Joseph Conrad
Spiel des Zufalls
Joseph Conrad

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V
Der Nachmittagstee

»›Ein netter Herr‹, bemerkte ich, da ich sah, wie Fyne sich in Nachsinnen verlieren wollte. Doch konnte ich mich nicht enthalten, hinzuzufügen: ›Und ein schlechter Prophet überdies.‹

Fyne sprang plötzlich auf und stammelte: ›Gewiß, ganz offenbar.‹ Er schien bedrückt und unsicher. Ich nahm an, daß er an diesem Nachmittag nicht würde Schach spielen wollen. Das hätte mir die Notwendigkeit erspart, an einem Tage, viel zu schön für jede Art von Gehsport, meine Wohnung verlassen zu müssen. Es enttäuschte mich ein wenig, als er nach seiner Kappe griff und dabei die Hoffnung aussprach, mich um vier Uhr bei sich zu Hause zu sehen – wie gewöhnlich.

›Es wäre doch nicht wie gewöhnlich.‹ Ich legte einen besonderen Nachdruck in die Bemerkung. Und nach kurzem Überlegen gab er zu, daß es tatsächlich doch nicht wie gewöhnlich sein würde. Nein, nicht wie gewöhnlich. In der Tat sei es diesmal seine Frau, die auf mein Kommen hoffte. Sie habe eine sehr hohe Meinung von meiner Lebensklugheit gewonnen.

Das war das erste Wort, das ich je davon gehört. Ich hätte Frau Fyne nie im entferntesten zugetraut, daß sie sich die Mühe genommen haben könnte, an mir die Anzeichen von Lebensklugheit oder Torheit zu entdecken. Die wenigen Worte, die wir am Abend zuvor in der Aufregung – oder dem Ärger – über das Verschwinden des Mädchens mit einander gewechselt hatten, waren die ersten nicht ganz alltäglichen gewesen, die überhaupt je zwischen uns gefallen waren. Ich hatte immer das Gefühl gehabt, in Frau Fynes Augen der Schachpartner ihres Mannes zu sein, und sonst nichts. Ein glücklicher Zufall – sozusagen ein Gebrauchsgegenstand.

›Ich fühle mich sehr geschmeichelt‹, sagte ich. ›Ich habe immer gehört, daß das weibliche Ahnungsvermögen keine Grenze kennt; und nun neige ich dazu, das wirklich zu glauben. Und doch sehe ich noch nicht ganz, in welcher Weise meine Klugheit, in praktischen oder anderen Dingen, Frau Fyne sonderlich von Nutzen sein könnte? Die Lebensklugheit eines Mannes gleicht so ziemlich der jedes anderen. Und mit Ihnen zur Seite . . .

Fyne, der offenbar gar nicht auf das geachtet hatte, was ich sagte, richtete seinen betrübten, feierlichen Blick voll auf mich und unterbrach mich:

›Ja, ja, gewiß. Aber Sie werden kommen, nicht wahr?‹

Ich hatte den felsenfesten Entschluß gefaßt, daß keiner der Fynes, von welchem Geschlecht er auch sein mochte, mich an diesem herrlichen Tage dazu bringen sollte, drei Meilen (zu ihrem Landhaus hin und zurück) zu Fuß zu gehen. Wären die Fynes eine Durchschnittsbekanntschaft gewesen, wie man sie gelegentlich mitnimmt, weil die Ferien irgendwie hingebracht werden müssen, so wollte ich mir wohl diese besondere Einladung schnell vom Halse geschafft haben. Aber das waren sie ja nicht. Ihre unleugbare Menschlichkeit erheischte Anerkennung. Andrerseits wollte ich meinen eigenen Neigungen nicht zuwiderhandeln. So schlug ich also vor, daß mir das Vergnügen gegönnt sein möge, sie zu einer Tasse Tee in meiner Wohnung bei mir zu sehen. Eine kurze Überlegung – und Fyne nahm lebhaft für sich und seine Frau an. Einen Augenblick später hörte ich die Gartentür ins Schloß fallen, und gleich darauf glitt sein würdevolles Gesicht jenseits der Hecke an meinem Fenster vorbei, den gedankenschweren Blick geradeaus gerichtet, und innerlich offenbar von schwerwiegenden, tiefgründigen Betrachtungen erfüllt. Das närrische Gebell seines Hundes gab die Begleitung dazu. So war also zum mindesten eine der jungen Freundinnen seiner Frau für ihn mehr als ein Schatten geworden. Doch nahm ich trotzdem an, daß Fyne nicht an diese junge Freundin, sondern an seine Frau dachte.

Ich traf meine Vorbereitungen für die Gastlichkeiten des Nachmittags, rief die Bauersfrau herein und erwog mit ihr die Hilfsquellen des Hauses und des Dorfes. Sie war eine umsichtige Frau. Die Hilfsquellen meiner eigenen Klugheit aber erwog ich nicht. Außer im grob materiellen Sinne des Nachmittagstees traf ich keinerlei weitere Vorbereitungen für Frau Fyne.

Es war mir unmöglich, andere Vorbereitungen zu treffen. Ich konnte nicht wissen, welche Art von Rückhalt sie sich von meiner Lebensklugheit versprach. Und was nun die genaue Aufnahme meiner geistigen Bestände angeht, so wird wohl, denke ich mir, niemand sich darum reißen, wenn er es vermeiden kann. Ein hoher, wenn vielleicht auch ungerechtfertigter Grad ungetrübten Selbstvertrauens ist viel zu angenehm, als daß man ihn durch eine so peinliche Nachforschung aufs Spiel setzen dürfte. Vielleicht, wenn ich eine umsichtige Frau an meiner Seite gehabt hätte, eine liebe, schmeichelnde, listige, ergebene Frau . . . Es gibt im Leben Augenblicke, in denen man es wirklich bedauert, nicht verheiratet zu sein. Nein! Ich übertreibe nicht! Ich habe gesagt: Augenblicke! Nicht Jahre, oder auch nur Tage. Augenblicke! Die Bauersfrau konnte ich natürlich nicht zu Hilfe rufen. Bei ihr war die nötige Einsicht nicht zu erwarten. Und ich zweifle auch, ob sie die rechte Art von Schmeichelei fertiggebracht hätte. Sie machte sich auf ihre eigene Art nützlich, mit einer außergewöhnlichen schwarzen Haube auf dem Kopf; zu jener Zeit übrigens gerade eine Meile weit weg, indem sie das Dorf nach einem Stück eßbaren Kuchens absuchte. Der Wagemut der Frauen! Die Zuversicht der lieben Geschöpfe!

Und sie brachte es fertig, irgend etwas zu finden, das eßbar aussah. Das ist alles, was ich davon weiß, da ich die nachträglichen Wirkungen dieses Genußmittels nicht feststellen konnte. Ich selbst esse niemals Kuchen, und Frau Fyne brachte, als sie pünktlich eintraf, keine Lust auf Kuchen mit. Sie hatte auf nichts Appetit. Wohl aber hatte sie Durst – das sicherste Anzeichen tiefer, quälender Gemütsbewegung. Jawohl, es war Gemütsbewegung, nicht etwa der strahlende Sonnenschein – mehr strahlend als warm, wie es die Art unserer vornehmen, beherrschten, unaufdringlichen Inselsonne ist, die keiner echten Dame je die Haut röten würde. Frau Fyne wirkte sogar kühl. Sie trug ein weißes Jackenkleid, und ein weißer, breitrandiger Hut ruhte auf ihrem glattgekämmten Haar. Die Jacke zeigte einen Anklang an Uniformschnitt und kleidete sie gut. Ich wage zu behaupten, daß es viele junge Subalternoffiziere gibt, und nicht die häßlichsten, die Frau Fyne im Gesichtsschnitt, in der Sonnverbranntheit und auch in der Gelenkigkeit der Bewegung ähneln. Aber bei wenigen unter ihnen würde man den Ausdruck finden, der Bereitschaft für jede Art von Verantwortung atmet. Das ist eine Art von Mut, die spät im Leben reift, und Frau Fyne war ja reif an Jahren, trotz ihrem glatten Gesicht.

Sie sah sich im Zimmer um und erklärte mir gemessen, daß ich recht hübsch wohnte; wobei ich demütig zustimmte, indem ich mein unverdientes Glück zugab.

›Warum unverdient?‹ wünschte sie zu wissen.

›Ich habe die Zimmer brieflich genommen, ohne nach Einzelheiten zu fragen. Es hätten auch ganz abscheuliche Löcher sein können‹, erklärte ich ihr. ›Ich mache solche Sachen immer so. Ich wünsche keine Belästigung. Kein sonderlicher Beweis für Lebensklugheit, nicht wahr? Wirklich lebenskluge Leute benutzen, denke ich mir, jede Gelegenheit, um ihre Gabe zu betätigen. Ich habe gehört, daß sie sich sogar nicht enthalten können, sich um die letzten Kleinigkeiten zu kümmern. Das muß ja reizend sein. Aber ich weiß nichts davon. Ich glaube überhaupt nicht, daß ich klug bin, wenigstens nicht lebensklug.‹

Fyne murmelte im tiefsten Baß einigen Widerspruch. Ich fragte nach den Kindern, die ich seit meiner Rückkehr aus der Stadt noch nicht gesehen hatte. Sie waren durchaus gesund. Das waren sie immer. Fyne sowohl wie auch seine Frau sprachen immer von der unerschütterlichen Gesundheit ihrer Kinder wie von dem Ergebnis sittlicher Vollkommenheit; in einem merkwürdigen Ton, der etwas wie Geringschätzung für Leute anzudeuten schien, deren Kinder etwa gelegentlichem Unwohlsein unterworfen waren. Man fühlte sich fast versucht, wegen der Nachfrage um Entschuldigung zu bitten. Und das ärgerte mich. Ohne Grund, wie ich zugeben muß, weil ja die Schwäche, überragendes Verdienst für sich in Anspruch zu nehmen, ziemlich weit verbreitet ist. In dem Bestreben, mich zur Strafe unangenehm bemerkbar zu machen, äußerte ich mit unterstrichener Liebenswürdigkeit, daß die lieben Kinder wohl über das plötzliche Verschwinden der jungen Freundin ihrer Mutter erstaunt gewesen sein müßten. Hatten sie nicht einige lästige Fragen über Fräulein Smith gestellt? War mir Fräulein de Barral nicht als Fräulein Smith vorgestellt worden?

Frau Fyne sah starr vor sich hin, errötete aber zugleich ein wenig unter ihrer Bräune und teilte mir mit, daß die Kinder Flora niemals sonderlich gerne gemocht hätten. Flora hätte es an der guten Laune fehlen lassen, durch die sich Erwachsene bei gesunden Kindern beliebt machen können, erklärte Frau Fyne unbeirrt. Flora sei zuvor schon mehrmals in der Villa zu Gast gewesen. Frau Fyne versicherte mir, sie habe es öfters recht schwierig gefunden, das Mädchen im Hause zu haben.

›Aber was sonst hätten wir tun sollen?‹, rief sie aus.

Dieser kleine Ausruf der Betrübnis, ganz echt in seiner Belanglosigkeit, änderte mein Gefühl gegen Frau Fyne. Es wäre ja so einfach gewesen, gar nichts zu tun und nicht weiter daran zu denken. Meine Zuneigung für sie begann, als sie mir von der Nacht zu erzählen versuchte, die sie an des Mädchens Bett zugebracht hatte, von der Nacht vor der Abreise mit dem zuwideren Verwandten. Ich bezweifle es sehr, daß Frau Fyne Mittel gefunden hatte, das Kind zu trösten. Ihr fehlte wohl die Gabe, das wegwischen zu können, was der Haß eines wütenden Weibes so überlegt angerichtet hatte.

Du wirst mir vielleicht einwenden, daß die Eindrücke von Kindern nicht von Dauer sind. Das mag ganz richtig sein. Aber hier ist ja die Bezeichnung Kind nur eine Redensart. Das Mädchen stand wenige Tage vor ihrem sechzehnten Geburtstag; sie war alt genug, um durch den Schock plötzlich gereift zu werden. Schon die bloße Anstrengung, die es ihr kostete, Frau Fyne ihre Eindrücke zu schildern, sich an die Einzelheiten zu erinnern, passende Worte zu finden – überhaupt Worte –, schon diese Anstrengung allein mußte ihr ganz unkindlichen Abstand zu dem Erlebnis verschaffen. Sie hatte lange Zeit gesprochen, von Frau Fyne nicht unterbrochen, kindlich genug in ihrem Staunen und in ihrem Schmerz, hatte dann und wann ausgesetzt, um die klägliche Frage einzuwerfen; ›Es war grausam von ihr; war es nicht grausam, Frau Fyne?‹

Für Charleys Verhalten fand sie Entschuldigungsgründe. Er wenigstens hatte nichts gesagt, hatte dabei finster und bedrückt ausgesehen. Er hätte ja auch nicht gegen seine Tante Partei ergreifen können, oder? Schließlich aber hatte er doch auf ihre Bitte hin ›das grausame Weib‹ fortgeführt! Er hatte sie am Arme hinausgezerrt. Das hatte sie genau gesehen! Sie erinnerte sich daran. Das war es! Das Weib war verrückt! ›Oh, Frau Fyne, sagen Sie mir nicht, daß sie nicht verrückt war! Hätten Sie nur ihr Gesicht gesehen . . .

Aber in Frau Fyne stand unverrückbar der Gedanke fest, daß alle Wahrheit, die noch auszusprechen war, in gütiger Weise diesem Mädchen beigebracht werden mußte, dessen Schicksal es, wie sie fürchtete, sein würde, schutzlos weiterzuleben, allen Härten eines ärmlichen Daseins preisgegeben. So erklärte sie also dem Mädchen, daß es auf der Welt böse und selbstsüchtige Menschen gebe. Gewissenlose Menschen . . . Diese zwei Leute hätten es auf ihres Vaters Geld abgesehen gehabt. Es wäre am besten, gar nicht weiter an sie zu denken.

›Auf Vaters Geld? Ich verstehe nicht‹, hatte die arme Flora de Barral gemurmelt und war dann stillgelegen, als wollte sie in der Lautlosigkeit des nur durch ein Nachtlicht schwach erleuchteten Raumes alles überdenken. Dann überfiel sie eine Art Schüttelfrost, während dessen sie Frau Fynes Hand fest umklammert hielt; und diese Nachtwache am Bette einer grausam gemordeten Kindheit machte Frau Fynes Menschlichkeit alle Ehre. Sie ist ihr um so höher anzurechnen, da sie, wie ich wohl merkte, zu keiner Zeit das Opfer besonders anziehend oder liebenswert gefunden hatte. Es war eine Betätigung reinen Mitleids, des Mitleids an sich sozusagen, deren wenige Frauen mit solchem Gleichmut fähig gewesen wären. Sobald der Schüttelfrost vorüber war, stieß das Mädchen unter wildem Schluchzen die Worte hervor: ›Oh, Frau Fyne, bin ich wirklich so abscheulich, wie sie mich hingestellt hat?‹

›Nein, nein‹, widersprach Frau Fyne. ›Deine frühere Erzieherin, die ist abscheulich und häßlich! Ein niedrig denkendes Weib. Ich kann nicht sagen, daß sie verrückt war, aber ich denke mir, sie muß vor Wut außer sich und voll böser Gedanken gewesen sein. Du mußt versuchen, an diese Beschimpfungen gar nicht weiter zu denken, mein liebes Kind.‹

Tatsächlich seien sie derart gewesen, daß niemand es vertragen hätte, viel darüber nachzudenken, erklärte mir Frau Fyne kurz und gemessen. Alles das sei recht angreifend gewesen. Das Mädchen sei ihr vorgekommen, wie ein Fisch, der im Netze zappelt.

›Aber wie kann ich vergessen? Sie hat meinen Vater einen Betrüger und Schwindler genannt! Sagen Sie mir, Frau Fyne, daß es nicht wahr ist! Es kann nicht wahr sein. Wie könnte es wahr sein?‹

Sie war im Bett aufgefahren, mit einer jähen, heftigen Bewegung, als wollte sie aufspringen und vor dem Klang der Worte fliehen, die eben erst über ihre Lippen gekommen waren. Frau Fyne hielt sie zurück, beruhigte sie, brachte sie endlich dazu, den Kopf wieder auf das Kissen zu legen, und wiederholte ihr dabei fortwährend, daß nichts von alledem, was dieses Weib grausam genug gewesen sei, auszusprechen, ernstliche Beachtung verdiene. Das Mädchen, ganz erschöpft, weinte eine Zeitlang leise vor sich hin. Vielleicht hatte sie in Frau Fynes Versicherungen ein gewisses Ausweichen gespürt. Nach einer Weile flüsterte sie abgerissen, ohne sich zu rühren:

›Das schreckliche Weib hat mir gesagt, daß alle Welt Papa bei diesen abscheulichen Namen nennen würde. Ist es möglich? Ist es möglich?‹

Frau Fyne schwieg.

›Sagen Sie mir etwas, Frau Fyne‹, drängte die Tochter de Barrals in dem gleichen, schwachen Flüsterton.

Wiederum versicherte mir Frau Fyne, daß es recht angreifend gewesen sei; recht sehr angreifend. ›Danke, ja!‹ Sie legte sich mit gefalteten Armen in den Stuhl zurück, während ich ihr eine neue Tasse Tee einschenkte. Fyne ging hinaus, um den Hund zur Ruhe zu bringen, der, in der Diele angebunden, plötzlich außer sich geraten war, weil jemand die Kühnheit gehabt hatte, an der Hecke vorbeizugehen. Frau Fyne rührte lange Zeit in ihrer Tasse, trank einen Schluck, setzte dann die Tasse nieder und sagte, wie jemand, der alle Folgen auf sich zu nehmen gedenkt:

›Schweigen wäre nicht anständig gewesen. Nicht einmal gütig, denke ich. Ich sagte ihr, sie müsse sich darauf gefaßt machen, die Welt ein sehr hartes Urteil über ihren Vater fällen zu sehen . . .‹«

 

Marlow unterbrach sich in seiner Erzählung mit dem Ausruf: »War es nicht außergewöhnlich? Einfach bewundernswert?« Und da ich mich dieser unerwarteten Begeisterung gegenüber etwas zweifelnd verhielt, so begann er sie nach seiner Art zu rechtfertigen.

»Ich sage bewundernswert, weil es so bezeichnend war. Einfach vollendet! Es hätte Genie dazu gehört, etwas Besseres zu finden. Und dabei war es so ganz Natur! Wie man von einem Kunstwerk sagen würde: Es war ein echter Fyne. Mitleid und Verständnis, im rechten Verhältnis gemischt. Nichts von Gefühlsüberschwang. Und richtig! Du mußt zugeben, daß nichts richtiger sein konnte. Ich fühlte mich versucht, ›Bravo, bravo‹ zu schreien, tat es aber nicht. Ich nahm ein Stück Kuchen und ging hinaus, um den Hund der Fynes in irgendeine Form von Selbstbeherrschung zurückzulocken. Sein scharfes, lustiges Kläffen war unerträglich, schnitt wie Messer durchs Hirn, und Fynes tiefe, gesetzte Vorstellungen machten auf das lebhafte Tier nicht mehr Eindruck als das tiefe, leise Murmeln der See auf einen Niggerminstrel an einem Volksbadestrand. Als ich erschien, war Fyne gerade dazu übergegangen, den Hund in tiefem Grabeston zu verfluchen. Der Hund überschlug sich förmlich, erdrosselte sich halb an seinem Halsband, Augen und Zunge hingen ihm heraus im Übermaß seiner unverständlichen Zuneigung zu mir. Das war, bevor er noch den Kuchen in meiner Hand erblickt hatte. Ein paar Sprünge hoch in die Luft folgten, und als er den Kuchen endlich hatte, verlor er sofort jegliches Interesse für alles andere.

Fyne ärgerte sich ein wenig über mich. Obwohl er ein so guter Herr war, wie ihn sich ein Hund nur wünschen konnte, so billigte er es doch nicht, daß Hunde mit Kuchen gefüttert wurden. Dem Hund der Fynes wurde zugemutet, ein spartanisches Dasein zu führen, bei einer Kost aus ekelhaftem Zwieback und gelegentlich einem harten, bekömmlichen Knochen dazu. Fyne sah düster auf das besänftigte Tier hinunter, auch ich sah mir den närrischen Köter an. Und dabei (du weißt, wie plötzlich oft Erinnerungen auftauchen) sah ich mit einmal fast zum Greifen deutlich das geisterbleiche Gesicht des Mädchens vor mir, das ich zuletzt in Begleitung eben dieses Hundes – von diesem Hund verlassen – getroffen hatte. Ich glaubte sogar ihre traurige Stimme zu hören, in der schon Tränen mitzuklingen schienen, wie sie den Hund rief, den harthörigen Hund. Vielleicht war ihr die Gabe versagt, Sympathie einzuflößen, die Gabe, unmittelbar zu Herzen zu sprechen. Da ich der augenblicklichen Ruhe des Hundes mißtraute, so sagte ich zu Fyne:

›Warum lassen Sie ihn nicht mit hereinkommen?‹

Oh, um Himmelswillen, nein! Nicht daran zu denken! – Ich hätte mir tatsächlich den Atem sparen und wissen können, daß es zu den Lebensgrundsätzen der Fynes gehörte, einen Teil ihrer Würde und ihres Verantwortlichkeitsgefühls bildete, eine der Grundlagen ihrer unaufdringlichen und doch stets fühlbaren Überlegenheit, daß ihr Hund nie ins Zimmer durfte. Es war in hohem Grade ungehörig, den Hund in die Häuser der Leute mitzunehmen, bei denen sie Besuch machten, – und wäre es, wie heute, nur bei einem sorglosen Junggesellen in einem Bauernhaus, der überdies noch ein persönlicher Freund des Hundes war. Es stand ganz außer Frage. Dafür aber gaben sie zu, daß er einem mit seinem Gekläff vor dem Fenster die Ohren sprengte. Sie waren merkwürdig beharrlich in ihrem Mangel an Herzenstakt. Ich redete nicht weiter zu, sondern ging einfach voran, ins Wohnzimmer zurück, in der Hoffnung, daß in der nächsten Stunde oder noch länger kein Wanderer an der Hecke vorbeikommen und den Hund um seine Fassung bringen würde.

Frau Fyne saß unbeweglich vor dem Tisch, der mit Schüsseln, Tassen, Milchtöpfchen, einer kalten Teekanne, Brosamen und allen Überresten der Mahlzeit beladen war, und wandte uns den Kopf zu.

›Sehen Sie, Herr Marlow,‹ sagte sie in unerwartet vertraulichem Ton, ›sie passen so gar nicht zueinander.‹

Im ersten Augenblick wußte ich nicht recht, was ich aus dieser Bemerkung machen sollte. Zuerst dachte ich an Fyne und seinen Hund. Später erst bezog ich es auf die zur Rede stehende Angelegenheit, die ja nichts mehr und nichts weniger als eine Entführung darstellte. Jawohl, bei Gott! Es sah wahrhaftig ganz nach einer Entführung aus – mit einigen ungewöhnlichen Begleitumständen allerdings, die vielleicht wieder Zweifel erwecken konnten. Ich war erstaunt und belustigt bei dem Gedanken, daß meine Lebensklugheit mit einem solchen Falle in Beziehung gebracht wurde. Wie unerwartet! Doch wissen wir ja alle nicht, auf welche Proben unsere Gaben gestellt werden können. Lebensklugheit hatte vor allem Vorsicht zur Voraussetzung. Ich halte Vorsicht für die erste Pflicht der Klugheit. Fyne setzte sich zurecht, wie um einem Turnier zuzusehen. So kam es mir vor.

›Meinen Sie wirklich, Frau Fyne?‹ fragte ich mit größtem Bedacht. ›Sie sind ja allerdings in der Lage . . .‹ Ich wollte vorsichtig fortfahren, als sie mich schon durch unvermittelte Zustimmung unterbrach.

›Ganz augenscheinlich. Sonnenklar. Sie müssen selbst zugeben . . .

›Aber Frau Fyne,‹ gab ich zu bedenken, ›Sie vergessen, daß ich Ihren Bruder nicht kenne.‹

Dieser Einwurf, der nicht nur lebensklug war, sondern vor allem wahr, überragend wahr, über jeden Widerspruch hinaus wahr, schien sie zu überraschen.

Ich wunderte mich, weshalb. Ich wußte nicht genug von ihrem Bruder, um mir auch nur das nebelhafteste Bild von ihm machen zu können. Ich hatte ihn nie von Angesicht gesehen. Ich kannte ihn so durchaus gar nicht, daß es mir im Vergleich dazu vorkam, als kennte ich Fräulein de Barral sozusagen von der Wiege an – während ich sie doch nur zweimal (insgesamt etwa sechzig Minuten lang) gesehen und mit ihr etwa sechzig Worte gewechselt hatte. Und vielleicht, dachte ich und sah dabei auf Frau Fyne hinunter (ich war stehengeblieben), vielleicht hält sie das für ausreichend, um eine kluge Zustimmung darauf zu gründen.

Sie schwieg. Und während ich sie immer noch in höflicher Erwartung ansah, fuhr ich fort, sie im Geiste weiter anzureden, in einem Tone vertraulicher Zustimmung, den sie, wäre er ihr zu Ohren gekommen, schwerlich gebilligt hätte: ›Du, meine Liebe, bist unbedingt eine aufrichtige Frau . . .

Ich nenne eine Frau aufrichtig,« hob Marlow wieder an, nachdem er mir eine Zigarre gegeben und sich selbst eine angesteckt hatte, »ich nenne eine Frau aufrichtig, wenn sie sich zu einer Behauptung herbeiläßt, die in der Form annähernd das ausdrückt, was sie wirklich sagen möchte, was ihrer Ansicht nach gesagt werden müßte, wäre nicht die gebotene Rücksicht auf die dumme Gefühlsduselei der Männer. Der Frauen rauheres, einfacheres, aufrichtigeres Urteil umfaßt die ganze Wahrheit, die aber ihr Takt und ihr Mißtrauen gegen die männliche Schwärmerei sie auszusprechen hindert. Ihr Feingefühl ist unbeirrbar. Wir könnten es nicht vertragen, wenn Frauen die Wahrheit sprechen wollten. Es wäre zuviel für uns. Es würde unendliches Elend und schauerlichen Wirrwarr in dieses Narrenparadies von Durchschnittsschwärmern bringen, in dem jeder von uns sein eigenes kleines Leben lebt – als einer in der großen Summe des Daseins. Und sie wissen es. Sie sind gnädig. Diese Verallgemeinerung paßt nicht ganz zu Frau Fynes Anlauf zur Aufrichtigkeit in einer Frage, an der weder meine Zuneigung noch meine Eitelkeit beteiligt waren. Das mochte auch wohl der Grund gewesen sein, warum sie sich dazu verstanden hatte. Es beliebte ihr – für eine Frau, wohlgemerkt! – offen wie der Tag gegen mich zu sein: Ihr Ausspruch hatte nicht nur die Form, sondern so ziemlich auch den ganzen Inhalt dessen, was sie dachte. Sie glaubte es wagen zu können. Sie muß wohl etwa so gefolgert haben: Da ist also ein Mann mit einem gewissen Maß von Lebensklugheit . . .«

Marlow unterbrach sich mit einem schielenden Blick auf mich. Die letzten Worte hatte er mit der Zigarre zwischen den Zähnen gesprochen. Nun nahm er mit großer Gebärde die Zigarre aus dem Munde und blies eine dünne Rauchwolke vor sich hin.

»Du lächelst? Es wäre gütiger gewesen, mir das Erröten zu ersparen. Aber schließlich brauche ich gar nicht zu erröten. Dies hier ist kein Selbstlob; es ist eine Analyse. Lassen wir es bei der Lebensklugheit. Wir müssen uns aber darüber verständigen, was Lebensklugheit in diesem Zusammenhang sagen will. Wenn du dir das klargemacht hast, dann wirst du auch einsehen, daß es sich mit Bescheidenheit ganz gut verträgt. Ich glaube nicht, daß Frau Fyne mir etwa Weisheit zugestanden hatte, gemildert durch gesunden Menschenverstand. Und hätte ich auch die Weisheit der Sieben Weisen des Altertums besessen, so hätte das allein weder ihr Vertrauen noch ihre Bewunderung geweckt. Die geheime Verachtung der Frauen für die Fähigkeit, kühl zu überlegen und einen überlegten Schluß in klare Form zu bringen, kennt keine Grenzen. Sie haben kein Verständnis für dieses himmelstürmende Unterfangen, das sie als ein rein männliches Spiel ansehen – wobei unter Spiel eine eben noch achtenswerte Beschäftigung verstanden sein soll, zu dem Zweck, in dieser vom Manne eingerichteten Welt die Zeit totzuschlagen, die ja irgendwie hingebracht werden muß. Was die Erkenntnisschärfe der Frauen wirklich achtet, das sind die totgeborenen ›Ideen‹ und die Herdentriebe, durch die unsere Taten und Meinungen schließlich gewichtig in Erscheinung gedrängt werden. Denn wenn Frauen auch nicht vernünftig sind, so sind sie doch scharfsichtig. Das war sogar Frau Fyne. Die gute Frau hatte sich an den Schachpartner ihres Mannes gewandt, einfach weil sie in ihm den kleinen Einschlag von Weiblichkeit gewittert hatte – den Tropfen einer feineren Essenz, dessen ich mir ja selbst bewußt bin und der mich, wie ich dankbar zugebe, in meinem Leben vor ein oder zwei Unglücksfällen bewahrt hat, die lächerlich oder kläglich gewesen sein mögen. Ich weiß nicht recht, was von beidem. Es tut auch wenig zur Sache. Unglücksfälle waren es sicherlich. Beachte, daß ich weiblich sage und damit ein Vorrecht meine – nicht weibisch, was ein Hauptwesenszug wäre. Ich bin auch kein Frauenrechtler. Fyne war es vielmehr, der in sich auf gewissen Grundlagen diese Geistesrichtung entfaltet hatte. Man brauchte ihn aber nur anzusehen, wie er sehr ungezwungen dasaß, um sofort zu wissen, daß er rein männlich war, bis in die Fingerspitzen, gewichtig, ein wenig begriffsstutzig, erheiternd – hoffnungslos männlich.

Ich sah ihn mir an. Denn man läßt sich doch nicht von der Frau eines Mannes Lebensklugheit nachrühmen, ohne den Wunsch und sogar das Bedürfnis zu empfinden, sich den Mann dann und wann anzusehen. So sah ich mir ihn also an. Ganz männlich! So sehr, daß hoffnungslos bei weitem nicht das rechte Wort dafür schien. Er war hilflos. Es war seine Hemmung und sein Antrieb. Und wenn ich, den dunklen Regungen meiner gemischten Wesensart folgend, ihn ein wenig schadenfroh als das gelten ließ, was er tatsächlich nach äußerem Maßstabe wie besonders nach tiefinnerer Überzeugung wirklich war, nämlich als Mann, so konnte ich mich doch auch nicht eines gewissen Mitgefühls mit ihm erwehren. Da ich ihn so entwaffnet sah, so ganz in der Tatsächlichkeit der Dinge befangen, so fühlte ich mich gedrängt, ihn gütig anzureden.

›Gut. Und wie denken Sie darüber?‹

›Ich weiß nicht recht! Wie soll man das wissen können? Aber ich sage, daß die Sache nun geschehen und damit auch abgetan ist‹, gab dieses männliche Wesen zur Antwort, so schroff, wie es sich nur mit seiner eingefleischten Würde vertrug.

Frau Fyne rückte ein wenig in ihrem Stuhl. Ich wandte mich ihr zu und bemerkte liebenswürdig, daß dies eine Redensart, fast schon ein Sprichwort sei, das oft Verwendung finde. Manche Leute fragen immer: ›Was konnte er nur an ihr finden?‹ Andere vielleicht wundern sich darüber, was sie an ihm gefunden haben könnte. Das seien nur andere Ausdrücke für Nicht-zu-einander-Passen!

Sie sagte über die gekreuzten Arme hinweg mit größtem Nachdruck:

›Ich weiß ganz genau, was Flora in meinem Bruder gesehen hat.‹

Ich beugte mein Haupt unter der Dusche, steuerte aber weiter auf mein Ziel los:

›Und dann wird die Ehe in sehr vielen Fällen doch nicht unglücklicher als sehr viele andere auch, milde gesagt.‹ Frau Fyne schien enttäuscht darüber, daß meine Lebensklugheit sich in Hoffnungsfreude gefiel. Sie ließ ihre Augen auf meinem Gesicht ruhen, als zweifelte sie, ob ich genug Weibliches in meinem Wesen hätte, um den Fall erfassen zu können.

Ich wartete auf ihre Antwort. Sie schien sich selbst die Frage vorzulegen: Ist es schließlich der Mühe wert, mit dem Manne da zu reden? – Du kannst dir denken, wie aufreizend das war. Ich forschte in meinem Sinn nach etwas erstaunlich Dummem, das ich sagen könnte, um Frau Fyne zu ärgern und zu betrüben. Es ist schmerzlich, einen Mißerfolg zugeben zu müssen. Man sollte meinen, daß ein Mann von durchschnittlicher Klugheit die Dummheit nach Belieben zur Verfügung haben müßte. Dem ist aber nicht so. Ich nehme an, daß es eine besondere Gabe ist oder daß die Schwierigkeit darin besteht, gerade die passende Dummheit zu finden. Da ich nun einsah, daß ich eine solche nicht finden konnte, griff ich nach der nächstbesten: einem Gemeinplatz. Ich äußerte mit aller Plattheit die Anschauung, daß ein Mann bei der Ehe ganz gewiß nur seinen eigenen Geschmack zu Rate zu ziehen brauchte.

Frau Fyne nahm das hin, ohne mit der Wimper zu zucken. Durch Fynes männliche Brust aber ging, wie nicht anders zu erwarten, der alte, abgebrauchte Schaft durch und durch. Er grunzte gefühlvoll. Ich wandte mich mit gespielter Einfalt an ihn: ›Sind Sie nicht meiner Meinung?‹

›Genau das, was ich meiner Frau gesagt habe‹, dröhnte er mit einem übermännlichen Baß. ›Wir hatten eine Auseinandersetzung deswegen.‹

Eine Auseinandersetzung in der Ehe der Fynes! Wie ungeheuerlich! Vielleicht die erste Meinungsverschiedenheit, die sie je gehabt hatten: Frau Fyne unbeugsam und zu jeder Verantwortung bereit, Fyne würdig und davor zurückschreckend – die Kinder oben zu Bett; und draußen die dunklen Felder, die schattenhaften Umrisse des offenen Landes gegen den bestirnten Hintergrund des Alls; dazu der helle Schein des offenen Fensters, wie ein Leuchtfeuer für die Herumtreiberin, die ja nie mehr wiederkehren würde. Auch keine Herumtreiberin mehr, sondern geradewegs ein Flüchtling. Und ein Flüchtling, der eine Beute mit sich genommen hatte. Es war wie die Flucht eines Räubers – oder einer Verräterin? Diese Geschichte mit dem entwendeten Bruder, wie ich sie für mich zu nennen pflegte, zeigte ein sehr merkwürdiges Gesicht. Das Mädchen mußte wohl ganz verzweifelt gewesen sein, dachte ich und hörte unterdessen wohl Fynes ernste Stimme, nahm aber keines seiner Worte ins Bewußtsein auf, bis auf die letzten:

›Es ist ja natürlich sehr traurig.‹

Ich sah ihn forschend an; was hatte er zu betrauern? Daß der Sohn des Dichtertyrannen von der Tochter des Finanzzuchthäuslers geraubt worden war? Oder nur, wenn ich so sagen darf, daß der Luftzug ihrer Flucht die würdige, häusliche Atmosphäre der Fynes in Unruhe versetzt hatte? Meine Ungewißheit hielt nicht lange an, denn er fügte hinzu: ›Frau Fyne drängt mich, sofort nach London zu fahren.‹ Seine tiefe Abneigung gegen die Reise wie auch sein Kummer über die Meinungsverschiedenheit mit seiner Frau waren nicht nur zu erraten, sondern recht offensichtlich. Da er unsere irdische Komödie hier so todernst nahm, so litt Fyne darunter, in diesem einen Fall seiner Frau nicht so feierlich zustimmen zu können, wie er es sonst gewöhnt war – in Dankbarkeit für das eine Mal, wo er seinen Willen gehabt hatte; als er sie nämlich dazu gebracht hatte, sich von ihm entführen zu lassen – zu dem verwegensten Schritt also, der im Leben einer jungen Dame denkbar ist. Er hatte sich dafür ehrlich dankbar zu erweisen versucht, in seiner Art, indem er von da an die Richtigkeit ihres Urteils auch bei jedem anderen Anlaß als verbürgt ansah. Es war ihm schließlich zur Gewohnheit geworden, und es ist niemals erfreulich, mit einer Gewohnheit zu brechen. Der Mann schien tief bekümmert. Ich sagte: ›Wirklich! Nach London zu fahren!‹

Er sah mich trübe an. Die reine Tragikomödie! ›Und Sie natürlich fühlen, daß es nutzlos wäre‹, fuhr ich fort.

Das fühlte er ganz offenbar, wenn er auch nichts sagte. Er zwinkerte mich nur weiter feierlich und merkwürdig komisch an. ›Es wäre denn, um den Familiensegen hinzubringen‹, sprach ich weiter und tat meiner Spottlust Genüge, recht heimlich allerdings, denn ich wagte es nicht, Frau Fyne zu meiner Rechten anzusehen. Kein Ton, keine Bewegung drang von dort her zu mir. ›Sie sind natürlich der Ansicht, daß es nahe an Torheit grenzt, mit Vernunftgründen, und seien sie noch so gut, gegen die leidenschaftlichen Entschlüsse der Liebe anrennen zu wollen.‹

Er schien überrascht, als hätte ich etwas sehr Spitzfindiges gesagt. Er nämlich, der liebe Mensch, hatte an überhaupt nichts gedacht, ganz einfach nur gewußt, daß er in solcher Sendung nicht nach London gehen wollte. Rein männliches Zartgefühl. Er war augenblicklich begeistert.

›Ja! Ja! Genau so. Ein Verliebter . . . Hörst du, meine Liebe? Da hast du nun ein unbefangenes Urteil!‹

›Gibt es etwas Hoffnungsloseres,‹ wiederholte ich, immer noch zu Fyne gewandt, ›als Vernunft gegen Liebe zu stemmen? Und überdies muß ich gestehen, daß es mir in diesem besonderen Falle, wenn ich an das scharfe Kinn des armen Mädels denke, fraglich erscheint, ob . . .

Meine Leichtfertigkeit war zuviel für Frau Fyne. Immer noch in ihren Stuhl zurückgelehnt, rief sie aus:

›Herr Marlow!‹

 

Als hätte ihn die Entrüstung seiner Herrin geheimnisvoll angesteckt, begann der dumme Hund der Fynes in der Diele wieder zu bellen. Diesmal vielleicht, weil eine Hummel vorbeigeflogen war. Dem Tier war jede Verrücktheit zuzutrauen. Fyne erhob sich rasch und ging zu dem Hund hinaus. Ich glaube, er war ganz froh, uns die Frage seiner Londoner Reise allein besprechen lassen zu können. Eine nichtempfindsame Reise das! Auch er hatte offenbar Vertrauen in meine Lebensklugheit. Rührend, dieses Vertrauen! Es war aber wohl immer noch echter als das Vertrauen, das seine Frau in den Schachpartner ihres Mannes zu haben vorgab. Zum Teufel mit allem Vertrauen! Lebensklugheit – wirklich! Sie war einfach hergekommen, ohne den Schimmer eines Zweifels daran, daß sie mich dazu bringen würde, ihr beizupflichten. Doch nun hatte sie sich in meine Hände gegeben . . .«

Marlow unterbrach seine Erzählung, um sich in seinem üblichen Ton, zwischen grimmigem Scherz und grimmigem Ernst, mit der Bemerkung an mich zu wenden:

»Du wußtest vielleicht nicht, daß ich im Grunde rachsüchtig bin.«

»Nein, das wußte ich nicht«, meinte ich. »Recht ungewöhnlich, bei einem Seemann! Die schienen mir immer die am wenigsten rachsüchtigen Menschen zu sein.«

»Nun ja, einfache Gemüter«, murmelte Marlow. »Keine Gelegenheit. Die Welt läßt sie ja auch meist in Ruhe. Ich selbst nun empfinde eine gewisse Rachsucht meistens gegen Frauen, in meiner kleinlichen Art. Ich gebe zu, daß sie kleinlich ist. Doch die Anlässe selbst sind ja auch nicht groß. Am meisten ärgert mich ihre Art, uns um ihre süßen kleinen Finger zu wickeln, als hätten sie ein Recht dazu. Nicht, als ob dabei jemals viel herauskäme. Es gibt so wenig wirklich nennenswerte Anlässe. Nur die vorgefaßte Meinung, daß jeder von uns ein Mittelding zwischen Säugling und Trottel ist, die finde ich aufreizend. Auch kleinlich vielleicht, recht kleinlich sogar. Du brauchst mich nicht anzusehen, als ob ich Feuer und Rauch aus den Nasenlöchern schnaubte. Ich bin kein Weiber verschlingendes Untier – ich bin nicht einmal das, was man gemeinhin einen ›Rohling‹ nennt. Ich hoffe, daß genug vom Trottel und genug vom Säugling in mir ist, um gelegentlich den Ansprüchen einer wirklich guten Frau genügen zu können – irgendwann einmal . . . irgendwann. Warum schnappst du so nach Luft? Du glaubst doch nicht, daß ich mich fürchten würde, zu heiraten? Die Annahme wäre eine Beleidigung . . .«

»Ich denke nicht im Traume daran, dich zu beleidigen«, sagte ich.

»Ist schon recht. Aber inzwischen, bitte, denke daran, daß ich mit Frau Fyne nicht verheiratet war. Der kleine Finger der Dame gehörte nicht mir zu eigen. Ich hatte ihn nicht entführt. Das hatte Fyne getan. So mochte er sich doch herumwickeln lassen, so viel sein Rückgrat aushielt – oder auch noch mehr, meinetwegen. Daß er so von der Aussprache davonrannte, unter dem durchsichtigen Vorwand, den Hund zu beruhigen, bestärkte mich in der Ansicht, daß an seine Biegsamkeit bereits weitgehende Ansprüche gestellt worden waren. Ich bot Frau Fyne die Stirne, fest entschlossen, ihr jede Beihilfe zu dem echt weiblichen Beginnen zu versagen, einer anderen Frau einen Stock in die Radspeichen zu schieben.

Sie mühte sich, ihre kühle Überlegenheit beizubehalten. Sie thronte erhaben hinter dem Teetisch, dem würdigen Sinnbild des häuslichen Lebens in seinen besten Augenblicken. In wenigen, streng gemessenen Worten gab sie mir zu verstehen, daß sie von mir irgendeinen nützlichen Rat zu erhoffen gewagt habe. Auf diese reichlich scharfe Erklärung – meine Rachsucht versteigt sich selten höher als bis zu einer kleinen Neckerei – erwiderte ich, daß ich wirklich dabei sei, mein Bestes zu tun. Und da ich Physiognomiker sei . . .

›Wie bitte?‹ unterbrach sie mich.

›Physiognomiker‹, wiederholte ich, mit etwas erhobener Stimme. ›Ein Physiognomiker, Frau Fyne. Und nach den Grundlagen dieser Wissenschaft bietet ein spitzes, kleines Kinn genügende Anhaltspunkte für eine Einmengung. Sie wünschen sich einzumengen, nicht wahr?‹

Ihre Augen wurden zusehends größer. Niemals zuvor hatte sie jemand zum besten gehabt. Der heimgegangene feinsinnige Dichter hatte, um sich unbeliebt zu machen, nur über wildes Schelten verfügt. Fyne dagegen war stets würdevoll unterwürfig gewesen. Was sie sonst noch für Männer gekannt haben mag, könnte ich nicht sagen, doch nehme ich an, daß es gut erzogene Leute gewesen sein dürften. Die jungen Freundinnen saßen zu ihren Füßen. Wie sollte sie meine Absicht erkennen? Sie wußte nicht, was sie aus meinem Tonfall machen sollte.

›Ist das, was Sie da sagen, Ihr Ernst?‹ fragte sie langsam. Und das war rührend. Es war, als hätte ein ganz junges, vertrauensvolles Mädchen gesprochen. Ich fühlte mich weich werden.

›Nein, das ist es nicht, Frau Fyne‹, sagte ich. Ich wußte nicht, daß man von mir Ernst so gut wie Lebensklugheit erwartete. ›Nein! Diese ganze Wissenschaft ist mehr spaßhaft, und daher sprach ich auch nicht im Ernst. Es ist wahr, daß die meisten Wissenschaften spaßhaft sind, soweit sie uns nicht lehren, die Dinge nebeneinander zu halten.‹

›Hier handelt es sich darum, die beiden Leute auseinander zu bringen‹, unterbrach sie mich. Sie hatte sich wieder. Ich bewunderte den raschen, weiblichen Witz. Geistige Beweglichkeit scheint mir höchste Vollendung. Und sind sie nicht beweglich? Sind sie es nicht, was? Und hartnäckig! Wenn sie einmal Halt gefunden haben, dann kannst du den Baum entwurzeln, aber du wirst sie nicht dazu bringen, den Ast loszulassen. Im Gegenteil. Je mehr du schüttelst . . . Und sieh nur den Zauber einander widersprechender Anlagen! Kein Wunder, daß Männer gewöhnlich auf den Leim gehen. Ich will nicht sagen, daß ich von Frau Fyne bezaubert war. Ich war nicht entzückt von ihr. Was mir zu Herzen ging, war nicht das, was sie zur Schau stellte, sondern das andere, das sie nicht zu verbergen vermochte. Und das war nichts anderes als Rührung. Ihre Worte waren trocken, fast befehlshaberisch, doch nicht ihr Tun. Ihre Stimme hatte ein ganz klein wenig geschwankt, sie lächelte schwach. Und da wir einander unverwandt anschauten, so merkte ich, daß ihre Augen eigenartig glitzerten. Sie war betrübt. Und tatsächlich war es ja auch schon ein handgreiflicher Beweis für ihre tiefe Betrübnis, daß Frau Fyne überhaupt auf den Gedanken gekommen war, sich an mich zu wenden. ›Bei Gott, sie ist auch verzweifelt‹, dachte ich. Dieser Entdeckung folgte auf dem Fuße eine Bewegung unwillkürlicher Abwehr gegen diese ganz unvernünftige und unmännliche Geschichte. Sie waren doch alle gleich: im Innersten konnten sie nur gepackt werden, wenn es einer anderen einen Mann streitig zu machen galt – einen Liebhaber, einen Sohn, einen Bruder.

›Aber glauben Sie denn, daß noch Zeit genug ist, um irgend etwas zu tun?‹ fragte ich.

Sie zuckte ungeduldig mit den Schultern, ohne sich von der Stuhllehne weg zu rühren. Zeit! Natürlich doch! Es war noch keine achtundvierzig Stunden her, daß sie ihm nach London nachgefahren war . . . Ich bin in diesen Dingen nicht sehr beschlagen, murmelte aber irgend etwas von besonderer Erlaubnis. Man könne nicht wissen, was jetzt schon geschehen sei. Aber sie wußte es besser und meinte recht geringschätzig, nichts sei geschehen.

›Es wird auch kaum etwas geschehen vor nächstem Freitag in acht Tagen, wenn überhaupt . . .

Das war wunderbar genau. Dann fügte sie nach einer Pause hinzu, sie würde es sich nie vergeben können, wenn gar kein Versuch gemacht würde, keine Bitte . . .

›Bei Ihrem Bruder?‹ fragte ich.

›Jawohl. John sollte morgen hinfahren. Mit dem Neunuhrzug.‹

›So früh?‹ sagte ich. Aber mir fehlte die Stimmung, das Gespräch in scherzhaftem Ton fortzuführen. Ich brachte verschiedene Einwände vor, die scheinbar von gesundem Menschenverstand, in Wahrheit aber von meinem heimlichen Mitgefühl eingegeben waren. Frau Fyne schob sie mit einer Handbewegung beiseite, mit all der halbbewußten Selbstsucht von Leuten in gesicherten Verhältnissen. Sie hatten einander so wenig gekannt. Gerade drei Wochen! Und von dieser Zeitspanne, zu kurz für das Entstehen eines echten Gefühls, mußte noch die erste Woche abgezogen werden. Im Anfang hatten sie einander ja kaum angesehen. Flora hatte von Kapitän Anthonys Anwesenheit keine Notiz genommen. Guten Morgen – gute Nacht – das war alles – darauf hatte sich tatsächlich ihre ganze Unterhaltung beschränkt. Kapitän Anthony war ein schweigsamer Mann, der Gesellschaft junger Mädchen völlig ungewohnt und so scheu, daß er es doch wirklich unterlassen hatte, bei Tisch die Augen zu ihr zu erheben. Es war einfach lächerlich gewesen. Sogar unpassend und habe sie, Frau Fyne, öfter als einmal in Verlegenheit gebracht. Nach dem Frühstück pflegte Flora allein einen ihrer langen Spaziergänge anzutreten, und Kapitän Anthony (Frau Fyne sprach von ihm gelegentlich auch als von Roderick) begab sich zu den Kindern. Aber er war sogar zu schüchtern, um mit seinen eigenen Nichten in irgendwelche Beziehungen kommen zu können.

Das hätte vielleicht übertrieben erscheinen können, hätte ich nicht die Kinder der Fynes gekannt, die zugleich feierlich und boshaft waren und eine geheime Verachtung für alle Welt zu hegen schienen. Niemand konnte in irgendeine Beziehung zu den gesunden, hübschen jungen Ungeheuern kommen. Sie schienen selbst ihre Eltern gerade nur zu dulden und untereinander ein boshaftes Einverständnis gegen alle Außenstehenden zu hegen, ohne dabei einander sichtlich zugetan zu sein. Auch pflegten sie miteinander spöttische Blicke zu wechseln, die einem schüchternen Mann wohl lästig genug sein mochten. Ganz fraglos hielten sie ihren Onkel für einen Langweiler, vielleicht für einen Esel.

Es überraschte mich nicht, zu hören, daß Anthony sehr bald die Gewohnheit angenommen hatte, über zwei angrenzende Felder weg den Schatten einer Ulmengruppe aufzusuchen, ziemlich weit vom Landhaus entfernt. Frau Fyne war über ihres Bruders faule Gewohnheiten erstaunt. Er hatte wohl nach Büchern gefragt, aber es gab nur wenige in der Villa. Die hatte er in drei Tagen durchgelesen, um dann weiterhin zufrieden auf dem Rücken zu liegen, mit seiner Pfeife als einzigem Gefährten. Ganz erstaunlicher Stumpfsinn! Den lieben langen Morgen lang konnte Frau Fyne, während sie im Oberstock der Villa emsig schrieb, ihm aus dem Fenster zusehen. Sie hatte ausgezeichnete Augen, und die Ulmen standen auf einer kleinen Anhöhe. Das Bild seiner Trägheit bot sich ihr auf einem lieblichen, grünen Hange unverhüllt dar. Frau Fyne wunderte sich darüber, fühlte sich sogar abgestoßen. Da sie sich aber gerade damals als Verfasserin zu fühlen begonnen hatte, wie du ja weißt, so versuchte sie nicht, dem Reiz der Neuheit zu widerstehen, den die Arbeit für sie hatte. Sie ließ den Bruder seinem Laster frönen. Ich stelle mir vor, daß Kapitän Anthony recht ungestört eine nette Zeit gehabt hat. Es war, wie ich mich erinnere, ein heißer, trockener Sommer, wie geschaffen zu einem beschaulichen Freiluftleben. Frau Fyne also nahm Ärgernis. Frauen verstehen nicht die Kräfte eines beschaulichen Temperaments. Es stößt sie einfach ab. Sie fühlen unbewußt, daß es das eine ist, das sich am gründlichsten jedem weiblichen Einfluß entzieht. Die lieben Mädchen tauschten untereinander spöttische Bemerkungen über den ›faulen Onkel Roderick‹. Ganz offen, in Hörweite der Mutter, die nichts daran auszusetzen fand. Und es war so merkwürdig, weil er – wie sie mir sagte – als Junge alles eher als faul gewesen war. Im Gegenteil. Immer tätig.

Ich bemerkte, daß ein Mann von fünfunddreißig kein Knabe mehr sei. Es war eine handgreiflich richtige Bemerkung, doch sie nahm sie wenig wohlwollend auf, erklärte mir vielmehr in sehr bestimmtem Ton, daß die besten, nettesten Männer ihr ganzes Leben lang Jungen blieben. Es hatte sie enttäuscht, daß sie so gar nichts Jungenhaftes an ihrem Bruder entdecken konnte. Es hatte ihr sehr, sehr leid getan. Sie hatte ihn etwa fünfzehn Jahre lang nicht gesehen, außer bei drei oder vier Anlässen, jedesmal auf wenige Stunden. Nein. Keine Spur des Jungen war mehr in ihm, der er früher einmal war.

Sie schwieg eine Zeitlang, und ich grübelte müßig der Jungenzeit des kleinen Fyne nach. Ich konnte mir kein Bild davon machen, wie sie wohl beschaffen gewesen sein mochte. Sein vorherrschender Zug war zweifellos ein Überbleibsel aus noch früheren Tagen, denn nie habe ich, außer bei ganz kleinen Kindern, den feierlichen, starren Blick beobachtet, wie Fyne ihn hatte. Doch wo war er alle die Zeit über gewesen? War er durch die Faulheit des Kapitäns Anthony nicht angesteckt worden? Es wurde mir bedeutet, daß Herr Fyne zu der Zeit sich wenig in der Villa aufgehalten habe. Einer seiner Kollegen weilte zur Erholung nach einer schweren Krankheit in einem kleinen Stranddorf in der Nachbarschaft, und Fyne fuhr jeden Morgen mit dem Zuge hin, um den Tag mit dem ältlichen Kranken zu verbringen, da sich niemand sonst um ihn kümmerte. Das bot einen sehr triftigen Entschuldigungsgrund dafür, daß er seinen Schwager, ›den Sohn des Dichters, Sie wissen ja‹, vernachlässigte, mit dem er im entferntesten nichts gemein hatte. Wäre Kapitän Anthony (Roderick) ein Freund des Gehsports gewesen, so hätte das schon genügt; aber er war es nicht. Dennoch machte er gelegentlich am Nachmittage einen kleinen Bummel, allein natürlich, da ihm die Kinder endgültig die kalte Schulter gezeigt hatten und seine einzige Schwester an dem zündenden Buch arbeitete, das etwa ein Jahr später über die Welt hereinbrechen sollte. Es schien immerhin, als sei sie fähig gewesen, dann und wann von ihrer Arbeit aufzusehen, wenn auch nur für einen Augenblick; denn aus eben der Dachkammer, die sie sich als Arbeitszimmer eingerichtet hatte, beobachtete sie eines Nachmittags, wie ihr Bruder neben Flora de Barral die Straße herunterkam. Sie hatten sich irgendwo zufällig getroffen (wer von den beiden, wie man so sagt, des andern Weg gekreuzt hatte, ist mir nicht bekannt) und kamen nun miteinander zum Tee nach Hause. Frau Fyne beobachtete, wie sie sich scheinbar zwanglos unterhielten.

›Ich war einfältig genug, mich darüber zu freuen‹, bemerkte Frau Fyne mit einem trockenen, kurzen Lachen. ›Mich für sie beide zu freuen.‹ Kapitän Anthony schüttelte von diesem Tage an seine Trägheit ab und begleitete Fräulein de Barral häufig auf ihren Morgenspaziergängen. Frau Fyne freute sich weiter. Sie konnte die beiden nun mit gutem Gewissen aus ihren Gedanken ausschalten und sich selbst den Wonnen kühner Ideen und dichterischen Schaffens hingeben. Knapp eine Woche, bevor der Blitz einschlug, hob sie einmal zufällig die Augen vom Papier und sah auf der Grashalde im Schatten der Ulmen zwei Gestalten sitzen. Sie konnte die weiße Bluse genau erkennen. Es gab keinen Irrtum.

›Sie meinten wohl, daß die Hecke sie verberge, nehme ich an. Sie hatten wohl vergessen, daß ich in der Dachstube arbeitete‹, sagte sie bitter. ›Oder vielleicht war es ihnen auch gleichgültig. Sie hatten ja recht. Ich bin eine einfältige Person . . .‹ Sie lachte wieder. ›Ich war unfähig, mir eine solche Doppelzüngigkeit vorzustellen.‹

›Doppelzüngigkeit ist ein starkes Wort, Frau Fyne, nicht?‹ rief ich dazwischen. ›Und wenn man bedenkt, daß Kapitän Anthony selbst . . .

›Ach ja, vielleicht‹, unterbrach sie mich. Ihre Augen, deren Blick keine Sekunde lang den meinen losließ, ihre starren Züge, ihre ganze unbewegliche Gestalt – wie gut kannte ich den Gesamteindruck einer Person, die ›zu einem Entschluß gekommen ist‹. Ein ganz hoffnungsloser Zustand das, besonders bei Frauen. Ich mißtraute dem Zugeständnis, das sie mir so leicht und so steinern gemacht hatte. Sie dachte einen Augenblick nach.

›Ja. Ich hätte vielleicht sagen sollen – Undankbarkeit.‹

Nachdem sie so ihren Bruder entlastet und dem armen Mädel noch einen Stich versetzt hatte – ist nicht die Geschicklichkeit der Frauen rein teuflisch, wenn sie sich erst einmal die Mühe dazu nehmen? – nachdem sie also das getan und mich überdies hatte fühlen lassen, daß ich ihr als Gegner nicht gewachsen war, fügte sie gewissenhaft hinzu: ›Man gebraucht nicht einmal dieses Wort gern. Der Anspruch ist recht gering. Es ist ja so wenig, was man für sie tun konnte. Dennoch . . .

›Das möchte ich wohl auch sagen‹, rief ich aus und ließ jeden Gedanken an Diplomatie fallen. ›Wirklich, Frau Fyne, es ist unmöglich, Ihren Bruder einfach aus der Geschichte draußen zu lassen.‹

›Sie hat sich ihm an den Hals geworfen‹, erwiderte Frau Fyne gemessen.

›Dann hätte er ihr den Hals nicht hinhalten sollen‹, gab ich mit ärgerlichem Auflachen zurück. Ich beherrschte mich nicht, weil ihr starrer Blick die Absicht auszudrücken schien, mich zu zähmen. Ich fürchtete sie nicht, stellte mir aber vor, daß ich hart daran war, mit einer Dame, überdies meinem Gast, in regelrechten Streit zu geraten. Da standen noch die kalte Teekanne, die leeren Tassen, Wahrzeichen der Gastfreundschaft. Es durfte nicht sein. Ich stoppte mein ärgerliches Lachen kurz ab, während Frau Fyne mit einer leichten Bewegung der Schultern murmelte: ›Er! Armer Mann! Ach, gehen Sie doch . . .

Durch eine große Willensanstrengung gelang es mir, ein liebenswürdiges Lächeln fertig zu bringen und mit der gehörigen Sanftmut zu sprechen.

›Meine liebe Frau Fyne, Sie vergessen, daß ich ihn nicht kenne – nicht einmal vom Sehen. Es ist schwer, sich ein so völlig wehrloses Opfer vorzustellen. Wenn ich einen Augenblick an Kapitän Anthonys Unschuld (ich hätte fast Dämlichkeit gesagt, konnte mich aber noch rechtzeitig zurückhalten) glauben wollte – meinen Sie dann nicht, ehrlich, daß Sie an dem, was geschehen ist, auch ein wenig Schuld tragen? Sie bringen sie zusammen, Sie überlassen Ihren Bruder sich selbst . . .

Sie setzte sich aufrecht, lehnte ihre Ellenbogen auf den Tisch, stützte ihr Haupt in die offene Hand und schlug die Augen nieder. Zerknirschung? Es war ja unbestreitbar eine recht eigene Art, einen Bruder zu behandeln, der seit fünfzehn Jahren zum erstenmal zu Besuch gekommen war. Ich nehme an, daß sie sehr bald entdeckt hatte, wie wenig sie mit dem Seemann verband, dem Fremden, dem weite Fahrten ihr unverrückbares Gepräge aufgedrückt hatten. In ihrer entschlossenen Art hatte sie sich zu keinem Vorwande herbeigelassen und sich wieder an das Schreiben gemacht, an dem sie so viel Freude fand. Es wäre schon etwas Schönes um die Offenherzigkeit – käme sie nicht gelegentlich der Roheit so nahe. Ich glaube nicht, daß es Zerknirschung war. Das Gefühl ist bei Frauen sehr selten . . .«

»Ist es das?« unterbrach ich entrüstet.

»Du kennst mehr Frauen als ich«, gab Marlow mit eiserner Stirne zurück. »Du machst dir förmlich einen Beruf daraus, sie zu kennen, oder? Du kommst viel unter Leuten herum, bist auch ein verhältnismäßig ehrlicher Beobachter. Nun, versuche dich doch einmal zu erinnern, wie viele Beispiele für Zerknirschung du schon gesehen hast? Ich will dir auf dein bloßes Wort hin glauben. Zerknirschung! Hast du je auch nur einen Schatten davon gesehen? Jemals? Nur den Schatten – den flüchtigen Schatten? Ich sage dir, das Gefühl ist so selten, daß du es geradezu als nicht bestehend annehmen kannst. Die Frauen sind zu leidenschaftlich! Zu kribblig! Zu mutig vielleicht. – Nein, ich glaube keinen Augenblick, daß Frau Fyne die geringste Zerknirschung wegen ihres Benehmens gegen ihren seefahrenden Bruder gefühlt hat. Wie er darüber dachte – wer will das sagen? Vielleicht hat er sich gewundert, warum man ihn so dringlich eingeladen hatte. Vielleicht lag ein wenig Bitterkeit in dieser Verwunderung – oder Verachtung – oder Wehmut. Und vielleicht war er auch nur überrascht und gelangweilt. Hätte er die Offenherzigkeit seiner einzigen Schwester gehabt, so wäre er wohl am Ende des zweiten Tages abgereist. Aber vielleicht fürchtete er, rücksichtslos zu erscheinen. Ich neige zu der Überzeugung, daß die Offenherzigkeit seiner Schwester und seiner Nichten in dem Kapitän Anthony von der Ferndale zum erstenmal in seinem Leben das klare Bewußtsein geweckt hatte, wie einsam er war, und das in einem Alter um die Fünfunddreißig herum, wo ein Mann reif genug ist, um die Tragweite einer solchen Erkenntnis klar zu empfinden. Ärgerlich, oder vielleicht sogar traurig, sicherlich aber enttäuscht, wandert er herum, trifft eines Nachmittags das Mädchen und überwindet unter dem Druck seiner Gefühle seine Schüchternheit. Das ist keine Vermutung. Es ist eine Tatsache. Es hat eine solche Zusammenkunft stattgefunden, wobei seine Schüchternheit vor einer Ermutigung, die wir nicht kennen, verflogen ist, oder vielleicht auch infolge der Gleichheit der Gemütsverfassung, die durch ein Zufallswort offenbar geworden war. Du erinnerst dich, daß Frau Fyne die beiden eines Nachmittags zusammen zu der Villa zurückkommen sah. Glaubst du nicht, daß ich die Sachlage richtig dargestellt habe . . .

»Ohne Zweifel«, gab ich zögernd zu.

»Ich war damals meiner Schlußfolgerungen ziemlich sicher«, fuhr Marlow ungeduldig fort. »Aber bilde dir ja nicht ein, daß Frau Fyne in ihrer neuen Stellung, während sie nachdenklich mit einem Teelöffel spielte, etwa daran dachte, sich zu ergeben. Sie murmelte:

›Das war das allerletzte, was ich erwartet hatte.‹

›Sie hielten die beiden wohl nicht für romantisch genug‹, warf ich trocken hin.

Das schien sie zu überhören und sagte nur mit großem Nachdruck, doch wie im Selbstgespräch:

›Roderick muß unbedingt gewarnt werden.‹

Sie ließ mir keine Zeit zu der Frage, wovor denn eigentlich, sondern hob den Kopf und redete weiter.

›Ich bin überrascht und bekümmert wegen Herrn Fynes Widerstand, mehr als ich Ihnen sagen kann! Wir waren uns bisher immer über alle Fragen restlos einig. Und es ist mir eine sehr schmerzliche Überraschung, daß wir nun in einem Punkte verschiedener Meinung sein sollen, der meinen Bruder so nahe angeht.‹ Unwillkürlich ließ sie den Teelöffel klirrend fallen. ›Es ist unerträglich‹, fügte sie heftig hinzu – soweit dieser Ausdruck auf Frau Fyne anwendbar ist. Ich glaube, sie hatte eben auch ihre Nerven, wie jede andere Frau.

In der Diele, wo Fyne mit dem Hund Zuflucht gesucht hatte, herrschte Schweigen. Das nahm nun ich für den Beweis tiefer Lebensklugheit. Nicht von Seiten des Hundes, meine ich. Der war ja ein ausgemachter Narr. Ich sagte:

›Sie wünschen unbedingt einzugreifen?‹ Frau Fyne nickte eben noch merkbar . . . ›Nun, was mich anbelangt . . . Aber ich weiß ja wirklich nicht, wie die Dinge im Augenblick liegen? Sie hatten einen Brief von Fräulein de Barral. Was stand darin?‹

›Sie bittet, daß man ihre Koffer an ihre Stadtadresse senden möge‹, antwortete Frau Fyne widerstrebend und stoppte. Ich wartete einen Augenblick und brach dann los:

›Na und . . . Was ist dabei? Wo ist da die Schwierigkeit? Widersetzt sich dem Ihr Mann? Sie werden mir doch nicht sagen wollen, daß er wünscht, Sie sollten sich des Mädchens Kleider aneignen?‹

›Herr Marlow!‹

›Nun ja! Aber Sie sprechen von einer peinlichen Meinungsverschiedenheit mit Ihrem Gatten, und dann, wenn ich Sie um Auskunft darüber bitte, kommen Sie mir mit einem Koffer daher! Und vor wenig Augenblicken erst haben Sie mir vorgeworfen, daß ich nicht ernsthaft bin! Ich möchte wohl wissen, wer von uns beiden jetzt der Ernsthafte ist!‹

Sie lächelte schwach und sagte in einem freundlichen Ton, aus dem ich sofort entnahm, daß sie mir des Mädchens Brief nicht zu zeigen gedachte: ›Aus dem Brief ging die Tatsache eines Einverständnisses zwischen Flora de Barral und Kapitän Anthony klar hervor.‹

›Was für ein Einverständnis?‹ drang ich in sie. ›Schließlich ist eine Verlobung auch ein Einverständnis.‹

›Es besteht keine Verlobung – bisher noch nicht‹, sagte sie bestimmt. ›Der Brief, Herr Marlow, ist sehr unklar gehalten und darum . . .

Ich fiel ihr ganz formlos ins Wort.

›Darum hoffen Sie, noch mit einiger Aussicht auf Erfolg eingreifen zu können. Ist es nicht so? Ja? Aber wie hätte es denn Ihnen gefallen, wenn es sich irgend jemand hätte einfallen lassen, zwischen Sie und Herrn Fyne zu treten, damals, als Ihr Einverständnis miteinander auch nur in unklaren Ausdrücken zu beschreiben gewesen wäre?‹

Sie hatte eine echte Gebärde entrüsteten Staunens und rief mir ganz offen ins Gesicht:

›Aber das ist doch durchaus nicht dasselbe! Wie können Sie bloß!‹

Wirklich wahr – wie konnte ich! Die Tochter eines Dichters und die Tochter eines Sträflings sind in den Folgen ihrer Handlungsweise nicht vergleichbar, mögen sie sich auch in augenscheinlich verwandter Lage befinden. Unter diesen Folgen vermochte ich mir unerwünschte Vettern für die lieben, gesunden Mädchen vorzustellen und andere mögliche, zukünftige Verwicklungen dieser Art.

›Nein! Sie können nicht ernsthaft sein‹, machte sich Frau Fynes geheime Erbitterung nochmals Luft. ›Sie haben nicht bedacht . . .

›O ja, Frau Fyne, ich habe bedacht . . . Ich denke noch. Ich versuche sogar, zu denken wie Sie.‹

›Herr Marlow,‹ sagte sie ernsthaft, ›glauben Sie mir, daß ich bei alledem wirklich an meinen Bruder denke.‹ Ich versicherte ihr, daß ich das ohne weiteres glaubte. Denn es steht ja kein Naturgesetz der Fähigkeit im Wege, an mehr als eine Person zu gleicher Zeit zu denken. Dann sagte ich:

›Sie hat ihm alles über sich selbst erzählt, natürlich!‹

›Alles über ihr Leben‹, gab Frau Fyne zu, doch mit einem Ausdruck, als machte sie einen geheimen Vorbehalt. Ich nahm mir aber nicht die Zeit, ihn herauszufinden, und wiederholte: ›Ihr Leben! Das arme Mädel muß es elend hart gehabt haben!‹

›Entsetzlich!‹ räumte Frau Fyne mit einer Bereitwilligkeit ein, die unter diesen Umständen sehr anerkennenswert war, und mit einer Wärme im Ton, die sie mich mit freundlichen Augen ansehen ließ. ›Entsetzlich! Nein! Sie können sich gar nicht vorstellen, unter wie gewöhnliche Leute sie kam . . . Sie müssen wissen, daß ihr Vater keinen Versuch machte, sie zu sehen, während er noch in Freiheit war. Nach seiner Verhaftung wies er seinen Verwandten da an – den ekelhaften Menschen, der das Mädchen von Brighton abgeholt hatte –, er solle das Mädchen keinesfalls der Verhandlung beiwohnen lassen. Im übrigen lehnte er es ab, irgendeine Verbindung mit ihr zu unterhalten.‹

Ich erinnerte mich, was Frau Fyne mir früher erzählt hatte – von dem Bild, wie de Barral an seine Tochter geklammert am offenen Grabe seiner Frau gestanden war, und von dem anderen, wie die beiden später Hand in Hand, das Ziel aller Blicke, am Strande spazierengegangen waren. Bilder, wie von Dickens entworfen, voll innerer Tragik.«

 


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