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Der Türke und die Futuristen

Mr. Adrian Krug hatte eine gutgehende Apotheke, doch aus seinem Gesicht sprach mehr, als man im allgemeinen von einem Apotheker erwartet. Es war ein etwas merkwürdiges Gesicht, wie wenn es vorzeitig gealtert wäre, aber es war scharf geschnitten und sah sehr bestimmt aus, in jeder Linie kam etwas Geistiges zum Ausdruck. Und auch aus jedem Worte seiner Unterhaltung, wenn man ihr diesen Namen geben will, leuchtete es heraus. Er hatte viele Länder gesehen, er besaß einen reichen Schatz von Erfahrungen und mischte auch in die Unterhaltung, was er über die Schattenseite seines Berufes wußte, über orientalische Zaubermittel oder die Giftmischereien der Renaissancezeit. Er war ein sehr angesehener und sehr zuverlässiger Apotheker und hatte eine ganze Reihe von Familien der oberen Klassen zu Kunden, aber seine Lieblingsbeschäftigung war das Studium jener dunklen Zeiten und Länder, in denen seine Wissenschaft nur abergläubischen oder verbrecherischen Zwecken diente, so daß seine Apotheke in den Geruch kam, als würde dort schwarze Magie getrieben.

In diese Apotheke trat Hibbs Indessen, diesmal nicht, um mit dem Apotheker eine wissenschaftliche Frage zu erörtern, sondern um ein Glas von derselben belebenden Medizin zu nehmen, die er auch damals eingenommen, als Levyson ihn am offenen Fenster gefunden hatte. Allein trotzdem Hibbs vor Levyson kein Geheimnis zu verbergen hatte, so war er doch überrascht und sogar verlegen, als auch Levyson eintrat und dasselbe verlangte. Doch schien Levyson, nach seinem körperlichen Befinden zu schließen, weit eher berechtigt zu einer solchen Erfrischung zu sein als Hibbs.

Kein Glück gehabt, antwortete Levyson auf die stumme Frage von Hibbs, diese Burschen haben ein Loch gefunden, durch das sie mir entschlüpft sind. Die Polizei hat sich geweigert, sie zu verhaften, und auch der alte Wiesen war der Ansicht, daß das Gesetz keine Handhabe zum Einschreiten biete. Ich habe jetzt genug davon, wohin gehen Sie jetzt?

Ich hatte die Absicht, einen Augenblick in die Ausstellung der Postfuturisten zu gehen, ich glaube, auch Lord Ivywood wird dort sein, er will, glaube ich, dem Propheten die Ausstellung zeigen. Ich will nicht gerade behaupten, daß ich viel von Kunst verstehe, aber ich hörte, die Ausstellung soll sehr gut sein.

Nach einem längeren Schweigen sagte Levyson: Die Menschen haben immer ein Vorurteil gegen das Neue.

Darauf entstand wieder ein längeres Schweigen, und dann sagte Hibbs: So war es auch mit Whistler.

Darauf gingen die beiden auf die Straße. Die Sonne schien ebenso hell auf London wie am Tage zuvor auf die Friedensstadt. Die Ausstellung war in einer kleinen, sehr vornehmen Galerie, einem hübschen Rokokoschlößchen, dessen Stufen bis fast an die Themse hinabgingen. Unter dem Eingange am oberen Ende der Stufen stand Misysra Amnion in einem ungewöhnlich prächtigen Aufzuge und lachte seinen Freunden schon von weitem entgegen.

Sie wollen sich auch ansehen die Verzierungen, sagte der Prophet, sie sind gut, ich kann sie empfehlen.

Levyson sagte nichts, aber Hibbs sagte:

Ja, wir wollen uns die postfuturistischen Bilder ansehen.

Es gibt keine Bilder hier, sagte überzeugend der Türke, Bilder könnte ich nicht billigen, Bilder sind Götzendienst, aber hier sind keine Götzenbilder, ich habe jeden Rahmen ganz genau geprüft, und ich billige jedes einzelne. Es ist kein Menschenbildnis darunter und auch kein Tierbildnis. Diese Verzierungen sind so gut wie auf unsern Teppichen. Sie beleidigen unsere religiösen Gefühle nicht. Auch Lord Ivywood ist davon befriedigt, und ich habe ihm gesagt, daß die Ausstellung ein Beweis ist, wie große Fortschritte der Islam macht.

Hibbs, dessen stärkste Seite der Takt war, hielt es nicht für richtig, daß der große Misysra von den Treppenstufen auf offener Straße gegenüber dem Flusse eine Rede hielt, er schlüpfte in die Ausstellung hinein und forderte mit einer allgemeinen Einladung auch die übrigen auf, ihm zu folgen.

Im ersten Raume stand Lord Ivywood wie eine marmorne Statue, auf der Sofainsel in der Mitte saß Enid Wimpole im Gespräch mit Dorian, weiter hinten schlenderte Lady Joan Brett, aber ihre Bewegungen vor den postfuturistischen Gemälden konnte man nicht als verständnisvolle Anerkennung deuten, nicht einmal als Interesse, sie schien gelangweilt zu sein. Einzelne kleinere Gruppen gingen durch die Säle. Die Gemeinde der Postfuturisten war nicht groß, aber eben gerade groß oder klein genug, um ein Land zu beherrschen, wenn es ein Land ohne Religion ist. Sie hat auch die Eitelkeit des Mobs und die schweigende Zurückhaltung einer Gesellschaft.

Levyson ging sogleich auf Lord Ivywood zu, zog ein Päckchen Papiere aus der Tasche und erklärte, auf welche Weise das Entschlüpfen gelungen sei. Ivywoods Gesicht veränderte sich kaum merklich, er stand über den Dingen oder wollte es wenigstens. Und einer seiner Grundsätze war, niemals einen Untergebenen zu tadeln in Gegenwart von Höhergestellten dieses Untergebenen. Aber niemand könnte behaupten, daß er jetzt weniger einem kalten Marmor geglichen hätte.

Ich habe alle Nachforschungen angestellt, die nur möglich waren, um zu erfahren, welche Richtung die Flüchtlinge genommen haben, sagte der Sekretär, sichere Anzeichen sprechen dafür, daß: sie die Richtung nach London eingeschlagen haben.

Um so besser, versetzte die marmorne Statue, um so eher wird man sie fassen.

Seit dem Tage, an welchem Dorian Wimpole von einem gewöhnlichen Polizisten verhaftet worden war, bewegten sich seine Gefühle nicht in der Richtung der Ideale von Mr. Hibbs; das plötzliche Erscheinen des untadeligen Diplomaten erregte ihn aufs neue, aber er konnte Hibbs nicht beleidigen, da er ihn gesellschaftlich gar nicht kannte, er konnte Ivywood nicht beleidigen, da er sich eben erst formell mit ihm ausgesöhnt hatte, er suchte aber irgendwie eine Entladung. Vergeblich versicherte Levyson von Zeit zu Zeit, daß die Menschen zuerst immer gegen das Neue sind, aber auch das besänftigte die Wut Dorians nicht. Auch nicht, daß Hibbs immer hinzufügte, auch Whistler sei lange unverstanden geblieben.

Dieser kleine Türke hat mehr Verstand als ihr alle, sagte Dorian angriffslustig, er betrachtet die Bilder als eine gute Tapete. Ich bin zwar der Meinung, daß sie eine sehr schlechte Tapete sind, sie könnte einen Menschen krank machen, wenn er es nicht schon ist. Ein Bild aber ist kein Bild, wenn man kein Bild darauf sieht. Diese Bilderausstellung ist wie eine Straße, auf der gewöhnlich auch nichts zu sehen ist. Oder siehst du etwas?

Ja, sagte Ivywood gutmütig, ich will dir das »Bildnis einer alten Frau« zeigen.

Welches ist es? fragte Dorian kühl.

Hibbs suchte eifrig, zeigte aber unglücklicherweise auf den »Regentag in den Apenninen«, und diese Verwechslung steigerte noch die Gereiztheit Dorians. Erst nach einer lebhaften Bewegung, wobei Dorians Ellenbogen Hibbs etwas streifte, zeigte dieser mit dem Zeigefinger nach dem richtigen Bilde und blieb längere Zeit ganz verwirrt, so daß er sich nach dem Erfrischungsraum zurückzog, dort zwei Hummerbrötchen aß und ein Glas von jenem Champagner hinunterstürzte, der ihm schon einmal zum Verhängnis geworden war. Aber er trank diesmal nur das eine Glas und kehrte wieder zurück mit einem stärkeren Gefühl von Verantwortlichkeit. Er fand Dorian Wimpole in einem Gespräch mit Ivywood, dessen Interesse an der Sache rein intellektuell schien, aber darum nicht weniger echt.

Du sagst, daß die Kunst von Grund aus geändert werden müsse, sagte Dorian, indem er jedes Wort betonte, ich will den Urgrund der Kunst feststellen. Alle Dinge haben die Bestimmung, in andere Formen überzugehen. Ich vermag in diesen Bildern keine Überbetonungen zu sehen, weil ich nicht den Gegenstand sehe, der betont werden soll. Man kann nicht die Federn einer Kuh oder die Hufe eines Walfisches übertreiben, man kann sich den Scherz leisten, eine Kuh mit Federn zu malen oder einen Walfisch mit Hufen, aber ich glaube kaum, daß darin nach deiner Auffassung das Wesen der Kunst liegt. Du siehst, daß selbst dann der Witz erst verständlich ist, wenn auf dem Bilde offensichtlich eine Kuh dargestellt ist, nur mit Federn. Aber wenn das Urbild nicht erkennbar ist; dann hat die neue Verbindung gar keinen Anhaltspunkt. Ein Ding, das gänzlich seinem ganzen Wesen nach ein anderes geworden ist, hat sich überhaupt nicht verändert. Wenn du eines Morgens als Frau Dopp auf wachst, als eine alte Zimmervermieterin in der Breitenstraße, dann bist du eben immer die Zimmervermieterin Dopp gewesen. Siehst du nicht, daß die Voraussetzung die ganze Abgrenzung alles Seienden ist?

Nein, sagte Philipp mit unterdrückter, aber merklicher Heftigkeit, ich leugne, daß es überhaupt eine Abgrenzung des Seienden gibt.

Dann verstehe ich nicht, warum du, der du so gute Reden hältst, nicht auch Dichtungen schreibst. Aber du hast kein Gefühl für die menschlichen Abgrenzungen, es fehlt dir jede Anlage für Pathos, und darum kannst du kein Dichter sein.

Ivywood klemmte sein Augenglas ein, um ein Bild, unter dem die Bezeichnung »Begeisterung« stand, besser sehen zu können und sagte dann: Du hast recht, ich habe kein Gefühl für menschliche Abgrenzungen, ich möchte dort gehen, wo noch nie ein Mann gegangen ist, um vielleicht etwas zu finden jenseits von Tränen und Lachen. Mein Weg ist mein Weg, den nur ich allein gehe, und meine Erlebnisse spielen sich nicht ab an Hecken und Gassen, sondern in meinem nie ruhenden Hirn. Ich will ausdenken, was vor mir noch nie erdacht worden ist, ich will nur lieben, was vorher nicht gelebt hat, ich will einsam sein wie der erste Mensch. Ich sehe in diesen Bildern nur, daß bisherige Grenzen niedergerissen sind, weiter sehe ich nichts darauf.

Aber vielleicht wird mit ihnen zugleich alles andere niedergerissen, sagte Joan Brett.

Mit klaren, farblosen Augen blickte Ivywood sie an und sagte nur:

Vielleicht.

In diesem Augenblicke machte Dorian Wimpole eine erstaunte Bewegung und zeigte nach dem Eingange der Ausstellung. Wie eingerahmt in der alten Türfassung stand ein langer, knochiger Mann in abgetragenem, aber anständigem Anzüge, mit herben, aber verständigen Gesichtszügen und einem dunklen Bart, der das Kinn frei ließ und ihm ein etwas puritanisches Aussehen gab. Alles in seiner ganzen Erscheinung paßte gut zueinander, und wenn er sprach, konnte man hören, daß er aus dem Norden kam.

Ja, meine Herren, sagte er mit breiter, herzlicher Freundlichkeit, da sind sehr schöne Bilder zu sehen, ja – und was ich wollte, das – das wäre so ein kleiner Schluck.

Levyson und Hibbs sahen einander an, dann verschwand Levyson. Ivywood rührte nicht einmal einen Finger, nur Wimpole trat in seiner poetischen Neugier an den Fremden heran und beobachtete ihn.

Es ist schauderhaft, rief Enid Wimpole zischend, der Mann muß betrunken sein.

Nein, nein, wehrte der Mann mit höflicher Verbeugung, ich bin nicht betrunken gewesen seit dem großen Jahrmarkt zu Hurley und vorher viele Jahre nicht, ich bin ein anständiger Mensch und habe alle Tage meine Arbeit in Warfedale. Aber ein Glas Bier schmeißt einen nicht gleich um.

Können Sie mir mit gutem Gewissen versichern, fragte Dorian Wimpole mit einer besonders rücksichtsvollen Neugier – Sie können es mir getrost sagen –, daß Sie nicht betrunken sind?

Ich bin nicht betrunken, sagte der Mann treuherzig.

Auch wenn das hier ein Wirtshaus wäre – fing Dorian sehr diplomatisch an.

Wo ein Schild draußen am Hause ist, wollte der nüchterne Fremde verbessern.

Der dunkle wilde Blick in Joans Gesicht veränderte sich plötzlich. Mit vier Schritten war sie am Eingange, dann kam sie zurück und setzte sich auf das Sofa.

Nur Dorian schien ganz vertieft zu sein in sein umständliches Verhör mit dem Manne, der alle Tage seine Arbeit in Warfedale hatte.

Ja, auch wenn das hier ein berechtigtes Wirtshaus wäre, wiederholte Dorian, brauchte man Ihnen nichts zu geben, wenn Sie schon betrunken wären, und jetzt sagen Sie mir ganz aufrichtig, ob Sie getrunken haben oder nicht. Würden Sie wissen, wenn es regnet?

Ja, sagte der Mann mit überzeugender Aufrichtigkeit.

Würden Sie eine Frau vom Lande, eine alte Frau aus Ihrem Orte erkennen? forschte Dorian weiter mit wissenschaftlichem Eifer.

Was um Himmels willen willst du denn von diesem Burschen? flüsterte Enid aufgeregt.

Ich will verhindern, antwortete der Dichter, daß ein unverdorbener Mensch in einem Ramschgeschäft übers Ohr gehauen wird. – Entschuldigen Sie, mein Herr, ich wollte sagen, können Sie mir sagen, was auf einem Bilde vorgestellt ist? Wissen Sie, was eine Landschaft ist? Was ein Kopfbild ist? Nehmen Sie es mir nicht übel, denn wir sind verantwortlich für jeden Menschen, der hier hereinkommt.

Auf dem Gesicht des Mannes aus dem Norden war eine Welle von Stolz zu sehen. Dann sagte er:

Wir Kohlenschipper sind keine so ungebildeten Menschen, wie Sie vielleicht glauben. In der Stadt, wo ich herkomme, da ist auch eine Bildergalerie, ja, und ich habe sie alle ganz genau angesehen.

Ich danke Ihnen, ich glaube Ihnen, sagte Wimpole und zeigte dann auf die Wand, würden Sie sich einmal diese beiden Bilder ansehen, das eine stellt eine alte Frau vor, das andere einen »regnerischen Tag«, wollen Sie mir diese beiden Bilder richtig heraussuchen.

Der Mann aus dem Norden beugte seinen Riesenkörper nach den zwei Rahmen und sah sie lange geduldig an. Während der langen Stille, die darnach folgte, ging Joan ruhelos auf und ab, dann huschte sie zur Tür und sah durch ein Fenster und kehrte dann wieder zurück.

Nach einer Weile richtete sich der Kunstkritiker auf. Er schien ganz verwirrt, aber noch mit einem philosophischen Ausdruck im Gesicht. Endlich sagte er: Jetzt weiß ich nicht mehr – einer von uns muß betrunken sein. –

Ganz richtig, rief Dorian begeistert, Sie geben mir den Glauben an die Kultur zurück, und jetzt sollen Sie auch etwas zu trinken bekommen, Sie haben es verdient.

Und dann brachte er aus dem Erfrischungsraum ein großes Glas von demselben Champagner, von dem auch Hibbs getrunken hatte, und ging dann schnell hinaus.

Draußen an dem kleinen Fenster stand Joan und sah das Unglaubliche, was sie vermutet hatte, und was den ganzen seltsamen Vorgang genügend erklärte: die große blaurote hölzerne Flagge Pumps, die zwischen den Blumenbeeten stand wie ein tropisches Gewächs. Dann war alles wieder verschwunden wie ein flüchtiger Traum. Nur zwei Männer saßen in dem kleinen Auto, und ein Hund bellte, als er sie sah.

Dorian Wimpole, der zwar nicht für eine Autofahrt angezogen war, blieb nicht verborgen stehen, sondern stürzte die Treppen hinunter, sprang in den Wagen und sagte freundlich zu Dalroj: Guten Tag, Sie sind mir ohnehin noch eine Autofahrt schuldig, Sie wissen es doch noch?



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