Lena Christ
Erinnerungen einer Überflüssigen
Lena Christ

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Inzwischen hatte eine andere in dem Weihnachtsspiele meine Rolle übernehmen dürfen; es war schon ein älteres Mädchen und hatte keine Stimme, weshalb die Präfektin zu mir sagte: »Das soll deine Strafe sein, daß du deine Partie zwar singen, aber nicht spielen wirst! Du hast dich hinter ein Gebüsch zu knien und zu singen, und niemand wird deinen Gesang bewundern, dafür werde ich sorgen!«

Und sie sorgte dafür; denn als meine Mutter, die man ebenfalls zu dem Festspiel »Nacht und Licht« geladen hatte, nach Beendigung desselben mit mir zusammen war, sagte sie: »Was war denn jetz dös, Leni? I hab doch deutli dei Stimm g'hört, hab di aber nirgends g'sehgn. Oder hat am End die Kloane, die's Licht g'macht hat, die gleiche Stimm wie du?«

Da erzählte ich ihr weinend die Geschichte von der Schürze und erwartete mit Angst großen Tadel. Doch wider Erwarten gab sie mir nicht nur recht, sondern ward sehr zornig und empörte sich über die Willkür, mit der man ihr Vorschriften machen wolle, wie sie ihr Geld auszugeben habe: »Was? Paßt hat's eahna net, daß i dir den Kleiderschurz g'schickt hab? I moan, daß i um mei guats Geld kaafa ko, was i mag, und brauch koane von dene Fluggen z'fragn, ob's arm g'nua is oder net!«

Als dann die Besuchsstunde bei den Obern gekommen war und meine Mutter gebeten wurde, im Sprechzimmer zu erscheinen, ging sie mit großen Schritten hinein und sagte nur ganz kurz: »Guten Tag.« Da hörte sie nun nichts als Klagen über mein weltliches Betragen und besonders über den frevelhaften Ungehorsam, den man mir mit den schärfsten Strafmitteln vergeblich auszutreiben versucht hätte.

Schweigend und finster blickend hatte sie zugehört und sagte jetzt bloß: »Herr Superior, lassen Sie's ihr Sach z'sammpacken, i nimm's mit hoam!«

Dies wurde ihr jedoch widerraten und man versprach ihr, es noch einmal mit mir versuchen zu wollen, worein die Mutter nach einigem Sträuben unter der Bedingung willigte, daß man mir meinen Fehler nicht weiter nachtrage, sondern gut zu mir sei.

Also reiste sie am andern Tag wieder ab, ohne mich mitzunehmen. Beim Abschied aber sagte sie noch: »Wenn wieder was is, na schreibst mir's; halt di nur brav und folg jetzt!«

Ich hatte aber alle Freude am Klosterleben verloren und ging nun wie ein Schatten herum, hatte nicht Lust noch Leid, aß nicht mehr und fing an zu kränkeln. Und nach einigen Monaten schrieb ich meiner Mutter, daß ich keinen Beruf zur Klosterfrau in mir verspüre; falls es ihr aber unangenehm wäre, wenn ich wieder nach Hause käme, bliebe ich ganz gerne als weltliche Lehrerin in der Anstalt.

Unsere Briefe wurden nun stets von der Präfektin kontrolliert, und so blieb ihr meine Absicht nicht lange verborgen. Eines Morgens sagte sie daher zu mir: »Was muß ich sehen, Magdalena! Du willst dem Herrn das Opfer deines Lebens also nicht bringen? Wie kannst du es dann wagen, den andern armen Kindern, die bereitwilliger sind als du, das Brot wegzuessen! Willst du nicht als Nonne hier sein, so brauchen wir auch deine Kenntnisse nicht. Doch besinne dich, noch ist es Zeit; bedenke die Vorteile, die Jesus seinen Bräuten bietet, und kehre nicht zurück in die Welt!«

Trotz dieser Ermahnungen machte ich mich am Aschermittwoch, nachdem mir meine Mutter geantwortet hatte, ich solle ruhig nach Hause kommen, der Vater sei krank und man könne mich notwendig brauchen, zur Reise fertig und nahm Abschied von den Obern. Sie ließen mich zwar ungern ziehen, doch konnten sie mich nicht mehr halten. Die Präfektin aber rief: »Magdalena, Magdalena, du bist verloren, du gehst zugrunde! Schon sehe ich den Abgrund der Weltlichkeit, in den du fallen wirst. Doch geh in Frieden, mein Kind, falls die Welt noch einen für dich hat!«

Gaffend umstanden mich die Kandidatinnen, als Schwester Archangela dies gesagt, und als ich nun auch ihnen Lebewohl sagen wollte, da kehrten sie sich verächtlich von mir ab und eilten in den großen Lehrsaal, um für mich arme Verlorene zu beten.

Traurig ging ich nun zur Schwester Cäcilia. Sie brach in Tränen aus und nahm mich in ihre Arme: »Nun bin ich wieder allein! O, warum gehen alle wieder weg, kaum daß sie begonnen!«

Auch ich begann zu weinen, und sie tat mir von Herzen leid; denn während meines eineinhalbjährigen Aufenthalts im Kloster waren vierzehn Musikkandidatinnen eingetreten und nach kurzer Zeit wieder davongelaufen. Nachdem sie mir noch alles Glück für kommende Zeiten gewünscht hatte, entließ sie mich, und ich trat erleichtert in das kleine Zimmerchen, das mich bei meinem Eintritt empfangen hatte. Während ich dort auf mein Gepäck wartete, dachte ich noch über die Vorwürfe nach, die man mir wegen meines Wegganges gemacht. Doch sie trafen mich nicht schwer, da mir angesichts der ernsten Krankheit meines Vaters das Verlassen des Klosters nicht als eine Schuld, sondern als eine Kindespflicht erschien.

Eine Schwester, die mir mein Gepäck übergab und mir meldete, daß der Stellwagen schon draußen sei, riß mich aus meinen Gedanken, und ich stieg rasch ein. Oben hinter den Fenstern standen die Kandidatinnen und blickten mir verstohlen nach. Ich sah noch einmal zurück, dann zogen die Pferde an – und dahin ging's.

Als ich nun so allein in dem Wagen saß, war es mir, als schwände in dem Maße, in dem ich mich vom Kloster entfernte, auch alles Trübe, und plötzlich kam eine so sonnige Heiterkeit über mich, daß mich die Welt mit einem Male viel schöner dünkte, obschon draußen noch alles trotz des beginnenden Märzes an den Winter gemahnte, und nur vereinzelte, unter schmutzigem Schneewasser stehende Wiesen und die großen Pfützen auf den Wegen den kommenden Frühling ahnen ließen.

Rasch trat ich in Kamhausen an den Schalter und löste meine Fahrkarte, da der Zug schon bereitstand.

Während der Bahnfahrt hatte ich fast keine Zeit mehr, über das Vergangene nachzugrübeln; denn die zahlreichen Passagiere aus den verschiedensten Gegenden erregten meine ganze Aufmerksamkeit. War mir doch im Kloster die ganze Welt samt ihren Wesen so fremd geworden, daß ich mich nur ganz langsam, wie im Dunkeln tappend, wieder unter den Menschen zurechtfand. Mit Ausnahme der Priester und Nonnen hatten sie jetzt alle etwas Beängstigendes für mich; denn erstlich wurden im Kloster alle außer den Geistlichen als Verlorene betrachtet, anderseits aber in den eindringlichsten Worten vor ihnen als vor lauter Wölfen in Schafskleidern gewarnt.

Ich besah mir also jeden einzelnen ganz genau, ob nicht irgend etwas Auffälliges in seinem Wesen oder Äußern auf die verborgene Wolfsnatur hinweise, und dabei drückte ich mich scheu in meine Ecke und hielt die Augen halb gesenkt, wie ich es bei den frommen Frauen gelernt hatte; doch ging mir trotzdem nichts von all dem verloren, was um mich her geschah.

Mir gerade gegenüber saßen zwei elegant gekleidete Herren, aus deren lebhafter Unterhaltung ich entnahm, daß sie Geschäftsreisende waren und der eine in Augsburg, der andere in München zu tun hatte. Der erstere, ein etwa Mitte der Dreißig stehender Mann von ausgesprochen jüdischem Äußern, erzählte eben dem etwas jüngeren Reisegefährten, der mir von gleichem Stamme zu sein schien, wie er die letzte Nacht in Ulm verbracht hätte: daß er nicht nur die Tochter und das Stubenmädchen seines Gasthofs, sondern auch noch die Frau Wirtin selbst erobert hätte. Lachend fragte der andere halblaut, ob das Töchterl auch so bescheiden und sittsam hergesehen habe, wie die junge Klostermamsell da drüben; und zugleich fingen beide an, sich über meine Schüchternheit, sowie über meinen halb klösterlichen, halb weltlichen Aufzug lustig zu machen. Ich wußte vor Verlegenheit kaum mehr aus noch ein und starrte mit hochrotem Gesicht bald aus dem Fenster, bald vor mich hin.

Da erblickte ich weiter vorn einen alten Bauern, der auf einem schmierigen Blatt seine Einnahmen vom Viehverkauf nachrechnete, wobei er sich abwechselnd hinter den Ohren kraute oder heftig fluchte.

Am andern Ende des Wagens unterhielten sich lärmend etliche Soldaten, die wohl auf Urlaub gehen mochten. In ihrer Nähe saß ein junges Mädchen in ländlicher Kleidung und suchte sich vergeblich der Zudringlichkeiten eines der Burschen zu erwehren. Dieser hatte die sich Sträubende fest um die Hüfte gefaßt, und als sie sich endlich heftig von ihm losriß, fiel sie einem andern auf die Knie, was ein brüllendes Gelächter zur Folge hatte.

Ich war während dieser Szene immer erregter geworden und wollte schon dem also gehetzten Mädchen zu Hilfe eilen, als der Zug mit lautem Getöse in Augsburg einfuhr, wo ich umsteigen mußte.

Während der Stunden, die ich dort Aufenthalt hatte, ging ich in den Dom und erbat mir von Gott Schutz auf meiner weiteren Fahrt; insonderheit aber betete ich für die Bekehrung jener Soldaten.

Auf dem Weg zum Bahnhof kaufte ich mir noch Wurst und Brot. Beim Essen aber fiel mir plötzlich ein, daß ja am Aschermittwoch strenger Fasttag sei und man im Kloster heute gewiß dem üblichen Fasten auch noch große freiwillige Abstinenz hinzufüge. Doch siegte am Ende mein Hunger über die Gewissensbisse und ich aß mit großem Behagen.

Als ich dann unschlüssig vor dem Zuge stand und ein Schaffner meine ängstliche Miene sah, wies er mir freundlich ein Frauenabteil an, und ich kam ohne weiteren Zwischenfall nach München.

In dem lebhaften Gewühl des Hauptbahnhofs befiel mich mit einem Male wieder große Angst vor den Menschen, und ich fühlte deutlich, wie ich immer armseliger und kleiner wurde, während ich ganz nahe an den Wagen und der Lokomotive vorbei dem Ausgang zuschlich.

Da fühlte ich mich plötzlich am Arm ergriffen, und als ich erschreckt umblickte, stand lachend mein ältester Bruder vor mir und begrüßte mich: »Ja, Leni, grüß di Gott! Bist du aber groß und stark wordn; i hätt di bald net g'funden, so hast di verändert.«

Ich dankte ihm frohen Herzens, daß er mich erwartet hatte, und seine Worte, ich sei so groß geworden, entrissen mich wieder etwas dem Gefühl meiner Unbedeutendheit und Nichtigkeit und ich wurde ziemlich gesprächig auf dem Heimweg.

Je näher wir unserem Hause kamen, desto mehr Bekannte trafen wir, und immer wieder wurden wir von irgend einem neugierigen Weiblein aus der Nachbarschaft aufgehalten; denn meine Eltern waren in dem Stadtteil sehr beliebt und hatten weitaus die beste Gastwirtschaft des Viertels.

Vor dem Hause angelangt, traten wir gleich durch die Tür der Gaststube ein. Kaum hatten mich unsere Stammgäste erblickt, sprangen sie auf und riefen durcheinander: »Jessas, unser Lenerl is wieder da! Juhe!« »Servus, Fräuln Leni!« »Grüß di Gott, Klosterfrau!« »Marie, 'n Humpen her! Unser Lenerl soll leben!«

Während nun die Gäste meine Rückkehr durch einen kräftigen Rundtrunk feierten, trat ich in die Schenke zu meinem Vater, ihn zu begrüßen. Er sah recht leidend aus und meinte: »Höchste Zeit hast g'habt, Leni, daß d'kommen bist, sonst hätt'st mir bald mit der Leich geh könna.« Hierauf gab er mir einen Kuß und besah mich prüfend, ob ich auch mehr geworden sei.

Inzwischen hatten mich meine andern Brüder und die Dienstboten umringt und konnten nicht fertig werden, mein gutes und feines Aussehen zu bewundern. Ich drängte mich lachend hindurch und trat in die Küche, wo die Mutter geräuschvoll hantierte und das Mittagessen für die Gäste fertig machte. Ich ging rasch auf sie zu, wollte ihr die Hand geben und sagte: »Grüß dich Gott, Mutter!«

Ohne den Kochlöffel aus der Hand zu lassen, mit dem sie eben ein Teiglein für das Blaukraut rührte, antwortete sie:

»Ah, bist scho da, grüß Gott! Laß nur, is scho recht; i hab fette Händ! Tu nur glei dein'n Hut und dös Klosterkragerl weg und ziag an Schurz oo, na kannst glei d'Supp'n und 'n Salat für d'Leut hergebn!«

Also begann ich wieder die Wirtsleni zu sein; und obschon mir anfangs gar nicht wohl war in dem weltlichen Getriebe eines Gasthauses, so fand ich mich doch bald wieder darin zurecht und stimmte im stillen oft der Mutter bei, wenn sie den Leuten auf die vielen Fragen, warum ich nicht im Kloster geblieben sei, antwortete: »Weil's a Schand wär, wenn dös Mordsmadl im Kloster rumfaulenzen tät und d' Muatta dahoam fremde Leut zahln müßt für d'Arbeit!«

Und an Arbeit fehlte es in unserm Hause niemals. Schon am frühen Morgen hieß es aus den Federn; um halb sieben Uhr stand ich in der Wirtsküche und schürte den großen Herd, kochte Kaffee und bereitete die Speisen zum Frühstück der Gäste. Dann holte ich aus dem Schlachthaus, wo der Vater schon seit fünf Uhr mit dem Zerteilen von Kalb und Schwein, sowie mit dem Wurstmachen beschäftigt war, eine große Mulde mit Weiß- und Bratwürsten und ordnete sie auf große Platten.

Zugleich mit mir mußte auch die Küchenmagd an ihre Arbeit: das Gastlokal, die Küche und Schenke, und was dazu gehörte, aufwaschen und kehren; doch freute es mich jetzt nicht mehr, dabeizustehen und zu horchen wie früher; denn die Zenzi vom Rottal war schon längst nicht mehr da, und die gefühlvollen Lieder, welche die jetzige Küchenmagd bei ihrer Arbeit sang, kannte ich schon alle.

Während ich nun gewöhnlich noch mit dem Anrichten der Würste beschäftigt war, fuhr draußen der Wastl, der Bierführer, vor und rollte zehn bis zwölf Banzen in die Schenke, von wo sie durch den Aufzug in den Eiskeller befördert wurden.

Da der Wastl als Geizhals bekannt war, machte ich mir alle Tage das Vergnügen, ihm den Teller mit den Weiß- oder Bratwürsten unter die Nase zu halten, indem ich rief»Wastl, heut san d'Weißwürst guat! Derf i dir a paar auf d'Seitn legn?« worauf er mich immer grimmig anschrie: »Laß mi aus damit!« dabei aber dem entschwindenden Teller doch einen sehnsüchtigen Blick nachsandte.

War der Wastl fort, so kam das Flaschenbier, und da gab es immer eine große Hetz, wenn der Dannervater, ein nicht mehr gar junger Bierführer, der eine Frau mit neun Kindern fröhlich ernährte, die Hausmagd in die Hüften kniff oder durch die Gaststube jagte und sie zu küssen versuchte. Dann ertönte plötzlich aus dem Schlachthaus, das unterhalb der Schenke gelegen war, ein lauter, strenger Pfiff des Vaters, und lautlos machte sich der alte Sponsierer davon.


 << zurück weiter >>