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Fünftes Kapitel.

Welch melancholisches Wetter! Es schien wirklich ein ausgiebiger Landregen in Aussicht zu stehen, wie Else meinte, als sie am nächsten Morgen aus dem Fenster blickte. Was fing man jetzt nur an?

»Wir können doch nicht verlangen, daß die Sonne sechs Wochen lang jeden Tag scheinen soll,« sagte die Mutter; »wie wäre es, mein Töchterchen, wenn du diesen Tag benütztest, um einige Schularbeiten zu machen?«

Da das Töchterchen merkwürdig guter Laune war, trug es auch wirklich die Bücher herbei und arbeitete fleißig. So verflogen schnell einige Stunden, und Else war noch ganz in ihre Arbeit vertieft, als es klopfte und die Freundinnen aus dem Nachbarhause eintraten. »Guten Morgen, Frau Geheimrat, wie geht es Ihnen heute? Besser? O wie schön, Tantchen ist auch wieder ganz munter.«

»Darf Else mit uns gehen, Frau Geheimrat? Wir wollen nach der Pfarre und Suse bitten, heute nachmittag ein bißchen zu uns zu kommen.«

»Dazu gebe ich gern meine Einwilligung, und Else ist gewiß nicht böse über die Abwechselung.«

»Hu, aus lauter Langeweile plagt sie sich mit einer abscheulichen schweren französischen Uebersetzung,« rief Wally.

»Einmal muß sie doch gemacht werden,« rief Else lachend, die eigentlich nicht mit nach der Pfarre gehen wollte; doch war es immerhin besser, als diese langweilige Uebersetzung, so packte sie schnell die Bücher beiseite und ging, sich anzukleiden.

Während Eva und Maria mit der Geheimrätin plauderten, schlüpfte Wally in die Küche. »Guten Morgen, Dore,« rief sie fröhlich.

»Guten Morgen,« entgegnete die Alte kurz und sah die zierliche kleine Gestalt argwöhnisch an.

»Komteßchen,« vollendete Wally und knickste.

Dore setzte den Kessel, den sie in der Hand hielt, energisch nieder; sie hatte heut ihren »brummigen«, da war nicht gut Kirschen essen mit ihr. »So,« sagte sie und stemmte die Arme in die Seite, »wie viel Komteßchen giebt es denn eigentlich?«

»Eine Unzahl, Dore,« versicherte Wally mit dem größten Ernst.

»Das scheint mir auch so,« entgegnete die Alte erbost, »gestern hat mir das richtige Komteßchen einen Besuch gemacht, das sah aber ganz anders aus wie Sie.«

Wally schlug im höchsten Staunen die Hände zusammen. »Aber Dore, das ist gar nicht möglich, ich bin mit keinem Fuß in Ihrer Stube gewesen.«

»Das weiß ich nicht, ob Sie dabei waren, die Fräuleins aus dem Nachbarhause waren es, und unser Kind führte das Komteßchen am Arm, damit ich es kennen lernen sollte.«

»Wie sah es denn aus, Dore?« forschte Wally.

»Na, wie wird's denn ausgesehen haben, frisch und gesund war's. Nun lassen Sie mich aber mit Ihren Narrenspossen in Ruh, Fräulein, ich habe keine Zeit.«

Wally überhörte jedoch diese letzte Bemerkung, sie trat dicht an die Alte heran und sagte nachdrücklich: »Dore, das war gestern gar kein Komteßchen.«

»So, was war es denn?«

»Sehen Sie mich doch mal ordentlich an, Dore. Sah ich denn gestern so aus?«

Die Alte betrachtete das kleine Geschöpf mit dem feinen Gesicht, aus dem die dunklen Augen in Schelmerei blitzten, mit kritischen Blicken. »Das grad nicht,« bekannte sie dann, »daher haben Sie aber auch nichts mit dem Komteßchen zu schaffen.«

»O sehr viel,« beharrte Wally, »denn ich bin es selbst; Dora,« flüsterte sie ihr ins Ohr, »das gestern war ja der dicke Kon.«

»Was?« schrie Dore erbost, »ein Junge war's? Da soll aber das Kreuz – –«

»Dore, Fluchen ist eine furchtbare Sünde,« sagte Wally ernsthaft und faßte die Hand der Alten. »Aber nicht wahr, Dore, es war gestern ein himmlischer Spaß?« Sie lachte hell und fröhlich, Dore aber war durchaus nicht spaßig zu Sinn, sie sagte erzürnt: »So – also nur zum besten haben Sie die alte Dore gehabt, und nun soll ich mich am End gar noch dafür bedanken? Hätt' nicht gedacht, daß ein Komteßchen sich solche Späße ausdenken könnt'. Es giebt aber am End gar kein Komteßchen – sind alles nur Flausen gewesen.«

»Bewahre, Dore, ich bin es ganz gewiß.«

»Das kann jeder sagen,« beharrte die erzürnte Alte, »ich für mein Teil glaube an kein Komteßchen mehr,« damit ging sie in ihre Stube und schlug die Thür hinter sich zu, ein deutliches Zeichen für Wally, daß sie verabschiedet war.

Lachend lief sie in das Zimmer. »Kinder, Dore ist ernstlich erzürnt über unsern gestrigen Streich, zu unsrer Strafe glaubt sie überhaupt nicht mehr an meine Existenz.«

»Wie schade,« rief Eva, »ihre ewigen Verwechselungen waren so drollig.«

»Ich will sie schon wieder versöhnen,« versprach Else.

Die jungen Mädchen verabschiedeten sich nun und machten sich unter fröhlichem Plaudern auf den Weg; der Regen hatte inzwischen nachgelassen und die Sonne schien hell und warm. Das Pfarrhaus lag etwas erhöht und bot einen hübschen Blick auf das Städtchen. Der Garten, in dem es lag, zog sich hinter dem Hause noch eine Strecke den Berg hinan. Es war eine kostspielige und mühselige Anlage gewesen, bot aber jetzt nicht allein einen reichen Blumenflor dar, sondern lieferte auch das nötige Gemüse für den großen Hausstand. Der Garten war das Steckenpferd der Pfarrbewohner, der Pastor verbrachte seine Mußestunden in demselben und pflegte seine Lieblinge, die hochstämmigen Rosen, die in köstlicher Farbenpracht auf dem kleinen Rasen vor dem Hause blühten, mit eigener Hand, während das eigentliche Feld der Thätigkeit für die Pastorin und Suse mehr hinter dem Hause begann, wo die Erzeugnisse für die Küche wuchsen.

Zwei kleine Mädchen, die vor der Hausthür gespielt hatten, kamen eilfertig herbeigelaufen, als sie der jungen Mädchen ansichtig wurden. »Ihr seid aber lange nicht hier gewesen,« rief die kleinere und hing sich an Marias Arm, während die ältere scheu zurücklief, als sie Else sah.

»Martha, so komm doch, du wirst doch nicht vor einer Fremden fortlaufen? Ein so großes Mädchen darf nicht mehr so schüchtern sein.«

Eva war ihr nachgeeilt und kehrte mit der scheuen Kleinen zurück.

»Mit Gretchen hast du ja schon, wie ich sehe, Bekanntschaft gemacht, Else, hier ist auch Martha. Wo habt ihr eure Schwester, Kinder?«

»In der Küche, soll ich sie holen?«

»Danke, wir wollen sie selbst überraschen.«

Leise schlüpften die jungen Mädchen durch den Hausflur und drangen in das Küchenheiligtum, wo die Pastorin am Herd stand und kochte, während Suse mit dem Mädchen an dem andern Ende der geräumigen Küche mit Plätten beschäftigt war. Das junge Mädchen stieß einen Ruf des Staunens aus, als sie die Freundinnen sah, stellte schnell ihr Plätteisen hin und trat zu ihnen.

Die Pastorin hatte sich bei ihrem Ruf umgewandt, begrüßte die jungen Mädchen auf das freundlichste und forderte sie auf, in das Zimmer zu gehen.

»Wir stören Suse gewiß?« meinte Maria.

»Durchaus nicht, liebes Kind, sie ist fast fertig, den Rest kann Minna plätten, geh nur, Suschen.«

»Liebe Frau Pastorin, wir wollten Ihnen Else Kirchner vorstellen, unsre neue Freundin, und zu gleicher Zeit Suse für heute nachmittag freibitten.«

»O, ich bin ja erst vorgestern von meiner Reise zurückgekehrt,« wehrte, diese ab, »ihr glaubt nicht, was alles zu thun ist.«

»Nun, einen Nachmittag werde ich auch ohne dich fertig, du bist ja auch schon heute morgen so fleißig gewesen, da gönne ich dir gerne das Vergnügen, mit deinen Freundinnen zusammen zu sein, ihr habt euch gewiß unendlich viel zu erzählen,« sagte die Pastorin, nachdem sie Else herzlich begrüßt hatte.

»Du gutes Mütterchen,« rief Suse und umschlang die Mutter zärtlich.

Diese drückte einen Kuß auf die blühende Wange, nickte den jungen Gästen freundlich zu und ging wieder an ihre Beschäftigung. Jetzt erst sah man, daß ein Ausdruck stillen Kummers um den feinen Mund und in den Augen lag, freilich gehörte dazu ein schärferer Beobachter, als es die jungen, fröhlichen Mädchen waren.

Suse führte die Freundinnen in den Garten, den Berg hinauf in eine dichte Laube, in der eine angenehme Kühle herrschte und von der man einen schönen Blick auf die gegenüberliegenden Berge hatte.

Else sah sich neugierig um. Eigentlich war es hier recht hübsch und poetisch, wie war es nur möglich, daß Suse in dieser Umgebung so ungeheuer praktisch geworden war? Wie lieblich lag doch das Pfarrhaus im hellen Sonnenschein mit seinen blinkenden Fensterscheiben, um die sich weiße und rote Kletterrosen rankten, die in seltener Fülle neben einander blühten, wie Leid und Freude nebeneinander wandeln.

Senkte sich der Blick tiefer, so traf er die rot leuchtenden Dächer kleiner Häuschen, die wie Schwalbennester an den Bergen hingen und den eigenartigen Reiz dieses anmutigen Thales wunderbar belebten. Ringsumher erhoben die Berge ihre Häupter, teils nur mit hellschimmerndem Gras bewachsen, teils mit mächtigen dunklen Tannen, die sich wirkungsvoll gegen den lichten Himmel abhoben.

»Nicht wahr, es ist schön hier oben?« fragte Maria, die Elses bewundernden Blick gesehen hatte.

»Ja,« sagte diese, wärmeren Tones als sonst ihre Art war, »ja, ich habe gar nicht gewußt, wie schön es hier eigentlich ist.«

»O, nicht wahr,« rief Suse mit leuchtenden Augen, »ich liebe meine schöne Heimat auch über alles. Nun erzählt mir aber, ob eure Einkäufe gut ausgefallen und schon nach Grünberg geschickt sind?«

»Ach, Suse, das Einkaufen war ein Hauptspaß,« rief Wally.

»Es ist alles vortrefflich ausgefallen,« fügte Eva hinzu, »und heute nachmittag soll Pohl – du weißt, der alte Mann, der unsern Garten in Ordnung hält – den Korb nach Grünberg hinübertragen.«

»Wer kommt da?« fragte Else, auf vier Gestalten deutend, die auf die Laube zu den Garten herabkamen.

»Meine Brüder,« sagte Suse, konnte aber einen leisen Seufzer nicht unterdrücken.

Die beiden jüngsten Knaben, neun und zwölf Jahre alt, kamen lachend die gewundenen Pfade herabgesprungen, während die beiden älteren langsam folgten. Der größte, ein schlanker, kraftvoller Jüngling von einundzwanzig Jahren, hatte den Arm sorgsam um die Schultern des jüngeren gelegt, dessen überschlanker, schmächtiger Körper sich wie Schutz suchend an ihn lehnte. Sein schmales, blasses Antlitz trug einen unverkennbaren Zug des Leidens, das jedoch nicht im stande war, den Ausdruck heiteren Friedens zu verwischen, der dies junge, durchgeistigte Antlitz so wunderbar anziehend machte.

Else sah voller Interesse auf die beiden Brüder, und diese boten in der That einen gewaltigen Gegensatz: Gerhard, das Bild jugendlicher Kraft und Frische – und Alfred? Das war das Leid, welches seit achtzehn Jahren mit der Freude Hand in Hand im Pfarrhause einhergegangen war: Alfred war seit seiner Geburt blind.

Das Schwatzen und Lachen der jungen Mädchen war verstummt, erwartungsvoll sahen sie den Brüdern entgegen. Die beiden jüngeren waren herangestürmt, hatten die Mädchen nach Jungenart kurz begrüßt und waren dann weiter gelaufen zu den kleinen Schwestern, die längst wieder vor dem Hause spielten.

Inzwischen waren die Jünglinge in die Laube getreten. »Ach, hier haben wir ja einen ganzen Kranz der lieblichsten Blumen!« rief Gerhard galant.

Suse machte die Brüder mit Else bekannt und Gerhard begann sofort heiter zu plaudern.

Maria hatte sich neben Alfred gesetzt. »Es geht Ihnen besser, lieber Alfred, nicht wahr?« sagte sie. »Sie sehen viel frischer aus, als vor Ihrer Reise.«

Ein Leuchten war über des Blinden Antlitz geflogen, als er die weiche Stimme hörte. »Ja, Maria, es geht mir besser, viel besser,« entgegnete er und drückte die Hand seiner jungen Freundin warm. »Ich habe Ihnen viel zu erzählen, Maria, doch davon später. Wie ist es Ihnen ergangen?«

Das junge Mädchen kannte den scheuen Knaben, der nicht gerne von sich sprach, zu gut, um nicht zu wissen, daß er ihr etwas anzuvertrauen wünschte, das ihn innerlich tief bewegte. Sie schwieg jedoch und sah nur fragend zu Suse hinüber, die ihr mit feucht schimmernden Augen zunickte; auch Gerhards Blick ruhte liebevoll auf dem Bruder.

Else, die entsetzt in die matten, glanzlosen Augensterne Alfreds geblickt hatte, stieß Wally mit dem Arme an und flüsterte leise fragend: »Ist er blind, Wally?«

»Stockblind,« und in die kecken, lustigen Augen trat ein so inniger Ausdruck des Mitleids, wie man ihn dem übermütigen Komteßchen gar nicht zugetraut hätte.

»Hast du denn Fräulein Else schon durch unsern Garten geführt, Suse?« fragte Gerhard. »Nein? O, das müssen wir nachholen, ich fordere hiermit die lieblichsten Backfischchen, die mir je vor Augen gekommen sind, auf, mir zu folgen.«

»Hören Sie, Herr Gerd, Sie könnten füglich ›junge Damen‹ zu uns sagen!« rief Wally.

Der Student zog mit unendlich komischer Gebärde die Schultern empor.

»Wer ein solches Liliputchen wohl für voll ansieht?« fragte er neckend, und sprang aus der Laube, Wally hinterdrein, und nun begannen die beiden eine tolle Jagd, den Garten hinauf.

Plötzlich rief Suse: »Gerd, Gerd, halt ein, Wally darf nicht so laufen.«

Sofort machte der Jüngling kehrt, war mit ein paar Sprüngen bei der Kleinen und führte sie sorgsam zur Laube zurück. Atemlos sank Wally auf die Bank. »So ein langbeiniger Student ist etwas Furchtbares,« sagte sie.

»Weshalb nimmst du es auch mit ihm auf?« rief Eva lachend.

Sie stiegen nun langsam den Weg hinauf, Maria hatte Alfreds Hand gefaßt. »Ich führe Sie, Fred,« sagte sie, und dieser war es zufrieden.

Alle wußten, daß der blinde Knabe eine besondere Vorliebe für die sanfte Maria fühlte, wie oft hatte sie ihm durch ihr liebliches Plaudern die Schatten von der Stirn verscheucht, wenn sein Leid ihn übermannte, denn trotz seines großen Gottvertrauens und seiner Ergebung blieben solche Stunden nicht aus. Dafür war aber auch Maria der allgemeine Liebling des Pfarrhauses, alle begegneten dem lieben Mädchen mit besonderer Rücksicht und Herzlichkeit, denn jede Freundlichkeit, die dem blinden Sohn erwiesen wurde, erfüllte die Herzen der Eltern mit großer Dankbarkeit.

Niemand beachtete es, daß das jugendliche Paar zurückblieb; Gerhard führte die jungen Mädchen den Garten hinauf, bis zu der kleinen Pforte, hinter welcher der Weg weiter bis auf den Gipfel des Berges führte.

»Laßt uns hinaufsteigen,« bat Wally. Gesagt, gethan.

Das Lachen und Schwatzen klang immer entfernter zu Alfred und Maria hinunter, und diese sagte: »Wir bleiben wohl lieber im Garten, Alfred?«

»Ja, lassen Sie uns hier bleiben. Sind wir allein, Maria?«

»Ganz allein, Fred; nun erzählen Sie mir, was Ihnen begegnet ist.«

»Etwas sehr Schönes, Maria, Sie glauben nicht, wie glücklich ich bin.«

Er hob seine glanzlosen Augen zu ihr auf, und ein Leuchten verklärte das feine Gesicht. »Es war in Wernigerode bei Onkel. Er hatte einen Gast, Professor Norbert, ein großer Künstler aus Berlin. O Maria, sein Geigenspiel waren Himmelsklänge! Sie erschütterten und bewegten meine Seele, wie nichts zuvor sie bewegt hat. Ich wagte nicht, meine Geige anzurühren, es kam mir wie Entweihung vor, nach ihm zu spielen.

Einmal that ich es aber doch, ich konnte es nicht lassen. Ich wähnte mich allein, schlich in den entferntesten Winkel des Gartens und versuchte ein Adagio von Beethoven, das mich besonders bewegt hatte, wiederzugeben. Es wollte mir erst nicht glücken, endlich hatte ich die Melodie und nach und nach gelang es mir, das Hauptmotiv der herrlichen Schöpfung zu finden. Ich vergaß alles um mich her, ich weiß nicht, wie lange ich gespielt hatte, endlich entsank mir der Bogen und ich besann mich auf mich selbst. Da legte sich eine Hand auf meine Schulter und eine freundliche Stimme, durch die eine merkliche Bewegung zitterte, sagte: ›Brav gespielt, junger Freund, aus Ihnen kann noch etwas werden.‹ Maria – es war Onkels Gast, der große Violinist! Ich glaubte zuerst vor Schreck und Scham in die Erde sinken zu müssen, er beruhigte mich aber aufs freundlichste, und nun, Maria – kommt das Wunderbarste.«

Der Blinde atmete hoch auf und fuhr nach einer kleinen Pause fort: »Er ließ sich eingehend von meinen Studien in der Blindenanstalt erzählen, besonders von dem dort genossenen Musikunterricht. Ich mußte ihm nun auf dem Klavier vorspielen und wir spielten fortan jeden Tag zusammen, entweder er begleitete mich auf der Violine oder ich ihn; es waren Stunden hohen, reinen Genusses, wie ich sie noch nie erlebt habe.

»Als wir eines Tages zusammen musiziert hatten, und noch über die Kompositionen miteinander sprachen, eröffnete er mir einen Blick in die Zukunft, der mich mit einem Glücksschwindel erfüllte. Er riet mir, nach Berlin zu gehen, um dort gründlich Orgel spielen zu lernen, er stände mir dafür, daß ich später eine Anstellung als Organist erhalten würde, er selbst wolle sich für mich verwenden, wo und wie er nur könne; ja noch mehr, der herrliche Mann bot mir während meiner Studienzeit sein Haus als Heimat an, er sagte, seine Frau und er würden sich jederzeit freuen, mich bei sich aufzunehmen. O Maria, ist es nicht ein großes, unverdientes Glück? Ich soll nicht länger ein unnützes Glied der menschlichen Gesellschaft sein, nicht länger dieses thatenlose Leben führen, was eigentlich kein Leben ist, sondern ein traumhaftes Hindämmern von einem Tag zum andern. Ich soll arbeiten, wirken, schaffen wie andre, werde auf eigenen Füßen stehen und für mich selbst sorgen – meine Seele ist wie von schwerem Druck befreit.« Er stand still, faltete die Hände und hob die blinden Augen zum Himmel; wie Verklärung lag es auf dem jungen Gesicht.

Maria legte ihre Hand auf die seine und sagte leise: »Wie gut ist der liebe Gott, daß er Ihnen ein so schönes Talent verliehen hat, Alfred.«

»Nicht wahr? Ich kann ihm nicht genug danken. Sie wissen, Maria, daß ich so gerne Prediger geworden wäre, nun kann ich mein Leben doch dem Herrn weihen; wenn es auch meiner Stimme versagt ist, seine Ehre zu verkündigen, so sollen meine Orgelklänge die Herzen derer zu ihm emporheben, die sie vernehmen.«

Es sprach eine heilige Begeisterung aus seinen Worten und Maria sagte zustimmend: »Es wird Ihnen gelingen, Alfred, Sie werden Ihr hohes Ziel erreichen!«

»Wollen wir ins Zimmer gehen, Maria, und die neuen Musikstücke zusammen versuchen, die ich mitgebracht habe?«

»O Fred, ich armselige Stümperin kann doch unmöglich die Sachen spielen, die Ihr großer Künstler vorgetragen hat?«

»Sie haben eine schnelle Auffassung, Maria, es wird schon gehen, oder wollen Sie nicht?«

Es war sehr schwer, dem blinden Jünglinge eine Bitte abzuschlagen, und die weichherzige Maria konnte es erst recht nicht, so gingen sie ins Haus.

Auf der Flur begegnete ihnen Pastor Winter, der das junge Mädchen aufs herzlichste begrüßte. Sein ältester Sohn glich ihm sehr, wenigstens in der Figur und in den schnellen, entschlossenen Bewegungen; Gerhard trug gleich dem Vater die hohe Stirn; Pastor Winters Antlitz hatte in der Jugend jedenfalls denselben hochherzigen Ausdruck, der Gerds Zügen eigen war, der sich beim Vater jedoch in einen freundlichen Ernst wandelte. Maria meinte aber, wenn Alfred sehen könnte, müßten seine Augen denselben milden, leuchtenden Blick haben, der seinem Vater so viele Herzen gewann.

Der Pastor begleitete Maria und Alfred in das Zimmer. »Hat Fred dir alles gesagt, mein gutes Kind?« fragte er.

»Ja, Herr Pastor. O, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich ich mit Ihnen bin.«

Der Pastor sah seinen Sohn liebevoll, doch mit geheimer Sorge an.

»Mutter muß jetzt ihr Bestes heraussuchen, was Küche und Keller bieten, um unsern Jungen tüchtig zu pflegen, damit sein Körper den Anstrengungen des Studiums auch gewachsen ist, nicht wahr, mein alter Junge?«

»Ich werde jetzt vor lauter Glück und Freude kräftig, ganz gewiß, Vater,« entgegnete Alfred zuversichtlich und ging an das Klavier. »Hier, Maria, ich glaube, dies sind die richtigen Noten, wollen Sie nicht einmal nachsehen?« Er nannte die Titel und sie fand bald die richtigen heraus.

»Nutzt er deine Gutmütigkeit gleich wieder aus, Kleine?« fragte der Pastor lächelnd; »laß nur, lieber Junge, ich weiß ja, welche Freude ihr beide daran habt. Vergnügt euch nur, ein Stündchen habt ihr noch bis zum Essen Zeit, ich will noch schnell einen Besuch machen.«

Er nickte dem jungen Mädchen zu, ging, und bald waren die beiden jungen Menschen so in die Musik vertieft, daß sie alles andre vergaßen. Alfred hatte recht, Maria besaß ein feines Verständnis und rasche Auffassungsgabe; es bedurfte nur einiger Winke Alfreds, um sie die richtigen Tempi finden zu lassen und sie in die eigenartige Schönheit der Tonstücke einzuweihen. Er hatte ein scharfes Gehör und unendliche Geduld, so wurde beiden das schwierige und oft langweilige Einüben zum wahren Vergnügen und sie bereiteten sich und ihren Angehörigen durch ihr Spiel manche Freude. Auch jetzt füllte sich das Zimmer mit Zuhörern, ohne daß sie sich stören ließen. Gerhard war mit den jungen Mädchen zurückgekehrt, und da er den Bruder und Maria nicht im Garten fand, gab es nach seiner Versicherung nur einen Ort, wo sie zu finden waren, nämlich am Klavier. Nun drängten sie alle leise herein, denn die beiden spielen zu hören, war ein Genuß; selbst die Pastorin schlüpfte auf einen Augenblick aus der Küche ins Zimmer, drückte Wally und Eva die Hand, und fragte leise, mit feucht schimmernden Augen: »Wißt ihr's schon, Kinder, mit unsrem Alfred?«

»Ja, Herr Gerd hat es uns erzählt, es ist ein großes Glück.«

Die Pastorin nickte eifrig, dann aber seufzte sie, als ihr Blick auf dem Sohne ruhte. »Wenn er nur recht kräftig wäre, sieh nur, Evchen, wie schmal er ist.«

»Er wird schon noch kräftiger werden,« tröstete Eva, »er ist doch im Grunde gesund.«

Die Pastorin drückte ihr noch einmal die Hand und eilte dann wieder in die Küche, denn sie war stets der Meinung, daß nicht alles am Schnürchen ginge, wenn sie das Scepter nicht selbst schwänge. Else horchte voller Verwunderung auf Marias Spiel; sie hatte diese Fertigkeit durchaus nicht bei der kleinen bescheidenen Freundin erwartet, denn Maria trat wenig aus sich heraus und ordnete sich gern und willig andern unter. Else hatte sich selbst für sehr viel klüger gehalten und kam nun urplötzlich zu der Erkenntnis, daß Maria ihr in der Musik weit überlegen war; sie mußte sich eingestehen, daß sie auch durchaus keinen Fleiß angewendet habe, ihre kleinen Anlagen auszubilden. Sie nahm sich nun aber vor, sehr fleißig zu werden, denn es mußte hübsch sein, einen so aufmerksamen, bewundernden Zuhörerkreis um sich zu sammeln. Wer das von der kleinen stillen Maria gedacht hätte! Übrigens gönnte ihr Else diesen Vorzug am liebsten, sie hätte sich unbedingt geärgert, wenn es Eva gewesen wäre.

Sie sah zu dieser hinüber, wenn sie aber glaubte, sie werde der Schwester ihr Talent neiden, so mußte sie sehr bald einsehen, daß sie sich geirrt; mit dem glücklichsten Lächeln trat sie zu der Schwester, als diese geendet, fuhr liebkosend über den goldblonden Scheitel und sagte: »Brav gespielt, alle beide; aber was du für Backen hast, Baby, sie glühen ja ordentlich.«

»Habe ich Sie überangestrengt, Maria?« fragte Alfred unruhig.

»Nein, Fred, durchaus nicht, die Freude am Spiel steigt mir nur leicht ins Gesicht. Ich glaube aber, wir müssen nun nach Hause?«

»Ich glaube auch, wir bringen Mama Prediger sonst in Verzweiflung mit ihrem fertigen Mittagbrot,« rief Wally lachend.

Nach fröhlichem Abschiede trennte man sich, und nachdem Suse versprochen, sich rechtzeitig am Nachmittage einzustellen, traten unsre vier Freundinnen den Rückweg an.

Die Hauptunterhaltung bildete nun das Geschick Alfreds, alle empfanden die lebhafteste Teilnahme für den blinden Jüngling, und sie freuten sich seiner Aussichten für die Zukunft. Else allein verhielt sich ziemlich schweigsam; sie hatte das Pfarrhaus und seine Bewohner so ganz anders gefunden, als sie erwartete, und sie wußte nicht, sollte sie sich darüber freuen oder nicht? Das nur fühlte sie dumpf, daß sie selbst nicht recht in die stille Friedensatmosphäre desselben hineinpasse. Woran mochte das liegen? Selbst die lustige Wally schien sich dort heimisch zu fühlen. Was fehlte denn ihr dazu?


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