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Nachdem ich meine Studien auf der Universität in Padua beendet hatte, es war ein rechtes Sauf- und Raufleben, wie es die Studenten führen, kam ich nach Venedig zurück, wo ich auf Beitreiben meines Vormundes die vier ersten Weihen erhielt und so nun als junger Abbé in die beste Gesellschaft geführt wurde, besonders durch einen alten Senator, den Herrn von Malpiero. Dies war ein Greis, der keinen Zahn mehr im Munde hatte, weshalb er wegen seiner langsamen Eßweise stets allein aß, bis ich ihm riet, sich doch eine angenehme Tischgesellschaft dadurch zu verschaffen, daß er sich solche Personen auswähle, die für zwei äßen. Da er auch sonst Gefallen an meinen Gesprächen fand und ich ihm bewies, daß ich, wie er langsam, viel aß, zog er mich täglich zu seiner Tafel. Trotz seines Alters und seiner Gicht konnte er auf die Liebe nicht verzichten; er hatte es in seinem Leben auf zwanzig Mätressen gebracht. Damals liebte er die Tochter eines Komödianten, Therese Imer. Diese besuchte ihn täglich, aber stets in Begleitung ihrer Mutter, welche sich zwar um ihres Seelenheiles willen von der Bühne zurückgezogen hatte, aber doch noch die Interessen des Himmels mit den Werken dieser Welt vermitteln wollte. Täglich mußte ihre Tochter zur Messe und wöchentlich zur Beichte, nachmittags aber führte sie das Mädchen dem verliebten Greis zu, dessen Wut mich in Schrecken setzte, wenn sie ihm einen Kuß verweigerte, weil sie am Morgen ihre Andacht verrichtet habe und den Gott, den sie noch in sich habe, nicht beleidigen wollte. Ich, ein Fünfzehnjähriger, war der einzige Zeuge dieser erotischen Szenen. Da ich bei allen Damen, die zur Gesellschaft des Herrn Malpiero gehörten, meiner Neigung zur Eleganz wegen außerordentlich freundlich aufgenommen wurde, so daß ich sie begleiten durfte, wenn sie ihre Töchter in den klösterlichen Pensionen besuchte, fragte mich Herr von Malpiero einmal, welche Vorteile diese Bekanntschaften mir gebracht und ohne meine Antwort abzuwarten, sagte er, diese Damen seien alle die Tugend selbst und jeder würde von mir eine schlechte Meinung fassen, wenn ich etwas gegen ihren guten Ruf sagen würde. So brachte er mir die weise Lehre der Verschwiegenheit bei. Meine Eleganz brachte aber den Pfarrer auf, zu dessen Kirche ich gehörte, und er drohte mir die Exkommunikation an, wenn ich die Haare nicht anders tragen würde. Da ich aber darauf nicht hörte, schlich er sich eines Morgens mit Hilfe meiner Großmutter in mein Zimmer und schnitt mir alle Haare des Vorderkopfes ab, von einem Ohr bis zum andern. Aber er erreichte das Gegenteil dadurch: Herr von Malpiero schickte mir einen ausgezeichneten Friseur, welcher mein Haar so kunstvoll anordnete, daß ich noch zufriedener mit meinem Aussehen wurde. Ich wollte mich zwar rächen, das Gericht anrufen, vor allem aber mich einem anderen Pfarrer unterstellen, aber nach einiger Zeit bestimmte Herr von Malpiero mich zum Redner für den Panegyrikus auf das heilige Sakrament, was er als Präsident der Brüderschaft zu übertragen hatte. Ich war entzückt und machte mich gleich an die Arbeit, für die ich das Thema dem Horaz entnahm: Floravere suis non respondere favorem speratum meritis. (Sie beklagten sich, daß die gehoffte Gunst nicht ihren Verdiensten entspräche.) Als ich fertig, begab ich mich zum Pfarrer; da er abwesend und ich ihn erwarten wollte, so näherte ich mich seiner Nichte Angela und verliebte mich in sie. Am Stickrahmen saß sie, stickte, und als ich mich neben sie gesetzt, sagte sie, sie wünschte mich kennen zu lernen und werde sich freuen, wenn ich ihr erzählen wollte, wie mir ihr Onkel mein Toupet abgeschnitten. Diese Liebe wurde mir verhängnisvoll. Als der Pfarrer nach Hause kam, schien ihm meine Bekanntschaft mit seiner Nichte gar nicht unangenehm. Er nahm meine Predigt, las sie und meinte, es sei eine recht hübsche akademische Abhandlung, aber keine Predigt. Er wollte mir dann eine von seinen geben, die ich vortragen solle, aber ich lehnte es ab. Wir stritten nun einige Tage, bis ich mich, Herrn Malpiero zuliebe, unterwarf. Meine Predigt wurde mit Begeisterung aufgenommen, und alle weissagten mir, ich sei berufen, der erste Prediger des Jahrhunderts zu werden. Der Klingelbeutel brachte mir fünfzig Zechinen und mehrere Liebesbriefe, worüber die Frommen empört waren. Diese reiche Ernte ließ mich den Entschluß fassen, Prediger zu werden, was ich dem Pfarrer mitteilte. Da ich um seine Unterstützung bat, erhielt ich das Recht, ihn täglich zu besuchen; dies benutzte ich, um Angela zu sehen, in welche ich mich immer heftiger verliebte. Aber Angela war tugendhaft, sie wollte wohl, daß ich sie liebe, aber sie wollte auch, daß ich den geistlichen Stand aufgäbe und sie heirate. Trotz meiner Zuneigung zu ihr konnte ich mich dazu nicht entschließen, und dennoch besuchte ich sie fortwährend, weil ich ihr andre Ansichten beizubringen hoffte. Doch ein Geschick sollte mich in meinen höchsten Träumen tödlich treffen. Der Pfarrer fand Geschmack an meiner Predigt und beauftragte mich mit einer andern zum Sankt Josephstag. Als ich ihm diese vorlas, war er voller Enthusiasmus dafür. Jung und eingebildet, wie ich damals war, glaubte ich, ich hätte nicht nötig, das Manuskript auswendig zu lernen; wenn ich mir nur den Gedankengang merkte, so hoffte ich, der noch niemals in irgendeiner Gesellschaft um ein Wort verlegen war, mich leicht aus dem Stegreif weiterzubringen, wenn mich das Gedächtnis einmal verlassen sollte. Dieser Leichtsinn schlug mir zum Übel aus. Man holte mich von einem Essen in die Kirche; mit vollem Magen, erhitztem Kopfe bestieg ich die Kanzel. Zu Anfang ging alles gut, dann aber versagten mir die Gedanken vollkommen, ich stotterte dies und jenes, und die Unruhe der Gemeinde, aus der einige Male ein Gelächter an mein Ohr klang, verwirrte mich vollends. Kam nun wirklich eine Ohnmacht über mich oder rettete ich mich absichtlich hinein; ich weiß es nicht mehr, ich ließ mich umsinken und wurde so von den Kirchendienern in die Sakristei gebracht. Ohne etwas zu sagen, nahm ich Mantel und Hut, eilte nach Hause, packte mein Köfferchen und reiste nach Padua, um dort mein drittes Examen abzulegen. Nach Ostern kehrte ich als Doktor nach Venedig zurück. Es dachte niemand mehr an mein Mißgeschick, und vom Predigerberuf war keine Rede mehr. Den ganzen Sommer schwärmte ich Angela an, deren außerordentliche Zurückhaltung mich aufregte, so daß meine Liebe schon zur Qual wurde. Mein glühendes Naturell verlangte nach einer Geliebten von Bettinas Art, sie sollte meine Liebe befriedigen, aber nicht löschen. Ich war selbst noch rein, in gewissem Sinne, daher schenkte ich dem Mädchen die größte Verehrung. Höchst abweisend behandelte sie mich, so daß mich die Leidenschaft fast verzehrte. Dagegen wirkten meine glühenden Reden auf zwei Schwestern, ihre Freundinnen, welche mit ihr dieselbe Sticklehrerin besuchten, und hätten meine Blicke nicht ausschließlich an der Grausamen gehangen, ich hätte ohne Zweifel gemerkt, daß die beiden schöner und gefühlvoller waren. Aber ich war geblendet. Auf alle meine Bitten antwortete Angela höchstens, sie wolle meine Frau werden, und wenn sie einmal gestand, sie leide genau so sehr wie ich, so schien es ihr die höchste Gnade. In diesem Gemütszustand nahm ich eine Einladung der Gräfin Monte Reale nach Paseano an, wo ich bei ihr die glänzendste Gesellschaft treffen sollte, zu deren Vergnügen ich auch einen guten Teil beisteuerte. Dort vergaß ich für einige Zeit meine hartherzige Angela. In dem Schlosse war mir im Erdgeschoß ein hübsches Zimmer angewiesen worden, welches nach dem Garten hinausging. Als ich am Morgen nach meiner Ankunft aufwachte, wurden meine Augen entzückt durch den Anblick des reizenden Wesens, welches mir den Kaffee brachte. Es war ein ganz junges Mädchen, aber entwickelt wie eine Siebzehnjährige; sie war erst vierzehn Jahre alt. Ihre Haut wie Alabaster, ihre Haare wie Ebenholz, ihre schwarzen, feurigen und unschuldigen Augen, die hübsche Art, ihr Haar zu tragen, die Kleidung, die nur in einem Hemde und einem kurzen Unterrocke bestand und schöngeformte Beine und die niedlichsten Füße sehen ließ: alles dies ließ sie in meinen Augen als eine einzigartige und vollkommene Schönheit erscheinen. Ich betrachtete sie mit dem größten Interesse und ihr Auge ruhte auf mir, als ob wir alte Bekannte wären. »Sind Sie mit Ihrem Bette zufrieden?« fragte sie mich. »Sehr zufrieden; ich bin sicher, Sie haben es gemacht. Wer sind Sie?« »Ich bin Lucia, Tochter des Hausmeisters. Ich freue mich, daß sie keinen Bedienten haben; ich werde Sie bedienen und bin überzeugt, Sie werden mit mir zufrieden sein.« Entzückt über diesen Anfang richte ich mich im Bette auf und sie hilft mir beim Anziehen des Schlafrockes, wobei sie allerlei Sachen spricht, die ich nicht verstehe. Ich fange nun an, meinen Kaffee zu trinken, ebenso verlegen, wie sie sicher ist, und geblendet von einer Schönheit, gegen die man unmöglich gleichgültig bleiben konnte. Sie hatte sich am Fuße des Bettes gesetzt und rechtfertigte die Freiheit, welche sie sich nahm, nur durch ein Lächeln, das alles sagte. Ich trank noch meinen Kaffee, als Lucias Vater und Mutter eintraten. Sie verließ ihren Platz nicht und ihre Blicke schienen einen gewissen Stolz zu verkünden. Diese guten Leute machten ihr sanfte Vorwürfe, baten mich ihretwegen um Verzeihung, worauf sich Lucia entfernte, um ihren Geschäften nachzugehen. Als sie weggegangen, sagten ihr Vater und ihre Mutter mir tausend Artigkeiten und lobten ihre Tochter. »Sie ist,« sagten sie, »unser einziges Kind, ein liebes Mädchen, die Hoffnung unseres Alters. Sie liebt uns, gehorcht uns und fürchtet Gott: sie ist gesund wie ein Fisch und hat unsers Wissens nur einen einzigen Fehler.« »Worin besteht dieser?« »Sie ist zu jung.« »Ein reizender Fehler, der sich mit der Zeit bessern wird.« Ich konnte mich bald überzeugen, daß die Redlichkeit, die Wahrheit, die häuslichen Tugenden und das wahre Glück bei diesen Leuten zu Hause waren. Während mich diese Vorstellung auf eine angenehme Weise beschäftigte, kam Lucia wieder, lustig wie ein Vogel, gewaschen, angezogen, frisiert nach ihrer Weise und mit guten Schuhen, und nachdem sie mir eine Verbeugung gemacht, wie sie auf dem Lande üblich, küßte sie ihren Vater und ihre Mutter und setze sich dann auf die Knie des braven Mannes. Ich sagte zu ihr, sie möchte sich auf mein Bett setzen; aber sie erwiderte, diese Ehre stehe ihr nicht zu, wenn sie angekleidet sei. Die Einfachheit und Unschuld, welche sich in der Antwort aussprachen, entzückten mich und ließen mich lächeln. Ich untersuchte, ob sie in ihrer kleinen Toilette niedlicher aussehe als in ihrem Negligé, und ich entschied mich für das letzte. Mit einem Wort, ich gab Lucia den Vorzug nicht nur vor Angela, sondern auch vor Bettina. Als der Friseur kam, verließ mich die ehrbare und einfache Familie, und nachdem ich meine Toilette beendet, begab ich mich zur Gräfin und ihrer liebenswürdigen Tochter. Der Tag wurde sehr heiter verlebt, wie gewöhnlich auf dem Lande, wenn man sich in gewählter Gesellschaft befindet. Am folgenden Morgen, als ich aufgewacht, klingle ich, und siehe da, Lucia erscheint einfach und natürlich wie am vorigen Tage, und setzt mich durch ihre Reden und durch ihr Benehmen wieder in Erstaunen. Der Reiz der Unbefangenheit und Unschuld schmückte ihr ganzes Wesen. Ich konnte nicht begreifen, wie sie als tugendhaftes, ehrbares und keineswegs dummes Mädchen so vertraulich und ohne die Furcht, mich zu entzünden, zu mir kommen konnte. Sie muß, sagte ich mir, auf kleine Schäkereien keinen Wert legen und deshalb nicht ängstlich sein; ich beschloß deshalb, ihr den Beweis zu geben, daß ich ihr Gerechtigkeit widerfahren lasse. Gegen ihre Eltern, welche ich für ebenso sorglos hielt, glaubte ich mir keine Vorwürfe machen zu müssen; ich fürchtete ebensowenig, daß ich zuerst einen Angriff auf die schöne Unschuld machen und das dunkle Licht des Bösen in ihrer Seele entzünden würde: da ich mich also weder von meinem Gefühle täuschen lassen, noch ihm zuwiderhandeln wollte, so beschloß ich mich aufzuklären. Ich strecke verwegen die Hand nach ihr aus, und unwillkürlich bebt sie zurück und wird rot; ihre Heiterkeit verschwindet, und den Kopf umdrehend, als ob sie etwas suche, wartet sie, bis ihre Verwirrung vorüber ist. Alles dies war das Werk einer Minute. Sie näherte sich mir von neuem; sie schien sich zu schämen, daß sie ungefällig gegen mich gewesen war, und zu fürchten, daß sie eine Handlung, die unschuldig oder feine Sitte sein konnte, schlecht gedeutet. Ihr natürliches Lachen kehrte bald zurück, und da ich in einem Augenblick alles was ich eben geschildert, in ihrer Seele gelesen, so beeilte ich mich, sie zu beruhigen; und da ich einsah, daß ich mit der Tat zu weit gegangen war, beschloß ich, am folgenden Morgen nur mit ihr zu plaudern. Am folgenden Morgen griff ich, meinem Plane gemäß, eine Äußerung von ihr auf und sagte zu ihr, es sei kalt und sie werde die Kälte nicht fühlen, wenn sie neben mir liege. »Aber werde ich Sie nicht inkommodieren?« »Nein; aber deine Mutter könnte böse werden, wenn sie dazu käme.« »Sie wird nichts Böses denken.« »Komm also. Aber weißt du auch, welcher Gefahr du dich aussetzest.« »Gewiß; aber Sie sind artig und was mehr sagen will, Abbé.« »Komm also; aber vorher schließe die Tür.« »Nein, nein, denn man könnte wer weiß was denken.« Endlich legte sie sich an meine Seite, schwatzte fortwährend, ohne daß ich verstand, was sie sagte; denn da das sonderbare Mädchen meine Wünsche nicht erhören wollte, so hatte ich das Ansehen des unbehilflichsten Menschen. Die Sorglosigkeit dieses Mädchens, welche sicherlich nicht erkünstelt war, imponierte mir so sehr, daß ich mich geschämt haben würde, ihr Vertrauen zu täuschen. Sie sagte endlich, es hätte zehn Uhr geschlagen, und wenn der alte Graf Antonio käme und uns in der Lage fände, würde er Späße machen, die ihr unangenehm wären. »Wenn ich diesen Mann nur sehe,« sagte sie, »so laufe ich davon.« Hierauf verließ sie ihren Platz und entfernte sich. Ich blieb lange unbeweglich auf derselben Stelle liegen in stumpfsinniger Betäubung und dem Sturme meiner aufgeregten Sinne und meiner Gedanken preisgegeben. Da ich am folgenden Tage meine Ruhe behalten wollte, so ließ ich sie auf meinem Bette sitzen, und die Reden, zu welchen ich sie veranlaßte, überzeugten mich endlich, daß sie mit Recht der Abgott ihrer Eltern sei und daß die Freiheit ihres Geistes und ihr unbefangenes Benehmen nur aus ihrer Unschuld und Seelenreinheit entspringe. Ihre Naivität, ihre Lebendigkeit, ihre Neugierde und die Schamröte, welche ihr schönes Gesicht überzog, wenn die komischen Sachen, die sie sagte und bei denen sie sich nichts Böses dachte, mich zum Lachen brachten: alles dies zeigte mir, daß sie ein Engel, der unfehlbar die Beute des ersten besten Lüstlings, der sie verführen wolle, werden würde. Ich fühlte mich stark genug, um mir keine Vorwürfe gegen sie machen zu dürfen. Schon der bloße Gedanke daran ließ mich schaudern, und meine Eigenliebe verbürgte Lucias Ehre ihren guten Eltern, deren gute Meinung von meiner Sittlichkeit sie mir anvertraute. Es kam mir vor, als ob ich mich in meinen eigenen Augen verächtlich machen müßte, wenn ich das in mich gesetzte Vertrauen täuschen wollte. Ich beschloß also, mich zu beherrschen, und da ich sicher war, immer den Sieg zu behaupten, begann ich den Kampf gegen mich selbst und betrachtete ihre bloße Gegenwart als den Lohn meiner Anstrengungen. Ich kannte noch nicht den Satz, daß, solange der Kampf dauere, der Sieg ungewiß sei. Der Instinkt gab mir ein, zu sagen, sie würde mir einen Gefallen tun, wenn sie am folgenden Tage früher kommen und mich sogar wecken wollte, wenn ich noch schlafen sollte, und um meiner Bitte mehr Nachdruck zu geben, fügte ich hinzu: je weniger ich schlafe, desto besser ich mich befände; ich fand hierin das Mittel, unsre Unterhaltungen statt zwei Stunden drei dauern zu lassen, obwohl dieser Kunstgriff nicht hindern konnte, daß die Zeit wie ein Blitz entfloh. Ihre Mutter kam zuweilen dazu, während wir schwatzten, und wenn diese gute Frau sie auf meinem Bette sitzen sah, so glaubte sie ihr nichts mehr sagen zu dürfen, sondern begnügte sich, meine Güte zu bewundern. Lucia gab ihr hundert Küsse, und die gute Frau bat mich, sie in allem Guten zu unterweisen und an der Bildung ihres Geistes zu arbeiten; wenn sie sich entfernt hatte, betrachtete Lucia sich nicht als freier und behielt ohne alle Veränderung den alten Ton bei. Die Gesellschaft dieses Engels verursachte mir die grausamsten Qualen, während sie mir zugleich das größte Entzücken bereitete. Oft, wenn ihre Wangen nur zwei Finger breit von meinem Munde entfernt waren, bemächtigte sich meiner der Wunsch, sie mit Küssen zu bedecken, und mein Blut entflammte sich, wenn ich sie sagen hörte, sie hätte meine Schwester sein mögen. Aber ich besaß Zurückhaltung genug, um die geringste Berührung zu vermeiden, denn ich fühlte, daß ein einziger Kuß der Funke gewesen sein würde, der das ganze Gebäude in die Luft gesprengt hätte. Wenn sie weggegangen staunte ich, daß ich den Sieg hatte davontragen können, aber nach neuen Lorbeeren verlangend, sah ich seufzend dem folgenden Tage entgegen, um diesen süßen und gefährlichen Kampf zu erneuern. Die kleinen Wünsche sind es besonders, welche einen jungen Mann kühn machen; die großen zehren seine Kraft auf und halten ihn in Schranken. Da ich mich nach zehn oder zwölf Tagen in die Notwendigkeit versetzt sah, entweder mit der Sache ein Ende zu machen oder Verbrecher zu werden, so entschloß ich mich um so eher für das erste, als ich des Erfolgs im andern Falle keineswegs sicher war; denn Lucia wäre, wenn ich sie genötigt hätte, sich zu verteidigen, eine Heldin geworden, und da die Zimmertür offen war, so hätte ich Schande und nutzlose Reue zu fürchten gehabt, und diese Idee erschreckte mich. Aber ich konnte nicht länger einer Schönheit widerstehen, welche mit Tagesanbruch und kaum bekleidet fröhlichen Mutes an mein Bett kam, mich fragte, ob ich gut geschlafen, sich vertraulich meinem Gesichte näherte und gewissermaßen ihre Worte auf meine Lippen legte. In einem so gefährlichen Augenblicke wendete ich den Kopf ab, und sie warf mir mit ihrem unschuldigen Tone vor, daß ich Furcht habe, während sie sich durchaus sicher fühle, und wenn ich ihr lächerlicherweise antwortete, sie habe unrecht, zu glauben, daß ich ein Kind fürchten könne, so entgegnete sie, der Unterschied von zwei Jahren habe nichts zu bedeuten. Da ich dies nicht mehr aushalten konnte, und da das Feuer, welches mich verzehrte, sich immer heftiger entflammte, so beschloß ich, sie zu bitten, mich nicht mehr zu besuchen, und dieser Entschluß schien mir großartig und von unfehlbarer Wirkung; da ich aber die Ausführung auf den folgenden Tag verschob, so verbrachte ich eine schwer zu beschreibende Nacht; bestürmt vom Bilde Lucias wie von der Idee, daß ich sie am nächsten Tage zum letzten Male sehen würde. Ich bildete mir ein, daß Lucia nicht nur auf meinen Plan eingehen, sondern auch für ihre ganze übrige Lebenszeit die höchste Achtung gegen mich fassen würde. Kaum war am nächsten Tage der Morgen angebrochen, als Lucia mit strahlendem Gesicht, mit dem Lächeln des Glücks auf ihrem schönen Munde und mit ihrem schönen in der reizendsten Unordnung niederwallenden Haar auf mein Bett zueilt; aber plötzlich bleibt sie stehen, ihre Züge nehmen den Ausdruck der Traurigkeit und Besorgnis an, und da sie mich bleich, eingefallen und betrübt sieht, so fragt sie teilnahmsvoll: »Was fehlt Ihnen?« »Ich habe die Nacht nicht schlafen können.« »Und warum nicht?« »Weil ich gesonnen bin, Ihnen einen Plan mitzuteilen, der für mich sehr betrübend ist, von dem ich aber hoffe, daß er mir Ihre Achtung verschaffen wird.« »Wenn er Ihnen meine Achtung verschaffen soll, so muß er Sie vielmehr heiter stimmen. Aber sagen Sie mir, Herr Abbé, warum Sie mich heute wie eine Dame behandeln, während Sie mich noch gestern geduzt haben. Was habe ich Ihnen getan? Ich werde Ihnen Ihren Kaffee holen; und wenn Sie ihn getrunken, sollen Sie mir alles sagen.« Sie entfernt sich und kommt wieder; ich trinke meinen Kaffee, und da sie mich immer noch ernst sieht, sucht sie mich zu erheitern, bringt mich zum Lachen und freut sich darüber. Nachdem sie alles wieder an seinen Platz gesetzt, schloß sie die Tür, weil es windig war, und da sie kein Wort von dem, was ich ihr sagen würde, verlieren wollte, bat sie mich sehr naiv, ihr ein Plätzchen an meiner Seite einzuräumen. Ich tat, was sie wollte, denn ich fühlte fast kein Leben mehr in mir. Nachdem ich ihr einen getreuen Bericht meines Zustandes gegeben, in welchen mich ihre Reize versetzt, und ihr alle Schmerzen geschildert, welche mir der Widerstand gegen den lebhaften Wunsch, ihr Beweise meiner Liebe zu geben, verursacht, stellte ich ihr vor, daß ich meine Qualen nicht mehr ertragen könne und mich zu der Bitte an sie genötigt sehe, sich nicht mehr vor meinen Augen zu zeigen. Der Wert, welchen ich auf diese Sache legte, die Wahrheit meiner Leidenschaft, der Wunsch, daß das von mir gewählte Mittel ihr als die großartige Anstrengung einer vollkommenen Liebe erscheinen möge, alles dies verlieh mir eine besondere Beredsamkeit. Ich suchte ihr besonders begreiflich zu machen, welche schrecklichen Folgen ein anderes als das von mir vorgeschlagene Betragen haben könnte und wie unglücklich wir beide dann sein würden. Als ich meine lange Rede beendet und Lucia meine Augen von Tränen benetzt sah, entblößte sie sich, um mir diese zu trocknen, ohne zu bedenken, daß sie dadurch zwei Halbkugeln ans Licht brachte, deren Schönheit imstande war, auch den erfahrensten Piloten Schiffbruch leiden zu lassen. Nach einigen Augenblicken einer stummen Szene sagte das reizende Mädchen mit traurigem Tone, meine Tränen betrübten sie und sie hätte nie geglaubt, daß ich ihretwegen welche vergießen würde. »Alles, was Sie mir sagen, fügte sie hinzu, beweist mir, daß Sie mich sehr lieben; aber ich weiß nicht, weshalb Sie dies so trüb stimmt, während Ihre Liebe mir ein unendliches Vergnügen macht. Sie wollten mich aus Ihrer Gegenwart verbannen, weil Sie Ihre Liebe fürchten. Was würden Sie dann aber tun, wenn Sie mich haßten? Trifft mich eine Schuld, weil ich Ihnen gefalle? Und wenn die Liebe, die ich Ihnen eingeflößt, ein Verbrechen ist, so versichere ich Ihnen, daß ich nicht die Absicht gehabt, eins zu begehen, und daher können Sie mich mit gutem Gewissen auch nicht strafen. Ich kann Ihnen auch nicht verschweigen, daß ich mich sehr darüber freue, daß Sie mich lieben. Können wir den Gefahren, die ich wohl kenne, nicht trotzen? Ich wundere mich, daß dies mir unwissenden Person nicht schwer erscheint, während Sie, der, wie alle sagen, so gelehrt ist, sich so sehr davor fürchten. Ich wundere mich, daß die Liebe, die doch keine Krankheit ist, Sie krank machen kann und auf mich aber eine ganz entgegengesetzte Wirkung hervorbringt. Oder sollte ich mich täuschen und das, was ich für Sie fühle, etwas andres als Liebe sein? Als ich heute morgen zu Ihnen kam, war ich so heiter, wie Sie mich noch nie gesehen, weil ich die ganze Nacht von Ihnen geträumt; das hat mich jedoch nicht gehindert zu schlafen; nur bin ich fünf- oder sechsmal aufgewacht, um mich zu überzeugen, ob mein Traum wahr sei, denn ich träumte, daß ich bei Ihnen wäre; wenn ich sah, daß dies nicht der Fall, schlief ich rasch wieder ein, um wieder zu meinem Traume zu gelangen, und dies gelang mir auch. Hatte ich also heute morgen nicht Grund, heiter zu sein? Wenn, mein lieber Abbé, für Sie die Liebe eine Qual ist, so tut es mir leid; oder sollten Sie vielleicht bestimmt sein, nicht zu lieben? Ich werde alles tun, was Sie befehlen, nur werde ich, sollte auch Ihre Heilung davon abhängen, nicht aufhören, Sie zu lieben, weil dies nicht möglich ist. Wenn Sie aber, um gesund zu werden, mich nicht mehr lieben dürfen, so tun Sie, was in Ihrer Macht steht, denn ich will lieber, daß Sie leben und nicht lieben, als daß Sie vor zu großer Liebe sterben. Aber sehen Sie erst zu, ob Sie nicht ein andres Mittel finden, denn das, welches Sie mir vorgeschlagen haben, betrübt mich. Bedenken Sie sich, vielleicht gelingt es Ihnen, ein weniger schmerzliches zu finden. Geben Sie mir ein ausführbares an die Hand und vertrauen Sie auf Lucia.« Diese wahre, naive und natürliche Rede überzeugte mich, wie sehr die Beredsamkeit der Natur der der philosophischen Bildung überlegen ist. Ich drückte das himmlische Mädchen zum ersten Male in meine Arme und sagte: »Ja, teure Lucia, du kannst dem Leiden, welches mich verzehrt, die süßeste Erleichterung bringen; gib deinen göttlichen Mund, welcher mir versichert, daß du mich liebst, meinen glühenden Küssen hin.« So verbrachten wir eine Stunde in einem köstlichen Schweigen, welches nur durch die von Lucia von Zeit zu Zeit wiederholten Worte: »O mein Gott, ist es wahr, daß ich nicht träume?« unterbrochen wurde. Ich hörte nicht auf, ihre Unschuld zu achten, und vielleicht gerade deshalb, weil sie sich ganz und ohne den geringsten Widerstand hingab. Endlich aber, sich sanft aus meinen Armen losmachend, sagte sie mit dem Ausdruck der Unruhe: »Mein Herz fängt an zu sprechen, ich muß gehen«, und stand augenblicklich auf. Als sie sich etwas in Ordnung gebracht, setzte sie sich, und einige Augenblicke später kam ihre Mutter, welche mir über mein gutes Aussehen und meine frische Farbe Komplimente machte und sodann zu ihrer Tochter sagte, sie möchte sich zur Messe ankleiden. Nach einer Stunde kam Lucia wieder und sagte, das Wunder, welches sie bewerkstelligt, mache sie ganz glücklich und sie sei stolz darauf; denn mein jetziger Zustand der Gesundheit überzeuge sie mehr von meiner Liebe als der erbarmenswerte, in welchem sie mich heute morgen gefunden. »Wenn dein vollkommenes Glück«, fügte sie hinzu, »nur von mir abhängt, so genieße, ich habe dir nichts abzuschlagen.« Als sie mich zwischen Trunkenheit und Furcht schwankend verlassen hatte, bedachte ich, daß ich am Rande eines Abgrundes stände und daß ich einer übernatürlichen Kraft bedürfte, um nicht in ihn hineinzufallen. Ich blieb während des ganzen Septembers in Pasean, und die elf oder zwölf letzten Nächte meines dortigen Aufenthalts brachte ich im ruhigen und freien Besitze Lucias zu, die, nachdem sie sich überzeugt, daß ihre Mutter schlafe, zu mir kam und in meinen Armen die köstlichsten Stunden verbrachte. Meine Glut, weit entfernt, abzunehmen, vermehrte sich durch meine Enthaltsamkeit, die zu bekämpfen sie alles mögliche tat. Sie konnte, so schien es mir, die Süßigkeit der verbotenen seltenen Frucht nur dann recht kosten, wenn sie diese nicht völlig pflücken ließ, und die Wirkung einer beständigen Berührung war zu stark, als daß ein junges Mädchen zu widerstehen vermocht hätte. Auch tat Lucia alles mögliche, um mich auf falsche Fährte zu führen, indem sie mir sagte, ich hätte schon die äußersten Gunstbezeigungen genossen, und ich erreichte das Ende meines dortigen Aufenthalts, ohne so süßen Versuchungen gänzlich zu unterliegen. Bei meiner Abreise von Pasean versprach ich ihr, im nächsten Frühjahr wiederzukommen. Als ich aber später wiederkam, hörte ich zu meinem Schrecken, daß Lucia mit dem Läufer des Grafen entflohen, nachdem durch ihre Körperbeschaffenheit ihre Verführung offenbar. Ich war nicht mehr stolz auf meine Selbstbeherrschung, sondern schämte mich ihrer. Untröstlich machte mich der Gedanke, daß ich das Mädchen vielleicht ins Elend gejagt. Erst nach einundzwanzig Jahren sollte ich sehen, was ich angerichtet: Als ich mich in Amsterdam aufhielt, besuchte ich eines Tages eine Musikhalle. Mein Begleiter nannte einmal laut meinen Namen, da stellte sich eines jener unseligen Geschöpfe vor mich hin, rief mich mit trauriger Stimme an, und trotz des schlechten Lichtes erkannte ich Lucia: sie war zur gemeinen Matrosendirne geworden, verdorben durch Laster und Krankheit, ein Gegenstand des Ekels.