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»Die Uhr hat elf geschlagen, Kinder, wie oft soll ich euch diese Thatsache melden?« rief Eva ungeduldig.
»Bis unser Begriffsvermögen sie vollkommen aufgefaßt hat, holdselige Minerva,« entgegnete Fritz und warf seinen Hammer nieder.
»Schade, daß wir unsre Croquetpartie abbrechen müssen,« meinte Wally bedauernd, »wir dürfen ja aber nicht länger als bis elf Uhr spielen.«
»Ich finde, Tante Helene ist nicht allein eine sehr kluge, sondern auch eine sehr mildherzige Dame, denn durch diese weise Einrichtung schützt sie einen armen Menschen doch vor dem Sonnenstich,« sagte Kon. »Wenn du übrigens glaubst, Magister, daß ich in dieser Tropenglut mit dir Kröten und andres Ungeziefer suchen werde, so irrst du gewaltig,« damit schlenderte er nach der Fliederlaube, die an der Hecke stand, welche den Garten von der Straße schied, und warf sich in einen Stuhl, daß er krachte.
Während Maria dem Bruder half, das Spiel beiseite zu bringen, kamen Else, Eva und Wally in die Laube, und nach kurzer Zeit waren alle in derselben versammelt.
»Schade, Else, daß du gestern gerade nicht zu Hause warst, als der Pilzfriedel kam, sich im Namen seiner Großmutter und Mutter zu bedanken,« sagte Maria, »du hättest ihn nur sehen sollen, sein Gesicht strahlte förmlich vor Glück.«
»Ja, mir thut es auch leid, daß ich nicht da war, es ist so selten, daß ein Mensch wirklich dankbar ist,« entgegnete Else in weiser Weltkenntnis.
Fritz ließ ein leises »Hm – hm« hören, Wally aber sagte mit schelmischem Lächeln: »Sei nur ruhig, Prinzeßchen, wir haben ihm gesagt, er müsse unbedingt zu dir, als der wichtigsten Persönlichkeit gehen, da kannst du ja den Genuß wahrer Dankbarkeit genügend auskosten.«
»Wie ist es aber, Kinder, wir müssen bald wieder etwas für unsre Schützlinge thun,« meinte Eva nachdenklich.
»Um Himmelswillen, Eva, was denkst du? Meine Börse ist noch ebenso leer, wie sie nach der letzten Plünderung war,« rief Wally in komischem Entsetzen.
»Meine auch,« entgegnete Eva gelassen, »ich dachte aber, wir könnten vielleicht aus unsern alten Kleidern ganz nette Anzüge für die kleineren Kinder anfertigen.«
»Das ist ein prächtiger Einfall,« rief Wally, »ich habe auch noch Wäsche, die ich nicht mehr gebrauche, o, das wird abermals ein Korb voll, den Pohl hinschaffen muß.«
»Ihr Jungen könntet auch mal etwas Vernünftiges thun,« meinte Else.
»Als ob es nicht hinreichend genug wäre, daß wir in diesen Mädelbund eingetreten sind,« entgegnete Fritz wegwerfend und setzte gähnend hinzu: »Es ist jetzt unerhört langweilig, wollen wir nicht mal wieder eine Tour machen?«
»Wie du dich ausdrückst, Magister,« tadelte Eva, »als ob das von unsrem Willen abhinge; glaubt mir, Tante hat noch genug von unsrer letzten.«
»Durch Schaden wird man klug,« entgegnete Fritz, »ich wollte schon aufpassen, und wenn Tante uns nicht selbst begleiten will, so kann ja Herr Gerd mitkommen, der wird uns gewiß nicht in die Irre führen.«
Die Mädchen lachten und Eva rief: »Was so ein Junge alles zusammen redet. Höre, Magister, er kann wohl mit euch eine Tour machen, es schickt sich aber doch nicht, daß er uns in seine Obhut nimmt.«
»Na, was sich bei euch alles nicht schickt,« brummte Fritz, »einen flotteren Studenten giebt's auf der Welt nicht, als Gerhard Winter ist.«
»Ja, du schwärmst natürlich für ihn.«
»Dir imponiert er ungemein.«
»Und euch vielleicht nicht,« rief Fritz lebhaft, »ich möchte wissen, wem er etwa nicht gefiele.«
»Ich mache mir gar nichts aus ihm,« erklärte Eva und schnippte mit den Fingern.
»Ich auch nicht,« versicherte Wally, »ich lache und scherze mit jedem andern ebenso gern.«
»Ich erst recht nicht,« sagte Else von oben herab, »ich bin zu Hause ganz andern Verkehr gewohnt.«
»Das erwartet man von der Prinzessin von und auf der Tann gar nicht anders,« warf Kon trocken dazwischen.
»Ich weiß nicht, weshalb ihr alle so nichtachtend von Gerd sprecht,« sagte Maria sanft, »er ist doch ein so lieber prächtiger Mensch, und im Grunde mögen wir ihn alle gern.«
»Bravo, Baby!« rief Fritz triumphierend. »Seht ihr wohl, sie allein hat den Mut, die Wahrheit zu gestehen. Das rechne ich dir hoch an, Mieze.«
»Denkt nur, wie gut und liebreich er mit Alfred umgeht,« fuhr Maria fort.
»Ja freilich,« gab Eva zu, »und du hast ganz recht, Baby; man soll nicht wegwerfend von seinen abwesenden Freunden sprechen, besonders wenn man keinen Grund dazu hat.«
»Na, das klingt schon anders,« sagte Fritz befriedigt, »und was meinst du, Wally?«
»Ach, Magister, wozu soll ich meine Gefühle zergliedern, ich lache mit dem Herrn Studenten gerade so gern wie mit dir und Kon. Nun schickt es sich aber wirklich nicht anders, als daß ihr Jungen aufsteht und mir eine Verbeugung macht.«
»Suses Bruder ist doch aber nicht unser Freund, und ich sehe nicht ein, weshalb wir nicht sagen sollen, daß wir uns nichts aus ihm machen,« beharrte Else eigensinnig, »mir gefällt er wenigstens nicht; da sind die Brüder meiner Berliner Freundinnen, von denen zwei Offiziere sind, ganz andre Herren als dieser grüne Student.«
»Danke ergebenst für meinen neuen Titel,« rief eine frische Stimme, und Gerds lustige Augen blickten über die Hecke.
Ein lähmender Schreck fuhr in die kleine Gesellschaft, nur Kon brummte leise: »So, da haben wir's, nun hat sich unsre vornehme Prinzessin schön in die Tinte gesetzt.«
Else war glühend rot geworden und wußte vor Verwirrung nicht, was sie thun sollte, auch Eva und Maria teilten ihre Verlegenheit, nur Wally rief lustig lachend: »Pfui, Herr Gerd, es ist gar nicht hübsch, uns so zu belauschen. Wahrscheinlich haben Sie schon mehr gehört?«
»Versteht sich, Komteß Liliputchen; ich bin der Meinung, daß ein Mensch sich nur durch Selbsterkenntnis bessern kann, und da mir dies eine passende Gelegenheit schien, mein eigenes Selbst kennen zu lernen, beschloß ich, das Ende dieser hochinteressanten Unterhaltung abzuwarten. Ich muß nun aber gestehen, daß ich über meine Fehler und Mängel im unklaren geblieben bin; ich habe nur eine begreifliche Abneigung gegen mich Unglücklichen herausgehört, doch hoffe ich, daß mir Fräulein Else, bei der dieselbe besonders stark entwickelt ist, zu der Erkenntnis meiner Fehler verhelfen wird; natürlich werde ich mich bemühen, sie abzulegen, um mir die Gunst der jungen Damen zu erwerben.«
Die jungen Mädchen kämpften noch mit einer leichten Verwirrung, konnten dann jedoch, Else ausgenommen, der Lachlust nicht länger widerstehen. Fritz rieb sich die Hände vor Vergnügen und warf triumphierende Blicke auf Else, die noch immer mit ihrer Verlegenheit rang; sie wußte sichtlich nicht, wie sie sich benehmen sollte.
»Wohin führt Sie eigentlich Ihr Weg, wenn es erlaubt ist zu fragen, Herr Gerd?« fragte Eva.
»Direkt zu Ihnen, meine liebenswürdige Dame.«
»So kommen Sie doch herein und bleiben nicht an der Hecke stehen, wie ein Wegelagerer,« rief Wally.
Der junge Mann befolgte den Rat und stand nach wenigen Augenblicken am Eingange der Laube. »Fräulein Maria, Sie werden gestatten, daß ich mich Ihnen zu Füßen lege, um Ihnen die Gefühle meines Dankes für die gütige Verteidigung meiner unwürdigen Person auszudrücken.«
»Gar nicht nötig, Herr Gerd,« wehrte sie lachend ab, »ich habe nur meine Meinung gesagt, und dafür haben Sie mir nicht zu danken.«
Die jungen Mädchen hatten schnell Platz gemacht, unglücklicherweise saß Else aber gerade an der Ecke, und der junge Mann mußte an ihrer Seite Platz nehmen. Er sah sie mit schalkhaftem Blick an.
»Sie werden verzeihen, Fräulein Else, meine Schuld ist es indessen nicht, daß ich unausstehlicher Mensch mich in Ihre nächste Nähe wage, jedenfalls werde ich auch so bescheiden wie möglich sein.« Er setzte sich auf die äußerste Kante der Bank, ließ seine lustigen Augen im Kreise umherschweifen und fragte: »Na, Kinder, was thut ihr hier eigentlich?«
»Wir langweilen uns,« erklärte Kon.
Gerd nickte. »Eine kolossal schneidige Beschäftigung, um wie ein Lieutenant zu reden,« entgegnete er mit schelmischem Seitenblick auf Else.
»Ja, Herr Gerd, bringen Sie mal etwas Leben in die Sache,« bat Fritz.
Gerd zog die Augenbrauen in die Höhe. »Herr Gerd – Sie – höre Fritz, du kannst einen so grünen Studenten wie ich bin, gern ›du‹ nennen, das gilt auch für dich, Kon, mein Sohn.«
Fritz lächelte halb geschmeichelt, halb verlegen. »Na, denn man zu, meinetwegen. Was wollen wir aber anfangen?«
»Ich komme im Auftrag meiner Schwester Susanna, um die jungen Damen und Herren zu einem größeren Spaziergang für heute nachmittag aufzufordern. Unser Alter hat nämlich ausnahmsweise Zeit und will nach seinem Lieblingspunkt, den Luxerklippen, und die jungen Damen, unterstützt von seinem ältesten Sohne, in seine Obhut nehmen.«
»O Gerd, wie haben Sie gehorcht!« rief Wally lachend.
»Man muß nichts halb thun, meine Gnädige; ich bin stets für den Anfang und für das Ende in allen Dingen. Also, wer hat Lust mitzugehen?«
»Ich – ich – ich auch – wir alle natürlich –« hieß es im Chor, und Wally schlug vor: »Laßt uns gleich ins Haus gehen und Tantchen bestürmen.«
»Und Sie, Fräulein Else, soll ich persönlich zu Ihrer Frau Mutter gehen?« fragte Gerd.
»Ich kenne Herrn Pastor Winter aber gar nicht,« entgegnete sie unentschlossen.
»Thut nichts,« rief Gerd munter, »für diesen menschenfreundlichen Mann genügt es vollkommen, daß Sie seinen Sohn und seine Tochter kennen; übrigens hat mir Suse eine ganz besondere Einladung für sie aufgetragen.«
Nun, das war jedenfalls hübsch von Suse, und Else sagte gnädig zu, daß sie kommen wolle.
In größter Eintracht wandten sich alle nach dem Hause, um Fräulein Reuters Erlaubnis einzuholen, als die alte Dore mit allen Zeichen der Aufregung in den Garten gelaufen kam. »Elsechen, Kind, komme schnell!«
»O Dora, Mama ist doch nicht krank?« rief diese aufrichtig erschrocken. Alle umringten die Alte und bestürmten sie mit Fragen.
»Nein, Gott sei Dank, krank ist unsre Frau Geheimrat nicht, aber komm nur selbst, Elsechen, na – ich darf nichts verraten, aber du wirst 'ne Freude haben!«
Else atmete erleichtert auf. »Du böse Dore,« schalt sie lachend, »mir solchen Schreck einzujagen. Ich muß nun aber sehen, was es eigentlich bei uns giebt.«
Else sah mit dem freundlichen Gesicht so überaus reizend aus, daß Gerd es ganz gerechtfertigt fand, als Maria sie zärtlich küßte und sagte: »Wie schade, daß du gehen mußt, liebe Else, ich freue mich aber, daß deiner Mama nichts fehlt.«
»Gib uns bald Nachricht, was bei euch los ist, Else, mich plagt die Neugierde sonst zu arg,« rief Wally der Davoneilenden nach. Else stürmte ins Haus und ins Wohnzimmer. »Mama, was –« Sie verstummte und sah verwundert den alten weißhaarigen Herrn an, der neben der Mutter auf dem Sofa saß, das war ja – »Onkel!« rief sie und sprang in seine Arme. »Nein, diese Ueberraschung, woher kommst du so plötzlich?«
»Direkt aus Berlin, meine Kleine, mußte doch selbst sehen, wie es euch geht. Laß dich einmal ordentlich ansehen, Mädel. Sieh, sieh, die Bäckchen sind hübsch rosig und die Augen lachen, so gefällst du mir, Kind.«
»Und Mama, Onkelchen, findest du sie nicht auch viel wohler?«
»So bedeutend, daß ich ihr schon vorgeschlagen habe, bis zum Herbste hier zu bleiben, und sie scheint ja gar nicht abgeneigt; was würdest du denn dazu sagen?«
»Meinetwegen, Onkel, ich finde es hier ganz hübsch, und ich habe so nette Freundinnen im Nachbarhause.«
»Hab' schon davon gehört, die eine ist ja wohl eine Gräfin?« fragte der Doktor mit lustigem Augenzwinkern, denn er kannte Elses Schwärmerei für vornehmere und höher gestellte Persönlichkeiten.
Sie errötete leicht. »Ja freilich,« entgegnete sie leichthin, »die andern sind aber auch sehr nett, besonders Marie Reuter, die Nichte der alten Dame.«
Der Doktor schob in behaglicher Ruhe eine Prise in die Nase. »Ich glaube, liebe Therese,« wandte er sich an die Geheimrätin, »wir konnten keinen Ort wählen, der günstiger für euch gewesen wäre.«
»Du hast recht, Ludwig, ich fühle mich frischer und wohler, als seit Jahren, und Else ist froh und heiter und hat durch ihre Freundinnen manches Vergnügen, nicht wahr, mein Liebling?«
»Ja gewiß, Mama. Denke nur, wir sind alle zu heute nachmittag von Herrn Pastor Winter eingeladen, mit ihm, Suse und Gerd einen Spaziergang nach den Luxerklippen zu machen. Ich werde nun natürlich zu Hause bleiben.«
»Mir zu Ehren?« fragte Doktor Bauer lachend. »Kind, solch Opfer verlange ich nicht.«
»Ich werde dich doch nicht gleich verlassen, wenn du eben gekommen bist, Onkel,« sagte Else, die sich selbst in ihrer Opferfreudigkeit bewunderte.
»Ich bleibe noch mehrere Tage, meine Kleine, da können wir uns noch zur Genüge genießen; vorläufig wünsche ich, daß du deinen Spaziergang machst, und damit basta.«
Else freute sich aufrichtig, daß der Onkel gekommen; erstens war er stets heiter und zu Späßen aufgelegt, zweitens, und das war wohl der Hauptgrund, machte es ihr Vergnügen, den stattlichen alten Herrn ihren Freundinnen zu präsentieren. Höchst befriedigt begab sie sich nachmittags mit diesen nach der Pfarre, wo sie mit herzlicher Freude empfangen wurden.
Bald machte sich die kleine Gesellschaft auf den Weg, von Pastor Winter geführt; auch die beiden jüngsten Knaben, Edmund und Rudolf, durften mit von der Partie sein, während die Frau des Pfarrers mit Alfred und den beiden kleinen Mädchen zu Hause blieb.
Der Pastor führte seine fröhliche junge Gesellschaft aus dem Städtchen hinaus auf die Berge. Ein schmaler, schattiger Fußweg, von prächtigen Tannen eingefaßt, die ihnen nicht den geringsten Ausblick gestatteten, nahm sie auf. Als sie nach kurzer Wanderung aus dem Walde heraustraten, entfloh den jungen Mädchen ein Laut des Entzückens. Sie befanden sich auf der Luxerklippe, ein Felsvorsprung, der mehrere hundert Meter steil in das Thal hinabfällt. Hier zeigte sich so recht der ernste Charakter des oberen Innerstethales, das von allen Seiten von schroffen, fast kahlen Bergen eingeschlossen ist. Einen eigenen Reiz bietet dem Beschauer das malerisch gelegene Bergstädtchen, das man teilweise von hier überblicken kann. Die tiefe Stille ringsum wurde nur von dem Rauschen der Tannenwipfel und von dem Tosen der Innerste unterbrochen, die schäumend in ihrem Bette dahinschoß.
Die Jugend konnte sich nicht satt an dem schönen Bilde sehen, und alle fielen begeistert ein, als Gerd zu singen begann:
»O Thäler weit, o Höhen,
O frischer, grüner Wald,
Du meiner Lust und Wehen
Andächt'ger Aufenthalt.
Da draußen stets betrogen
Saust die geschäft'ge Welt.
Schlag noch einmal die Wogen
Um mich, du grünes Zelt.«
»Vater, wir gehen doch nicht schon wieder nach Hause?« fragte Edmund.
»Nein, mein Junge, ich möchte euch über die Berge auf die Lautenthaler Chaussee zurückführen, nach den Steinbrüchen, das heißt, wenn es für unsre jungen Damen, namentlich für Wally, nicht zu viel wird.« Diese versicherte eifrig, sich vollkommen kräftig zu fühlen, und so wurde der Weg unter fröhlichem Plaudern fortgesetzt. Alle waren von Herzen vergnügt und kein Mißton trübte die Heiterkeit des kleinen Kreises. Der Pastor hatte gar zu gern die fröhliche Jugend um sich und ward mit ihr stets heiter; so übte seine Gegenwart durchaus keinen Zwang aus.
Es kam auch die Rede auf den neu gestifteten silbernen Kreuzbund, und nachdem Gerd genaue Kenntnis von demselben erlangt, bat er um die Ehre, als Ritter dieses neuesten Ordens aufgenommen zu werden. Gnädig wurde ihm dieselbe bewilligt, und Wally beschloß am nächsten Tage, um noch ein weiteres Kreuz an ihren Papa zu telegraphieren. Niemand von der Gesellschaft, selbst nicht Pastor Winter, bemerkte, daß unterdessen dichte Wolken heraufzogen, erst als die Sonne plötzlich verschwand, wurde der Pastor darauf aufmerksam, sagte jedoch nichts.
»Du siehst so viel nach dem Himmel, lieber Vater,« bemerkte Gerd heiter, »ich denke, unsre jungen Damen fürchten sich nicht vor einem kleinen Regenschauer?«
»Wenn es sich um weiter nichts handelte, würde ich mich nicht beunruhigen,« entgegnete sein Vater, »es scheint mir aber ein schweres Unwetter heraufzuziehen. Beschleunigt eure Schritte, Kinder, damit wir das Thal erreichen und Schutz in den Steinbrüchen finden.«
Die jungen Mädchen schauten zwar noch sorglos drein, lachten und scherzten, als sie jedoch auf eine Waldblöße kamen und den Himmel sehen konnten, erschraken sie. Wie eine schwarzblaue Wand stand es unheilverkündend vor ihnen, kein Lüftchen regte sich, eine fast feierliche Stille herrschte im Walde.
»Die Ruhe vor dem Gewitter,« sagte Eva.
»Ja, es sieht unheimlich aus, laßt uns laufen, damit wir schnell nach Hause kommen,« bat Maria ängstlich.
»Nein, mein gutes Kind, du würdest dadurch schnell mit deinen Kräften zu Ende sein,« entgegnete Pastor Winter und faßte ihre und Wallys Hand, »wenn der Sturm nicht zu schnell losbricht, so erreichen wir wohl das Thal und sind dann nicht weit von den Steinbrüchen. Im übrigen stehen wir hier wie dort in Gottes Schutz.«
Eilig ging es nun bergabwärts, selbst Wallys Plaudermündchen verstummte, als es immer finsterer um sie her wurde. Else, am wenigsten geübt im Bergsteigen, wäre gewiß nicht so schnell vorwärts gekommen, wenn nicht Gerd ihr den Arm geboten und sie sorgsam hinuntergeführt hätte. Eigentlich hatte sie das gar nicht um den grünen Studenten verdient.
»Gottlob, da sind wir,« sagte Pastor Winter, als sie nach kurzer, scharfer Wanderung das Thal und somit die Chaussee erreicht hatten, »nun hoffe ich, daß wir noch vor dem Ausbruche des Gewitters bis zum zweiten Steinbruche kommen, der erste, kleinere, bietet wenig Schutz.«
»Vielleicht erreichen wir auch die Mühle, Vater,« meinte Gerd, doch nach einem Blick auf den Himmel schüttelte Pastor Winter zweifelnd den Kopf, und rüstig schritten sie vorwärts.
Kurz hinter dem ersten Steinbruch brach das Unwetter los. Ein Sausen und Brausen erklang in der Luft, als ob die wilde Jagd daherzöge; die Baumkronen ächzten und rauschten unter der Wucht des Sturmes, der das Gewitter mit ungeheurer Schnelligkeit heraufbrachte. Blitz folgte auf Blitz, Donner auf Donner. Und nun wogte es heran wie ein ungeheures Nebelmeer, verhüllte die Berge wie mit einem Schleier, und unaufhaltsam strömte der Regen hernieder. Voll Staunen und Entsetzen betrachteten unsre jungen Freunde aus dem Flachlande das großartige Naturschauspiel, das den Kindern der Berge wohl bekannt war.
»Vorwärts!« rief Pastor Winter, »folgt mir, so schnell ihr könnt, in die Steinbrüche.«
Ja, wo waren diese nur? In dem wogenden Nebelmeere, das die Fußgänger umfing, vermochte man kaum 20 Schritt weit zu sehen, wie sollte man da den Steinbruch finden? Und immer mehr nahm der Sturm an Heftigkeit zu und immer unheimlicher rauschten die hohen Tannen. Zitternd und ängstlich schmiegten sich die Mädchen aneinander, ein solches Unwetter hatte noch niemand von ihnen im Freien erlebt. Da, ein dumpfer Krach und vor ihnen stürzte eine Tanne quer über den Weg. Aufschreiend umklammerte Wally Pastor Winters Arm, doch auch dieser blickte besorgt und erschrocken empor. »Haltet euch mehr links, wir müssen nahe bei den Steinbrüchen sein,« rief er. »Ihr Knaben führt die Mädchen, Edmund, halte Rudi.«
Diese Vorsichtsmaßregel war nötig, denn es schien, als wolle der Sturm die jungen Gestalten jeden Augenblick umwerfen. Da drangen menschliche Stimmen an ihr Ohr: »Heda, ist hier der Steinbruch?« rief Pastor Winter, doch das Tosen der Elemente verschlang seine Stimme. Da lüftete sich das Nebelmeer urplötzlich, und Gott sei Dank, sie befanden sich vor dem Bruche.
»Wir kommen bei diesem Nebel nicht hinunter, Vater,« bemerkte Gerd, »überdies sind die Leitern schlüpfrig vom Regen und unbesteigbar für die Mädchen.«
»Wir müssen hinunter,« lautete die feste Antwort, »hier auf dem Wege sind wir des Lebens nicht sicher. Schnell, Gerd, steige hinunter, die Arbeiter müssen im Bruche sein, bitte einige, heraufzukommen und uns behilflich zu sein, die Mädchen hinunterzubringen.«
Gerd gehorchte ohne Zögern, und bald erschienen einige Bergleute, die sich bereit erklärten, die Mädchen hinabzutragen. Da galt kein Zaudern und kein Sträuben, sie mußten sich wohl oder übel den rauhen Händen der biederen Steinarbeiter anvertrauen. Auch Rudi mußte sich solche Beförderung in die Tiefe gefallen lassen, während die übrigen Knaben selbständig hinabkletterten. Dies war nun freilich bei klarem Wetter kein Wagnis, immerhin blieb es bei dem Sturme und dem Nebel gefährlich und Pastor Winter dankte Gott, als alle wohlbehalten unten angelangt waren.
Die Arbeiter brachten sie in einen ziemlich tiefen Schacht, der in die Felsen des Berges hineingearbeitet war. Zwei Grubenlichter erhellten ihn schwach, und die jungen Mädchen würden ihn zu jeder andren Zeit mit den herabhängenden Felsstücken, die jeden Augenblick niederzustürzen schienen, für sehr unheimlich erklärt haben, nun aber waren sie von Herzen froh über den sicheren und trockenen Zufluchtsort. Zwar klang das Rollen des Donners gar schaurig, aber sie sahen doch nicht die Blitze in ihrer vollen Gewalt. Das Wasser stürzte jetzt wie ein Bach in den Bruch, glücklicherweise lag der Schacht etwas höher, und führte empor, so konnte es nicht in denselben eindringen. Die jungen Mädchen hatten sich wie verscheuchte Küchlein nebeneinander auf den trockenen Boden gesetzt und lauschten der Unterhandlung, welche Pastor Winter und Gerd mit den Arbeitern führten. Plötzlich fuhren alle entsetzt empor. Ein donnerähnliches Krachen, ein Poltern, ein Stürzen schwerer Gegenstände, dazu das Rollen des Donners, das Pfeifen und Heulen des Sturmes, das selbst bis in den unterirdischen Schacht drang.
»Allmächtiger Gott, der Berg über uns stürzt ein,« rief Maria zitternd aus, und der kleine Edmund umschlang schluchzend die Knie seines Vaters.
»Vater, lieber Vater, die Welt geht unter,« stieß er hervor.
Selbst die Männer erbleichten, und einer der Arbeiter sagte: »Gott gnade dem armen Wanderer, das sind Bäume, die ins Thal stürzen.« Eine Weile dauerte noch das Krachen und Tosen, dann ward es stiller um sie, nur hin und wieder ertönte noch ein dumpfer Aufschlag. Die jungen Mädchen hatten sich eng um Pastor Winter geschart, als könne er sie vor einer unbekannten, grausigen Gefahr beschützen.
»Kinder,« sagte er tiefbewegt, »laßt uns Gott danken, daß wir diesen Schlupfwinkel zur rechten Zeit erreicht haben, wir lägen sonst erschlagen am Wege.« Er sprach ein schlichtes Gebet, dem auch die Arbeiter andächtig lauschten.
Es schien, als hätte es der Sturm nur auf die Vernichtung der herrlichen Tannen und Fichten abgesehen; nachdem diese das Opfer seiner Wut geworden waren, ließ er an Heftigkeit nach und auch das Gewitter zog vorüber. Nach wenigen Minuten war das Nebelmeer, das die Berge eingehüllt hatte, verschwunden, und das helle Tageslicht drang wieder in die Zufluchtsstätte unsrer Freunde.
Die Männer traten nun ins Freie und die jungen Mädchen folgten ihnen neugierig; sie kamen indessen nur bis an den Ausgang, wohin das Wasser schon gedrungen war. Die Männer sprangen auf die umherliegenden Steine und blickten sich um. Von allen Seiten strömte noch das Wasser, teils lehmig, teils mit Erde und Steingeröll vermischt, von dem Berge hernieder in den Bruch.
»Dachte mir's wohl,« sagte der Aelteste der Arbeiter, »es war ein Wolkenbruch. Nach Wildemann, ja selbst nach der Mühle kommen Sie heute nicht mehr mit den Fräuleins, Herr Pastor, das ist unmöglich.«
Pastor Winter nickte nachdenklich. »Ich glaube, Sie haben recht, mein Freund, der Weg wird grundlos sein und für einen Wagen unpassierbar wegen der niedergestürzten Bäume.«
»Die Nacht hier in der Felsenhöhle bleiben? Ach, das wird ein himmlischer Spaß,« rief Wally, und die dunklen Augen blitzten schon wieder in dem blassen Gesichtchen, Kon hingegen knurrte: »Das sind ja schöne Aussichten, bis morgen fasten zu müssen, ich bin jetzt bereits hungrig wie ein Bär.«
»Was werden sie aber daheim sagen, wenn wir die Nacht ausbleiben, Herr Pastor,« fragte Eva.
»Wir gehen heim, Fräulein, und werden Bescheid bringen,« erklärte einer der Arbeiter.
»Erlaube, Vater, daß ich die Leute begleite,« bat Gerd, »ich muß notwendigerweise einige Lebensmittel und Tücher und Decken für unsre jungen Damen herausschaffen.«
Der Pastor sah wohlgefällig auf seinen Sohn. »Ich hatte denselben Gedanken, Gerd, sehe aber ein, daß ich dieses Mal zurückstehen muß. So gehe denn und beruhige die Mutter und Fräulein Reuter. Habt ihr noch etwas zu bestellen, Kinder?«
»Freilich, eine Unmenge,« rief Wally und nun schwirrte es wie Bienensummen um den jungen Mann, der lachend versprach, alles aufs beste auszurichten. Der älteste Arbeiter erklärte die Nacht gleichfalls im Bruche bleiben zu wollen, und so begaben sich die andern mit Gerd auf den Weg.
Eine Nacht im Freien! Wie romantisch und abenteuerlich! Die jungen Mädchen waren ganz entzückt von dem Gedanken.
»Jetzt kommt,« sagte nun Wally, »wir wollen unser Höhlenschloß genau besichtigen und uns einen Winkel aussuchen, in dem wir unser Lager aufschlagen.«
Mit einem Grubenlichte versehen, traten sie ihre Forschungsreise an, nachdem die Arbeiter ihnen die Erlaubnis dazu erteilt hatten. Der Schacht führte in einen andern Teil des Bruches und hatte noch einen kleinen Nebengang, der noch nicht vollendet war.
»Dies ist ein schöner Schlafsaal für uns,« erklärte Eva.
»Kann sein, daß wir beim Umdrehen unsre Näschen aneinanderstoßen,« rief Wally.
Marie sah etwas ängstlich auf die Felsblöcke, die ihnen von allen Seiten entgegenstarrten und meinte: »Es wird mir die ganze Nacht sein, als müßten sie mir auf den Kopf fallen,« doch Suse entgegnete überzeugungsvoll: »Du kannst ganz ruhig sein, Mieze, unsre Berge sind dauerhaft, diese Blöcke weichen nur der Gewalt.«
Später erklärte ihnen Pastor Winter, wie die Sprengung der Felsen ausgeführt wird, und zeigte ihnen die tiefen Einschnitte, wo das Gestein aus dem Felsen gelöst wurde.
»Und das geschieht mit Schießpulver?« fragte Eva wißbegierig.
»Allerdings. Zuerst werden die Löcher nach Vorschrift gebohrt, dann mit zerkleinertem losen Gestein besetzt und abgeschossen. Welche Kanonade das giebt, habt ihr oft aus der Ferne gehört, und je furchtbarer es reißt und schlägt, desto größer ist der Gewinn. Alle gelösten Massen stürzen jedoch nicht sofort zu Boden, sondern es muß mit Brechstangen und Keilhauen nachgeholfen werden. Das ist eine schwere und gefahrvolle Arbeit, und schon manch braver Bergmann hat sein Leben lassen müssen, wenn so ein Steinkoloß wider Erwarten früh niedergestürzt ist, nicht wahr, mein Freund?«
»Jawohl, Herr Pastor,« entgegnete der Arbeiter, »besonders drunten in den Bergwerken, in den Brüchen hat's so leicht keine Not, hier kommt uns das Tageslicht zu Hilfe, während man dort bei den Grubenlampen die Gefahr oft nicht sieht. In alten Zeiten war es noch schwerer, da wurden die Steine und Felsmassen mit Spitzhacken und andern Werkzeugen losgearbeitet, bis dann das Schießpulver an die Reihe kam.«
Die jungen Mädchen hörten aufmerksam zu, und die Zeit verging ihnen schnell bis zu Gerds Rückkehr. Der junge Mann war mit allem möglichen beladen, das zur Bequemlichkeit dienen konnte, und er brachte auch Proviant genug für das Bivouak mit, wie Fritz sagte. Nach dem Mahl, das unter fröhlichem Plaudern eingenommen wurde, zogen sich die jungen Mädchen in ihren Winkel zurück und bereiteten sich unter Lachen und Scherzen ihr nächtliches Lager.
»Das ist das großartigste Abenteuer, das ich je erlebt habe,« sagte Wally, »was mein einziger Papa wohl dazu sagen wird? Morgen geht ein ausführlicher Bericht an ihn ab.«
»Es war aber teilweise doch recht schaurig,« meinte Else.
»Ja,« gab Maria zu, »es ist aber doch auch schön, Gottes Größe und Allmacht, sowie seine Güte und seinen Schutz so sichtlich zu empfinden, wie wir es durften.«
»Freilich, Mieze, du hast recht,« entgegnete Eva, »nun laßt uns aber schlafen, wir haben Herrn Pastor versprochen, nicht mehr lange zu plaudern.«
Am nächsten Morgen schien die Sonne, und die ganze Natur atmete Ruhe und Frieden, die jungen Mädchen erschraken jedoch, als sie die Chaussee erreichten. Das Wasser hatte sich zwar so ziemlich verlaufen, der Weg war jedoch an vielen Stellen arg beschädigt, und die Innerste, deren Bett sonst um diese Zeit kaum mit Wasser bedeckt war, war zum breiten, reißenden Flusse angeschwollen und rauschte und schäumte jetzt mit wildem Getose daher. Und wie sah der gegenüberliegende Berg aus! Seine herrlichen Tannen, die ihn noch gestern geschmückt hatten, lagen teils auf der Chaussee, teils wie gemäht auf dem Abhange, und der Wind, der leise in ihrem Geäst säuselte, schien ihnen ein Schlummerlied zu singen. Zahlreiche Arbeiter waren schon beschäftigt, den Weg auszubessern und die Bäume beiseite zu räumen.
Unsre Freunde langten wohlbehalten zu Hause an, mit großer Freude von den Ihren begrüßt, die sich sehr um sie gesorgt hatten, namentlich die Geheimrätin. Wäre ihr Vetter, Doktor Bauer nicht bei ihr gewesen, sie hätte wohl wieder einen bösen Nervenzufall bekommen, er hatte sie jedoch zu überzeugen gewußt, daß Pastor Winter mit der jungen Schar wohl geborgen sei. Voller Freude schloß sie ihr Töchterchen in die Arme und schauderte noch nachträglich bei dem Gedanken, in welcher Gefahr ihr Kind geschwebt hatte. Else erzählte lebhaft und zeigte sich so fröhlich und liebenswürdig, daß Doktor Bauer sein Nichtchen oft verstohlen von der Seite ansah; war das fröhliche, liebliche Wesen wirklich dasselbe Mädchen, das in der ganzen letzten Zeit vor der Reise fast immer eine verdrossene Miene zur Schau getragen hatte? Mit großem Eifer weihte sie den Onkel im Laufe des Tages in die tiefen Bedeutungen des Kreuzbundes ein und erzählte von ihren Schützlingen.
Lächelnd hörte Doktor Bauer zu: »Mädchenschwärmerei«, meinte er, aber da kam er schön an, er mußte Wallys ganze Rede über sich ergehen lassen, die Else ihm getreulich wiederholte. Er lachte gutmütig. »Na ja, Kind, ich finde diesen ganzen Krimskrams wundervoll, um mich eines deiner so beliebten Ausdrücke zu bedienen, du wirst mir's aber nicht übel nehmen, wenn mich bei der ganzen Geschichte nur das kranke Bein des Mannes interessiert.«
»Weißt du was?« rief Else lebhaft, »tritt in unsern Bund ein und kuriere den kranken Mann.«
»Das kann ich auch, ohne in euren Bund zu treten, wenn überhaupt eine Heilung möglich ist,« sagte der Doktor und kniff gut gelaunt in Elses rosiges Ohrläppchen. »Meinst du, Kleine, daß ich alter Praktikus die christliche Nächstenliebe um den Hals oder an der Uhrkette tragen muß, um an sie erinnert zu werden? Das mag für euch junges, windiges Volk ganz zweckmäßig sein, bei mir ist es aber nicht nötig, werde täglich daran gemahnt. Aber wer kommt da, sollte es eine deiner Freundinnen sein?«
Else wandte sich um. »Wally,« rief sie überrascht und eilte ihr entgegen, »wie nett, daß du kommst. Was willst du aber mit dem Bouquet? Willst du es meiner Mama bringen?«
Wally schüttelte die dunkeln Locken und sagte: »Ich muß es dir nur gestehen, dich verzehrt sonst die Neugierde. Ich will Dore versöhnen. Siehst du, ich war doch die Anstifterin des Streiches, nun muß ich auch für die Versöhnung sorgen.«
Else sah die Freundin bewundernd an. »Du bist wirklich nett, Wally,« sagte sie.
»Und zu dieser Erkenntnis kommst du erst heute? Kind, Kind, ich habe dich nicht für so schwerfällig gehalten. Nun laß mich aber gehen, zum Versöhnen gehören nur zwei.«
Sie schlüpfte ins Haus, und Else kehrte in die Laube zurück und erzählte dem Onkel von dem lustigen Streich, den sie der alten Dore gespielt hatten.
Der Onkel drohte ihr lachend mit dem Finger. »Ihr seid ein ganz loses Volk, vor dem man sich hüten muß. Hab' ich's nicht gesagt, Therese? Es gibt nichts Lustigeres unter Gottes Sonne, als ein Backfischlein.«
Nach einer Weile kam Wally zurück und rief, noch ehe sie die Laube erreicht hatte: »Es war einfach großartig. Die Hauptsache ist aber, daß Dore endlich begriffen hat, wer das Komteßchen ist.«
Am nächsten Morgen treffen wir Doktor Bauer mit Fritz und Konrad auf der Wanderung nach Grünberg. Der erstere hatte mit seiner Cousine und Else einen Besuch bei Fräulein Reuter gemacht und war lebhaft gefesselt worden durch deren Liebenswürdigkeit, sowie durch den harmlosen Frohsinn der jungen Mädchen.
Die Rede war auch auf den neu gestifteten Bund gekommen und dann auf die Schützlinge der jugendlichen Mitglieder. Doktor Bauer ließ sich ausführlich von Fräulein Reuter über den kranken Mann berichten und beschloß, da ihn der Fall besonders interessierte, ihn zu besuchen.
»Die jungen Herren bringen mich vielleicht hin, da sie den Weg wissen,« sagte er, auf Fritz und Kon deutend.
Diese erröteten vor Vergnügen – was ihnen nur in sehr seltenen Fällen passierte – und erklärten sich eifrig zur Führerschaft bereit.
Nun wanderten die drei seelenvergnügt über die Berge dem Dorfe zu. Der Doktor erwies sich als ein munterer Gesellschafter, und sie waren noch keine halbe Stunde gegangen, so hatte er das Vertrauen der Knaben schon so vollständig gewonnen, daß sie ihm alle Pläne, die sie für die Zukunft hegten, mitgeteilt hatten, nur Konrad verschwieg wohlweislich, aus welch prosaischem Grunde er Prediger werden wollte. So erreichten sie unter fröhlichem Plaudern das Dorf und fanden auch bald die einsame Kate am plätschernden Bache.
Die Großmutter war im Gärtchen beschäftigt; sie beschattete die Augen mit der Hand und sah die Ankömmlinge aufmerksam an. »Ich denke, ich sollte Sie kennen?« meinte sie.
»Das trifft auch zu, Frau Weber,« rief Fritz lebhaft, »wir sind ja die Jungen, die Friedel vor acht Tagen verirrt im Walde aufgelesen hat, erinnern Sie sich nicht mehr? Und dies ist Doktor Bauer, ein berühmter Arzt aus Berlin, der Ihren Schwiegersohn gesund machen will.«
»Sachte, sachte, mein Sohn,« wehrte der Doktor lächelnd, »das könnte selbst der berühmteste Arzt nicht versprechen, ehe er den Kranken untersucht hat. Wie ist es, Mutter Weber, kann ich Ihren Schwiegersohn sehen?«
»Wie es Ihnen gefällig ist, Herr,« entgegnete die alte Frau in ihrer ruhigen Freundlichkeit und öffnete die Hausthür, die direkt in die kleine saubere Küche führte.
Der Doktor folgte ihr, und die Knaben setzten sich auf die wohlbekannte kleine Bank. Nach einer Weile kam die Großmutter zurück, setzte sich zu ihnen, faltete die Hände und sah gedankenvoll ins Weite. »Wie Gott will,« sagte sie, »es ist schon mancher Arzt hier gewesen, aber helfen hat dem Christoph noch keiner können. Gut, daß die Trine nicht zu Hause ist, sie hätt' 'ne große Aufregung davon.«
»Ist Friedel nicht da?« fragte Fritz.
»Nein, er sucht mit Christel und den drei Kleinen Reisig; wir müssen uns zum Winter versehen, junger Herr, sonst haben wir dann nichts; wenn Schnee liegt, ist nichts zu holen. War das aber neulich eine Freude, als der alte Pohl den Korb brachte, ei, du meine Güte, solch ein Glück ist lange nicht in unsrer Kate eingekehrt. Die Kleinen konnten's gar nicht glauben, daß der ganze Reichtum uns gehören sollt', und der Christoph erst – na, die schöne Fleischsuppe hat ihm gar gut gethan. Es war ein Freudentag, für den wir den jungen Herrschaften nicht genug danken können.«
»Der Korb war von unsern Schwestern und den andern Mädchen,« sagte Fritz verlegen.
»Die jungen Herren werden sicherlich auch ihr Teil dran haben,« entgegnete die Großmutter lächelnd, und ob gleich Kon eifrig das Gegenteil versicherte, schüttelte sie doch ungläubig den Kopf.
Jetzt trat der Doktor aus der Hausthür. Die Alte sah auf und mit ängstlichem Forschen in sein Gesicht.
Er drückte ihr beruhigend die Hand. »Nur guten Mut, Mutter Weber, für ganz hoffnungslos halte ich die Sache nicht, wollen mal sehen, ob wir dem Christoph das Bein nicht retten können. Ich werde bald wiederkommen.« Er grüßte und entfernte sich, um den Danksagungen der Alten zu entgehen, recht eilig.
Auf dem Rückweg war der Doktor ungeheuer schweigsam und nachdenklich, und in Wildemann angelangt, ging er direkt in das Kurhaus, wo er wohnte, und schrieb einen langen Brief.
Es schien, als habe er mit seiner Schweigsamkeit auch seine beiden jungen Gefährten angesteckt. Nachdem sie daheim ihre Rückkehr gemeldet, schlenderten sie in den Garten und suchten den entferntesten Winkel desselben auf, für den sie sonst gerade nicht schwärmten.
»Du,« sagte Fritz, »ich habe mich gräßlich geschämt, daß wir neulich nichts zugegeben haben.«
»Ja, es war eine greuliche Blamage, den Dank einstecken zu müssen,« gab Kon zu.
»Weißt du was, wir müssen den Leuten auch etwas stiften, ehe wir abreisen, wir sind nun mal in den dummen Bund eingetreten und haben doch schließlich Verpflichtungen übernommen.«
»Weißt du denn schon was?« forschte Kon.
»Nein, das ist es ja eben, ich kann mir gar nicht denken, was man solchen Leuten schenken könnte. Wie viel Geld hast du noch, Dicker?«
»O, spiel um Himmelswillen nicht auf meine Kasse an, sie befindet sich in unheimlich magerem Zustande. Vergiß nicht, Magister, daß wir nach Hamburg zurück müssen.«
»Unsre Fahrkarten haben wir,« entgegnete Fritz, »und Butterbrot wird Tante Helene uns gewiß genügend mitgeben, weiter brauchen wir ja nichts.«
»Vergiß nicht, daß wir immer entsetzlich durstig sind,« erinnerte der Dicke.
»Ja freilich, wir werden aber unsern Durst bezwingen,« entgegnete Fritz heldenmütig, »denn es gilt der Nächstenliebe ein Opfer bringen.«
Das klang nun zwar sehr schön, aber Kon seufzte doch tief, als er sich ausmalte, welche Qualen er für seine Nächstenliebe ausstehen würde.
»Vielleicht giebt Tante Helene uns einen Zehrpfennig mit auf den Weg,« versuchte er sich und den Bruder zu trösten.
Doch der Magister runzelte die Stirn. »Du mußt nicht auf andrer Leute Börsen spekulieren, Kon, das ist durchaus nicht anständig,« sagte er verweisend.
Der Dicke war aber keineswegs niedergeschmettert, sondern entgegnete in behaglichster Ruhe: »Das werde ich doch wohl müssen, bis ich Pastor bin.«
Dagegen war nun nichts einzuwenden, und Fritz beachtete den Einwurf nicht weiter, sondern fuhr fort: »Laß uns nun die Sache beraten wie Männer, die Mädels brauchen wir dazu nicht.«
Damit war der Dicke einverstanden, und sie zogen ihre Börsen hervor, deren Inhalt sie zusammenschütteten. Die Zählung ergab jedoch nur zwei Mark fünfzig Pfennig.
»Das ist sehr wenig,« sagte Fritz kleinlaut, »was kann man dafür nur kaufen?«
»Wenn man andern eine Freude machen will,« entgegnete Kon gedehnt, »soll man ja wohl das geben, was einem am liebsten ist, nicht wahr, Magister, so ungefähr steht es in der Schrift?«
»Was meinst du damit?« fragte Fritz unruhig und überflog in Gedanken sein liebstes Hab und Gut.
Kon richtete sich entschlossen auf. »Ich werde dem Friedel meinen ›Lederstrumpf‹ schenken.«
»Ah,« rief Fritz aufs höchste überrascht, denn er kannte zur Genüge des Bruders Vorliebe für dieses Buch, das ihn sogar auf seiner Reise begleitet hatte.
»Denke nur, welche Freude der Friedel an den langen Winterabenden daran haben wird,« fuhr Kon fort, »ich weiß den Inhalt ja fast auswendig.«
Trotz dieser Versicherung wußte Fritz, was diese Trennung den Dicken kostete, und im stillen bewunderte er seine opferfreudige Nächstenliebe aufrichtig, ließ sich das aber nicht merken. »Meinetwegen,« sagte er nur, »was fange ich aber an? Du willst natürlich auch dein Geld wieder haben?« fragte er mißtrauisch.
»Ach, dummes Zeug,« versetzte Kon, »laß uns lieber ratschlagen, was wir Gescheites dafür kaufen. Weißt du, Magister,« setzte er nach einer Weile hinzu, »Hühner schmecken eigentlich sehr gut.«
»Denke doch nicht ewig ans Essen, Dicker,« rief Fritz ärgerlich, »laß mich doch endlich in Ruhe nachdenken.«
»Ich will dir ja nur zu Hilfe kommen,« entschuldigte sich dieser. »Was meinst du, wenn wir den Leuten ein Huhn stifteten?«
Fritz sah den Bruder nachdenklich an. »Ich hab's,« rief er dann triumphierend, »wir stiften ihnen eine Glucke mit Küken. Das ist nicht allein ein famoses Geschenk, sondern es kann den ganzen Hausstand auf die Beine bringen.«
»Wie so?« fragte Kon, der sich nicht erklären konnte, wie dies durch ein paar winzige Küchlein möglich sei.
»Ja, siehst du,« fuhr Fritz eifrig fort, der als Großstädter noch niemals die Entwickelung und das Gedeihen eines Hühnerbabys beobachtet hatte, »im Winter legen sie doch schon Eier, im Frühlinge kommen neue Küken dazu, und so haben sie in kurzer Zeit einen großen Hühnerhof, na, und wie teuer Eier und Geflügel sind, weißt du doch.«
Ja freilich, das wußte Kon aus Erfahrung, denn immer, wenn die Mutter einmal ausnahmsweise ein Huhn auf den Tisch brachte, versicherte sie, solche Leckerbissen könne man sich bei einer so zahlreichen Familie nicht oft erlauben. Konrad sah sofort das Praktische des Vorschlages ein und rief förmlich begeistert: »Laß uns sofort gehen und sie einhandeln, Magister.«
»Das verstehen wir beide nicht,« entgegnete dieser in weiser Selbsterkenntnis, »was meinst du, wenn wir den alten Pohl fragten?«
Der Bruder war es zufrieden, und sie suchten den Alten im Garten, wo sie ihn auch bald mit dem Reinigen eines Beetes beschäftigt fanden. Etwas zögernd und verlegen trug Fritz ihm ihr Anliegen vor.
Er nickte bedächtig ein paarmal, that ein paar Züge aus seiner kurzen Pfeife und sagte dann: »Vielleicht kann ich den jungen Herrn dazu verhelfen. Was meine Tochter ist, die Guste, die da droben am Berg wohnt, hat noch spät eine Glucke gesetzt, kann sein, daß sie sie verkauft, kann auch nicht sein.« Damit wandte er sich seiner Beschäftigung wieder zu, als sei die Sache hiermit erledigt.
Kon aber stieß den Magister an und flüsterte argwöhnisch: »Du, eine gesetzte Glucke, ist das so eine, wie wir sie haben wollen?«
Obgleich Fritz nun fünfzehn Jahre alt war, so hatte er doch nie im Leben von einer gesetzten Glucke gehört, er wollte diese Unkenntnis jedoch nicht eingestehen, sondern fragte vorsichtig: »Nicht wahr, Pohl, es sind doch auch Küken dabei?«
»Na natürlich, junger Herr, es sind alle acht gut ausgekommen, lauter bunte niedliche Dinger.«
»Können wir nicht gleich heute abend mitgehen, Pohl, und den Kauf abschließen?«
»Meinetwegen, wenn die jungen Herren es wollen.«
»Wir haben aber nur zwei Mark fünfzig Pfennig, Pohl,« gestand Fritz kleinlaut.
»Das ist sehr wenig, junger Herr, kann sein, daß die Guste, was meine Tochter ist, sie dafür hergiebt, kann aber auch nicht sein.«
Damit war die Unterredung nun wirklich beendet, und die beiden Jungen gingen höchst befriedigt ins Haus.
Am Abend wurde der Handel nun wirklich abgeschlossen; zwar lamentierte Guste, daß sie so schöne Küchlein für solchen Spottpreis hergeben solle, schließlich meinte sie aber, da es ein gutes Werk sei, wolle sie den jungen Herren nicht entgegen sein. Es wurde nun verabredet, daß die kleine Familie bis zu der Knaben Abreise in ihrem alten Stall bleiben, dann aber sofort nach der kleinen Kate in Grünberg übersiedeln sollte.