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Der Konzerttag war angebrochen, ein klarer, schöner Wintertag, der den ferner Wohnenden das Kommen erleichterte. Pastor Winter hatte besonders auf die Umgegend gerechnet und durch Zeitungsannoncen auf das Konzert und den edlen Zweck desselben aufmerksam gemacht.
Die jungen Mädchen waren in begreiflicher Aufregung. Sie befanden sich eine halbe Stunde vor Beginn des Konzertes – um drei Uhr nachmittags – im Kurhause, damit Wally zur rechten Zeit auf ihrem Posten wäre. Fräulein Reuter hatte ihre Einwilligung hierzu nicht gegeben, da sie erklärte, die Verantwortung nicht allein übernehmen zu wollen, so hatte Wally an ihren Vater geschrieben, in der festen Voraussetzung, daß er ihre Bitte nicht abschlagen würde. Sie hatte sich nicht getäuscht, der Graf gab ihr nicht allein seine Einwilligung, sondern er fügte seinem Briefe zwanzig Mark hinzu, damit sie zum Anfange etwas Wechselgeld habe. Wally jubelte und erklärte, daß ihr Papa der einzige, beste Papa der Welt sei.
Diese zwanzig Mark schienen unsern jungen Künstlern ein gutes Omen, und sie gingen dem großen Ereignis mit einer gewissen Zuversicht entgegen.
Fräulein Reuter hatte ihre Zöglinge in ein kleines Zimmer geführt, das an den Saal stieß, in dem ein Podium für die Konzertierenden errichtet stand. Eva war die ruhigste von allen, sie sagte: »Durch müssen wir, da heißt es, alle Kräfte einsetzen, denn durchzufallen wäre eine unauslöschliche Schande.«
Sie sah wunderhübsch aus mit ihren leuchtenden Augen, die so mutig aus dem rosigen Antlitz schauten, als wollte sie es wohl mit der ganzen Welt aufnehmen. Sie trug ein rosa Zephyrkleid und keinen andern Schmuck, als gleichfarbige Schleife und Schärpe; Maria hatte ein gleiches Kleid in Blau an, und es lag in ihrer ganzen Erscheinung etwas so Holdseliges, daß man sie immer wieder ansehen mußte.
Else hatte entschieden etwas Vornehmes; sie trug gleich Wally ein weißes Kaschmirkleid, mit Blau garniert, von dem sich ihr blondes Haar vorteilhaft abhob. Wally hatte Schärpe und Schleifen in Dunkelrot und sah mit ihren blitzenden Augen, dem feinen Gesichtchen und den schnellen Bewegungen wie eine lustige kleine Elfe aus. Suse blieb sich auch hier getreu; da sie vorläufig nichts zu thun hatte, ging sie in ihrem dunkeln Sonntagskleide.
Man muß aber nicht glauben, daß unsre Suse nicht aufgeregt war, im Gegenteil, sie regte sich erstens um die Freundinnen, und zweitens um den Verkauf ihrer Pfannkuchen auf. Aber merkwürdig, die Freundinnen hatten gar nicht wie sonst das rege Interesse für ihre Sorge, ob sie dieselben auch wohl verkaufe. Selbst die weichherzige Marie lieh ihr nur geteilte Aufmerksamkeit, als sie ihr zuraunte: »Wenn ich nur meine Kosten herausschlage, aber du sollst sehen, Mieze, ich bleib' mit meinen Kuchen sitzen. Mutter ist mir ja so viel wie möglich zu Hilfe gekommen, sie hat mir einen Topf Schmalz zum Backen und eingemachte Früchte zum Füllen gegeben; immerhin habe ich noch fünf Mark für Auslagen, und es war mein letztes Geld. Und sieh, Maria, billiger konnte ich den Preis auch nicht festsetzen, als zehn Pfennig das Stück.«
Maria nickte zerstreut und sagte zu Suses Entrüstung: »Glaubst du denn, daß sie schmecken?«
Arme Suse, auch noch daran zu zweifeln! Sie wollte ernstlich böse werden, nach einem Blick aber in die Augen der Freundin lachte sie gutmütig und sagte: »Ich sehe schon, euch darf ich nicht mit meiner Pfannkuchennot kommen, ihr schwebt sämtlich in höheren Regionen,« und seufzend wandte sie sich den kleinen Geschwistern zu, die ihrer Sorge mehr Verständnis und Teilnahme entgegenbrachten.
Die kleinen Mädchen sahen in ihren hellen Sonntagskleidern so niedlich und Rudi so unternehmungslustig aus, daß Suse für ihren Verkauf eigentlich frischen Mut hätte fassen müssen; sie ward aber immer verzagter, je näher die Entscheidung rückte; sie konnte keinen andern Gedanken fassen, als den: »Ich bleibe gewiß mit meinen Kuchen sitzen!«
Die Kleinen trösteten sie tapfer, selbst die schüchterne Martha versprach, wenn irgend möglich, mehr als sechs zu verkaufen, und Rudi beschloß in brüderlicher Großmut, dafür zu sorgen, daß kein übrig gebliebener Pfannkuchen der Schwester vor Augen kommen solle, sie zu betrüben.
Jetzt erschien Pastor Winter mit seiner Gattin und Alfred, der durch seine heitere Ruhe die unruhigen Wogen der Aufregung besänftigte, und nun war der Augenblick gekommen, daß Wally ihren Posten antreten mußte. Fräulein Reuter ermahnte sie noch einmal, sich recht ruhig zu verhalten, und Pastor Winter führte sie an die Kasse.
Fräulein Reuter hatte sich jedoch nicht entschließen können, sie dort ganz unbeschützt zu lassen, so war der alte Pohl beauftragt worden, sich in der Nähe des jungen Mädchens aufzuhalten, und nun stand er hinter ihrem Stuhl, steif wie ein Grenadier – was ihm sein Hochzeitsfrack, der ihm unheimlich eng geworden war, allerdings bedeutend erleichterte.
Wally war voller Ungeduld, und nachdem Pastor Winter sich entfernte, bestürmte sie den Alten mit Fragen; als sie aber ein paarmal seine gewöhnliche, orakelhaft dunkle Redensart: »Kann sein, Komteßchen, kann aber auch nicht sein,« vernommen hatte, schwieg sie still, zumal es jetzt die Treppe heraufgestampft, gesprungen und getrippelt kam. »Pohl, Pohl, sie kommen!« rief sie in Angst und Wonne, »jetzt geht es los,« und Pohl setzte sein grimmigstes Gesicht auf, als gälte es, sein Komteßchen vor einem Haufen Wilder zu beschützen.
Mit strahlendem Lächeln verkaufte Wally ein Billet nach dem andern, und manches Geldstück fiel auf ihren Teller, von dem keine kleine Münze zurückgenommen wurde. Bis dahin hatte sich das Komteßchen tadellos benommen, bei einer besonders großen Spende jedoch vergaß sie alle guten Lehren und Ermahnungen der Tante und Pastor Winters, sie klatschte in die Hände und rief in kindlichem Entzücken: »O, wie bin ich schon reich, wie dank ich Ihnen allen, daß Sie so viel für unsre armen Weber thun.«
Da wurde manches Auge feucht, und manche Hand, die schon ihr Billet hielt, schob noch ein Geldstück auf den Teller.
»Welch ein herziges Geschöpf, wer mag es sein?« hörte Wally eine Dame die andre fragen. Sie kicherte übermütig in sich hinein; welchen Spaß würde es geben, wenn sie nachher als »Künstlerin« auftrat, und sie flüsterte ihrem grimmen Wächter zu, daß sie sich in ihrem Leben noch nicht »himmlischer« amüsiert habe.
Der Alte schüttelte in stummem Staunen den Kopf und hielt es bei der zunehmenden Heiterkeit des Komteßchens für ganz angebracht, seinen Platz hinter ihrem Stuhl zu verlassen und sich an ihrer Seite aufzupflanzen. Wally, die hierin in ihrer Unschuld nur ein Zeichen seiner gesteigerten Teilnahme sah, schwatzte lustig auf ihn ein, wenn sie nicht Billete zu verkaufen hatte.
Nun nahm das Konzert seinen Anfang, und nachdem noch einige Nachzügler gekommen waren, konnte das junge Mädchen ihr Geschäft für beendet ansehen; nach einem Blick auf ihre gefüllte Kasse sprang sie auf. Sie mußte ihrer Wonne Ausdruck geben, sie konnte nicht anders, und da sie keinen würdigeren Gegenstand in der Nähe sah, umfaßte sie den ahnungslosen Alten und drehte ihn mit sich im Kreise.
»Um Gotteswillen, Komteßchen, mein Frack!« rief er entsetzt.
»Was ist mit ihm, Pohl, kann er das Tanzen nicht vertragen?«
Der Alte legte den Finger an die Nase, wie er in bedenklichen Fällen zu thun pflegte, und sagte: »Kann sein, daß er platzt, wenn ich mich so schnell bewege, kann aber auch nicht sein.«
Wally mußte sich vor Lachen setzen, und Pohl stand ernsthaft daneben und sah sein Komteßchen verwundert an; war es denn möglich, daß sein alter Frack dem Kinde solchen Spaß machte?
Wally stand auf, trocknete die Thränen, die die Heiterkeit ihr ausgepreßt hatte, klopfte ihm auf den Arm und sagte: »Wir wollen ihm das letztere wünschen, Pohl, aber nun setzen Sie sich an meinen Platz und verlassen die Kasse nicht einen Augenblick, bis Herr Pastor Winter sie Ihnen abnimmt. Hören Sie, Pohl, bewachen Sie sie mit Argusaugen!«
»Nee, Komteßchen, meine eigenen sind mir lieber,« entgegnete der Alte bedächtig, »hab' mich mein Lebtag nicht auf andrer Leute ihre verlassen.«
Wally nickte ihm zu und flog davon, denn sie war schon wieder in Gefahr, an einem Lachkrampf zu ersticken.
Nun wird es wohl Zeit, daß wir uns einmal nach dem Verlauf des Konzertes umsehen, und da wollen wir zunächst mit dem erwartungsvollen Publikum das Programm lesen.
I. Teil.
II. Teil.
Die erste Nummer des Programms war verhallt, Eva und Else erhoben sich erleichtert und verbeugten sich dankend, als ihnen freundlicher Beifall geklatscht wurde. Beide hatten sich rechtschaffen geängstigt, namentlich Else, die es sich nicht merken lassen wollte, besonders Eva gegenüber. Sie waren nun aber doch beide herzlich froh, als sie in das kleine Zimmer zurückeilen konnten, wo sie freudig empfangen wurden. Die Pastorin, Fräulein Reuter und Suse waren ebenfalls dort geblieben, und die beiden ersteren atmeten erleichtert auf, daß eine Nummer wenigstens schon verstrichen war, denn sie befanden sich in gleicher Aufregung wie ihre Schutzbefohlenen.
Inzwischen war Wally erschienen und erzählte triumphierend von dem reichen Erlös, den sie gehabt.
Nun kam die Reihe an Alfred, und sein Vater erschien, ihn in den Saal und auf seinen Platz zu führen. Es war ein ergreifender Anblick, wie der schlanke, kräftige Mann den schmächtigen, zarten Jüngling führte, und in manches Auge trat eine Thräne. Wie ermunternd klopfte der Pastor seinem Sohne auf die Schulter, ehe er ging, doch Alfred bedurfte dessen nicht; er dankte dem Vater mit sanftem Lächeln, dann setzte er seinen Bogen an, so sicher, so ruhig, wie immer, denn ihn störte nichts, er lebte jetzt nur den Tönen.
Die ideal schöne Erscheinung des blinden Jünglings that wohl im Anfang viel, daß ihm alle Herzen zuflogen, aber als er seinen Bogen senkte, jubelten sie nicht allein ihm zu, sondern der göttlichen Kunst, die er zum Ausdruck gebracht. Ein verklärter Schimmer lag auf dem Antlitz, als er sich dankend verneigte, und tief bewegt, mit hoher Freude im Herzen, verließ er am Arme des Vaters den Saal.
»Du hast deine Sache gut gemacht, mein alter Junge!« sagte der Pastor gerührt, als sie das Nebenzimmer erreicht hatten, und zog den Sohn in seine Arme.
Alle umringten ihn, ihm Glück zu wünschen; die Pastorin drückte ihn unter heißen Thränen ans Herz. »Wenn es dich nur nicht zu sehr aufregt, mein gutes Kind!« und sie legte die Hand besorgt an seine Stirn.
»Sei ruhig, mein liebes Mütterchen, ich habe mich in meinem Leben nicht glücklicher und dankbarer gefühlt, als in diesem Augenblick.«
»Nun legst du dich aber still eine Weile nieder und sprichst kein Wort!« gebot die besorgte Mutter, und führte ihn energisch nach dem kleinen Sofa in der Ecke des Zimmers.
Er ließ es lächelnd geschehen, daß sie ihn sorgsam zurecht bettete, und drückte dankbar ihre Hand an seine Lippen.
»Ach, Eva, jetzt komme ich!« flüsterte Maria und schmiegte sich ängstlich an die Schwester, »ich ängstige mich tot, paß auf, ich werfe um!«
Mit einiger Besorgnis sah Eva in das blasse Gesichtchen mit den angstvollen Augen. »Unsinn, Baby!« sagte sie energisch und faßte die kleine, zitternde Hand mit festem Druck. »Du wirst nicht umwerfen, hörst du? Bist die fertigste von uns und hast so thörichte Gedanken? Komm, ich führe dich und wende dir die Blätter um.« Fräulein Reuter trat herzu, und nach einigen beruhigenden Worten der Tante führte Eva die Schwester in den Saal.
Zitternd, mit gesenkten Augen folgte ihr Maria und setzte sich, nachdem sie ihre Verbeugung gemacht, an das Klavier.
»Vorwärts, Baby, gieb recht viel Feuer und Ausdruck!« flüsterte Eva.
Ein leises, beifälliges Murmeln hatte das liebliche Mädchen begrüßt, doch keiner hatte wohl erwartet, daß die bebenden kleinen Hände das schwierige Tonstück so kräftig und gewandt zu Ende führen würden. Ein lauter Applaus lohnte ihr, und lächelnd und errötend dankte sie.
»O, Eva, wie ist es nur möglich, daß ich vor so vielen Menschen habe spielen können!« flüsterte sie der Schwester zu.
»Und wie hast du gespielt, Baby, ich bin stolz auf dich,« entgegnete Eva mit leuchtenden Augen. »Aber jetzt komm' ich, nun hilf mir, Mieze, daß auch ich gut bestehe!«
Schnell waren während dieses Gespräches die Noten zurecht gelegt, Eva trat vor und nach einer graziösen Verbeugung begann sie mit Marias vortrefflicher Begleitung das hübsche Lied: »Sah ein Knab' ein Röslein stehn.« Sie sang mit frischer klangvoller Stimme, und es ward ihr reicher Beifall gespendet. Mit frischem Mut sang sie auch das zweite, und als die Schwestern in das kleine Zimmer zurückgekehrt waren, wurden sie mit Lob überschüttet.
Nun kam Else. Auf ihren Wunsch begleitete Maria sie zum Umwenden. Sie hatte großen Fleiß auf das Musikstück verwendet und führte es gut durch, war aber doch froh, als sie den Saal verlassen konnte, nachdem auch ihr das Publikum reiche Anerkennung gezollt hatte.
»So weit sind wir nun glücklich,« rief Maria, »ich wollte, wir wären erst ganz fertig!«
»Das wollte ich gar nicht,« rief Wally, »ich amüsiere mich köstlich.«
»Aengstigst du dich denn nicht, Wally?«
»Ih bewahre, ich kann es gar nicht abwarten, bis auch ich die Lorbeeren geerntet habe.«
Jetzt erschien die Kellnerin und brachte Erfrischungen für die Damen, die der Pastor bestellt hatte. Dieser selbst kam nach einigen Augenblicken, und da er im Saale gewesen, wurde er von den jungen Mädchen bestürmt, ihnen zu sagen, wie ihre Leistungen von dem Publikum aufgenommen würden. Er sah mit lächelndem Wohlgefallen in die erwartungsvollen rosigen Mädchengesichter. »Das hat euch ja der reiche Applaus verraten, Kinder!«
»Ja, aber Sie haben doch sicher Bemerkungen gehört, Herr Pastor, bitte, sagen Sie es uns!« bat Eva.
Er lachte belustigt. »Sieh, mein Töchterchen, du führst deinen Namen ja mit gutem Recht; ich habe freilich Bemerkungen gehört, thue aber sicher besser, sie euch nicht zu verraten, ihr möchtet mir zu eitel werden. Nun, mein Sohn, wie geht es dir?«
Er wandte sich zu Alfred, der lächelnd zuhörte. »Gut, lieber Vater, ich danke dir.«
»Herr Pastor, haben Sie die Kasse schon übernommen?«
»Ja, Wally, aber noch nicht gezählt; das Vergnügen wollen wir nachher zusammen genießen.«
Mit Ungestüm ward die Thür aufgerissen und Rudi stürmte mit hochroten Wangen herein. »Suse – wo ist Suse? Hast du keinen Pfannkuchen mehr, Suse?«
»Aber, Rudi, ich sagte dir doch, du solltest dir von Frau Berger deinen Korb füllen lassen, wenn er leer sei.«
»Meinst, ich hätt' das vergessen? Frau Berger hat aber keine mehr.«
»Wie – das ist nicht möglich, Rudi, ihr könnt nicht schon alle Pfannkuchen verkauft haben.« »Doch, ich habe meinen Korb viermal voll gehabt und Grete ihren dreimal, und meine sind weg und Grete hatte nur noch ein paar.« »Du bist ein Prachtjunge,« rief Suse entzückt aus und umarmte den Kleinen, »wie hast du das aber angefangen, Rudi?«
»O, das war sehr einfach; als die Pause anfing, stieg ich auf einen Stuhl dicht bei der Treppe, wo sie alle vorbei mußten, und rief ganz laut: ›Ach, bitte, will nicht jeder einen Berliner Pfannkuchen für die armen Weber essen? Sie sind ganz frisch und das Stück kostet nur zehn Pfennig.‹ Da hättest du mal sehen sollen, Suse, wie sich alle freuten und wie sie zulangten, jeder wollte einen haben, und Frau Berger brachte mir selbst welche, wenn meine verkauft waren.«
Suse strahlte. »O, Mutter, denke nur, alle meine Pfannkuchen verkauft!«
»Wo ist denn Martha, Rudi?« fragte der Pastor.
»Ja, ist sie nicht hier, Vater? Ich habe sie lange nicht gesehen.«
Der Pastor eilte nach der Thür, und Rudi schoß mit den Worten hinterdrein: »Sie hat gewiß noch welche.«
Der Pastor hielt im ganzen Hause Umschau nach seinem Töchterchen, fragte auch diesen und jenen, doch niemand hatte das Kind gesehen.
»Du, Vater, kannst du dir denken, daß sie mit ihren Pfannkuchen nach Hause gelaufen ist?« fragte Rudi.
Ja, das konnte sich der Vater sehr gut denken, doch da erinnerte sich die Wirtin noch rechtzeitig, daß sie die Kleine zuletzt bei der Damengarderobe gesehen habe. Der Pastor folgte diesem Fingerzeig, und Rudi eilte mit langen Schritten hinterdrein.
Richtig, in der Ecke, die der große Kachelofen bildete, von Mänteln und Tüchern gänzlich verborgen, saß das kleine Mädchen zusammengekauert und weinte zum Herzbrechen, und neben ihr stand in beschaulicher Ruhe ihr Korb, noch bis zum Rande gefüllt.
»Nun, sieh, Vater, nicht einen einzigen hat sie verkauft, es ist eine Schande,« rief Rudi in edler Entrüstung, ergriff den Korb und stürmte mit ihm davon, ohne auf das weinende Schwesterchen zu achten.
Der Pastor zog die Kleine mit sanfter Gewalt empor. »Nun, sage mir, Martha, was dies alles zu bedeuten hat?«
»Es war – zu – zu schrecklich,« brachte die Kleine unter Schluchzen kaum verständlich hervor.
»Du hattest Mutter und mir aber doch so fest versprochen, mutig und brav zu sein, und es ging doch auch ganz gut, als ich dich verließ?«
»Ja, Vater, aber nachher kam eine Dame, die sagte – es wäre reine Bettelei.«
Der Pastor hatte sich gesetzt und zog die Kleine auf seine Kniee. »Mein liebes Kind,« sagte er gütig, »wenn wir etwas für unsre armen Mitmenschen thun wollen, so müssen wir manch häßliches Wort geduldig hinnehmen. Unsern Stolz, unsre Empfindlichkeit, unsre Schüchternheit, oder wie die Eigenschaften sonst heißen mögen, müssen wir getrost beiseite setzen und nur an unser Vorhaben denken, wenn es uns gelingen soll. Sieh, Martha, ich hatte vor Jahren einen armen, lungenkranken Kandidaten in der Gemeinde, der seine Gesundheit nur wieder erlangen konnte, wenn er ins Hochgebirge geschickt wurde. Da seine Eltern mittellos waren, nahm ich mich der Sache an und wandte mich an diesen und jenen, um die nötige Summe zusammen zu bringen. Manche Gabe wurde mir mit freundlichen Worten zu teil, aber auch manche mit großer Unliebenswürdigkeit; andre wiesen mich ganz ab, und ein reicher Mann erklärte mir, ich möge nur weiter gehen, er habe sein Geld nicht für fremde Menschen erspart; wozu solch armer Mensch überhaupt studiere, der hätte ein Handwerk lernen können. Das hieß auf gut deutsch: hinausgeworfen werden.«
»Und da, Vater, was thatest du?« fragte die Kleine atemlos.
»Ich ging in das nächste Haus, in dem kein reicher Mann wohnte, doch er gab mir aus warmem Herzen.«
Martha senkte das Köpfchen. »Und dein kranker Kandidat, Vater?«
»Er kehrte nach Jahresfrist gesund heim; Martha, meinst du nicht, daß ich reich entschädigt war für alle seinetwegen erlittene Unbill?«
Martha nickte und seufzte tief. »Ich wollte, ich wäre auch so tapfer wie du, Vater!«
»Ja, ein wenig mehr Tapferkeit könnte dir allerdings nicht schaden, Töchterchen. Es thut mir besonders deinetwegen leid, daß du dich um die Freude gebracht hast, etwas für die armen Weber zu thun.«
»Da, Vater,« sie öffnete die Hand, und es kam ein Zehnpfennigstück zum Vorschein. »Mehr hab' ich nicht eingenommen, es wird dem lieben Gott wohl nicht genug sein.«
Der Pastor unterdrückte ein Lächeln, als er das, von der heißen Hand ganz feucht gewordene Geldstück in Empfang nahm. »Laß gut sein, Martha,« entgegnete er gütig, »ich glaube, in der göttlichen Wagschale wiegt dein Zehnpfennigstück ebenso schwer, wie Rudis Markstücke; aber nicht wahr, du versprichst mir, dich in Zukunft mehr zusammen zu nehmen und dein kleines Hasenherz zu bekämpfen?«
»Ja, Vater, ich will immer daran denken, daß du doch weitergegangen bist, als sie dich hinausgeworfen haben.«
»Gut, Kind, die Erinnerung kann dir jedenfalls nicht schaden. Nun komm aber, Mutter beunruhigt sich sonst um uns beide.«
Das Konzert hatte inzwischen längst seinen Fortgang genommen. Eva und Else hatten ihre Ouvertüre sehr hübsch gespielt, dann war die Reihe an Edmund gekommen. Er, der zuerst so mutig gewesen, wurde immer aufgeregter und mit brennenden Wangen betrat er das Podium, machte eine hastige Verbeugung und blies sein Stück mit einer Schnelligkeit, die seiner Lunge alle Ehre machte.
»Ein tüchtiger Junge!« sagte ein behäbiger Landmann, und gab das Zeichen zum Applaudieren.
Nach einer zweiten linkischen Verbeugung stürzte der Knabe hinaus und rief aus vollem Herzen: »Es war gräßlich, ich blase in meinem Leben nicht wieder vor so vielen fremden Menschen.«
»Aus welchem Geschwindmarsch war dein Tonstück eigentlich, Edmund?« fragte Wally neckend.
Jetzt erschien der Pastor mit Martha und lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit von dem verlegenen Jungen ab. Edmund hatte in diesem Augenblick sehr viel Verständnis für sein Schwesterchen und er raunte ihr zu: »Du, Marthchen, ich werd' dich in Zukunft immer beschützen, du brauchst dich nie wieder zu fürchten.«
Nachdem Eva ihr Lied zur allgemeinen Zufriedenheit gesungen hatte, war endlich der große Augenblick für Wally erschienen. Das Herz klopfte der kecken Kleinen aber doch, als sie mit Maria auf das Podium trat und die vielen Augen auf sich gerichtet sah. Else hatte sie gebeten, umwenden zu dürfen, Wally hatte ihr jedoch zu ihrem Verdruß erklärt, sie fühle sich in diesem hochwichtigen Augenblicke am sichersten unter Marias Schutz.
Ein leises Raunen und Zischeln ging bei ihrem Erscheinen durch das Publikum. »Das ist ja die Kleine, welche die Billete verkauft hat!«
»Das ist ja die kleine Komteß Thalenhorst, welch ein reizendes Geschöpf –« so schwirrte es leise durcheinander, bis der dicke Landmann, der auch Edmunds Ruhm gerettet hatte, halblaut ausrief: »Ein Wettermädel, das Komteßchen!« wobei er kräftig in die Hände klatschte. Das zündete, und von allen Seiten unterstützte man den biedern Landmann, der seiner Freude so offen Ausdruck lieh.
Darauf war nun unser Komteßchen allerdings nicht vorbereitet; einen Augenblick war sie vollständig verblüfft, dann aber flog ein sonnenhelles Lachen über ihr Schelmengesicht, und da sie glaubte, dem liebenswürdigen Publikum besonderen Dank schuldig zu sein, machte sie eine zierliche Verbeugung nach der andern, was den Enthusiasmus nur noch steigerte.
Maria brach jetzt der Angstschweiß aus. »Um Himmels willen, Wally, komm ans Klavier,« flehte sie, und endlich brachte sie das Komteßchen dahin, sich auf den hohen Stuhl zu schwingen.
»Es ist wundervoll, Mieze, gerade wie bei einer großen Künstlerin,« flüsterte sie freudeglühend.
»Nun nimm dich zusammen, Wally, ich bitte dich, denke nur an dein Stück.«
»Ach, süße Mieze, es kommt wirklich auf eine Handvoll Noten nicht an,« versicherte die Kleine und spielte nun in so genialer Auffassung, daß der gewissenhaften Maria der Atem fast vor Angst verging. »Wie wird sie durchkommen,« war der einzige klare Gedanke, den sie fassen konnte, aber Wally kam durch, und es schien wirklich, daß es auf eine Handvoll Noten nicht ankam, denn ein Applaus, wie er noch keinem zu teil geworden, brauste durch den Saal.
»Unglückskind, ich lasse dich nie wieder öffentlich spielen,« stöhnte Fräulein Reuter, als Wally freudestrahlend zurückkehrte; doch das Komteßchen schlang die Arme um sie und rief: »Engelstantchen, sie sind wild vor Entzücken, und das ist die Hauptsache.«
Nun spielten Alfred und Maria. Das Publikum war aber warm geworden und applaudierte so lebhaft, daß Alfred sich entschloß, noch eine Nummer einzuschieben. Er verständigte sich mit Maria, diese ging und er spielte ein Potpourri über russische Volksmelodien, das mit großem Beifall aufgenommen wurde.
So verlief das Konzert zur allgemeinen Zufriedenheit, und das auswärtige Publikum, besonders einige Bekannte Pastor Winters, hätten gerne die Bekanntschaft der jungen Künstlerinnen gemacht, doch der Pastor, der dies vorausgesehen und durchaus nicht wünschte, hatte die Damen gebeten, mit den jungen Mädchen nach der Pfarre zu gehen, und wollte mit Alfred folgen. So schnell konnte er sich aber nicht losreißen, und Edmund begleitete den Bruder heim.
Die größte Aufregung hatte sich bereits gelegt, als er nach Hause kam, und nun ging es an das Zählen der Kasse.
Es ergab sich, daß nach Abrechnung der geringen Kosten hundertfünfundsechzig Mark durch das Konzert eingegangen waren, außerdem fünfzehn Mark durch Suses Pfannkuchen, nachdem sie ihre fünf Mark für Auslagen zurückerhalten; nun kamen noch die zwanzig Mark dazu, die Wallys Vater geschickt, so war es gerade die runde Summe von zweihundert Mark.
Es herrschte eine Freude sondergleichen unter den jungen Mädchen, die von den Erwachsenen redlich geteilt wurde. Am seligsten war Alfred; in seinem Herzen lebte ein stilles, tiefes Glück.