächzen, kam als Antwort vom Schanzkleid.
Ich konnte undeutlich gegen die Reling ein unregelmäßiges, rundes Etwas unterscheiden, wie ein Stück Holz etwa. Es bewegte sich nicht im geringsten, aber als ein nochmaliges heiseres Seufzen, wie das noch schwächere Echo jener ersten kümmerlichen Laute diesem dunklen Gegenstand entströmte, kam ich zu dem Schluß, daß es der Kopf des Schiffsliegers sein müßte. Der Schutzmann rief in scherzhaft übertriebenem Dienstton:
›Zweiter Offizier kommt an Bord! Rühren Sie sich gefälligst!‹
Die Richtigkeit der Bemerkung fuhr mir in den Magen. Dort, wissen Sie, ist für mich der wahre Sitz der menschlichen Gefühlsempfindung. Denn es dämmerte mir nun, daß ich für diesen Konstabel ganz einfach der Zweite Offizier eines Schiffs war, wie jeder andere. Ich war gerührt durch den unzweifelhaften Beweis meiner neuen Würde. Nur sein Tonfall beleidigte mich. Trotzdem gab ich ihm das Trinkgeld, das er erwartet hatte. Daraufhin verlor er jegliches humorvolle oder sonstige Interesse an mir und entfernte sich; vor sich her trieb er den ehrlichen Ted, der brummte wie ein hungriger Menschenfresser, sowie den unheimlichen, stummen, kleinen Kerl im Soldatenrock, der von Anfang bis zuletzt keinen Ton von sich gegeben hatte.
Es war sehr dunkel auf dem Achterdeck der Ferndale, zwischen dem hohen Schanzkleid, im tiefen Schatten des Vorderschotts und der hohen Schuppen längsseits. Ich ließ mich nächst der Achterluke schwer auf meine Kiste fallen, als seien mir die Beine unter dem Leib weggezogen worden. Plötzlich war ich sehr müde und gleichgültig. Der Schiffslieger, den ich kaum unterscheiden konnte, hing über das Gangspill gebeugt, in einem Anfall schwachen, kläglichen Hustens. Zwischendurch röchelte er kaum hörbar: ›Oje, oje‹, und schnappte so lange nach Luft, daß ich ängstlich und beunruhigt aufstand.
›So hat's mich jetzt schon seit zwölf Monaten, von letztem Weihnachten an, gepackt. Das heißt nichts!‹
Er schien mir mindestens hundert Jahre alt. Richtig gesehen habe ich ihn nie, denn er war schon an Land gegangen, als ich am nächsten Morgen an Deck kam; aber er hinterließ mir den Eindruck des schwächsten Wesens, das je gelebt hat. Seine Stimme war dünn, wie das Summen einer Schnake. Da es roh gewesen wäre, von einem so elenden Geschöpf irgendwelche Hilfe zu verlangen, so machte ich mich selbst an die Arbeit und schleppte meine Kiste einen pechschwarzen Gang unter dem Hüttendeck entlang, während er um mich herum seufzte und stöhnte, als seien meine Anstrengungen mehr, als er mitansehen könnte. Als ich endlich recht wuchtig gegen die Schotten gerannt war, mahnte er mich in seinem schwachen, atemlosen Flüstern, vorsichtiger zu sein.
›Was ist denn los?‹ versetzte ich ziemlich unfreundlich, nicht sehr entzückt davon, von einem so verkommenen Nachtgespenst zurechtgewiesen zu werden.
›Nichts, gar nichts, Herr‹, wandte er so hastig ein, daß er sein bißchen Atem sofort wieder verlor und mir nun wieder leid tat. ›Nur daß der Kapitän und seine Gnädige an Bord schlafen. Sie ist eine Dame, die nicht gestört werden darf. Sie kamen um halb neun Uhr, und wir hatten Erlaubnis, in der Kajüte bis zehn Uhr nachts Licht zu brennen.‹
Dies schien mir eine nicht unwichtige Neuigkeit zu sein. Ich war nie auf einem Schiff gewesen, auf dem der Kapitän seine Frau mit sich hatte. Ich hatte öfters sagen hören, daß Kapitänsfrauen viel Unfrieden an Bord stiften können, wenn sie sich eine Abneigung gegen irgend jemand in den Kopf setzen, besonders die neubackenen Frauen, wenn sie jung und schön sind. Die alten und erfahrenen Frauen dagegen bildeten sich ein, mehr vom Schiff zu verstehen als der Kapitän selbst, und verfolgten mit Falkenaugen jeden Vorgang. Sie waren wie ein zweiter Obermaat von besonders scharfer und unnachsichtiger Gemütsart, der dann jeden Abend seinen Bericht erstattete.
Die besten Frauen waren immer noch hinderlich. Allgemein wird angenommen, daß ein Kapitän mit seiner Frau an Bord viel schwerer zu befriedigen ist; ob aber aus dem Grunde, um seine Macht vor einem bewundernden Weibe zur Schau bringen zu können, oder aus liebender Fürsorge um ihr Wohl, oder einfach aus Gereiztheit über ihre Anwesenheit, das hat mir niemand, mit dem ich darüber sprach, genau sagen können.
Nachdem ich alle meine Sachen untergebracht hatte, rieb ich ein Streichholz an und tat einen raschen Blick auf meine Koje, dann warf ich mein Bettzeug auf das Lager, nahm mir aber nicht die Mühe, es auszubreiten. Ich war jetzt weder schläfrig noch müde, und der Gedanke, daß ich nun für viele, viele Monate mit dem Festlande abgeschlossen hatte, gab mir ein innerliches Gefühl der Beruhigung. Seefahrer werden verstehen können, was ich meine.«
Marlow nickte. »Ein Gefühl, das nur dieser Beruf kennt«, bemerkte er. »Andere Berufe oder Handwerke wissen nichts davon. Nur dieser eine Beruf, dessen Hauptreiz in der Erwartung nie endender Abenteuer liegt.«
»Ich möchte es den Frieden der See nennen«, sagte Herr Charles Powell mit ernster Stimme, sah uns dabei aber an, als erwartete er ein abweisendes Lachen zu hören und sei bereit, seinen gesunden Menschenverstand zu beweisen, indem er mit einstimmte. Doch keiner von uns lachte über Herrn Charles Powell, dessen Eintritt ins Leben wir eben mit angehört hatten. Er hatte Glück mit seinen Zuhörern.
»Sehr gut gesagt«, meinte Marlow und sah ihn zustimmend an. »Ein Seemann findet ein Gefühl innerer Sicherheit in der Ausübung seines Berufes. Das anstrengende Leben auf See hat den einen Vorteil vor dem an Land, daß seine Ansprüche einfach, aber unerbittlich sind.«
»Goldene Worte«, stimmte Herr Powell bei. »Nein, sie können nicht umgangen werden.«
Das glänzende Einvernehmen zwischen meinem alten Freunde und unserem neuen Bekannten war erstaunlich genug. Denn sie waren einer des anderen genaues Gegenteil, indem der eine nach Länge, der andere nach Breite strebte, was allein schon Anlaß genug für unauslöschlichen Zwist bietet. Marlow, langgliedrig, nachlässig, eine Farbenkarte der verschiedensten Abstufungen von Braun, ohne alle Lichter, hatte einen engen, verschleierten Blick, die ausgeglichene Haltung und die versteckte Reizbarkeit, die mit der Anlage zu Leberbeschwerden Hand in Hand gehen. Der andere, untersetzt, mit breiten, kräftigen Gliedern, schien angefüllt mit gesunden Organen, von deren ungestörter Zusammenarbeit die strahlende Frische seiner Farben zeugte, sein leichtgewelltes, tiefschwarzes Haar und der Glanz seiner Augen, die groß und sicher aus seinem offenen männlichen Gesicht blickten. Zwischen zwei solchen Organismen hätte man nie die mindeste Übereinstimmung zu finden erwartet. Aber ich habe beobachtet, daß weltliche Männer, die zusammen auf Schiffen leben, wie die heiligen Männer, die sich in Klöstern zusammentun, übereinstimmende Wesenszüge entwickeln. Dies muß daher kommen, daß der Seedienst wie der Tempeldienst losgelöst sind von den Eitelkeiten und Irrungen einer Welt, die keiner strengen Regel folgt. Seeleute verstehen einander gut in irdischen Dingen, denn Einfalt ist ein guter Ratgeber, und Einsamkeit kein schlechter Erzieher. Ihnen allen ist eine Sinnesart eigen, aus Unschuld und Zweifelsucht gemischt, und aus überraschendem Scharfblick für Beweggründe, wie unbeteiligten Zuschauern eines Spiels.
Herr Powell nahm mich beiseite, um mir zu sagen:
»Mir gefallen die Dinge, die er sagt.«
»Sie verstehen sich recht gut«, bemerkte ich.
»Ich kenne seine Art«, sagte Powell, indem er ans Fenster ging, um nach seinem Kutter auszublicken, der noch immer draußen auf dem Strome lag. »Er gehört zu denen, die immer einen Gedanken im Kopfe um und um wälzen, einfach weil es ihnen Spaß macht.«
»Das erhält sie gesund«, sagte ich.
»Lebhaft genug, jedenfalls«, gab er zu.
»Wäre Ihnen ein Mann lieber, der seine Gedanken hübsch aufgeräumt läßt?«
»Nein, das sicher nicht«, antwortete unser neuer Bekannter. Offensichtlich war es nicht schwer, mit ihm auszukommen. »Er gefällt mir sehr gut,« fuhr er fort, »obwohl man nicht immer weiß, wo er hinaus will. Er scheint Verschiedenes vorzuhaben. Was tut er denn?«
Ich unterrichtete ihn, daß unser Freund Marlow sich vor einigen Jahren halb widerwillig vom Seedienst zurückgezogen habe.
Herrn Powells Entgegnung war: »Bildete sich wohl ein, er hätte genug davon?«
»Eingebildet ist genau das Wort für seinen Fall«, bemerkte ich, indem ich mir Marlows langen Aufenthalt bei uns zurückrief, der so krampfhaft als vorübergehend bezeichnet wurde. Ein Jahr nach dem anderen hatte er an Land zugebracht, wie ein Vogel auf dem Zweige eines Baumes ruht, so in sich gespannt von der Kraft zu raschem Abfluge in sein wahres Element, daß es unverständlich ist, warum er Minute um Minute still sitzt. Das Meer ist des Seemanns wahres Element, und Marlow war für mich mit seinem Verweilen an Land ein Gegenstand ungläubigen Mitleids, wie etwa ein Vogel, der den Glauben an die hohe Gabe des Fliegens verloren hätte.