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In Cesena hielt ich mich gerade auf, eines Schatzgräberspukes wegen, den ich angezettelt, um mir ein tüchtiges Stück Geld zu verschaffen. Ich betrog einen alten reichen Narren, der für die unsinnigsten Gegenstände, die er sammelte, das Geld hinauswarf, also brauchte ich mir nicht allzuviel Gewissensbisse zu machen. In dieser Stadt traf ich auch mit einer alten Bekannten von mir zusammen, der berühmten Kurtisane von Venedig, Giulietta, jetzt Madame Querini genannt. Sie war die Geliebte des Generals Spada, und so kam ich durch sie in dessen Haus. Ich gewann seine Freundschaft durch meinen Witz und meine Spaße, so daß er mich einlud, noch länger in Cesena zu bleiben; ich wollte nämlich nach Neapel. Ich wohnte in einem Hotel. Eines Nachts wurde ich durch einen schrecklichen Lärm geweckt, der fast an der Tür meines Zimmers vollführt wurde. Ich stehe auf und öffne die Tür, um zu sehen, was es wäre. Ich sehe eine Bande Sbirren vor einer Zimmertür und im Bett einen Mann von gutem Aussehen, der gegen dieses Gesindel, welches in der Tat die Pest Italiens ist, und gegen den Wirt, der dabei steht und der die Nichtswürdigkeit begangen hatte, die Tür zu öffnen, eine Rede in lateinischer Sprache losläßt. Ich frage den Wirt, worum es sich handle. »Dieser Herr,« antwortet der Wicht, »welcher voraussichtlich nur Lateinisch spricht, schläft mit einem Mädchen zusammen, und die Schergen des Bischofs sind gekommen, um sich zu erkundigen, ob es seine Frau ist; das ist ganz einfach. Ist es seine Frau, so braucht er nur durch irgendeinen Schein den Beweis zu führen, und alles ist abgemacht; ist sie es aber nicht, so wird er wohl mit dem Mädchen ins Gefängnis wandern müssen. So schlimm soll es aber nicht werden, denn mit zwei oder drei Zechinen verpflichte ich mich, die Sache freundschaftlich zu schlichten. Ich werde mit ihrem Anführer sprechen, und die Leute sollen sämtlich abgehen. Wenn Sie Lateinisch sprechen, so gehen Sie hinein und bringen ihn zur Vernunft.« »Wer hat die Tür des Zimmers aufgebrochen?« »Man hat sie nicht aufgebrochen, sondern ich habe sie geöffnet: das ist meine Schuldigkeit.« »Das ist die Schuldigkeit eines Straßenräubers, aber nicht die eines ehrlichen Wirtes.« Erbittert über eine solche Schändlichkeit, glaubte ich mich in die Sache mischen zu müssen. Ich trete mit der Nachtmütze auf dem Kopfe ins Zimmer und erzähle dem Manne alle Umstände dieser Plackerei. Er antwortete lachend, daß man erstlich nicht wissen könne, ob die Person, die neben ihm schlafe, eine Frau wäre, denn man habe sie nur in einem Offizieranzuge gesehen, daß er zweitens niemand für berechtigt halte, von ihm Rechenschaft zu fordern, ob das Wesen, das bei ihm schlafe, seine Frau oder seine Geliebte, vorausgesetzt, daß sie überhaupt eine Frau sei. »Übrigens«, fügte er hinzu, »bin ich entschlossen, nicht einen Taler auszugeben, um diese Sache zu beendigen, und nicht eher aus dem Bett aufzustehen, als bis man meine Tür geschlossen hat. Sobald ich angekleidet bin, sollen Sie eine hübsche Entwicklung dieser Komödie sehen. Ich werde alle diese Schurken mit Säbelhieben hinausjagen.« Ich sehe nun in einer Ecke des Zimmers einen Säbel und einen ungarischen Rock, welcher den Anschein einer Uniform hatte. Ich fragte ihn, ob er Offizier wäre. »Ich habe«, antwortete er mir, »meinen Namen und meinen Stand in das Fremdenbuch des Wirtes eingeschrieben.« Erstaunt über das befremdende Benehmen des Wirtes, befrage ich ihn über die Sache, und er gesteht, daß es die Wahrheit sei; aber er fügt hinzu, dies hindere nicht, daß das geistliche Forum jedem Skandal vorzubeugen suche. »Die Schmach, welche Sie diesem Offizier angetan haben, wird Ihnen, Herr Wirt, teuer zu stehen kommen.« Statt aller Antwort lachte er mir ins Gesicht. Aufs höchste gereizt, mich von einem solchen elenden Menschen verhöhnt zu sehen, nehme ich Partei und frage den Offizier, ob er mir das Vertrauen schenke, mir seinen Paß auf einige Augenblicke zu geben. »Ich habe zwei«, sagte er, »und kann Ihnen sehr gut einen anvertrauen.« Er zieht einen aus seiner Brieftasche hervor und gibt ihn mir. Er war vom Kardinal Albani ausgestellt, und der Offizier war Kapitän in einem ungarischen Regiment der Kaiserin. Er kam von Rom und begab sich nach Parma, um Herrn Dutillot, erstem Minister des Infanten, Herzogs von Parma, Depeschen vom Kardinal Albani Alexander zu bringen. In diesem Augenblick tritt lärmend ein Mann in das Zimmer und bittet mich, dem Herrn zu sagen, er möge sich mit den Leuten abfinden, weil er mit dem Aufbruche nicht länger warten könne. »Wer sind Sie?« sagte ich zu ihm. Er antwortete, er wäre der Fuhrmann, mit welchem der Kapitän reise. Da ich wohl sah, daß dies ein verabredeter Streich war, so bat ich den Kapitän, mir die Sache zu überlassen, und versicherte ihm, daß ich sie mit Ehren beenden würde. »Machen Sie, was Sie wollen.« Ich wende mich nun zum Fuhrmann: »Bringen Sie den Koffer des Kapitäns herauf, und Sie sollen bezahlt werden.« Sobald der Koffer im Zimmer, zog ich acht Zechinen aus meiner Börse und gab sie ihm, nachdem er mir für den Kapitän, welcher nur Deutsch, Ungarisch und Lateinisch sprach, eine Quittung ausgestellt. Darauf entfernten sich die bestürzten Sbirren ebenfalls, zwei ausgenommen, welche im Saale blieben. »Kapitän,« sagte ich zum Ungarn, »bleiben Sie bis zu meiner Rückkehr im Bett. Ich gehe zum Bischof, um ihm von der Sache Bericht zu erstatten und ihm begreiflich zu machen, welche Genugtuung er Ihnen schuldig ist. Übrigens«, fügte ich hinzu, »ist der General Spada in Cesena und –« Er ließ mich nicht ausreden. »Ich kenne ihn,« sagte er, »und wenn ich gewußt hätte, daß er hier wäre, hätte ich dem Wirt, welcher diesem Gesindel die Tür geöffnet, eine Kugel durch den Kopf gejagt.« Ich kleide mich eiligst an, und unfrisiert und im Überrocke begebe ich mich zum Bischof; ich mache großen Skandal und zwinge dadurch das Bedientenvolk, mich in sein Zimmer zu führen. Der Bediente, welcher an der Tür stand, sagte. Seine Herrlichkeit liege noch im Bett. »Das ist gleich, ich habe nicht Zeit zu warten.« Ich stoße ihn zurück und trete ein. Ich erzähle dem Prälaten die ganze Geschichte, male den skandalösen Auftritt aus, beschwere mich über die Ungerechtigkeit eines solchen Verfahrens und greife eine drückende Polizei an, welche auf solche Weise mit dem heiligen Rechte der Menschen und der Nationen spiele. Der Bischof antwortet mir nicht, aber er befiehlt, mich in seine Kanzlei zu führen. Ich finde den Kanzler und wiederhole, was ich dem Bischof gesagt, aber mit sehr wenig angemessenen Worten, welche geeigneter sind zu erzürnen als zu besänftigen und welche keineswegs geeignet sind, die Befreiung des Offiziers zu erwirken. Ich gehe bis zur Drohung und sage, wenn ich der Offizier wäre, würde ich eine glänzende Genugtuung fordern. Der Priester lachte mir ins Gesicht. Das gerade wollte ich, und nachdem er mich gefragt, ob es bei mir im Kopfe nicht richtig sei, befiehlt er mir, mich an den Vorstand der Sbirren zu wenden, und ich, erfreut, die Sache verschlimmert zu haben, verlasse ihn und begebe mich unmittelbar zum General Spada. Man sagte mir, er wäre erst um acht Uhr zu sprechen, und ich kehre in den Gasthof zurück. Nach dem Feuer, welches in mir glühte, nach dem Eifer, mit welchem ich mich dieser Sache angenommen, müßte man glauben, und ich könnte dies meinen Leser glauben lassen, mein Unwille sei nur aus dem Abscheu entsprungen, welcher in mir dadurch entstanden, daß ich eine sittenlose, unmoralische und drückende Polizei eine scheußliche Verfolgung gegen einen Fremden hatte ausüben sehen; aber warum sollte ich meinen freundlichen Leser, dem ich die versprochene Wahrheit schuldig bin, täuschen? Ich will also lieber sagen, daß ich allerdings Unwillen empfand, daß aber ein persönlicher Grund mich so sehr in Hitze setzte. Ich stellte mir das unter der Bettdecke verborgene Mädchen reizend vor, ich brannte vor Ungeduld, ihre Figur zu sehen, welche sich ohne Zweifel aus Scham nicht zu zeigen gewagt. Sie hatte mich gehört, und meine Eigenliebe gestattete mir nicht zu zweifeln, daß sie mich über ihren Kapitän stellen würde. Da die Tür des Zimmers offen geblieben war, so trat ich ein und erstattete dem Kapitän Bericht von allem, was ich getan, versicherte ihm zugleich, daß er im Laufe des Tages imstande sein würde, auf Kosten des Bischofs abzureisen, denn der General würde nicht ermangeln, ihm vollständige Genugtuung zu geben. Er dankte mir freundlichst, gab mir meine acht Dukaten zurück und sagte, er würde erst am folgenden Tage abreisen. »Aus welchem Lande ist Ihr Reisegefährte?« »Er ist Franzose und spricht nur seine Sprache.« »Sie sprechen also Französisch?« »Kein Wort.« »Das ist lustig! Sie führen also Pantomimen auf?« »Durchaus.« »Ich bedaure Sie, denn das ist eine schwierige Sprache.« »Allerding in Anbetracht der feinen Schattierungen der Begriffe; was aber das Materielle anbetrifft, so verstehen wir uns vollkommen.« »Darf ich mich zum Frühstück bei Ihnen einladen?« »Fragen Sie ihn, ob er es gern sehen wird.« »Liebenswürdiger Kollege des Kapitäns,« sage ich französisch, »darf ich als Gast zu Ihrem Frühstück kommen?« Sogleich sehe ich einen reizenden Kopf mit aufgelöstem Haar, frisch und lachend unter der Bettdecke hervorschlüpfen, und trotz seiner Männermütze erkenne ich das Geschlecht, ohne welches der Mann das unglücklichste Tier auf der Erde sein würde. Erfreut über diese anmutige Erscheinung sage ich zu ihr, ich hätte das Glück, noch ehe ich sie gesehen, Teilnahme für sie empfunden zu haben, und jetzt, wo ich sie gesehen, könne mein Eifer, ihr nützlich zu werden, sich nur verdoppeln. Sie antwortete mit einer Anmut und Lebhaftigkeit, welche nur dieser liebenswürdigen Nation eigen sind, und sie wandte mein Argument mit einer Feinheit des Ausdruckes zurück, welche mich bezauberte. Meine Bitte wurde genehmigt, und ich ging hinaus, um das Frühstück zu bestellen und ihnen Zeit zu lassen, eine sitzende Stellung einzunehmen, denn sie waren entschlossen, nicht eher aus dem Bette aufzustehen, als bis die Tür geschlossen wäre. Als der Kellner kam, gehe ich wieder hinein und finde meine Französin im blauen Überrock, die Haare nach Männerart aber schlecht geordnet, und auch in diesem Anzuge entzückend. Ich sehne mich danach, sie ganz außerhalb des Bettes zu sehen. Sie frühstückte, ohne je den Offizier zu unterbrechen, welcher mit mir sprach, dem ich aber gar nicht oder schlecht zuhörte, denn ich war in einer Art Bezauberung. Ich begab mich sofort zu dem General Spada, der sich des Offiziers ohne weiteres annahm und ihm jede Genugtuung versprach. Nachdem ich diese Meldung überbracht, verließ ich sie wieder, um mich anzukleiden, da ich mit ihnen beim General speisen sollte. Eine Stunde darauf erschienen sie in guter Uniform. Die der Französin war eine elegante Phantasieuniform, und ich gebe nun augenblicklich Neapel auf, um mit ihnen nach Parma zu gehen. Die Schönheit dieser niedlichen Französin hatte mich schon gefesselt. Der Kapitän war den Sechzigern nahe, und ich fand diese Verbindung natürlich sehr unangemessen. Ich setzte mir in den Kopf, daß die Sache, welche ich wünschte, sich auf eine freundschaftliche Weise gestalten könne. Der Adjutant des Generals kam mit einem Priester des Bistums, welcher dem Kapitän meldete, daß er die verlangte Genugtuung und Entschädigung erhalten solle, er möchte sich aber mit fünfzehn Zechinen begnügen. »Dreißig oder nichts,« antwortete trocken der Ungar. Er erhielt sie, und damit war die Sache abgemacht. Da dieser schöne Sieg die Frucht meiner Bemühungen war, so gewann ich die Freundschaft des Kapitäns und seiner schönen Gefährtin. Um sich sogleich zu überzeugen, daß der Gefährte des Kapitäns kein Mann war, brauchte man nur seine Hüften zu betrachten. Sie war eine zu schöne Frau, um für einen Mann gelten zu können, und sicherlich haben die Frauen, welche sich durch ekle Verkleidung uns ähnlich machen wollen, sehr unrecht, denn sie gestehen dadurch ein, daß ihnen die schönsten Vorzüge fehlen. Etwas vor der Tischzeit begaben wir uns zum General, welcher sich beeilte, die beiden Offiziere allen anwesenden Damen vorzustellen. Keine ließ sich irreführen, da sie aber schon die Geschichte kannten, so waren sie erfreut, mit dem Helden dieses Stückes zu speisen, und behandelten den jungen Offizier wie einen Mann; dagegen huldigten ihm die Männer auf eine seinem Geschlechte angemessene Weise. Madame Querini allein schmollte, denn da die schöne Französin alle Aufmerksamkeit auf sich zog, so fühlte ihre Eigenliebe sich verletzt. Sie richtete an diese das Wort nur, um mit ihrem Französisch zu paradieren, welches sie in der Tat ziemlich gut sprach. Der arme Kapitän sprach fast gar nicht, denn niemand bemühte sich, Lateinisch mit ihm zu sprechen. Die Unterhaltung war belebt, und der junge weibliche Kapitän beschäftigte alle, selbst Madame Querini, obwohl sie sich keine Mühe gab, den geheimen Verdruß, welchen sie empfand, zu verbergen. »Ich finde es sonderbar,« sagte sie zu jener, »daß Sie zusammenleben können, ohne miteinander zu sprechen.« »Weshalb sonderbar, Madame? Wir verstehen uns sehr gut, denn zu den Beschäftigungen, welche wir miteinander abzumachen haben, ist die Sprache nicht sehr nötig.« Diese mit Anmut und Lebhaftigkeit erteilte Antwort brachte die ganze Gesellschaft zum Lachen, ausgenommen jedoch Madame Querini-Giulietta, welche törichterweise sehr zimperlich tat und die Antwort zu klar fand. »Ich kenne keine Beschäftigung,« sagte sie zum jungen Offizier, »welche man ohne Feder oder Sprache abmachen könnte.« »Sie werden mich entschuldigen, Madame, es gibt solche Beschäftigungen: das Spiel zum Beispiel.« »Tun Sie denn weiter nichts als spielen?« »Nichts weiter. Wir spielen Pharao, und ich halte die Bank.« Da alle die Leerheit dieser ausweichenden Antwort fühlten, so fing das Gelächter von neuem an, und Giulietta stimmte darin ein. »Aber«, fragte der General, »gewinnt die Bank viel?« »Der Gewinn ist allerdings so unbedeutend, daß es sich nicht der Mühe lohnt, davon zu sprechen.« Sicherlich fiel es niemand ein, dem ehrenwerten Kapitän diese Antwort zu übersetzen.« Die ganze übrige Unterhaltung war ebenso pikant, und die Gesellschaft trennte sich, entzückt über die Anmut und den Geist des reizenden Offiziers. Als gegen Abend die Zeit des Aufbruchs gekommen war, nahm ich Abschied vom General. »Leben Sie wohl,« sagte er, »ich wünsche Ihnen auch eine glückliche Reise und viel Vergnügen in Neapel.« »Für den Augenblick«, antwortete ich, »reise ich nicht dorthin; ich habe meinen Plan geändert und gehe nach Parma, wo ich den Infanten zu sehen wünsche. Zu gleicher Zeit beabsichtige ich diesen beiden Offizieren, die sich nicht verstehen und nicht verständlich machen können, als Dolmetscher zu dienen.« »Ich verstehe Sie, und wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich ebenso handeln.« Ich nahm auch von Madame Querini Abschied, welche mich bat, ihr von Bologna zu schreiben. Ich versprach es ihr, mit dem Vorbehalt, es nicht zu tun. Diese junge Französin hatte schon, als sie noch unter der Bettdecke lag, meine Teilnahme erregt; sie hatte mir gefallen, sobald ich ihre Gestalt, und noch mehr, als ich sie angekleidet gesehen. Sie fesselte mich vollends, als sie bei Tische eine Art Geist entwickelte, den ich sehr liebte, den man in Italien selten findet und mit dem das schöne Geschlecht in Frankreich gewöhnlich ausgestattet ist. Ihre Eroberung schien mir nicht schwierig, und ich dachte an die Mittel, sie mir zu sichern. Wenn ich auch jede Geckenhaftigkeit beiseite setzte, so mußte ich mich doch mehr für sie geeignet halten als ihren alten Ungarn, der für sein Alter allerdings ein liebenswürdiger Mann war, der aber doch seine sechzig Jahre nicht verbergen konnte, während aus allen meinen Zügen noch die Zwanziger glänzten. Wie es mir schien, hatte ich von seiten des Offiziers kein Hindernis zu erwarten, denn er schien mir zu den Leuten zu gehören, welche die Liebe wie eine Sache der bloßen Laune behandeln, sich deshalb leicht den Umständen fügen und mit gutem Humor jedes ihnen vom Zufall dargebotene Verhältnis annehmen. Das Glück konnte mir zur Betreibung meiner Sache keine günstigere Gelegenheit darbieten, als mich zum Reisegefährten eines so wenig zueinander passenden Paares zu machen. Es schien mir nicht möglich, daß man mein Anerbieten abschlagen könnte; denn es mußte ihnen sehr angenehm sein, daß ich sie begleiten wollte, da sie beide allein sich keinen einzigen Gedanken mitteilen konnten. Da ich glaubte, daß ich meiner Sache sicher wäre, und entschlossen war, das Abenteuer zu bestehen, so fragte ich, als wir im Gasthofe angekommen waren, den Offizier, ob er mit der Post oder auf andere Weise nach Parma zu reisen gedächte. »Da ich keinen Wagen habe, so ziehe ich die Post vor.« »Ich habe einen sehr bequemen und biete Ihnen die beiden Plätze im Hintersitze an, wenn Ihnen meine Gesellschaft angenehm ist.« »Dies ist ein wahres Glück. Erweisen Sie mir das Vergnügen, Henrietten diesen Vorschlag zu machen.« »Wollen Sie, Madame, mir die Ehre gönnen, Sie nach Parma zu begleiten?« »Das soll mich sehr freuen, denn wir werden dann doch wenigstens sprechen können. Aber sehen Sie sich wohl vor, mein Herr, denn Ihre Aufgabe wird nicht leicht sein, da Sie oft allein mit uns beiden zu tun haben werden.« »Ich werde es sehr gerne tun, und bedaure nur, daß die Reise so kurz ist. Beim Abendessen wollen wir davon sprechen; einstweilen erlauben Sie. daß ich Sie verlasse, um einige Geschäfte zu beenden.« Diese Geschäfte bestanden im Ankauf eines Wagens, den ich bloß in der Phantasie besaß. Ich gehe ins adlige Kaffeehaus, und gleichsam als ob der Zufall mir hätte behilflich sein wollen, erfahre ich, daß ein Wagen zu verkaufen ist, daß ihn aber niemand kaufen will, weil er zu teuer sei. Dieser sollte zweihundert Zechinen kosten und enthielt nur zwei Plätze nebst einem Seitensitzchen. Gerade einen solchen suchte ich. Ich ließ mich in die Remise führen und fand hier einen herrlichen englischen Wagen, welcher zweihundert Guineen gekostet haben mußte. Der Graf, welchem er gehörte, war beim Abendessen; ich lasse ihm sagen, ich ersuche ihn, den Wagen bis zum nächsten Morgen nicht zu verkaufen, und kehre sehr zufrieden in den Gasthof zurück. Während des Abendessen sprach ich mit dem Kapitän nur, um mit ihm zu verabreden, daß wir am folgenden Tage nach Tische abreisen wollten; die ganze übrige Unterhaltung war nur ein Dialog zwischen Henriette und mir. Da ich diese junge Frau immer reizender fand und doch bis jetzt nur eine Abenteurerin in ihr sehen konnte, so war ich sehr erstaunt, edle und zarte Empfindungen, welche nur die Frucht einer guten Erziehung sein können, bei ihr zu finden; da aber eine solche Idee nicht zu den Absichten, welche ich auf sie hatte, stimmte, so verwarf ich sie sogleich wieder. So oft ich versuchte, das Gespräch auf den Offizier zu bringen, so wandte sie es auf einen andern Gegenstand oder wich meinen Zumutungen mit einer Feinheit und einem Takte aus, welche mich in Verwunderung setzten, mir aber wegen der Grazie, mit welcher es geschah, gefielen. Aber der folgenden Frage wich sie nicht aus: »Sagen Sie mir, Madame, ob der Kapitän Ihr Gatte oder Vater ist.« »Er ist«, antwortete sie lächelnd, »keins von beiden.« Das genügte mir, denn im Grunde brauchte ich nicht mehr zu wissen. Der gute Mann war eingeschlafen: als er wieder erwachte, wünschte ich ihm eine gute Nacht und legte mich zu Bett mit einem Herzen voll Liebe und einem Kopfe voll Pläne. Ich sah, daß alles die günstigste Wendung nahm, und ich war überzeugt, daß ich zum Zwecke gelangen würde. Das Abenteuer erschien mir um so köstlicher, als die Lösung des Knotens binnen drei oder vier Tagen erfolgen mußte. Am folgenden Tage ging ich frühzeitig zum Grafen Dandini, dem Besitzer des Wagens; ich kaufte ihm den Wagen unter der Bedingung ab, daß er mir ihn durch einen Sattler in gutem Zustande zuschicke. Sobald ich in den Gasthof zurückgekehrt war, ordnete ich alles für unsere Abreise an, welche ich mit allen meinen Wünschen beschleunigte. Henriette konnte den Mund nicht öffnen, ohne daß ich eine neue Vollkommenheit an ihr entdeckte, denn ihr Geist bezauberte mich noch mehr als ihre Schönheit. Wie es mir schien, sah der alte Kapitän mit Vergnügen, daß ich mich mit ihr beschäftigte, und alles schien mir dafür zu sprechen, daß Henriette die Aufmerksamkeiten, welche ich ihr bezeigte, gern sah; endlich schien es mir völlig ausgemacht, daß sie nicht ungern ihren alten Liebhaber mit mir vertauschen würde. Ich konnte mir um so mehr dessen schmeicheln, als ich in physischer Beziehung alles besaß, was zu einem Liebhaber gehört, und als ich, obwohl ohne Bedienten, das Aussehen eines reichen Mannes hatte. Ich sagte ihr, ich könnte des Vergnügens wegen, ohne Bedienten zu sein, das doppelte ausgeben und hätte, da ich mich selbst bediente, die Befriedigung, immer gut bedient zu werden, auch genösse ich den Vorteil, keinen Spion und privilegierten Dieb fürchten zu müssen. Henriette ging ganz auf meine Ideen ein, und dadurch wurde ich noch verliebter. Noch Tisch reisten wir ab, nachdem wird einen höflichen Streit über die Plätze geführt; der Kapitän wollte, daß ich mich zu Henriette in den Hintersitz setzen sollte, aber der Leser mußte einsehen, daß der Sitz ihr gegenüber mir besser zusagte; ich bestand also, da ich meine Rechnung dabei fand, darauf, einen Platz auf dem Vordersitze einzunehmen, und ich gewann dadurch den doppelten Vorteil, mir dies als ein Verdienst der Höflichkeit anrechnen zu lassen und das reizende Wesen, welches ich anbetete, immer vor meinen Augen zu haben. Mein Glück würde zu groß gewesen sein, wenn ich keine Unannehmlichkeit zu dulden gehabt hätte. Wo sind wohl Rosen ohne Dornen zu finden? Wenn die reizende Französin eine von jenen pikanten Äußerungen tat, welche im Munde der Frauen ihrer Heimat so gewöhnlich sind, und ein witziger Einfall mich zum Lachen reizte, so jammerte mich die traurige Gestalt des Ungarn, und da ich wünschte, er möchte mein Vergnügen teilen, übersetzte ich ihm die schönen Äußerungen der geistreichen Henriette ins Italienische; aber ich hatte kein Glück damit, denn sein Gesicht wurde länger, als ob ihm das, was ich ihm sagte, abgeschmackt erscheine. Dadurch wurde ich genötigt, mir selbst zu gestehen, ich spräche nicht so gut Lateinisch wie Französisch, und das war wahr. In allen Sprachen ist das, was man am letzten lernt, der Geist; dieser Geist tritt aber nirgends so sehr hervor, wie im Scherze. Erst als ich dreißig Jahr alt war, konnte ich lachen, wenn ich Terenz, Plautus und Martial las. Da an meinem Wagen etwas entzweigegangen war, so hielten wir in Forli an, um es ausbessern zu lassen. Nachdem wir sehr heiter zu Abend gespeist, ging ich in mein Zimmer, um mich zu Bett zu legen, erfüllt von dem Bilde des reizenden Weibes, welches mich immer mehr fesselte. Henriette war mir auf der ganzen Reise so seltsam vorgekommen, daß ich nicht in einem zweiten Bett, welches in demselben Zimmer stand, schlafen wollte. Ich fürchtete, das Mädchen könnte auf den Gedanken kommen, seinen alten Kameraden zu verlassen und sich zu mir zu legen, und ich wußte nicht, wie der brave Kapitän den Spaß ausnehmen würde. Ich wollte allerdings zum Besitz des reizenden Wesens gelangen, aber ich wollte, daß dies auf eine freundschaftliche Weise geschähe, denn ich hatte eine gewisse Achtung vor dem braven Militär. Dies junge Mädchen hatte nichts als die Männerkleidung, welche sie trug, kein einziges weibliches Kleidungsstück, nicht einmal ein Hemd. Sie trug die des Kapitäns. Diese Lage war für mich so neu, daß sie mir rätselhaft vorkam. Als wir in Bologna angekommen waren, wo ein gutes Abendbrot und das Feuer, welches sich immer mehr und mehr in meinem Herzen entzündete, mich aufgeregter stimmten, fragte ich sie, durch welches sonderbare Abenteuer sie die Frau dieses braven Mannes geworden, welcher sich eher zu ihrem Liebhaber zu eignen schien. »Wenn Sie es zu wissen wünschen,« antwortete sie lachend, »so lassen Sie sich die Geschichte von ihm selbst erzählen; aber sagen Sie ihm, er möge nichts auslassen.« Ich ermangelte nicht, es zu tun, und nachdem der gute Kapitän sich durch die Zwischensprache überzeugt, daß dieser Bericht der schönen Französin nicht mißfallen wurde, begann er folgendermaßen: »Da ein mir befreundeter Offizier einen Auftrag nach Rom hatte, so nahm ich einen halbjährigen Urlaub und begleitete ihn dorthin. Ich zweifelte nicht daran, daß in der guten Gesellschaft die lateinische Sprache allgemein gesprochen werden würde, und daß sie wenigstens ebenso verbreitet wie in Ungarn sein würde. Ich habe mich grausam getäuscht, denn niemand spricht sie, nicht einmal die Geistlichen, welche nur Anspruch darauf machen, sie zu schreiben, und viele schreiben sie allerdings mit großer Reinheit. Meine Verlegenheit war groß; das Gesicht ausgenommen blieben meine Sinne so ziemlich unbeschäftigt. Seit einem Monat langweilte ich mich in dieser alten Königin der Welt, als der Kardinal Albani meinem Freunde Depeschen nach Neapel gab. Vor seiner Abreise empfahl er mich an Seine Eminenz und zwar auf eine so wirksame Weise, daß der Kardinal mir binnen wenigen Tagen ein Paket für den Infanten Herzog von Parma, Piacenza und Guastalla versprach und mir zugleich sagte, daß mir meine Reise bezahlt werden solle. Da ich den Hafen zu sehen wünschte, welchen die Alten Centum cellae nannten, jetzt Cività Vecchia, so benutzte ich die Zeit und begab mich mit einem Lateinisch sprechenden Cicerone dorthin. Im Hafen sah ich einen alten Offizier und dies Mädchen, gekleidet wie Sie sie jetzt sehen, aus einer Tartane steigen. Sie fiel mir auf, aber ich würde nicht weiter an sie gedacht haben, wenn der Offizier mit dem Mädchen sich nicht bloß in demselben Gasthof wie ich eingemietet hätte, sondern auch in ein Zimmer, in welches ich, ohne im mindesten neugierig zu sein, hineinblicken mußte, sobald ich aus dem Fenster sah. Am Abend sah ich sie beide an demselben Tisch und einander gegenüber sitzend speisen, aber der Offizier richtet nicht ein einziges Mal das Wort an sie. Nach dem Abendessen stand das Mädchen auf, ohne daß ihr Kamerad nur einen Augenblick von dem Briefe, welchen er sehr aufmerksam zu lesen schien, wegblickte. Eine Viertelstunde daraus schloß der Offizier die Fenster, das Licht wurde ausgelöscht, und man legte sich ohne Zweifel schlafen. Als ich am nächsten Tage nach meiner Gewohnheit früh aufstand, sah ich den Offizier aus. gehen und das Mädchen blieb allein im Zimmer. Ich sagte meinem Cicerone, der zugleich mein Bedienter war, er möge dem als Offizier gekleideten Mädchen sagen, ich wolle ihr zehn Zechinen schenken, wenn sie mir ein einstündiges Stelldichein bewillige. Er richtete die Bestellung aus, und meldete mir, sie habe französisch geantwortet, sie werde nach dem Frühstück noch Rom abreisen, und dort werde es mir leicht werden, eine Gelegenheit zu finden, mit ihr zu sprechen. ›Ich werde,‹ sagte der Cicerone, ›vom Fuhrmann ganz sicher erfahren, wo sie wohnen wird, und werde nicht vergessen, mich danach zu erkundigen.‹ In der Tat reiste sie mit dem Offizier ab, und ich kehrte am folgenden Tage nach Rom zurück. Am zweitfolgenden Tage übergab der Kardinal mir Depeschen, welche an Herrn Dutillot, Minister des Herzogs, gerichtet waren, sowie einen Paß und das zur Reise nötige Geld, und er äußerte sehr leutselig, ich brauche mich nicht zu beeilen. Ich dachte nicht mehr an die schöne Abenteuerin, als mein Cicerone mir zwei Tage vor meiner Abreise meldete, er habe ihre Wohnung entdeckt, und sie sei noch immer mit dem Offizier zusammen. Ich sagte zu ihm, er möge versuchen, mit ihr zu sprechen und ihr zu sagen, daß ich übermorgen abreise. Sie ließ mir sagen, wenn ich sie die Stunde meiner Abreise wissen lassen wolle, so werde sie sich zweihundert Schritt vor der Stadt einfinden, zu mir in den Wagen steigen und mit mir fahren. Da ich diese Anordnung sehr sinnreich fand, ließ ich ihr im Laufe des Tages die Zeit meiner Abreise und die Stunde, wo ich sie vor der Porta del popolo erwarten würde, melden. Sie stellte sich pünktlich ein, und wir haben uns seitdem nicht wieder verlassen. Sobald sie neben mir im Wagen saß, gab sie mir zu verstehen, daß sie mit mir zu Mittag speisen wolle. Sie können sich denken, wie schwer es uns wurde, uns miteinander zu verständigen; aber durch Gesten gelang es uns, zu erraten, was wir wollten, und ich nahm die Partie mit Vergnügen an. Wir speisten sehr heiter zu Mittag und sprachen zuweilen miteinander, ohne uns zu verstehen; aber nach dem Dessert verständigten wir uns sehr gut. Ich glaubte, die Sache wäre damit zu Ende, aber denken Sie sich mein Erstaunen, als ich ihr zehn Zechinen geben wollte, sie diese aber ganz bestimmt zurückwies und mir begreiflich machte, sie wolle lieber mit mir nach Parma reisen, da sie in der Stadt etwas zu tun habe. Das Abenteuer mißfiel mir nicht, ich willigte ein und bedauerte bloß, ihr nicht begreiflich machen zu können, daß, wenn sie verfolgt würde, um nach Rom zurückgebracht zu werden, ich nicht in der Lage wäre, sie gegen eine solche Gewalttat zu schützen. Ich bedauerte auch, daß ich auf keine Unterhaltung hoffen durfte, da ich von ihrer und sie von meiner Sprache nicht das geringste verstand; ich hätte sie auch gern ihre Abenteuer erzählen hören, welche ich mir interessant dachte. Sie werden erraten, daß ich durchaus nicht weiß, wer sie ist. Ich weiß nur, daß sie sich Henriette nennt, daß sie nur eine Französin sein kann, daß sie sanft wie ein Lamm ist, daß sie eine gute Erziehung erhalten zu haben scheint und daß sie gesund ist. Sie muß Geist und Mut haben, wie ich in Rom und Sie in Cesena an der Tafel des Generals haben bemerken können. Wenn sie Ihnen ihre Geschichte erzählen und Ihnen erlauben will, sie mir ins Lateinische zu übersetzen, so sagen Sie ihr, daß sie mich sehr erfreuen würde, denn ich bin ihr aufrichtiger Freund, und ich kann Ihnen versichern, daß es mich sehr schmerzen wird, wenn wir uns in Parma werden verlassen müssen. Ich bitte, sagen Sie ihr auch, daß ich ihr die dreißig Zechinen, welche ich vom Bischof von Cesena empfangen, schenken will, und daß ich, wenn ich reich wäre, die Beweise meiner Zuneigung und zärtlichen Anhänglichkeit nicht hierauf beschränken würde. Jetzt, mein Herr, bitte ich Sie, ihr dies alles in französischer Sprache zu sagen.« Nachdem ich sie gefragt, ob ihr eine ganz getreue Übersetzung nicht unangenehm sein würde, und ich von ihr die Versicherung empfangen, sie wünsche diese gerade, teilte ich ihr alles, was der Kapitän gesagt, wörtlich mit. Mit der edelsten Freimütigkeit, welche durch einen leichten Anflug von Scham einen neuen Reiz erhielt, bestätigte mir Henriette die Wahrheit der Erzählung ihres Freundes; aber sie bat mich, ihm zu sagen, daß sie ihn hinsichtlich ihrer Lebensabenteuer nicht befriedigen könne. »Sagen Sie ihm, ich bitte Sie, daß dasselbe Prinzip, welches mir nicht zu lügen erlaubt, mir die Wahrheit zu sagen verbietet. Was die dreißig Zechinen betrifft, welche er mir zu geben beabsichtigt, so versichern Sie ihm, daß ich keine einzige annehmen werde und daß er mich betrüben würde, wenn er bei seinem Wunsche beharren sollte. Ich wünsche, daß, wenn wir in Parma ankommen, er mich allein, und wo ich will, wohnen lasse, ohne sich danach zu erkundigen, was aus mir geworden, und wenn er mir zufällig begegnet, so möge er seine Güte noch dadurch erhöhen, daß er so tut, als ob er mich nicht kenne.« Nachdem sie diese kleine Rede beendet, welche sie mit großem Ernst und dem bescheidenen und festen Ton der Entschlossenheit vorgetragen, umarmte sie ihren alten Freund auf eine Weise, in welcher sich Gefühl und Zärtlichkeit aussprachen. Der Offizier, welcher nicht wußte, auf welche Veranlassung hin sie ihn umarmte, wurde sehr betrübt, als ich ihm Henriettens Rede übersetzte. Er bat mich, ihr zu sagen, daß er, wenn er ihr ohne Widerstreben gehorchen solle, wissen müsse, daß es ihr in dieser Stadt nicht am Notwendigen fehlen würde. »Sie können ihm die Versicherung geben,« sagte sie, »daß er über mein Schicksal nicht unruhig zu sein braucht.« Da diese Unterhaltung uns alle traurig gestimmt hatte, so blieben wir mit gesenkten Augen und ohne ein Wort zu sprechen sitzen; da ich aber dieser Situation müde wurde, so stand ich auf, wünschte ihnen eine gute Nacht und sah, daß Henriettens Gesicht glühte. Sobald ich in meinem Zimmer angekommen war, fing ich an, bestürmt von dem lebhaftesten Gefühl der Liebe, des Erstaunens und der Ungewißheit, laut mit mir selbst zu sprechen, wie ich es immer tue, wenn ich von einem Gedanken tief durchdrungen bin. Der stumme Gedanke genügte mir nicht; ich mußte sprechen, und ich legte in diese Zwiegespräche mit mir selbst so viel Lebhaftigkeit und Handlung, daß ich mein Alleinsein vergaß. Die rückhaltlose Erklärung Henriettens jagte mich in Harnisch. Wer ist denn, so sprach ich zu den Wänden, dies Mädchen, welches die erhabensten Empfindungen mit dem Scheine zynischer Leichtsinnigkeit verbindet? In Parma, sagte sie, will sie unbekannt bleiben und ihre eigne Herrin sein; und ich bin nicht berechtigt, mir zu schmeicheln, daß sie mir nicht dieselbe Verpflichtung auferlegen wird, wie dem Offizier, welchem sie sich schon ergeben hat. Lebt also wohl, Hoffnungen, Vorsätze und Träume! Wer mag sie denn aber wohl sein? In Parma muß sie entweder einen Mann oder einen Liebhaber haben, oder sie muß ehrenwerten Verwandten angehören, oder sie muß aus grenzenloser Zügellosigkeit und im Vertrauen auf ihre Reize das Glück herausfordern wollen, sie in den Abgrund der Verworfenheit zu stürzen und es darauf ankommen lassen, ob sie einen vornehmen Mann findet, der sich an ihren Wagen spannt. Das wäre der Plan einer Tollen oder Verzweifelten, und Henriette scheint dies nicht zu sein. Aber Henriette hat nichts, und dennoch will sie, als ob sie reichlich mit allem versehen wäre, nichts von einem Ehrenmanne annehmen, der ihr Anerbietungen macht die sie, ohne zu erröten, annehmen kann, da sie nicht Anstand genommen hat, für ihn Gefälligkeiten zu haben, zu welchen sie nicht durch die Liebe veranlaßt wurde. Glaubt sie, daß es weniger schmachvoll ist, sich den Begierden eines unbekannten Mannes, der keine zärtlichen Empfindungen einflößen kann, hinzugeben, als von einem Freunde, den man schätzt, ein Geschenk anzunehmen, und noch dazu in einem Augenblick, wo sie von allem entblößt und in einer fremden Stadt, deren Sprache ihr sogar unbekannt ist, sich auf die Straße gesetzt sieht? Will sie dadurch den falschen Schritt, welchen sie sich mit dem Kapitän hat zuschulden kommen lassen, rechtfertigen und ihm zu verstehen geben, daß sie nur, um dem Offizier, welcher sie in Rom besessen, zu entgehen, sich ihm hingegeben hat? Aber sie muß überzeugt sein, daß der Kapitän keine andere Idee haben kann, denn er zeigt sich zu vernünftig, als daß man ihm den Glauben zutrauen konnte, ihr dadurch, daß sie ihn einmal in Cività Vecchia am Fenster gesehen, eine lebhafte Leidenschaft eingeflößt zu haben. Sie konnte also recht haben und sich gegen ihn für gerechtfertigt halten, nicht aber gegen mich; denn bei ihrem Geist mußte sie wissen, daß ich nicht mit ihnen gereist sein würde, wenn sie mir kein Gefühl eingeflößt hätte, und es konnte ihr nicht unbekannt sein, daß es nur ein Mittel für sie gäbe, um meine Verzeihung zu erlangen. Sie kann Tugenden haben, sagte ich zu mir; aber sie hat nicht die, welche mich verhindern könnte, die einzige Belohnung zu beanspruchen, welche jeder Mann von der Frau, in die er verliebt ist, erwartet. Wenn sie gegen mich die Tugendhafte zu spielen und mich zum Narren haben zu können glaubt, so scheint mir meine Ehre zu erfordern, daß ich ihr die Täuschung, in der sie sich befindet, beweise. Nach diesem Monolog, der mich noch mehr aufgeregt hatte, beschloß ich, mich am folgenden Tage vor der Abreise zu erklären. Ich werde, sagte ich zu mir, sie um die Gefälligkeiten bitten, welche ihr Kapitän mit so leichter Mühe von ihr erlangt hat, und wenn sie mir diese verweigert, so werde ich mich dadurch rächen, daß ich ihr, ehe wir in Parma ankommen, kalte und gründliche Verachtung bezeige. Es war mir klar, daß sie mir wahre oder falsche Zeichen der Zärtlichkeit nur dann verweigern könnte, wenn sie eine Tugend, die sie nicht besaß, affektieren wollte. Da aber diese Tugend nur erheuchelt war, so wollte ich nicht deren Spielwerk sein. Was den Offizier betraf, so war ich nach dem, was er zu mir gesagt, überzeugt, er würde eine Erklärung von meiner Seite nicht übelnehmen, denn bei seinem gesunden Menschenverstand konnte er nur neutral bleiben. Befriedigt von meinen Überlegungen und mich in meinem Entschlusse fest fühlend, lege ich mich zu Bett. Henriette beschäftigte mich zu sehr, als daß ihr Bild mir nicht hätte im Traum erscheinen sollen; aber dieser Traum, welcher die ganze Nacht dauerte, trug so sehr das Gepräge der Wahrheit, daß ich sie bei meinem Erwachen an meiner Seite suchte; und die zauberhaften Bilder dieser Nacht hatten einen so starken Eindruck auf meine Phantasie gemacht, daß, wäre meine Tür nicht verriegelt gewesen, ich geglaubt haben würde, sie habe mich während meines Schlafes verlassen, um sich wieder zu dem guten Ungarn zu legen. Bei meinem Erwachen fand ich, daß der ununterbrochene Traum dieser glücklichen Nacht mich bis zum Rasendwerden in diese schöne Person verliebt gemacht hatte, und das konnte nicht anders sein. Denke sich der Leser einen armen Teufel, welcher sich todmüde und halb verhungert zu Bett legt; er erliegt dem Schlafe, diesem gebieterischsten aller Bedürfnisse; aber im Schlafe sieht er sich an einen reichgedeckten Tisch versetzt – was wird die Folge davon sein, das notwendige Resultat? Sein mehr als am vorigen Tage gereizter Magen läßt ihm keine Ruhe; er muß Befriedigung finden oder Hungers sterben. Ich kleide mich an, entschlossen, mich, bevor wir in den Wagen steigen, des Besitzes derjenigen, welche mich entflammt hat, zu vergewissern. Gelingt dies nicht, sagte ich zu mir, so gehe ich nicht weiter. Um aber den Anstand nicht zu verletzen und mir gegen einen anständigen Menschen keine Vorwürfe machen zu müssen, hielt ich es für meine Pflicht, mich zuvor gegen meinen Reisegefährten zu erklären. Es ist mir so, als ob ich einen jener vernünftigen, ruhigen und kaltblütigen Leser, welche den sogenannten Vorteil einer leidenschaftslosen Jugend genossen haben, oder einen derjenigen, welche das Alter mit Gewalt vernünftig gemacht hat, ausrufen höre: Kann man wohl von einer Kleinigkeit so viel Aufhebens machen! Das Alter hat meine Leidenschaften gemildert, indem es mich unfähig gemacht hat, aber mein Herz hat nicht gealtert und mein Alter hat die ganze Frische der Jugend bewahrt, und weit entfernt, solche Sachen als bloße Kleinigkeiten zu betrachten, fühle ich, lieber Leser, nur den Schmerz, daß ich diese nicht bis zu meinem Tode zur Hauptsache meines Lebens machen kann. Als ich bereit war, begab ich mich in das Zimmer meiner beiden Reisegefährten, und nachdem ich sie wegen ihres guten Aussehens bekomplimentiert, sagte ich zum Offizier, ich wäre in Henrietten heftig verliebt, und ob er es übelnehmen würde, wenn ich sie zu überreden suchte, meine Geliebte zu werden. »Was sie zu der Bitte nötigt,« fügte ich hinzu, »Sie in dieser Stadt zu verlassen und so zu tun, als ob Sie sie nicht kennten, kann nur ein Liebhaber sein, welchen sie hier zu finden hofft: und ich schmeichle mir, wenn Sie mich eine halbe Stunde mit ihr allein lassen, sie zu überreden, daß sie mir diesen Liebhaber opfert. Verweigert sie dies, so bleibe ich hier; Sie reisen mit ihr nach Parma, lassen meinen Wagen auf der Post und schicken mir einen Empfangschein, damit ich ihn nach Belieben abholen lassen kann.« »Sobald wir gefrühstückt haben werden,« sagte der brave Kapitän, »werde ich ausgehen, um das Institut zu besichtigen und Sie allein mit ihr lassen. Suchen Sie es durchzusetzen, denn ich würde mich freuen, wenn sie in Ihre Hände überginge. Wenn sie bei ihrem ausgesprochenen Willen beharrt, so werde ich leicht einen Fuhrmann hier finden und Sie können Ihren Wagen behalten. Ich danke Ihnen für Ihren Vorschlag und werde Sie sehr ungern verlassen.« Erfreut, den halben Weg gemacht zu haben und mich der Lösung des Knotens näher zu sehen, frage ich meine schöne Französin, ob sie die Merkwürdigkeiten Bolognas zu sehen wünsche. »Ich möchte es wohl,« sagte sie, »wenn ich einen Anzug meines Geschlechts hätte; so wie ich bin, möchte ich mich aber nicht der ganzen Stadt zeigen.« »Sie wollen also nicht ausgehen?« »Nein.« »Ich werde Ihnen Gesellschaft leisten.« »Das soll mich freuen.« Wir frühstückten sehr heiter, worauf der Kapitän ausging. Sobald er weggegangen war, sagte ich zu Henrietten, ihr Freund sei ausgegangen, um mich mit ihr allein zu lassen, weil ich ihm gesagt, daß ich eines Tete-a-tete mit ihr bedürfe. »Der Befehl, welchen Sie ihm gestern erteilt, Sie nicht mehr zu sehen, sich nicht nach Ihnen zu erkundigen, so zu tun, als ob er Sie nicht kenne, wenn er Ihnen zufällig begegnen sollte, sobald wir in Parma angekommen sein würden, bezieht sich dieser Befehl auch auf mich?« »Ich habe ihm keinen Befehl gegeben, dazu habe ich kein Recht und werde mich nie so weit vergessen, sondern ich habe nur eine Bitte an ihn gerichtet, ihn um eine Gefälligkeit gebeten, zu welcher meine Verhältnisse mich genötigt haben, und da er kein Recht hat, mir eine abschlägige Antwort zu erteilen, habe ich keinen Augenblick gezweifelt, daß er mir meine Bitte bewilligen würde. Was Sie betrifft, so würde ich sicherlich dieselbe Bitte an Sie gerichtet haben, wenn ich hätte glauben können, daß Sie irgendwelche Absichten auf mich hätten. Sie haben mir Beweise der Freundschaft gegeben, aber Sie müssen wohl einsehen, daß, wenn die Teilnahme, welche der Kapitän mir erweisen würde, mir nach den vorhandenen Umständen nachteilig werden könnte, die Ihrige mir noch mehr schaden würde. Da Sie Freundschaft für mich haben, so hätten Sie das alles erraten können.« »Da Sie wissen, daß ich Freundschaft für Sie habe, so müssen Sie auch wissen, daß es mir nicht möglich ist, Sie allein ohne Geld, ohne Mittel in einer Stadt zu lassen, wo Sie sich nicht einmal verständlich machen können. Glauben Sie, daß ein Mann, welchem Sie die zärtlichste Freundschaft eingeflößt haben, Sie verlassen kann, nachdem er Sie kennen gelernt und wenn er von Ihnen selbst erfahren, in welcher Lage Sie sich befinden? Wenn Sie dies glauben, so haben Sie keine richtige Vorstellung von der Freundschaft, und wenn Ihnen dieser Mensch das, was Sie fordern, bewilligt, so ist er nicht Ihr Freund.« »Ich bin überzeugt, daß der Kapitän mein Freund ist, und Sie haben es gehört, er wird mich vergessen.« »Ich weiß nicht, welcher Art die Freundschaft ist, die dieser brave Mann für Sie empfindet, noch welches Vertrauen er zu seiner eigenen Macht haben mag; aber ich weiß, daß seine Freundschaft ganz anderer Art als die meinige ist, wenn er imstande ist, Ihnen den erbetenen Dienst zu erweisen; denn ich glaube mich verpflichtet, Ihnen zu sagen, daß es mir nicht nur nicht so leicht möglich ist, Ihnen das sonderbare Vergnügen zu erweisen, Sie in Ihrem jetzigen Zustande zu verlassen, sondern auch, daß ich das, was Sie fordern, unmöglich ausführen kann, wenn ich nach Parma gehe; denn ich liebe Sie so, daß Sie mir entweder versprechen müssen, mir anzugehören, oder daß ich hier bleibe. Dann können Sie mit dem Kapitän allein nach Parma reisen, denn ich fühle, daß, wenn ich Sie weiter begleite, ich der unglücklichste der Menschen werden würde, gleichviel, ob ich Sie zu Ihrem Liebhaber, Ihrem Manne oder in den Schoß Ihrer Familie zurückkehren sähe; wenn ich, mit einem Worte, Sie nicht sehen und mit Ihnen leben kann. ›Vergessen Sie mich‹ sind drei leicht auszusprechende Worte; aber wissen Sie, schöne Henriette, wenn das Vergessen auch einem Franzosen leicht wird, ein Italiener, wenigsten nach mir zu urteilen, hat diese sonderbare Kraft nicht. Mit einem Worte, Madame, mein Entschluß steht fest; Sie müssen die Güte haben, sich jetzt zu erklären und mir zu sagen, ob ich Sie nach Parma begleiten oder hier bleiben soll. Antworten Sie ja oder nein. Wenn ich hier bleibe, so ist alles gelogen; ich reise sonst nach Neapel und bin sicher, von der Leidenschaft welche Sie mir eingeflößt haben, geheilt zu werden. Wenn Sie mir aber sagen, daß ich Sie nach Parma begleiten darf, so muß ich des Besitzes Ihres Herzens gewiß sein. Ich allein will im Besitze Ihrer Reize sein, jedoch, wenn Sie wollen, mit der Bedingung, daß Sie mich nicht eher vollständig glücklich machen sollen, als wenn Sie glauben, daß ich mich dieses Glückes durch meine Bewerbungen und meine Aufmerksamkeiten würdig gemacht habe. Wählen Sie, ehe dieser zu brave Mann zurückkehrt. Er weiß alles, ich habe ihm alles gesagt.« »Was hat er Ihnen geantwortet?« »Daß er sich freuen würde, Sie in meinen Händen zu sehen. Was bedeutet dies unterdrückte Lächeln?« »Lassen Sie mich, ich bitte Sie, lachen; denn ich habe in meinem ganzen Leben keine Idee von einer wütenden Liebeserklärung gehabt. Wissen Sie auch, was es heißt, einer Frau in einer Liebeserklärung, welche zwar belebt, aber auch zart und sanft sein soll, zu sagen: Madame, eins von beiden, wählen Sie auf der Stelle. Ha! Ha! Ha!« »Ich begreife wohl, das ist weder sanft, noch galant, noch pathetisch, aber es ist leidenschaftlich. Bedenken Sie, daß es eine ernste Sache ist und daß ich noch nie so große Eile gehabt habe. Versetzen Sie sich in die Lage eines Verliebten, welcher auf dem Punkte steht, einen Entschluß zu fassen, welcher über sein Leben entscheiden kann. Beachten Sie auch gütigst, daß ich trotz meines Feuers in keiner Weise die Achtung gegen Sie verletze. Endlich bitte ich Sie zu bemerken, daß wir nicht allzu viel Zeit zu verlieren haben. Das Wort ›wählen Sie‹ darf Ihnen nicht hart erscheinen, sondern vielmehr als das Gegenteil, da es Sie zur Schiedsrichterin meines und Ihres Schicksals macht. Soll ich, um Sie zu überzeugen, daß ich Sie liebe, wie ein Pinsel Ihnen zu Füßen stürzen und Sie weinend bitten, sich meiner zu erbarmen? Nein, Madame, das würde Ihnen gewiß mißfallen und zu nichts führen. Da ich weiß, daß ich imstande bin, Ihr Herz zu verdienen, so fordere ich Liebe und nicht Mitleid von Ihnen. Verlassen Sie mich, wenn ich Ihnen mißfalle, und lassen Sie mich abreisen, denn wenn Sie aus Menschlichkeitsgefühl wünschen, daß ich Sie vergesse, so erlauben Sie, daß ich fern von Ihnen mir diese Bemühung zu erleichtern suche. Wenn ich Ihnen nach Parma folge, kann ich nicht für mich stehen, denn ich würde dann in einer Art von Verzweiflung sein. Denken Sie gegenwärtig nach; ich fordere es als eine Gnade von Ihnen, und Sie werden einsehen, daß Sie ein unverzeihliches Unrecht gegen mich begehen würden, wenn Sie zu mir sagten: ›Kommen Sie nach Parma‹, obwohl ich Sie ersuche, mich nicht zu besuchen. Gestehen Sie ein, daß Sie mir so etwas nicht sagen können, wenn Sie billig sein wollen.« »Ich gestehe es ein, wenn Sie mich wirklich lieben.« »Gott sei gelobt! Ja, seien Sie überzeugt, daß ich Sie sehr aufrichtig liebe. Wählen Sie nun und versprechen Sie.« »Immer in demselben Tone?« »Ja.« »Aber wissen Sie auch, daß Sie sehr zornig aussehen?« »Nein, denn das ist nicht der Fall; ich bin nur in einer Art Paroxysmus, im Gefühle des entscheidenden Augenblicks und in einer schrecklichen Ungewißheit. Ich muß dafür mein seltsames Geschick und die verdammten Sbirren in Cesena verantwortlich machen, denn ohne diese würde ich Sie nie gesehen haben.« »Sie bedauern also, daß Sie mich kennen gelernt haben?« »Und habe ich nicht Grund dazu?« »Durchaus nicht, denn ich habe noch nicht entschieden.« »Ich fange an, leichter zu atmen, denn ich wette, Sie werden mich auffordern, Ihnen nach Parma zu folgen.« »Ja, kommen Sie nach Parma.« Der Leser errät wohl, daß die Szene sich änderte und daß das magische Wort ›Kommen Sie nach Parma‹ eine glückliche Wendung war, welche mich vom Schrecklichen zum Zärtlichen, vom Strengen zum Milden übergehen ließ. Ich fiel ihr zu Füßen, erfaßte in verliebtem Drange ihre Knie und küßte sie mit Zärtlichkeit und Dankbarkeit. Nun keine Wut mehr, und auch nicht mehr jener heftige Ton, welcher so wenig zu dem süßesten der Gefühle paßt. Ich bin zärtlich, unterwürfig, dankbar, und schwöre ihr, keine Gunstbezeigung, nicht einmal einen Kuß zu fordern, ehe ich nicht ihre Liebe verdient! Dieses göttliche Weib, welches sich angenehm überrascht findet, als sie mich plötzlich vom Tone der Verzweiflung zu dem der lebhaftesten Zärtlichkeit übergehen sieht, sagt zu mir mit noch zärtlicherem Tone als der meinige gewesen war, ich möge aufstehen. »Ich bin überzeugt,« sagt sie, »Sie lieben mich; aber glauben Sie auch, daß ich alles, was von mir abhängt, tun werde, um mich Ihrer Beständigkeit zu versichern.« Hätte sie mir auch gesagt, daß sie mich ebensosehr liebe, wie ich sie liebe, so hätte sie doch nicht mehr gesagt, denn jene Worte drückten alles aus. Meine Lippen waren auf ihre schönen Hände gepreßt, als der Kapitän zurückkehrte. Mit dem aufrichtigsten Ton wünschte er uns Glück, und ich sagte zu ihm mit glückstrahlender Miene, ich würde Pferde bestellen. Ich ließ ihn allein mit ihr, und bald darauf traten wir froh und zufrieden die Reise an. Ehe wir in Reggio ankamen, sagte der ehrliche Kapitän, er halte es für passend, daß wir ihn allein nach Parma reisen ließen; wenn er in unserer Gesellschaft käme, so würde das Redereien geben, man würde Fragen an ihn richten und weit mehr von uns sprechen, als wenn wir allein ankämen. Da Henriette und ich seine Bemerkungen sehr begründet fanden, so entschlossen wir uns augenblicklich, die Nacht in Reggio zu bleiben und ihn allein in einem Postwagen nach Parma reisen zu lassen. Nachdem wir darüber übereingekommen und sein Koffer auf den kleinen Wagen, welcher ihm geliefert wurde, gebracht worden, sagte er uns Lebewohl und versprach, am nächsten Tage bei uns zu Mittag zu speisen. Das Benehmen des ehrlichen Ungarn mußte meiner Freundin ebensosehr wie mir gefallen, da unser Zartgefühl uns zu großem Zwange in seiner Gegenwart nötigte, und wie hätten wir wohl nach unserer neuesten Übereinkunft in Reggio wohnen sollen? Henriette hätte mit Ehren das Bett des Kapitäns nicht mehr teilen können, und konnte ebensowenig, ohne den bescheidenen Mann zu verletzen, in das meinige kommen. Wir alle drei würden über diesen Zwang, den wir lächerlich gefunden hatten, gelacht, aber uns ihm auch unterworfen haben. Die Liebe ist ein kleines, der Scham feindliches Wesen, obwohl sie oft die Dunkelheit und das Geheimnis sucht; wenn sie aber der Scham Raum gibt, so fühlt sie sich erniedrigt und verliert dann drei Viertel ihrer Würde und einen großen Teil ihres Zaubers. Es ist leicht einzusehen, daß Henriette und ich nur glücklich sein konnten, wenn wir die Erinnerung an jenen braven Mann entfernten. Wir speisten zu Abend allein; ich war trunken von Glück, welches mir zu groß schien und doch traurig; aber Henriette, welche ebenfalls traurig schien, hatte mir nichts vorzuwerfen. Im Grunde war es Verlegenheit, denn wir liebten uns, aber wir hatten noch nicht Zeit gehabt, uns kennen zu lernen. Wir sprachen wenig, und es kam nichts Pikantes, nichts Interessantes vor: unsere Reden schienen mir abgeschmackt, und wir schwelgten in unseren Gedanken. Wir wußten, daß wir die Nacht miteinander zubringen würden; aber wir würden gefürchtet haben, eine Taktlosigkeit zu begehen, wenn wir dessen erwähnt hätten. Welche Nacht! Und welches Weib war diese Henriette, welche ich so sehr geliebt habe und welche mich so glücklich gemacht hat! Erst nach drei oder vier Tagen riskierte ich es, zu fragen, was sie ohne einen Pfennig Geld und ohne Bekannten in Parma gemacht haben würde, wenn ich nicht gewagt hätte, ihr meine Liebe zu erklären, und nach Neapel gereist wäre. Sie antwortete, sie würde sich wirklich in der schauderhaftesten Verlegenheit befunden haben, sie sei aber überzeugt gewesen, daß ich sie liebe, und hätte vorausgesehen, was gekommen. Sie fügte hinzu, die Ungeduld, über meine Ansichten ins Reine zu kommen, hätte sie veranlaßt, mich zu bitten, ihren Entschluß dem Offizier mitzuteilen, da sie gewußt, daß er sich dem nicht widersetzen und auch nicht länger mit ihr leben könne. Auch habe sie in der Bitte, welche sie dem Kapitän vorlegen ließ, mich nicht mit inbegriffen. Es hätte ihr unmöglich geschienen, daß ich sie nicht fragte, ob ich ihr nicht irgendwie nützlich sein könne, und nach den Gefühlen, welche sie bei mir gefunden hätte, hätte sie dann ihren Entschluß gefaßt. Sie sagte endlich, wenn sie sich zugrunde gerichtet hätte, trügen ihr Mann und Schwiegervater, welche sie Ungeheuer nannte, die Schuld. Als ich in Parma ankam, ließ ich mich wie in Cesena unter dem Namen Farusi ins Wachbuch eintragen: es war dies der Familienname meiner Mutter, und Henriette schrieb selbst Anna von Arci, Französin, ein. Während wir dem Torschreiber antworteten, bot ein junger, leichtfüßiger und freundlicher Franzose uns seinen Dienst an und sagte, ich würde besser tun, anstatt auf der Post abzusteigen, zu d'Andremont zu gehen, wo ich Wohnung und Küche nach französischer Weise und die besten französischen Weine finden würde. Da ich sah, der Vorschlag gefiel Henrietten, ließ ich mich dorthin führen, und wir fanden eine sehr gute Wohnung. Ich nahm einen Lohnbedienten an und traf eine sehr genaue Abkunft mit d'Andremont. Sogleich ging ich aus, um für Henriette Frauenkleidung zu kaufen. In einem großen Leinenmagazin kaufte ich die notwendige Wäsche und bestellte mehrere Kleider für sie. Als ich zurückkam, speisten wir sehr fröhlich mit unserm Ungarn, und Henriette war noch immer als Offizier gekleidet, aber ich sehnte mich danach, sie in Frauenkleidung zu sehen. Am folgenden Tage sollte sie ein Kleid erhalten; sie hatte schon Unterröcke und Hemden. Henriette sprühte von Geist und Feinheit, Wer glaubt, eine Frau reiche nicht aus, um einen Mann die ganzen vierundzwanzig Stunden des Tages glücklich zu machen, hat nie eine Henriette gekannt. Das Glück, welches mich erfüllte, ich darf es sagen, war weit vollkommener, wenn ich mich mit ihr unterhielt, als wenn ich sie in meine Arme drückte. Sie hatte viel gelesen und hatte viel Takt und natürlichen Geschmack; sie hatte ein sicheres Urteil, und wenn sie auch nicht gelehrt war, so folgerte sie doch wie ein Mathematiker ließ sich beim Sprechen gehen, war durchaus anspruchslos und mischte überall die natürliche Grazie ein, welche allen Dingen Reiz verleiht. Da sie ihren Geist nicht zu zeigen suchte, so begleitete sie das Bedeutende, was sie sagte, mit einem Lächeln, welches ihm den Anstrich des Leichtsinns gab und es allen zugänglich machte. Dadurch gab sie selbst denen Geist, welche sehr wenig davon hatten, und fesselte alle Herzen. Eine Schönheit ohne Geist kann der Liebe nur den materiellen Genuß ihrer Reize bieten, während eine geistreiche Häßliche durch die Reize ihres Geistes einnimmt, und dem Manne, welchen sie eingenommen hat, zuletzt nichts mehr zu wünschen übrig läßt. Was mußte mir also der Besitz Henriettens sein? Er mußte mich auf eine Weise glücklich machen, daß ich mein Glück gar nicht fassen konnte. Man frage eine Schönheit ohne Geist, ob sie gern einen kleinen Teil ihrer Reize gegen eine hinlängliche Dosis von Geist austauschen würde. Wenn sie nicht heuchelt, so wird sie sagen, ich bin zufrieden mit dem, was ich habe. Aber weshalb ist sie zufrieden? Weil sie ihre Bedürfnisse nicht empfindet. Man frage eine geistreiche Häßliche, ob sie ihren Geist gegen Schönheit eintauschen möchte. Sie wird sich besinnen, Nein zu sagen. Warum? Weil sie ihren Geist kennt und weiß, daß er ihr alles ersetzt. Die geistreiche Frau, welche sich nicht eignet, einen Mann glücklich zu machen, das ist die gelehrte Frau. Die Wissenschaft ist übel angebracht bei einer Frau, denn sie schadet der Sanftmut des Charakters, der Annehmlichkeit, der sanften Furchtsamkeit, welche dem schönen Geschlecht einen so großen Reiz verleiht; und übrigens ist auch eine Frau mit ihrem Wissen nie über gewisse Grenzen hinausgekommen, und das Geschwätz gelehrter Frauen imponiert nur Dummköpfen. Von Frauen ist nie eine große Entdeckung gemacht worden. Dem weiblichen Geschlecht fehlt die Kraft, welche die physische Begabung dem männlichen verleiht; aber hinsichtlich des einfachen Urteils, der Zartheit der Empfindungen, überhaupt hinsichtlich aller Vorzüge, welche mehr vom Herzen als vom Geiste abhängen, sind die Frauen uns weit überlegen. Schleudere einer geistreichen Frau einen Sophismus an den Kopf, so wird sie sich zwar ihn nicht entwickeln können, aber sich auch nicht von ihm täuschen lassen; und wenn sie es dir auch nicht sagt, so wird sie dich doch erraten lassen, daß sie ihn verwirft. Der Mann dagegen, der ihn unlösbar findet, nimmt ihn zuletzt buchstäblich, und in dieser Beziehung ist die gelehrte Frau durchaus Mann. Welche Last muß eine Madame Dacier sein! Gott bewahre jeden ehrlichen Mann davor! Als am Nachmittag die Schneiderin kam, sagte Henriette, ich dürfe ihrer Umwandlung nicht beiwohnen, und forderte mich auf, spazieren zu gehen, bis sie wieder sie selbst geworden sei. Ich gehorchte, denn wenn man liebt, so erhöht sich das Glück dadurch, daß man der geringsten Willensäußerung des geliebten Gegenstandes gehorcht. Da mein Spaziergang kein bestimmtes Ziel hatte, so trat ich bei einem französischen Buchhändler ein und machte hier die Bekanntschaft eines geistreichen Buckligen; und hier muß ich auch erwähnen, daß nichts so selten ist, als ein Buckliger ohne Geist; ich habe diese Erfahrung in allen Ländern gemacht. Es ist nicht der Geist, welcher den Buckel erzeugt, denn, Gott sei Dank, es sind nicht alle geistreichen Menschen bucklig; aber man kann im allgemeinen behaupten, daß der Buckel Geist erzeugt, denn die kleine Anzahl Buckliger, welche keinen oder wenig Geist haben, hebt die Regel nicht auf. Derjenige, von welchem hier die Rede ist, hieß Dubois-Chateleraux. Er war ein gelehrter Kupferstecher und Münzdirektor des Infanten Herzogs von Parma, obwohl dieser kleine Herrscher gar keine Münze hatte. Ich brachte eine Stunde in Gesellschaft dieses geistreichen Buckligen zu, welcher mir mehrere seiner Kupfersticharbeiten zeigte, hierauf kehrte ich in den Gasthof zurück, wo ich unsern Ungarn fand, der auch auf Henriette wartete. Er wußte nicht, daß sie uns in Frauenkleidung begrüßen würde. Die Tür öffnet sich und eine reizende Frau empfängt uns mit einer graziösen Verbeugung, welche ebenso fern von aller Steifheit bleibt, wie von der Freiheit, welche der Militärrock verleiht. Ihr Anblick machte uns verlegen, und es fehlte uns wirklich an Fassung. Sie ladet uns ein, uns neben sie zu setzen, betrachtet den Kapitän mit einem freundschaftlichen Blick und drückt mir die Hand mit ausdrucks- und gefühlvoller Zärtlichkeit, aber ohne jenen Anstrich von Vertraulichkeit, die ein junger Offizier sich gestatten darf, ohne der Liebe zu schaden, die aber für ein wohlerzogenes Weib nicht paßt. Ihre edle und anständige Haltung nötigte mich zu einer ebensolchen, ohne daß sie mir Zwang auferlegte, denn sie spielte nicht eine Rolle, und als sie ihren natürlichen Charakter wieder annahm, wurde es mir nicht schwer, mich ihrem Benehmen anzupassen. Ich betrachtete sie mit einer Art Bewunderung, und getrieben von einem Gefühl, von welchem ich mir keine Rechenschaft zu geben suchte, ergriff ich ihre Hand; ehe ich sie aber an meine Lippen führen konnte, gab sie mir ihren schönen Mund preis, und nie ist mir ein Kuß so köstlich erschienen. »Bin ich denn nicht immer dieselbe?« sagte sie mit gefühlvollem Tone. »Nein, meine göttliche Freundin, und in meinen Augen sind Sie es so sehr nicht mehr, daß ich Sie nicht mehr zu duzen wage. Sie sind nicht mehr der geistreiche, aber freie Offizier, welcher Madame Querini antwortete, daß er Pharao spiele und die Bank halte, daß aber der Gewinn so gering sei, daß es sich nicht verlohne, davon zu sprechen.« »Es ist sicher, daß ich diese Worte in meinem Frauenanzuge nicht zu wiederholen wagte. Aber, mein Freund, bin ich darum nicht weniger deine Henriette, die Henriette, welche in ihrem Leben drei Torheiten begangen hat, von denen ohne dich die letzte mich zugrunde gerichtet haben würde, die ich aber reizend nenne, da sie die Veranlassung geworden, daß ich dich kennen gelernt.« Diese Worte machten einen so tiefen Eindruck auf mich, daß ich im Begriffe stand, mich ihr zu Füßen zu werfen und sie um Verzeihung zu bitten, daß ich sie nicht mehr geachtet; aber Henriette, welche meinen Zustand sah und diesem Pathos ein Ende machen wollte, fing an, den alten Kapitän zu schütteln, welcher das Aussehen einer Statue hatte, so war er versteinert. Er schämte sich, daß er eine Frau dieser Art als Abenteurerin behandelt, denn daß er nicht unter dem Einflusse einer Illusion stände, war ihm wohl klar. Er betrachtete sie mit einer Art Verwirrung und machte ihr gleichsam als Ehrenerklärung sehr ehrfurchtsvolle Verbeugungen. Sie schien ihm aber ohne den geringsten Anstrich von Vorwurf zu sagen: es ist mir sehr lieb, daß Sie der Ansicht sind, daß ich mehr als zehn Zechinen wert bin! Wir setzten uns zu Tisch, und von diesem Augenblick an machte sie die Honneurs mit einer Leichtigkeit, welche die Gewohnheit bewies. Sie behandelte den Kapitän als achtungswerten Freund und mich als geliebten Mann. Der Kapitän bat mich, ihr zu sagen, daß, wenn er sie so in Cività-Vecchia aus der Tartane hätte steigen sehen, es ihm nie eingefallen sein würde, ihr seinen Cicerone zuzuschicken. »Oh, sagen Sie ihm, daß ich vollkommen davon überzeugt bin. Aber es ist doch sehr sonderbar, daß ein Frauenkleid mehr imponiert als eine Uniform.« »Lassen Sie, ich bitte Sie, die Uniform in Ruhe, denn ihr verdanke ich mein ganzes Glück.« »Ja,« sagte sie mit dem liebenswürdigsten Lächeln, »wie ich den Sbirren von Cesena.« Wir blieben lange bei Tische und führten reizende Gespräche welche alle auf unser gegenwärtiges Glück Bezug hatten; und nur der Zwang, welchen sich der Ungar anzulegen schien, machte unsern Scherzen und unserm Mittagsmahl ein Ende. Das Glück, welches ich genoß, war zu vollkommen, um von Dauer zu sein; es sollte mir entrissen werden. Aber greifen wir den Ereignissen nicht vor. Ich sagte zu Henriette, ich würde eine Opernloge mieten, und wir wollten alle Tage die Oper besuchen. Sie hatte mir mehrmals gesagt, die Musik wäre ihre herrschende Leidenschaft, und ich zweifelte nicht, mein Vorschlag würde mit Freuden aufgenommen werden. Sie hatte noch keine italienische Oper gesehen und mußte begierig sein, diese Merkwürdigkeit des Landes kennen zu lernen. Man denke sich daher mein Erstaunen, als sie ausrief: »Wie, mein Freund, du willst, daß wir täglich in die Oper gehen?« »Ich denke, meine Freundin, daß wir Anlaß zu Geklatsch geben werden, wenn wir nicht hineingehen. Wenn du nicht gern hingehst, so weißt du, daß dich nichts dazu nötigt; lege dir keinen Zwang auf, denn ich ziehe deine süßen Gespräche in diesem Zimmer dem schönsten Konzert der Engel vor.« »Ich bin vernarrt in die Musik, mein zärtlich geliebter Freund, aber ich kann mich nicht enthalten, bei der bloßen Idee des Ausgehens zu zittern.« »Wenn du zitterst, schaudere ich; aber wir müssen die Oper besuchen oder uns von hier entfernen. Reisen wir nach London oder anderswohin.« »Befiehl, ich bin bereit, zu tun, was du willst. Nimm eine Loge, die nicht zu offen liegt.« »Du entzückst mich, und dein Wille soll geschehen.« Ich nahm eine Loge im zweiten Range, da aber das Theater klein war, so konnte eine hübsche Frau im zweiten Range nicht gut unbemerkt bleiben. Ich sagte es ihr. »Ich glaube nicht,« antwortete sie, »daß ich Gefahr laufe, denn in der Fremdenliste, welche du mir zu lesen gegeben, habe ich keinen mir bekannten Namen gefunden.« Henriette ging ohne Schminke in die Oper, und wir hatten eine unerleuchtete Loge. Es war eine Opera buffa, die Musik von Burellano war ausgezeichnet, und auch die Schauspieler spielten allesamt vortrefflich. Meine Freundin benutzte ihre Lorgnette nur, am die Schauspieler zu betrachten, und niemand beachtete uns. Da das Finale des zweiten Aktes ihr sehr gefallen, so versprach ich es ihr und wandte mich an Dubois, um es ihr zu verschaffen. Da ich glaubte, Henriette spiele Klavier, bot ich ihr eins an, sie sagte aber, sie habe dies Instrument nicht gelernt. Als wir am vierten oder fünften Tage die Oper besuchten, kam Herr Dubois in unsere Loge, und da ich ihn nicht meiner Freundin vorstellen wollte, so begnügte ich mich, ihn zu fragen, worin ich ihm nützlich sein könnte. Er reichte mir nun die Musik, um welche ich ihn gebeten; ich bezahlte ihn und dankte ihm für seine Gefälligkeit. Da wir der herzoglichen Loge gegenübersaßen, so fragte ich ihn, um etwas zu sagen, ob er Ihre Hoheiten gestochen. Er antwortete, er habe schon zwei Medaillen gemacht, und ich bat ihn, sie mir in Gold zu bringen. Er versprach es mir und entfernte sich sodann. Henriette hatte ihn gar nicht angesehen, und dies war in der Ordnung, da ich ihn ihr nicht vorgestellt hatte: am folgenden Tage, als wir bei Tische saßen, wurde er uns gemeldet. Es war natürlich, daß Henriette ihn nun bewillkommnete, und sie tat dies auf eine ganz vortreffliche Weise. Nachdem sie ihm für das Spartito gedankt, bat sie ihn, ihr noch einige andere Arien zu verschaffen, und der Künstler nahm diese Bitte als eine Gunst auf, welche ihm großes Vergnügen machte. »Mein Herr,« sagte Dubois zu mir, »ich bin so frei gewesen, zu Ihnen zu kommen, um Ihnen die Medaillen zu zeigen, um welche Sie mich gebeten.« Auf der einen Seite befanden sich der Infant und seine Gemahlin, auf der andern waren nur das Bild Don Philipps. Diese Medaillen waren ausgezeichnet gearbeitet, und wir lobten sie mit Recht. »Die Arbeit ist unbezahlbar, aber es läßt sich das Gold bezahlen.« »Madame,« antwortete bescheiden der Künstler, »sie wiegen sechzehn Zechinen.« Sie bezahlte sie ihm auf der Stelle und lud ihn ein, ein andermal eine Suppe bei uns zu essen. Währenddessen hatte man den Kaffee aufgetragen, und Henriette forderte ihn auf, eine Tasse mit uns zu trinken. Als sie Zucker in seine Tasse werfen wollte, sagte sie ihn, ob er gern süß tränke. »Ihr Geschmack, Madame,« antwortete der galante Bucklige, »wird gewiß auch der meinige sein.« »Sie haben also erraten, daß ich immer ohne Zucker trinke; ich freue mich sehr, daß Sie meinen Geschmack teilen.« Damit reichte sie ihm sehr graziös eine Tasse ohne Zucker, schenkt sodann mir ein und wirft sehr viel Zucker hinein, worauf sie sich ganz wie Dubois einschenkt. Es wurde mir schwer, nicht loszuplatzen, denn meine boshafte Französin, welche den Kaffee nach Pariser Weise trank, das heißt sehr süß, trank ihren bitteren Kaffee mit dem Ausdrucke des höchsten Vergnügens und zwang dadurch den Münzdirektor, gute Miene zum bösen Spiele zu machen. Der feine Bucklige, welcher für sein fades Kompliment auf diese Weise bestraft worden, blieb ebenfalls nicht zurück, rühmte die Güte des Kaffees und behauptete sogar, man müsse den Kaffee so trinken, um das Aroma der köstlichen Bohnen zu schmecken. Als Dubois weggegangen, fingen wir an, über diese Eulenspiegelei zu lachen. »Aber«, sagte ich, »du wirst das erste Opfer deiner Bosheit werden, denn wenn er hier zu Mittag speist, wirst du deine Rolle fortspielen müssen, um dich nicht zu verraten.« »Ich werde«, sagte sie, »leicht ein Mittel finden, meinen Kaffee zu zuckern und ihn noch ferner die bittere Schale leeren zu lassen.« Nach Verlauf eines Monats sprach Henriette das Italienisch mit Leichtigkeit und ich lernte mehr Französisch in der leider gar zu kurzen Zeit, da ich das Glück hatte, mit diesem angebeteten Weibe in vertrautem Umgange zu leben, als früher bei meinem Lehrer. Wir waren zwanzigmal in der Oper gewesen, ohne irgendeine Bekanntschaft zu machen, und wir lebten glücklich in der vollen Bedeutung des Wortes. Ich verließ nur mit Henriette unsre Wohnung, auch fuhren wir nur aus und waren durchaus unzugänglich, so daß ich mit niemand bekannt wurde. Seit der Abreise unseres guten Ungarn war Herr Dubois die einzige Person, welche zuweilen zu uns kam. Dieser Dubois war sehr neugierig, zu erfahren, wer wir wären, aber er war fein und ließ sich nicht erraten; übrigens waren wir zurückhaltend ohne Affektation, und seine Neugierde blieb unbefriedigt. Eines Tages sprach er vom Glanze des Hofes des Herzogs-Infanten seit der Ankunft von Madame de France und von dem Zusammenströmen Fremder beiderlei Geschlechts in Parma. Sich sodann besonders an Henrietten wendend: »Der größte Teil der fremden Damen, welche wir hier gesehen haben, ist uns unbekannt.« »Es ist möglich, daß sich viele von ihnen, wenn sie es nicht wären, sich hier nicht zeigen würden.« »Es ist sehr möglich, Madame; aber ich versichere Ihnen, daß selbst, wenn sie sich durch Schönheit oder Schmuck auszeichnen sollten, die Wünsche unserer Herrscher dennoch für die Freiheit sind. Ich hoffe. Madame, daß wir die Ehre haben werden, auch Sie bei Hofe zu sehen.« »Das wird schwerlich der Fall sein, denn ich finde es höchst lächerlich, wenn eine Frau unvorgestellt an den Hof geht, besonders wenn sie einen Anspruch darauf hat, vorgestellt zu werden.« Diese letzten Worte, welche Henriette etwas stärker betont hatte, schnitten dem kleinen Buckligen das Wort ab, und meine Freundin benutzte diese Unterbrechung, um dem Gespräche eine andere Wendung zu geben. Nachdem er sich entfernt, lachten wir über die Schlappe, welche die Neugier erlitten; aber ich sagte Henrietten, sie möchte aus vollem Herzen allen, die sie neugierig mache, verzeihen, denn ... Sie schnitt mir das Wort ab, indem sie mich mit zärtlichen Küssen bedeckte. Während wir so mit vollen Zügen das Glück genossen und uns in jedem Augenblick selbst genügten, lachten wir über die griesgrämigen Philosophen, welche leugnen, auf der Erde gäbe es vollkommenes Glück. »Was meinen Sie wohl, mein Freund, die Hohlköpfe, welche behaupten, das Glück sei nicht von Dauer, und was verstehen Sie unter diesem Wort? Wenn man ewiges, unsterbliches, nie endendes Glück meint, so hat man recht; da aber der Mensch nicht ewig ist, so ist wohl die natürliche Folge, daß das Glück es auch nicht sein kann. Dagegen ist jedes Glück schon aus dem Grunde, weil es existiert, von Dauer, und um dies zu sein, braucht es nur zu existieren. Wenn man aber unter vollkommenem Glücke eine Aufeinanderfolge mannigfacher und nie unterbrochener Vergnügungen versteht, so hat man unrecht; denn wenn man nach jedem Vergnügen die Ruhe eintreten läßt, welche auf den Genuß folgen muß, verschafft man sich die Zeit, den glücklichen Zustand in seiner Realität zu erkennen; oder mit andern Worten, diese Augenblicke notwendiger Ruhe sind eine wahre Quelle von Vergnügungen, weil wir während der Wonne die Erinnerung empfinden, welche den Genuß verdoppelt. Der Mensch kann nicht anders glücklich sein, als wenn er sich in seinen Gedanken dafür hält, und er kann nur denken, wenn er ruhig ist; ohne die Ruhe würden wir also in der Tat nie vollkommen glücklich sein. Wenn daher das Vergnügen ein solches sein soll, so muß keine Wirksamkeit aufhören. Was meint man also mit dem Worte dauernd? Wir gelangen alle Tage zu dem Augenblick, wo wir den Schlaf wünschen; und obgleich er ein Bild der Nichtexistenz ist, wird doch niemand leugnen wollen, daß er ein Vergnügen ist. Wenigstens ohne Inkonsequenz scheint man dies nicht zu können, da wir ihn, sobald er sich einstellt, allen möglichen Vergnügungen vorziehen; und wir können ihm nicht eher dankbar sein, als bis er uns verlassen hat. Diejenigen, welche sagen, niemand könne während des ganzen Lebens glücklich sein, sprechen leichtfertig. Die Philosophie lehrt das Geheimnis, dieses Glück zu bereiten, vorausgesetzt jedoch, daß man nicht mit physischen Leiden behaftet ist. Ein Glück, welches das ganze Leben dauerte, könnte mit einem aus tausend Blumen zusammengesetzten Strauße verglichen werden, die so gut gemischt und gewählt wären, daß man sie für eine einzige Blume halten könnte. Wieso sollte es unmöglich sein, daß wir unser ganzes Leben auf dieselbe Weise wie diesen einen Monat verlebten, immer gesund, immer zufrieden mit uns selbst, ohne je eine Leere oder ein Bedürfnis zu empfinden? Um sodann dieses Glück, welches gewiß ein sehr großes wäre, zu kennen, wäre im hohen Alter nichts weiter nötig, als zu sterben, während wir von unsern süßen Erinnerungen sprächen, und gewiß wäre das ein dauerndes Glück gewesen. Wir könnten uns nur insoweit für unglücklich halten, als wir nach dem Tode ein anderes, unglückliches Leben zu fürchten hätten; und diese Idee scheint mir abgeschmackt, denn sie steht im Widerspruch mit der Idee der Allmacht und väterlichen Liebe.« So verlebte ich mit meiner reizenden Henriette herrliche Stunden, indem wir über Gefühle philosophierten. Ihr klares Urteil war dem Ciceros in seinen Tusculanen weit überlegen; aber sie gab zu, das dauernde Glück, dessen Vorstellung uns bezaubert, sei nur zwischen zwei zusammenlebenden Individuen möglich, welche beständig ineinander verliebt wären, körperlich und geistig gesund, gebildet, ziemlich reich wären und so ziemlich dieselben Neigungen, denselben Charakter und dasselbe Temperament hätten. Glücklich sind die Liebenden, deren Geist die Sinne ersetzen kann, wenn sie der Ruhe bedürfen! Der süße Schlaf kommt sodann und dauert bis zur Wiederherstellung der Harmonie. Beim Erwachen stellen sich zuerst die Sinne wieder ein, bereit, ihre Arbeit wieder zu beginnen. Die Bedingungen zwischen dem Menschen und dem Universum sind ganz gleich, und man könnte sagen, daß vollkommene Identität zwischen ihnen stattfindet, da, wenn wir das Universum wegnehmen, es keinen Menschen mehr gibt, und da, wenn wir den Menschen wegnehmen, es kein Universum mehr gibt, denn wenn auch die träge Masse als existierend vorausgesetzt wird, wer könnte dann wohl eine Idee von ihr haben? Aber ohne Idee nihil est, da die Idee das Wesen von allem ist, und dem Menschen allein gehören die Ideen an. Wenn wir übrigens von der Gattung abstrahieren, so können wir uns die Existenz der Materie nicht mehr vorstellen und vice versa. Ich war mit Henriette ebenso glücklich, wie dieses angebetete Weib es mit mir war. Wir liebten uns mit der ganzen Kraft unserer Anlagen; wir genügten vollkommen einander, wir lebten ganz einer dem andern. Sie wiederholte mir oft die schönen Verse des guten La Fontaine:
Soyez-vous l'un à l'autre un monde toujours beau,
Toujours divers, toujours nouveau,
Tenez-vous lieu de tout: comptez pour rien le reste.
Und wir führten den Rat praktisch aus, denn nie wurde die Glückseligkeit, welche wir genossen, durch einen Augenblick der Langeweile oder Ermüdung, nie durch ein gefaltetes Rosenblatt unterbrochen. Am Tage nach dem Schlusse der Oper speiste Dubois bei mir und sagte, er hätte am nächsten Tage die beiden ersten Mitglieder der Komödie, Mann und Frau, bei sich zu Mittag, und es stehe bei uns, die schönsten Stücke, welche sie auf der Bühne gesungen, zu hören. »Sie werden in einem gewölbten Saale meines Hauses singen, welcher für die Entfaltung der Stimme sehr geeignet ist.« Henriette dankte ihm sehr; aber sie bemerkte, da sie eine zarte Gesundheit habe, so könnte sie sich nicht von einem Tage auf den andern verpflichten, und wandte die Unterhaltung auf einen andern Gegenstand. Als wir allein waren, fragte ich sie, warum sie sich nicht bei Dubois amüsieren wolle. »Ich würde sehr gern hingehen, wenn ich nicht fürchtete, dort jemand zu treffen, dem ich bekannt wäre und der unser Glück zerstören könnte.« »Wenn du einen neuen Grund zur Furcht hast, so hast du recht; wenn es aber nur eine unbestimmte Besorgnis ist, warum willst du dich, mein Engel, dann eines wirklichen und unschuldigen Vergnügens berauben? Wenn du wüßtest, welche Freude ich empfinde, wenn ich sehe, daß du froh bist, namentlich, wenn ich sehe, wie du beim Anhören eines schönen Musikstücks in Ekstase gerätst!« »Nun, mein Herz, du sollst mich nicht für weniger mutig halten als du bist. Wir wollen sogleich nach Tisch zu Dubois gehen. Die Künstler werden nicht eher singen. Überdies ist es wahrscheinlich, daß er nicht auf uns rechnet, und niemand, der mich kennen zu lernen wünscht, eingeladen hat. Wir wollen zu ihm gehen, ohne es ihm zu sagen, ohne daß er auf uns wartet, und wie, um ihm eine freundschaftliche Überraschung zu bereiten. Er hat uns gesagt, daß er in seinem Landhause sein wird, und die Caudagna weiß, wo dies liegt.« Ihr Rat war durch die Klugheit und die Liebe, zwei Sachen, die sich so selten zusammenfinden, eingegeben. Ich antwortete ihr, indem ich sie mit ebenso großer Bewunderung als Zärtlichkeit betrachtete, und am folgenden Tag um vier Uhr nachmittags begaben wir uns zu Dubois. Wir waren überrascht, ihn nebst einem jungen Mädchen, welches er uns als seine Nichte vorstellte, allein zu finden. »Ich bin«, sagte er, »erfreut, Sie zu sehen, da ich aber das Glück, Sie bei mir zu sehen, nicht erwartete, so habe ich das Mittagessen in ein kleines Abendessen umgeändert und hoffe, daß Sie es mit Ihrer Gegenwart beehren werden. Die beiden Virtuosen werden bald kommen.« Wir sehen uns wider Willen genötigt, zum Abendessen zu bleiben. »Haben Sie«, fragte ich, »große Gesellschaft?« »Sie werden«, sagte er mit siegreicher Miene, »in einer Ihrer würdigen Gesellschaft sein. Ich bedaure nur, keine Damen eingeladen zu haben.« Diese galante und zarte Bemerkung, welche an Henriette gerichtet war, beantwortete meine Freundin mit einer Verbeugung, welche sie mit einem Lächeln begleitete. Ich sah mit Vergnügen den Ausdruck der Zufriedenheit auf ihrem Gesicht; aber leider unterdrückte sie das peinliche Gefühl, welches sie empfand. Ihre starke Seele wollte keine Unruhe zeigen, und ich drang nicht in ihr Inneres ein, weil ich nicht glaubte, sie hätte etwas zu fürchten. Ich würde anders gedacht und gehandelt haben, wenn ich ihre ganze Geschichte gekannt hätte; ich würde sie nicht in Parma gelassen, sondern sie nach London geführt haben, und sie würde sehr zufrieden damit gewesen sein. Die beiden Sänger fanden sich bald ein: es war Laschi und Demoiselle Baglioni, welche damals sehr hübsch war. Allmählich kamen auch die Gäste: es waren Franzosen und Spanier von einem gewissen Alter. Von Vorstellung war keine Rede, und ich bewunderte den Takt des geistreichen Buckligen; aber da alle Gäste sich am Hofe bewegt hatten, so hinderte dieser Mangel an Etikette nicht, daß meiner Freundin alle möglichen Ehrenbezeigungen erwiesen wurden, und sie nahm diese mit jener Leichtigkeit und Weltgewandtheit auf, welche man nur in Frankreich kennt, und auch hier nur in der besten Gesellschaft, jedoch mit Ausnahme einiger Provinzen, wo der Adel, den man mit Unrecht die gute Gesellschaft nennt, zu sehr das hochmütige Wesen, welches ihn charakterisiert, durchblicken läßt. Das Konzert begann mit einer herrlichen Sinfonie. Hierauf sangen die beiden Sänger ein Duett mit viel Geschmack und Talent. Sodann trat ein Schüler des berühmten Vandini auf, welcher auf dem Violoncello Konzerte gab und sehr viel Beifall fand. Der Applaus dauerte noch, als Henriette aufstand, zu dem jungen Künstler trat, sein Violoncello nahm und mit bescheidenem, aber sicherem Ton sagte, daß sie ihm zu noch größerem Glanze verhelfen wolle. Ich fiel aus den Wolken. Sie setzt sich auf den Platz des jungen Mannes, nimmt das Violoncello zwischen die Beine und bittet das Orchester, das Konzert noch einmal anzufangen. Jetzt entsteht das tiefste Schweigen, und ich zittre wie Espenlaub und fürchte, unwohl zu werden. Glücklicherweise waren alle Blicke auf Henriette gerichtet, und mich beachtete niemand. Sie sah mich ebensowenig an, sie wagte es nicht, denn hätte sie ihre schönen Augen auf mich gerichtet, so würde sie den Mut verloren haben. Da ich aber sah, daß sie sich nicht in die Positur zum Spielen setzte, so fing ich an, mir zu schmeicheln, daß sie nur einen liebenswürdigen Scherz habe machen wollen; als sie aber den ersten Bogenstrich führte, fing mir das Herz so stark zu schlagen an, daß ich zu sterben fürchtete. Aber man denke sich meine Lage, als nach dem ersten Stücke wohlverdienter Applaus das Orchester gänzlich übertönte! Dieser schnelle Übergang von einer außerordentlichen Furcht zur höchsten Zufriedenheit versetzte mich in fieberhafte Erregung. Aber auf Henriette schien dieser Applaus Eindruck zu machen, und ohne die Augen von den Noten wegzuwenden, welche sie zum ersten Male sah, spielte sie sechsmal hintereinander mit der seltensten Vollkommenheit. Als sie von ihrem Platze aufstand, dankte sie der Gesellschaft nicht, sondern wandte sich mit freundlicher Miene zu dem jungen Künstler und sagte zu ihm mit liebenswürdigem Lächeln: »Ich bitte Sie, die kleine Eitelkeit zu entschuldigen, welche mich veranlaßt hat, Ihre Geduld eine halbe Stunde lang zu mißbrauchen.« Dieses so imponierende und zugleich so anmutige Kompliment brachte mich vollends außer Fassung, und ich entfernte mich, um im Garten, wo mich niemand sah, zu weinen. Wer ist denn diese Henriette, fragte ich mich mit Tränen der Rührung; wer ist denn dieser Schatz, den ich besitze? Mein Glück erschien mir zu groß, als daß ich mich seiner hätte für würdig halten können. Versunken in diese Betrachtungen, welche die Wollust meiner Tränen verdoppelten, würde ich noch lange im Garten geblieben sein, wenn nicht Dubois mich aufgesucht und trotz der Dunkelheit der Nacht und der Allee, in welcher ich träumte, gefunden hätte. Er war unruhig wegen meines Verschwindens, und ich beruhigte ihn, indem ich sagte, ein Kummer habe mich veranlaßt, ins Freie zu gehen und frische Luft zu schöpfen. Unterwegs hatte ich Zeit, meine Augen zu trocknen, nicht aber ihre Röte zu entfernen. Aber nur Henriette bemerkte diese Erscheinung und sagte: »Ich weiß, mein Engel, was du im Garten gemacht hast.« Sie kannte mich; es war ihr leicht, den Eindruck auf mein Herz zu erraten. Dubois hatte die liebenswürdigsten Herren des Hofes versammelt, und das Abendessen, welches er ohne Verschwendung veranstaltet hatte, war fein und gut gewählt. Ich saß Henrietten gegenüber, welche natürlich allein die allgemeine Aufmerksamkeit erregte; aber sie hätte nur gewinnen können, wenn sie von einem Zirkel von Damen umgeben gewesen wäre, welche sie ohne andern Schmuck als ihre Schönheit, ihren Geist und ihr feines Benehmen sicherlich verdunkelt haben würde. Durch die angeregte Stimmung, welche sie über die ganze Gesellschaft verbreitete, gab sie dem Abendessen besonderen Reiz. Herr Dubois sprach nicht, aber er war stolz, daß er einen so anziehenden Gast gewonnen. Sie war geschickt genug, jedem etwas Angenehmes und Geistreiches zu sagen, und wenn sie etwas Hübsches sagte, mich mit ins Spiel zu ziehen. Ich mochte meinerseits noch so sehr den Schein der Unterwürfigkeit, Ergebenheit und Achtung für diese Göttin annehmen, so wollte sie doch, daß jeder erraten sollte, ich wäre ihr Orakel. Man konnte sie für meine Frau halten, aber nach meinem Benehmen gegen sie zu urteilen, war dies nicht gut anzunehmen. Das Gespräch kam auf die Musik, und bei dieser Gelegenheit fragte ein Spanier Henrietten, ob sie außer dem Violoncello noch ein anderes Instrument spiele. »Nein,« antwortete sie, »ich habe nur für dieses Neigung gehabt. Ich habe es im Kloster gelernt, um meiner Mutter gefällig zu sein, welche es ziemlich gut spielt; und ohne einen unbedingten Befehl meines Vaters, welcher vom Bischofe unterstützt wurde, würde die Superiorin mir dies nie gestattet haben.« »Und welchen Grund konnte die Äbtissin haben, es Ihnen zu verbieten?« »Diese fromme Braut des Herrn behauptete, ich könnte das Instrument nur in einer unanständigen Stellung spielen.« Bei diesen Worten bissen sich die Spanier in die Lippen, aber die Franzosen lachten laut auf und ließen es nicht an Epigrammen gegen die gewissenhafte Nonne fehlen. Als sie nach einer Pause von einigen Minuten eine leise Bewegung machte, wie um die Erlaubnis aufzustehen zu bitten, standen wir alle auf und gingen sodann nach Hause. Ich sehnte mich danach, mit diesem Abgotte meiner Seele allein zu sein. Ich richtete hundert Fragen an sie, ohne ihr Zeit zum Antworten zu lassen. »Du hattest sehr recht, meine Henriette, nicht dorthin gehen zu wollen, denn du konntest sicher sein, mir Feinde zu machen. Man muß mich fürchterlich hassen; aber ich frage nichts danach: du bist meine Welt. Grausame Freundin, mit deinem Violoncello hättest du mich beinahe getötet; denn da ich keine Ahnung von deiner natürlichen Zurückhaltung hatte, so glaubte ich, du wärest toll geworden, und als ich dich hörte, ging ich hinaus, um meinen Tränen freien Lauf zu lassen. Sie haben mich von dem furchtbaren Drucke, welchen ich empfand, befreit. Sage mir jetzt, ich beschwöre dich, welche Talente du noch hast; verbirg mir nichts, denn du könntest mich töten, wenn du sie bei einer unerwarteten Gelegenheit und in einem unerwarteten Augenblick hervorbrächtest.« »Ich besitze keine weiter, mein Herz; ich habe meinen kleinen Sack mit einem Male geleert; jetzt kennst du deine Henriette ganz. Hättest du mir nicht zufällig vor einem Monat gesagt, du habest keinen Sinn für die Musik, so würde ich dir gesagt haben, ich sei Meisterin auf diesem Instrument; aber hätte ich es dir gesagt, so würdest du dich, wie ich dich kenne, beeilt haben, mir eins anzuschaffen, und deine Freundin will sich kein Vergnügen machen, welches dich langweilt.« Gleich am folgenden Tage erhielt sie ein vortreffliches Instrument, und weit entfernt, mich je zu langweilen, bereitete sie mir vielmehr jeden Tag einen neuen Genuß, und ich glaubte, behaupten zu können, daß jemand, welcher Abneigung gegen die Musik hat, unmöglich dabei verharren kann, wenn ihm die Kunst von solch angebeteter Meisterhand dargereicht wird. Die menschliche Stimme des Violoncello, welche der jeden andern Instruments überlegen ist, drang mir jedesmal ins Herz, wenn meine Freundin spielte. Sie wußte es und bereitete mir jeden Tag dies Vergnügen. Ich war so entzückt durch ihr Talent, daß ich ihr vorschlug, Konzerte zu geben; aber sie war klug genug, sich nicht dazu zu verstehen. Trotz ihrer Klugheit aber konnten wir den Gang des Schicksals nicht aufhalten. Der verhängnisvolle Dubois kam am Tage nach seinem hübschen Abendessen, um uns zu danken und unsere Lobsprüche über sein Konzert, sein Abendessen und die gewählte Gesellschaft in Empfang zu nehmen. »Ich sehe voraus, Madame,« sagte er, »wie schwer es mir werden wird, mich gegen die Bestürmungen, Ihnen vorgestellt zu werden, zu verteidigen.« »Ihre Mühe, mein Herr, wird nicht groß sein; Sie wissen, daß ich niemand empfange.« Dubois wagte nicht mehr von Vorstellen zu sprechen. Seit dem berühmten Abendessen von Dubois war ein Monat verflossen, währenddessen unser Geist und unsere Sinne volle Befriedigung fanden, denn nie hatten wir einen leeren Augenblick, in welchem das traurige Zeichen geistiger Armut, welches man Gähnen nennt, bei uns hätte Platz gewinnen können. Unsere einzige Belustigung außer dem Hause bestand in einer Spazierfahrt außerhalb der Stadt, wenn das Wetter schön war. Da wir nie ausstiegen und keinen öffentlichen Ort besuchten, so konnte niemand suchen, uns kennen zu lernen, oder fand doch wenigstens keine Gelegenheit dazu, trotz der Neugier, welche meine Freundin unter den Personen erregt, mit denen uns der Zufall zusammengeführt, namentlich beim Abendessen von Dubois. Henriette war mutiger und ich sicherer geworden, nachdem wir gesehen, daß sie im Theater und beim Abendessen von niemand erkannt worden war. Sie fürchtete nur den hohen Adel. Als wir eines Tages außerhalb des Tores von Colorno eine Promenade machten, begegneten wir dem Herzoge mit seiner Gemahlin, welche nach der Stadt zurückkehrten. Einen Augenblick darauf kommt ein anderer Wagen, in welchem Dubois und ein Herr saß, den man nicht kannte. Kaum war unser Wagen bei dem ihrigen vorübergefahren, als eins unserer Pferde stürzte. Der Herr, in dessen Gesellschaft Dubois war, läßt den Wagen anhalten, um uns Hilfe zu schicken. Während man das Pferd aufhob, näherte er sich unserm Wagen auf eine adlige Weise und machte Henrietten ein Kompliment, wie es die Umstände mit sich brachten. Dubois, ein feiner Höfling, der sich gern auf Kosten anderer geltend machte, verlor keine Zeit, um ihr zu sagen, daß der Herr der französische Minister Dutillot wäre. Die übliche Verbeugung war die Antwort meiner Freundin. Da das Pferd sich wieder aufgerichtet, so fuhren wir weiter, nachdem wir dem Herrn für seine Artigkeit gedankt. Eine so einfache Begegnung hätte nach dem gewöhnlichen Gang der Dinge keine Folgen haben dürfen; aber wie oft haben die größten Ereignisse die unbedeutendsten Veranlassungen! Am folgenden Tage frühstückte Dubois bei uns. Er begann ohne weitere Umschweife damit, daß Herr Dutillot entzückt über den glücklichen Zufall, welcher ihm das Vergnügen unserer Bekanntschaft verschafft, ihn beauftragt habe, um die Erlaubnis zu bitten, uns besuchen zu dürfen. »Madame oder mich?« fragte ich sogleich. »Beide.« »Das laß ich mir gefallen, aber nur einen auf einmal; denn wie Sie wissen, hat Madame ein eigenes Zimmer und ich ebenfalls.« »Ja, aber sie liegen sehr nahe beieinander.« »Das ist richtig; was jedoch mich betrifft, so muß ich Ihnen sagen, daß ich zu Seiner Exzellenz eilen werde, wenn er mir einen Befehl zu erteilen oder eine Mitteilung zu machen hat; ich bitte Sie, ihm dies zu sagen. Was Madame betrifft, so ist sie zugegen: sprechen Sie mit ihr, denn ich, mein lieber Dubois, bin nur ihr sehr untertäniger Diener.« Henriette antwortete hierauf mit heiterem und höflichem Tone: »Mein Herr, ich bitte Sie, Herrn Dutillot zu danken und ihn zu fragen, ob er mich kennt.« »Ich bin sicher,« sagte der Bucklige, »daß er Sie nicht kennt.« »Sehen Sie, er kennt mich nicht und will mich besuchen. Sie werden zugeben, daß ich ihm eine sonderbare Meinung von mir geben würde, wenn ich ihn annähme. Sagen Sie: wenn mich auch niemand kennt und ich mich mit niemand bekannt zu machen suche, ich sei dennoch keine Abenteurerin und könne demnach nicht die Ehre haben, ihn zu empfangen.« Dubois, welcher sah, daß er einen Fehlgriff begangen, blieb stumm, und wir fragten ihn an den folgenden Tagen nicht, wie der Minister unsere Ablehnung aufgenommen habe. Drei Wochen später, als der Hof sich nach Colorno begab, wurde dort ein prachtvolles Fest veranstaltet, und in den Gärten, welche abends illuminiert werden sollten, konnte jeder frei spazieren gehen. Da Dubois, der verhängnisvolle Bucklige, uns viel von diesem Feste erzählt hatte, so bekamen wir Lust hinzugehen; der Adamsapfel tat seine Wirkung. Dubois begleitete uns. Wir reisten schon den Tag vorher ab und mieteten uns im Gasthofe ein. Gegen Abend gingen wir im Garten spazieren, und der Zufall fügte es, daß die Fürstin mit ihrem Gefolge ebenfalls dort promenierte. Madame de France machte nach der Versailler Hofsitte meiner Henriette im Vorbeigehen eine Verbeugung. Meine Blicke fielen nun auf einen Kavalier, der Don Louis zur Seite ging und der meine Henriette aufmerksam betrachtete. Als wir wieder umkehrten, begegneten wir wiederum diesem Kavalier, der uns eine tiefe Verbeugung machte und Dubois bat, ihn einige Minuten anzuhören. Sie besprachen sich, hinter uns hergehend, eine Viertelstunde lang, und wir wollten eben den Garten verlassen, als der Herr seine Schritte beschleunigte, und nachdem er mich sehr höflich um Entschuldigung gebeten, Henriette fragte, ob er die Ehre habe, ihr bekannt zu sein? »Ich erinnere mich nicht, daß ich jemals die Ehre gehabt hätte, Sie zu sehen.« »Das genügt, Madame; ich bitte Sie, mir zu verzeihen.« Dubois sagte uns, der Herr wäre der vertraute Freund des Infanten Don Louis, und da er Madame zu kennen geglaubt, hätte er ihn gebeten, ihn vorzustellen. Er hatte ihm gesagt, sie heiße d'Arci, und wenn er sie kenne, bedürfe er seiner nicht, um ihr einen Besuch abzustatten. Herr d'Antoine hatte ihm erwidert, der Name d'Arci sei ihm nicht bekannt, und er möchte sich nicht gern täuschen. »Um aus dieser Ungewißheit herauszukommen,« setzte Dubois hinzu, »hat er sich selbst vorgestellt, aber jetzt muß er die Überzeugung haben, daß er sich getäuscht hat.« Nach dem Abendessen schien mir Henriette unruhig zu sein; ich fragte sie, ob sie nicht bloß so getan, als ob sie Herrn d'Antoine nicht kenne. »Ich habe nicht so getan, mein Freund, ich versichere es dir. Ich kenne seinen Namen, welcher einer berühmten Familie der Provence angehört, aber seine Person ist mir gänzlich unbekannt.« »Kann er dich wohl kennen?« »Es ist möglich, daß er mich schon gesehen hat; aber sicherlich habe ich nie mit ihm gesprochen, denn sonst würde ich ihn wiedererkannt haben.« »Dieses Zusammentreffen beunruhigt mich, und wie es scheint, läßt es auch dich nicht gleichgültig.« »Ich gebe es zu.« »Verlassen wir Parma, wenn du willst, und gehen wir nach Genua. Wenn meine Sache beigelegt sein wird, wollen wir nach Venedig gehen.« »Ja, teurer Freund, wir werden dann ruhiger sein. Aber ich glaube, wir haben nicht nötig, uns zu beeilen.« Wir kehrten am zweitfolgenden Tage nach Parma zurück, und zwei Tage darauf übergab mir mein Bedienter einen Brief mit der Meldung, der Läufer, welcher ihn überbracht, warte im Vorzimmer. »Dieser Brief«, sagte ich zu Henrietten, »beängstigt mich.« Der Brief lautete folgendermaßen: ›Entweder bei Ihnen oder bei mir oder an jedem anderen Ort, den Sie mir bestimmen werden, bitte ich Sie, mein Herr, mir Gelegenheit zu geben, mich einen Augenblick mit Ihnen über einen Gegenstand zu besprechen, der Sie sehr interessieren muß. Ich habe die Ehre, und so weiter. d'Antoine.‹ Adressiert war der Brief an Herrn von Farusi. »Ich glaube,« sagte ich zu meiner Freundin, »daß ich ihn sprechen muß; aber wo?« »Weder hier, noch bei ihm, sondern im Garten des Hofes. Deine Antwort darf nur die Zeit und den Ort der Zusammenkunft enthalten.« Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, meldete ihm, daß ich mich um elfeinhalb Uhr im herzoglichen Garten einfinden würde, und bat ihn, mir eine andre Stunde zu bestimmen, wenn diese ihm nicht zusage. Ich machte meine Toilette, um zur bestimmten Zeit bereit zu sein, und währenddessen bemühten wir uns, meine Freundin und ich, ruhig zu werden; aber wir konnten uns trauriger Ahnungen nicht erwehren. Ich stellte mich pünktlich ein und fand Herrn d'Antoine, der schon früher gekommen war. »Ich bin«, sagte er, »gezwungen gewesen, mir die Ehre, die Sie mir erweisen, zu verschaffen, weil ich kein sicheres Mittel wußte, diesen Brief an Madame gelangen zu lassen, welchen ich Sie bitte, ihr zu übergeben, und ich bitte Sie, es nicht übelzunehmen, daß ich ihn versiegelt gebe. Wenn ich nicht irre, so ist es gar nichts, und der Brief bedarf nicht einmal einer Antwort; wenn ich mich aber nicht täusche, so steht es allein in der Macht von Madame, Ihnen den Brief zu zeigen. Wenn Sie wirklich ihr Freund sind, so geht das, was der Brief enthält, Sie ebensosehr an, wie sie. Darf ich darauf rechnen, daß Sie ihn übergeben werden?« »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.« Hierauf trennten wir uns, nachdem wir uns gegenseitig eine tiefe Verbeugung gemacht, und ich kehrte eiligst nach Hause zurück. Sobald ich nach Hause gekommen, das Herz schwer von Besorgnissen, meldete ich Henrietten alles, was mir Herr d'Antoine gesagt; sodann übergab ich ihr seinen vier Seiten langen Brief. Sie las ihn aufmerksam und mit sichtlicher Bewegung und sagte dann zu mir: »Mein Freund, sei nicht beleidigt, aber die Ehre zweier Familien erlaubt mir nicht, dich diesen Brief lesen zu lassen. Ich bin gezwungen, Herrn d'Antoine zu empfangen, welcher sich für meinen Verwandten ausgibt.« »So hat«, sagte ich, »also der Anfang des fünften Aktes begonnen! Welch schrecklicher Gedanke! Ich nähere mich dem Ende eines zu vollkommenen Glücks! Ich Unglücklicher! Was brauchte ich so lange in Parma zu bleiben! Welche Verblendung! Von allen Städten der Welt, Frankreich ausgenommen, war Parma die einzige, welche ich zu fürchten hatte, und hierher habe ich dich geführt, während ich dich überall sonsthin führen konnte, denn du hattest keinen andern Willen als den meinigen! Ich bin um so strafbarer, als du mir nie deine Furcht verborgen hast! Und warum habe ich den verhängnisvollen Dubois bei dir eingeführt? Mußte ich nicht voraussehen, daß seine Neugier uns früher oder später verderblich werden würde? Diese Neugier kann ich aber leider nicht verdammen, weil sie natürlich ist. Ich kann nur die Vollkommenheiten, mit denen die Natur dich begabt hat, dafür verantwortlich machen! Vollkommenheiten, welche mich glücklich gemacht haben und welche mich jetzt in den Abgrund stürzen, denn ich sehe leider die schrecklichste Zukunft voraus.« »Ich bitte dich, zärtlich geliebter Freund, nichts vorauszusehen und dich zu mäßigen. Gebrauchen wir unsere ganze Vernunft, um uns über die Ereignisse zu erheben. Ich werde auf diesen Brief nicht antworten, aber du mußt an ihn schreiben, er möge morgen um drei Uhr mit seiner Equipage hierher kommen, und ihn bitten, sich melden zu lassen.« »Ach! welches schmerzliche Opfer legst du mir auf.« »Du bist mein bester, mein einziger Freund: ich fordere nichts, ich nötige dich zu nichts; aber wirst du mir abschlagen, worum ich dich bitte?« »Nein, nie, niemals das geringste. Verfüge über mich auf Leben und Tod.« »Ich kannte deine Antwort. Du wirst bei mir sein, wenn er kommt, aber wenn wir dem Konventionellen genügt haben, dann begib dich, bitte, unter irgendeinem Vorwand in dein Zimmer und laß uns allein. Herr d'Antoine kennt meine ganze Geschichte; er kennt mein Unrecht, aber auch mein Recht, und er weiß, daß er mich als anständiger Mann, als Verwandter gegen jede Schmach schützen muß. Er wird in allem nur mit meiner Zustimmung handeln, und wenn er gesonnen sein sollte, von den Vorschriften, welche ich ihm machen werde, abzugehen, so werde ich nicht nach Frankreich gehen, sondern dich begleiten, wohin du willst, um dir den Rest meiner Tage zu widmen. Bedenke, teurer Freund, daß verhängnisvolle Umstände uns unsere Trennung als das Beste erscheinen lassen können, und wir müssen uns Kraft genug verschaffen, um einen solchen Entschluß zu fassen, in der Hoffnung, nicht unglücklich zu werden. Vertraue auf mich und sei überzeugt, daß ich Maßregeln zu ergreifen wissen werde, um mir den Anteil Glück zu sichern, den ich genießen kann, wenn ich den einzigen Mann, welcher je meine ganze zärtliche Neigung besessen hat, entbehren muß. Du bist, ich erwarte dies von deiner großen Seele, ebenso besorgt für deine Zukunft, und ich bin sicher, daß es dir gelingen wird. Unterdes entfernen wir alle traurigen Ahnungen, welche die uns noch bleibenden Augenblicke trüben könnten.« »Ach, warum sind wir nach dem traurigen Zusammentreffen mit dem unglücklichen Günstling nicht abgereist?« »Wir würden vielleicht sehr übel daran getan haben, denn Herr d'Antoine würde dann vielleicht meiner Familie dadurch einen Beweis seines Eifers haben geben wollen, daß er Nachforschungen nach uns angestellt hätte, und ich würde Gewalttätigkeiten ausgesetzt worden sein, die du nicht geduldet hättest und die uns beiden verderblich geworden wären.« Ich tat alles, was sie wollte, aber von diesem Augenblick an begann unsere Liebe traurig zu werden, und die Traurigkeit ist eine Krankheit, welche diese endlich tötet. Wir saßen oft eine Stunde lang einander gegenüber, ohne ein einziges Wort zu sprechen, und unsere Seufzer verschmolzen miteinander, trotz unserer Mühe, sie zu unterdrücken. Am folgenden Tage, als Herr d'Antoine kam, befolgte ich getreulich die Instruktionen, welche sie mir gegeben, und schrieb sechs tödliche Stunden lang. Meine Tür war offen, und das Glasfenster meiner Tür setzte uns in den Stand, uns gegenseitig zu sehen. Sie schrieben sechs Stunden lang, sich nur zuweilen unterbrechend, um miteinander zu sprechen; wovon, weiß ich nicht, aber ihre Gespräche mußten entscheidend sein. Der Leser kann sich die Qualen dieser langen Tortur leicht vorstellen, denn ich konnte nur die Zerstörung meines Glücks ahnen. Sobald der schreckliche d'Antoine sich entfernt, kam Henriette zu mir, und als ich ihre geschwollenen Augen sah, stieß ich einen Seufzer aus welchen sie durch ein Lächeln zu erwidern suchte. »Willst du, mein Freund, daß wir morgen abreisen?« »Oh, Himmel! ja ich will es. Wohin soll ich dich führen?« »Wohin du willst, aber in vierzehn Tagen müssen wir wieder hier sein.« »Hier! Traurige Illusion.« »Leider ja! Ich habe mein Wort gegeben, hier zu sein, um die Antwort auf einen Brief, welchen ich geschrieben, zu empfangen. Sei überzeugt, daß wir keine Gewalttätigkeit zu fürchten haben, aber ich kann es hier nicht mehr aushalten.« »Ach! Ich fluche dem Augenblick, wo wir den Fuß hierher gesetzt haben. Willst du, daß wir uns nach Mailand begeben?« »Gut, nach Mailand.« »Mir scheint es, daß du d'Antoine den Ort, wohin du gehst, anzeigen solltest.« »Mir scheint es vielmehr, daß ich ihm keine Rechenschaft davon zu geben habe. Desto schlimmer für ihn, wenn er einen Augenblick zweifeln kann, daß ich mein Wort halten werde.« Nachdem wir am folgenden Tage die nötigen Effekten für eine vierzehntägige Abwesenheit ausgewählt, reisten wir ab. Wir trafen in Mailand ein, traurig, und ohne daß uns unterwegs etwas begegnet wäre, und wir blieben dort vierzehn Tage ganz für uns, ohne andere Fremde zu sehen als den Gastwirt, einen Schneider und eine Näherin. Ich machte meiner Henriette ein Geschenk, welches ihr sehr teuer war: einen sehr schönen Luchspelz. Aus Zartgefühl richtete Henriette nie eine Frage hinsichtlich des Zustandes meiner Börse an mich; ich wußte ihr dafür Dank; aber ich gab mir auch alle Mühe, sie nicht merken zu lassen, daß diese nahe daran war, leer zu werden; als wir nach Parma zurückkehrten, hatte ich noch drei- bis vierhundert Zechinen. Am Tage nach unserer Rückkehr kam Herr d'Antoine ohne Umstände zum Mittagessen zu uns; aber nachdem wir Kaffee getrunken, ließ ich ihn mit seiner Verwandten allein. Ihre Konferenz dauerte fast so lange wie die erste, und es wurde unsere Trennung beschlossen. Sie sagte mir dies, sobald d'Antoine sich entfernt hatte, und unsere Tränen verschmolzen in düsterem Schmerz. »Wann werde ich mich von dir trennen müssen, zu sehr geliebtes Weib?« »Bleibe deiner mächtig, zärtlich geliebter Freund: sobald wir nach Genf gekommen sind, wohin du mich geleiten sollst. Suche mir morgen eine passende Kammerfrau zu verschaffen, und mit dieser will ich mich an meinen Bestimmungsort begeben.« »Wir werden also noch einige Tage beisammen sein?« Ich beauftragte Dubois, der sich durch den Auftrag sehr geehrt fühlte, eine Kammerfrau zu suchen, und drei Tage darauf stellte er Henrietten eine Frau von einem gewissen Alter vor, welche ziemlich gut gekleidet und gut aussah, und welche, da sie arm war, sich sehr glücklich schätzte, eine Gelegenheit zu finden, nach Frankreich zurückzukehren, woher sie gebürtig war. Ihr Mann, ein früherer Offizier, war vor kurzem gestorben und hatte sie in gänzlicher Mittellosigkeit zurückgelassen. Henriette mietete sie und sagte ihr, sie möchte sich bereithalten abzureisen, sobald ihr Dubois die Nachricht bringen würde. Am Tage vor unserer Abreise speiste Herr d'Antoine bei uns, und ehe er Abschied nahm, übergab er Henrietten einen verschlossenen Brief für Genf. Beim Anbruch der Nacht reisten wir von Parma ab und hielten in Turin nur zwei Stunden an, um einen Bedienten zu mieten, welcher uns in Genf bedienen sollte. Am folgenden Tage bestiegen wir in einer Sänfte den Mont Cenis und bewerkstelligten unsere Hinunterfahrt nach la Novalaise in einem Bergschlitten. Am fünften Tage langten wir in Genf an und stiegen im ›Gasthofe zur Wage‹ ab. Am folgenden Tage gab mir Henriette einen Brief für den Bankier Tronchin, welcher, sobald er von ihm Kenntnis genommen, mir sagte, er würde mir persönlich am folgenden Tage tausend Louisdor überbringen. Ich kehrte nach Hause zurück, und wir setzten uns zu Tisch. Wir waren noch beim Essen, als der Bankier sich melden ließ. Er übergab uns die tausend Louisdor und sagte zu Henriette, er würde ihr zwei Männer überweisen, für welche er einstehen könnte. Sie antwortete, sie würde abreisen, sobald sie den Wagen erhalten hätte, den er ihr nach dem ihm von mir übergebenen Briefe verschaffen sollte. Nachdem er ihr versichert, daß für den folgenden Tag alles bereit sein würde, verließ er uns. Es war ein schrecklicher Augenblick! Wir waren wie versteinert. Wir verharrten unbeweglich in einem düsteren Schweigen, wie es immer eintritt, wenn die tiefste Traurigkeit den Geist beugt. Ich brach das Schweigen, um ihr zu sagen, daß der Wagen, welchen Tronchin ihr liefern würde, unmöglich so bequem und sicher wie der meinige sein könnte, daß ich sie daher bäte, den meinigen zu nehmen, wobei ich ihr zugleich die Versicherung gab, ich würde in dieser Gefälligkeit eine natürliche Folge ihrer Liebe für mich sehen. »Ich werde dafür, teure Freundin, den Wagen nehmen, welchen der Bankier liefern wird.« »Ich willige ein, mein teurer Freund,« sagte sie; »es wird eine Erleichterung für mein Herz sein, wenn ich einen Gegenstand besitze, der dir gehört.« Nach diesen Worten steckte sie fünf Rollen von hundert Louisdors in meine Tasche, eine schwache Entschädigung für mein durch die traurige Trennung gebeugtes Herz. Während dieser letzten vierundzwanzig Stunden stand uns keine andere Unterhaltung zu Gebote als unsere Tränen, unsere Seufzer und jene banalen aber energischen Apostrophen, welche zwei glückliche Liebende an die überstrenge Vernunft richten, die sie inmitten ihres Glückes zwingt, sich für immer zu trennen. Henriette suchte mir nicht mit Hoffnungen zu schmeicheln, um meinen Schmerz zu mildern; im Gegenteil: »Wenn uns einmal die Notwendigkeit zwingt, einander zu verlassen,« sagte sie, »so erkundige dich, teurer Freund, nie nach mir, und wenn dich der Zufall je mit mir zusammenführen sollte, so tue so, als ob du mich nicht kenntest.« Sie gab wir hierauf einen Brief für Herrn d'Antoine, vergaß aber, mich zu fragen, ob ich nach Parma zurückkehren würde; hätte ich aber auch nicht die Absicht gehabt, so würde ich mich doch sogleich dazu entschlossen haben. Sie bat mich, auch nicht eher von Genf abzureisen, als bis ich einen Brief von ihr empfangen, den sie mir vom ersten Orte aus, wo sie anhalten würde, um die Pferde zu wechseln, schreiben wollte. Sie reiste mit Tagesanbruch ab, mit einer Kammerfrau im Wagen, einem Lakaien auf dem Kutschersitze und einem andern, als Kurier vorauseilenden. Ich folgte ihr mit den Augen, so lange ich ihren Wagen sehen konnte, und blieb noch länger auf demselben Platz stehen, als meine Blicke schon nichts mehr sahen; denn alle meine Gedanken waren in dem teuren Gegenstande, welchen ich verlor, konzentriert; die Welt war nichts mehr für mich. Als ich in mein Zimmer zurückgekehrt war, befahl ich dem Kellner, mich nicht eher zu wecken, als bis die Pferde, mit welchen Henriette gefahren war, zurückgekommen wären; und ich legte mich ins Bett, hoffend, daß der Schlaf meiner bedrängten Seele, welche meine Tränen nicht beruhigen konnten, zu Hilfe kommen würde. Aber erst am folgenden Tage kam der Postillon zurück; er war bis Chatillon gefahren. Er überbrachte mir einen Brief, in welchem nur das traurige Wort ›Lebewohl‹ stand. Er erzählte mir, daß sie ohne Unfall in Chatillon angekommen wären, und daß Madame sogleich den Weg nach Lyon eingeschlagen. Da ich erst am folgenden Tage von Genf abreisen konnte, so verbrachte ich in meinem Zimmer den traurigsten Tag meines Lebens. Auf einer der Scheiben fand ich folgende Worte, welche sie mit einem von mir geschenkten Diamanten eingegraben: Du wirst auch Henriette vergessen. Diese Prophezeiung war nicht geeignet, mich zu trösten; aber welche Ausdehnung gab sie dem Wort › vergessen‹? Sie konnte darunter nur verstehen, daß die Zeit die tiefe Wunde, welche sie meinem Herzen geschlagen, heilen würde; und sie hätte diese nicht erweitern sollen, indem sie mir einen solchen Vorwurf machte. Nein, ich habe sie nicht vergessen; denn obwohl mein Haupt mit weißen Haaren bedeckt ist, so ist die Erinnerung an sie doch ein wahrer Balsam für mich. Wenn ich bedenke, daß ich in meinen alten Tagen nur durch meine Erinnerungen glücklich bin, so finde ich, daß mein langes Leben mehr glücklich als unglücklich gewesen, und nachdem ich Gott, der Ursache aller Ursachen, dafür gedankt, wünsche ich mir Glück dazu, daß ich gestehen kann, das Leben sei ein Gut. Am folgenden Tage reiste ich mit einem Bedienten, welchen mir Herr Tronchin empfahl, wieder nach Italien zurück, und trotz der schlechten Jahreszeit schlug ich den Weg über den Sankt Bernhard ein, welchen ich in drei Tagen mit sieben Mauleseln passierte, welche mich, meinen Bedienten, meinen Koffer und den Wagen transportierten, der für die reizende Frau bestimmt gewesen war, welche ich unwiederbringlich verloren hatte. Ein Mann, welcher von einem großen Schmerze gebeugt wird, hat den Vorteil, daß ihm nichts beschwerlich erscheint. Es ist dies eine Art Verzweiflung, welche auch ihre Süßigkeiten hat. Ich fühlte weder Hunger noch Durst, noch die Kälte, welche die Natur in diesem schrecklichen Gebirgslande erstarren ließ, noch die von einer so mühseligen und gefährlichen Reise unzertrennliche Ermüdung. Am folgenden Tage ging ich aus, um Herrn d'Antoine den Brief Henriettes zu geben. Er öffnete ihn in meiner Gegenwart, und da er einen Einschluß an meine Adresse fand, so übergab er ihn mir, ohne ihn zu lesen, obwohl er offen war. Der Brief Henriettes lautete folgendermaßen: ›Ich bin es, einziger Freund, die dich hat verlassen müssen; aber vermehre deinen Schmerz nicht dadurch, daß du an den meinigen denkst. Seien wir vernünftig genug zu denken, daß wir einen angenehmen Traum geträumt haben, und beklagen wir uns nicht über unser Geschick; denn nie hat ein schöner Traum so lange gedauert. Freuen wir uns, daß wir uns drei Monate hintereinander glücklich zu machen verstanden haben: es gibt wenig Sterbliche, welche dies von sich sagen können. Vergessen wir einander nie, und rufen wir uns oft die glücklichen Augenblicke unserer Liebe zurück, um ihre Erinnerung in unseren Seelen aufzufrischen, die in der Trennung sich ebenso lebhaft daran erfreuen werden, als ob unsere Herzen noch aneinander schlügen. Erkundige dich nicht nach mir, und wenn du zufällig erfährst, wer ich bin, so ignoriere es. Ich werde dir ein Vergnügen machen, wenn ich dir melde, daß ich meine Angelegenheiten so wohl geordnet, daß ich für den Rest meiner Tage so glücklich sein werde, wie ich es ohne dich sein kann. Ich weiß nicht, wer du bist; aber ich weiß, daß niemand auf der Welt dich besser kennt als ich. Ich werde in meinem ganzen Leben keinen Liebhaber mehr haben; aber ich wünsche, daß du es dir nicht einfallen läßt, mir nachzuahmen. Ich wünsche, daß du noch liebst und sogar, daß deine gute Fee dich eine zweite Henriette finden lasse. Lebewohl! Lebewohl!‹