Lena Christ
Erinnerungen einer Überflüssigen
Lena Christ

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Inzwischen hatten die Pilger sich in Gruppen geteilt, die einen weilten im Kloster, die andern in den verschiedenen Kirchen des Ortes. Draußen vor der Gnadenkapelle aber hatten jene, die besonders viel von der Gnadenreichen erlangen oder für irgend eine geheime Schuld Sühne tun wollten, eins der zahlreich daliegenden Holzkreuze auf die Schulter geladen und schleppten dieses nun, bald aufrecht gehend, bald auf den Knien rutschend, laut betend und weinend um den sogenannten Kreuzgang. Ich weiß nicht, wie es kam und was ich wollte: kurz, ich befand mich plötzlich unter den Kreuztragenden; da das massive Eichenkreuz aber meiner Schulter ziemlich weh tat, ließ ich es bei dem dreimaligen Umgang bewenden und übergab mein Kreuz einer dicken Frau, deren böse Zunge weit und breit gefürchtet war. Mit einigen Freundinnen besah ich mir dann den ganzen Ort, die Kirchen, das Kapuzinerkloster und den Markt für Wallfahrtsandenken und verwunderte ich mich über den üppigen Handel und die Gewinnsucht an dieser frommen Stätte. Dazwischen sorgten wir auch für des Leibes Notdurft; denn es war alles schon vorausbestellt worden von unserm vorsorglichen Präses. Den Tag beschloß noch eine schöne Feier mit Illumination der Kapelle, und nach einem einfachen Nachtmahl begaben wir uns in unsere Schlafkammern. Die Vermögenderen hatten sich ein Bett für sich allein gesichert; die Ärmeren aber mußten je zwei in einem Bett schlafen. Da mir meine Mutter die Ausgabe für ein eigenes Bett nicht bewilligt hatte, so mußte ich es mit einer Mitschwester teilen. Ich fragte daher meine liebste Freundin, ob sie mich als Störenfried wolle. Sie war gern bereit, und so verbrachten wir die Nacht unter Flüstern, Kichern, Scherzen und Kosen.

Der neue Tag brachte wieder viel des Erbaulichen und Ernsten, doch wurde ich zuletzt müde von allem und war froh, als am Dienstag in der Früh das Schlußamt mit Generalkommunion am Gnadenaltar gefeiert wurde. Als aber hierbei am Chor plötzlich die kindlichen Stimmen von etwa zwanzig Knaben an mein Ohr tönten und sie das uralte Abschiedslied von der »schwarzen Mutter Gottes« sangen, ward es mir schwer ums Herz und ich konnte mich kaum losreißen von dem Gnadenbilde. Ganz traurig schloß ich mich den andern an und brachte beim Singen kaum mehr einen Ton heraus.

So kam es, daß ich recht niedergeschlagen daheim ankam und ernste Vorwürfe von meiner Mutter wegen meiner scheinbaren Undankbarkeit zu hören bekam.

War ich schon vorher nicht gerne in der Gastwirtschaft tätig gewesen, so hatte ich jetzt, seit ich Pilgermädchen war, die ganze Freude an dem öffentlichen und lauten Leben verloren; doch wurde ich von meiner Mutter, trotzdem sie so religiös schien, fest angehalten, überall, wo es vonnöten war, einzuspringen. Bald war ich in der Küche das Spülmädchen oder die Köchin, bald in der Gaststube die Kellnerin; denn da die Mutter oft recht grob mit dem Dienstvolk war, lief bald die eine oder andere wieder weg. Am meisten zuwider war mir der Aufenthalt in der Gaststube; denn war ich bei den Gästen ernst und schweigsam, so schalt die Mutter, daß ich ihr die Leute vertreibe; war ich aber freundlich und heiter, so nützten das viele rohe und wüste Kerle aus und belästigten mich nicht nur mit allerhand Zoten und zweideutigen Fragen, sondern quälten mich manchmal in der unsaubersten Weise, indem sie mich an den Beinen faßten, Küsse verlangten oder sonstige aufdringliche Zärtlichkeiten versuchten.

Kam ich dann also gehetzt zur Mutter und klagte ihr solche Dinge, so wurde sie sehr erbost und schalt mich heftig, daß ich mich nicht zu benehmen wisse: »Was muaßt di denn hi'stelln dafür? Scham di; bist fufzehn Jahr alt und no so dumm! Da sagt ma halt, i hab jatz koa Zeit und geht freundli weg!«

Oft dachte ich über diese Worte nach und versuchte mich danach zu richten; doch waren alle meine Bemühungen, die Zudringlichkeiten solcher Burschen mit Liebenswürdigkeit abzuwehren, erfolglos, und ich fürchtete ständig, meine Unschuld zu verlieren. Da faßte ich am Ende den Entschluß, meinem Beichtvater diese Vorfälle mitzuteilen, ich hatte aber nicht den Mut, dem alten Kooperator, der immer noch mit Vorliebe nach den Heimlichkeiten seiner Beichtkinder fragte, davon zu erzählen.

Da kam ein neuer Geistlicher an unsere Pfarrei, der noch sehr jung war und erst vor kurzem seine Primiz gefeiert hatte. Diesem beichtete ich nun ausführlich und er sprach mir gut und freundlich zu, fragte mich nur wenig und gab mir am Schluß noch viele Ratschläge. Ich war sehr beruhigt nach dieser Beichte und ging nun regelmäßig zu ihm. Bald wurden wir auch wegen des Singens näher bekannt, und ich besuchte ihn des öfteren in seiner Wohnung. Dabei entwickelte sich zwischen uns bald eine Art Freundschaftsverhältnis und ich fand bei ihm Trost und Zuspruch, wenn ich ihm erzählte, wie es mir daheim erging. Als er nach kurzer Zeit in eine andere Pfarrei versetzt wurde, wurde ich durch seine Vermittlung an dieser Kirche erste Sopranistin und Solosängerin. Als auch hier die Besuche ihren Fortgang nahmen, wußte ich bald, daß ich ihn liebte, und ich mußte mich oft mit aller Gewalt zusammennehmen, um ihm das nicht zu sagen; denn ich sah wohl, daß auch auf seiner Seite eine Neigung war. Doch immer wußte er sich zu beherrschen und verstand auch meine Gefühle im Zaum zu halten. Wie oft stand ich zitternd vor ihm und sah ihn mit den verliebtesten Augen an oder küßte stürmisch seine Hand. Dann blickte er mich freundlich an, streichelte mir die Wange und sagte: »Ja, ja, Kind, du bist halt mei Singvogel!... Was schaust denn no?... Ja so, a Bildl magst no, gel!« worauf ich hochrot, mit leiser Stimme entgegnete: »Ja, bitt schön, Herr Hochwürden!«

»So Kind, such dir eins aus. Magst na an Kaffee aa?«

In meiner Verwirrung vermochte ich ihm keine rechte Antwort zu geben.

Da rief er der halbtauben Wärterin: »Lies, mein' Kaffee!« und zu mir gewendet fuhr er fort: »Woaßt, Kind, i hab aber bloß oa Taß. Trinkst halt du z'erst den dein', gel!« und damit führte er mich zum Kanapee, setzte sich zu mir und plauderte von erbaulichen Dingen. Ich aber hörte kaum zu, sondern betrachtete unausgesetzt seine Hände und Knie und dachte nur den einen Gedanken: »Wann i dich nur bloß ein einzigs Mal so viel lieb haben dürft!«

Da brachte er mich mit den Worten: »Hast aber aa g'nug Zucker drin?« wieder zu mir selber, worauf er den Kaffee versuchte, mir noch ein Stücklein hineintat und mich trinken hieß.

Als ich getrunken hatte, meinte er: »So, Kind, jetzt hast von mir an Kaffee kriegt und a Bildl. Was kriag jetzt i?«

Da dachte ich voller Ängsten, er würde sagen: »Ein Bußl«, aber er fuhr fort: »Gel, jetzt kriag i dafür a recht a schöns Lied; aba koa heiligs, denn di hör i so allweil!«

Da sang ich das Lied von dem Dirndl, das um Holz in den Wald geht, ganz zeiti in der Fruah und dem sich nachischleicht a saubrer Jagasbua.

Als ich die erste Strophe gesungen hatte, wobei er mich am Harmonium begleitete, meinte er: »Ah, dös war aber schö; aber recht arg verliabt. No, es macht nix; von den Wirtstöchtern woaß ma's scho, daß was solches aa lernen. Kannst no mehr von dem Liedl?«

»Bloß noch eine Stroph', Herr Hochwürden! Aber die is no verliabter.«

»Dös macht nix, Kind Gottes, sing nur weiter!«

Da sang ich:

Drauf sagt der Jaga zu der Dirn,
Geh, laß dei Asterlklaubn;
I möcht so gern mit dir dischkriern
Und dir in d'Äugerln schaugn.
Das Dirndl sagt: Dös ko net sei,
Daß du mir guckst in d'Augn,
Denn d'Jaga derfan, wia i woaß,
Ja nur ins Greane schaugn.

Da läutete es. Er sah nach, und eine alte Betschwester stand an der Tür; da hieß er sie warten und verabschiedete mich mit den Worten: »Jetzt muaßt geh, liabs Kind, jetzt haben d'Mauern Ohren kriagt.« Damit schob er mich durch sein Schlafzimmer an die Tür, und während ich heraustrat, sah ich ihn schon die alte Frau empfangen.

Doch nicht lange mehr dauerten diese Besuche; denn er wurde abermals befördert und kam als Benefiziat in ein geistliches Institut.

Als ich dann von ihm Abschied nahm und ihn zum letztenmal um seinen Segen bat, stand er ergriffen auf und trat zum Weihbrunnkessel, während ich vor ihm niederkniete. Plötzlich aber umfaßte ich seine Knie und preßte mein Gesicht daran, indem ich laut weinend rief. »O mein lieber, lieber Hochwürden!«

Da machte er ganz ruhig seine Knie frei, zog mich in die Höhe und sagte, indem er meinen Kopf zwischen seine Hände nahm: »Kind, geh jetzt, es wird Zeit, du muaßt hoam«, und dabei rannen ihm ein paar Tränen über die Wangen. Da ergriff ich nochmals seine Hand, küßte sie drei-, viermal heftig und lief dann davon.

Auf der Straße schaute ich noch einmal um. Da stand er am Fenster und winkte mir freundlich zu.

Einmal noch sah ich ihn, ohne aber mit ihm reden zu können; denn es war, als wir uns eben in feierlicher Prozession zur Wallfahrt nach Grafrath auf den Weg machten. Er stand mit einer alten, ehrwürdigen Dame, die wohl seine Mutter sein mochte, an einer Straßenecke, und ich mußte hart an ihm vorbei. Als er mich erblickte, huschte es wie große Freude über sein Gesicht, und lächelnd nickte er mir einige Male grüßend zu und wandte sich danach schnell zur Seite. Ich war über dieses Wiedersehen, so flüchtig es war, sehr beglückt und dachte während der Wallfahrt viel an ihn und empfahl ihn an der dem heiligen Rasso geweihten Stätte inbrünstig der Fürbitte dieses Heiligen.

Fröhlich kehrte ich von dieser Pilgerfahrt zurück und nahm mir vor, den Freund an einem der nächsten Tage aufzusuchen. Doch ich kam nicht dazu; denn daheim fand ich meine Brüder an Diphtherie erkrankt.

Indem ich sie noch pflegte, wurde ich selbst davon ergriffen und konnte erst nach Wochen das Bett verlassen.

Als ich aufgestanden war, versuchte ich sofort wie zuvor mich wieder um das Hauswesen zu kümmern.

Da dies die Mutter sah, hielt sie mich schon für gesund und trug mir daher mehr auf, als ich leisten konnte. So kam es, daß ich wieder täglich kränker wurde und endlich vor Mattigkeit mich alle Augenblicke niedersetzen oder anlehnen mußte. Das nahm man aber für Faulheit, und besonders die Mutter beklagte sich darüber: »Nur schö langsam! Heut a Trumm, morgen a Trumm! Bis i an Steckn nimm und zoag dir, wie ma arbat!«

Ich nahm mich nun recht zusammen; doch während ich das Schlafzimmer meiner Eltern aufräumen wollte, befiel mich wieder eine solche Müdigkeit, daß ich mich aufs Sofa setzen mußte, um zu rasten. Ich schlief ein und erwachte erst, als meine Mutter mir einige Schläge auf den Kopf gab; denn es war inzwischen Mittag geworden und sie kam, frische Servietten für die Stammgäste zu holen. Voll Zorn schrie sie mich an: »Da hört si do scho alles auf! Mittn am Tag legt si dös faule Luder hin und schlaft, anstatt z'arbatn! Aber wart, i hilf dir! Augenblickli wichst ma jetzt den Schlafzimmerboden; und sauber wann net alles is, dann Gnade Gott! Jatz is elfe; um zwoa komm i rauf, da will i alles ferti sehgn!«

Mir war ganz dumm im Kopf, aber ich begann trotzdem wieder zu arbeiten. Als ich etwa ein Drittel des Zimmers mit Stahlspänen abgerieben hatte, drehte sich plötzlich alles vor meinen Augen und ich wußte nichts mehr.

Lange muß ich so dagelegen sein; denn kaum hatte ich wieder zu arbeiten begonnen, schlug es zwei Uhr. Ich war vor Schrecken ganz ratlos, denn ich hörte die Mutter kommen. Als sie sah, wie wenig ich gearbeitet hatte, schrie sie: »Was, du bist no net ferti! Ja, da is ja no net amal richti o'g'fangt! Du willst mi, scheint's, zum Narren haltn, du Kanallje!« Dabei trat sie mich mit Füßen und riß mich an den Haaren in die Höhe.

Mühsam fing ich wieder an zu arbeiten, während die Mutter an den Waschtisch gegangen war und sah, daß ich das Wasser noch nicht ausgeleert hatte. Da schrie sie: »Ja, was is denn dös! Net amal d'Waschschüssel hat s'ausg'leert und a frisch Wasser reitragen!«

»Ja mei, i hab ma's ja net z'tragen traut, die teure Schüssel, weil mi alle Augenblick der Schwindel anpackt.«

»Was Schwindel! Dir treib i dein' Schwindel aus. Sofort leerst die Schüssel aus! I möcht wissen, für was ma dir z'fressn gibt, du langhaxats G'stell!« rief sie und stieß mich an den Waschtisch.

Ängstlich faßte ich die schöne Schüssel, die von zarter, himmelblauer Farbe war, mit einem goldenen Rand, und eine Muschel darstellte. Im Innern war ein Bild, das zwei Mädchen in fremder Tracht zeigte, die am Meeresstrand standen und einen in einem Segelboot sitzenden Burschen aus flachen Schalen mit Wasser bespritzten. Den Krug schmückte eine ähnliche Szene; das Geschirr war alt und kostbar und der Name des Künstlers stand darauf geschrieben.

Schwankend trug ich also die Schüssel durch das Zimmer, als ich plötzlich einen Stoß verspürte, worauf ich zu Boden stürzte. Die Mutter hatte es getan; denn ich war ihr zu langsam gegangen.

Starr blickte ich erst auf die Wasserlake, dann auf die Scherben und vergaß, aufzustehen, bis mich die Mutter mit dem Ochsenfiesel des Vaters daran erinnerte.

Eine halbe Stunde später, als ich, die blutigen Striemen an meinem Körper betrachtend und vor Schmerzen an Brust und Rücken stöhnend, bemüht war, das Unheil wieder gut zu machen, ging die Mutter fort mit der Drohung: »Dawerfa tua i di, wenn i net die gleiche Schüssel kriag!«

Ich hielt das letztere für ausgeschlossen bei der Kostbarkeit derselben und zog deshalb meinen Regenmantel an und schlich mich, nachdem ich aus meiner Sparbüchse noch etwas Geld zu mir gesteckt hatte, davon.

Planlos und ohne an etwas zu denken, lief ich durch die Nymphenburger Straße hinaus über Laim und befand mich endlich auf der Straße, die nach Großhadern führt. Die Sonne war schon im Untergehen und über den Feldern stand ein leichter Nebel; denn es war schon im Spätsommer.

Ich blieb stehen und sah mich um. Da durchfuhr mich ein kalter Schauer, und als ich weiter gehen wollte, wurde mir schon nach wenigen Schritten so übel, daß ich mich erbrechen mußte und danach ohnmächtig auf der Landstraße hinfiel.


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