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Gegenüber der Kultur ist der Staat in seinen früheren Stadien, zumal in seiner Verbindung mit der Religion, der bedingende Teil; da bei seiner Entstehung sehr verschiedene, besonders höchst gewaltsame, momentane Faktoren zusammengewirkt haben, ist nichts irriger als ihn aufzufassen als ein Abbild oder Geschöpf der damaligen Kultur des betreffenden Volkes. Die früheren Zustände haben daher ganz in die Betrachtung dieser ersten Bedingtheiten gehört. Vgl. S. 117 ff. Zu übergehen ist hier die Negation oder Verhinderung der Kultur, wenn z.B. Nomaden dem herrschenden Volke den Ackerbau verbieten und ihn bloß durch Sklaven betreiben lassen.
Hierher aber gehören, soviel wir wissen, zuerst die phönizischen Städte. Schon ihre mäßig monarchische oder republikanische, aristokratische, plutokratische Form, das Walten alter erblich-regimentsfähiger Geschlechter neben den Königen, verrät, daß sie unter einer Kulturabsicht entstanden sind. Dieses Entstehen war zum Teil ein ruhiges, systematisches; sie sind frei von allem heiligen Recht Eine dunkle Ausnahme ist vielleicht in Tyrus zu konstatieren. Hier erfolgt um 950 der Sturz der Hiramiden durch den Astartenpriester Ithobal; aber in dessen eignem Hause tötet der Urenkel Pygmalion den Enkel, seinen Oheim, den Melkartpriester Sicharbaal und erhält vom Volke die Krone, weil dieses die Mitherrschaft des Priesters nicht will. Das heißt möglicherweise: die Herstellung einer vielleicht von Anfang her beabsichtigten Tempelherrschaft mißlingt. und auch frei von Kastenwesen.
Ihr Weltverstand und ihre Reflexion über sich selbst gehen schon aus ihrem Koloniengründen hervor. Schon im Mutterland sind die einen Kolonien der anderen; so ist Tripolis von Sidon, Tyrus und Aradus zu gleichen Teilen gegründet; besonders aber gründen hier die ersten echten Poleis die ersten echten überseeischen Kolonien.
Indem nämlich Kultur hier gleich Geschäft ist, müssen bestimmte Interessen künstlich mit Begütigung, Erkaufung und Beschäftigung der Masse obengehalten werden, und dazu gehört die periodische Wegführung derselben in Kolonien, welche etwas ganz anderes ist, als die Zwangsversetzungen, welche der Despotismus allein kennt.
Ihre Gefahren haben diese Städte durch Söldner (schon Tyrus hatte solche) und Kondottieren, allenfalls auch durch die äußeren Feinde; der Fremdherrschaft fügen sie sich (d.h. im Durchschnitt) leicht, zumal wenn sie unter derselben ihre ganze Kultur behaupten können, woran ihnen vor allem gelegen ist. Nirgends scheint es bis zur Tyrannis gekommen zu sein, und sie haben sich wenigstens relativ lange gehalten.
Bei völliger Unbedenklichkeit in den Mitteln tritt hier auch hoher Patriotismus zutage, bei großer Genußsucht doch wenig Verweichlichung. Dabei haben sie ihre enormen Verdienste um die Kultur; ihre Flaggen wehten von Ophir bis Cornwales, und wenn sie schon alle andern ausschlossen und zeitweise den Menschenraub als Gewerbe trieben, so gaben sie doch der Welt das erste Beispiel einer freien, unbedingten Beweglichkeit und Tätigkeit. Um dieser willen allein scheint hier der Staat vorhanden zu sein.
Und nun die Poleis der Griechen. Wie weit hier der Staat über die Kultur herrschte, haben wir früher (S. ?? ff.) betrachtet. Hier aber ließe sich im ganzen erstlich geltend machen, daß in den Kolonien von Anfang an die Kultur (Handel, Gewerbe, freie Philosophie usw.) das Bestimmende gewesen sei, ja daß sie zum Teil dafür entstanden seien, indem man dem harten Staatsrecht der Heimat entwich, und zweitens, daß der Durchbruch der Demokratie als Überwältigung des Staates durch die Kultur zu betrachten sei, welche hier so viel als Raisonnement ist. Ob dieser dann eintrete, wenn die Kultur denjenigen Schichten oder Kasten, die bisher ihre Träger gewesen sind, entwunden und Gemeingut geworden ist, oder ob man etwa umgekehrt sagen soll, sie werde Gemeingut, wenn der Durchbruch der Demokratie erfolgt sei, ist ziemlich gleichgültig.
Jedenfalls folgte dann eine Zeit, da wenigstens uns Spätgeborne an den Athenern mehr ihre Eigenschaft als Kulturherd denn ihr Staatswesen interessiert, und dies gibt uns Veranlassung, bei dieser einzigen Stadt besonders zu verweilen.
Denken wir an den Wert einer solchen Lage in einem solchen Archipel, an die besonders glückliche, ohne Überwältigung erfolgte Mischung der Bevölkerung, In der Sage ist deshalb Athen zum gastfreien Asyl gestaltet. deren neuzugewanderte Bestandteile in erster Linie neue Anregungen bringen, an die hohe Begabung und Vielseitigkeit des ionischen Stammes, an die Bedeutung der retardierenden Eupatridenherrschaft und dann wieder an den Bruch mit dieser und die Entstehung einer gleichberechtigten Bürgerschaft, wo man nur Bürger ist. Neben dem vehementesten Bürgertum wird zugleich das Individuelle entfesselt, das man mit naiven Gegenmitteln wie dem Ostrazismus usw. und dann auch mit Feldherrn-, Asebie- und Finanzprozessen bekämpft. Und nun entwickelt sich jenes unbeschreibliche Leben des V. Jahrhunderts: Die Individuen können sich nur oben halten, indem sie (wie Perikles) das Unerhörte im Sinne der Stadt leisten oder (wie Alkibiades) freveln. Durch diese Art Regsamkeit wird Athen in einen fürchterlichen Existenzkampf hineingerissen und unterliegt. Aber nun folgt sein Weiterleben als geistige Macht, als Feuerherd derjenigen Flamme, die von den Poleis unabhängig und inzwischen ein mächtiges Bedürfnis der Hellenen geworden ist; der Geist zeigt sich auf einmal kosmopolitisch. Besonders lehrreich ist hier dann auch das Nachwirken der heroischen salaminischen Zeit in der demosthenischen, wo das Wollen sich ohne das Vollbringen darstellt, die Weitergestaltung und das Sich-Aufnützen der Demokratie, das spätere genießende und genossene Athen.
Welch eine unermeßliche geschichtliche Erkenntnis geht von dieser Stadt aus! Jeder muß bei seinen Studien irgendwie dort einkehren und das Einzelne auf dieses Zentrum zu beziehen wissen. Die griechische Philosophie, bei verschiedenen Stämmen entstanden, hat in Athen zusammengemündet; Homer ist in Athen in seine gegenwärtige Form gebracht worden; das griechische Drama, die höchste Objektivierung des Geistigen in einem sinnlich Wahrnehmbaren und zugleich Beweglichen, ist fast ausschließlich das Werk Athens; der Attizismus ist der Stil aller späteren Griechen geworden; ja das ungeheure Vorurteil des ganzen (auch römischen) späteren Altertums zugunsten der griechischen Sprache als des reichsten und biegsamsten Organes alles Geistes ruht wesentlich auf den Schultern Athens. Endlich die griechische Kunst, unabhängiger vielleicht von Athen als irgend eine andere Äußerung des griechischen Wesens, dankt ihr doch den Phidias und andere der Größten und hat in Athen ihren wichtigsten Vermittlungsort gefunden.
Hier möge überhaupt der Bedeutung gedacht sein, die ein anerkannter geistiger Tauschplatz und zwar ein freier hat. Wenn ein Timur alle Künstler, Handwerker und Gelehrten aus den von ihm verödeten Ländern und zernichteten Völkern nach Samarkand schleppt, so können solche dort nicht viel mehr als sterben. Auch die künstlichen Konzentrationen der Kapazitäten in neueren Hauptstädten erreichen nicht von ferne den geistigen Verkehr von Athen. Die Herren kommen erst hin, wenn sie schon berühmt sind, und einige tun hernach nicht mehr viel, jedenfalls nicht mehr ihr Bestes, so daß man auf den Gedanken kommen kann, sie müßten eigentlich wieder zurück in die Provinz. Sie tauschen sich wenig aus, ja das Austauschen würde beim jetzigen gesetzlich finanziell festgestellten Begriff von geistigem Eigentum sogar sehr übel genommen; nur wahrhaft kräftige Zeiten geben einander und nehmen von einander, ohne ein Wort zu verlieren; heutzutage muß einer schon sehr reich sein, um sich nehmen zu lassen ohne Einwendung, ohne seine Ideen für sich zu »reklamieren«, ohne Prioritätenhader. Dazu kommt die jetzige geistige Pest: die Originalität; sie entspricht auf der Seite der Empfangenden dem Bedürfnisse müder Menschen nach Emotion. Dagegen im Altertum konnte sich, wenn unter der segensreichen Einwirkung eines freien Tauschplatzes der möglichst wahre, einfache und schöne Ausdruck für irgend etwas gefunden war, ein Konsensus bilden; man perpetuierte ihn ganz einfach. Das stärkste Beispiel ist die Kunst, welche (schon in der Blütezeit) die trefflichsten Typen in Skulptur, Wandmalerei und gewiß ebenso in allen Zweigen, deren Denkmäler wir nicht mehr haben, wiederholte. – Originalität muß man haben, nicht »danach streben«.
Um aber auf die freien geistigen Tauschplätze zurückzukommen, so müssen wir sagen, daß lange nicht jedes Volk diesen hohen Vorteil erreicht. Staat und Gesellschaft und Religion können harte, unbiegsame Formen angenommen haben, bevor der individuell entbundene Geist sich ein solches Terrain hat bilden können. Die politische Macht tut das Ihrige, um die Lage zu verfälschen. Die neueren großstädtischen Konzentrationen, unterstützt durch große, offizielle Aufgaben in Kunst und Wissenschaft, fördern nur die einzelnen Fächer, aber nicht mehr den Gesamtgeist, welchem nur durch Freiheit zu helfen ist. Ferner: Man müßte, so gerne man da bliebe und ewig lernte, doch den noch stärkeren Trieb empfinden, wegzugehen und die empfangene Macht draußen in der Welt zu äußern; statt dessen klammert man sich in der Hauptstadt an und schämt sich, in der Provinz zu leben, die nun teils dadurch ausgehungert wird, daß, wer kann, fortgeht, teils dadurch, daß, wer bleiben muß, unzufrieden ist. Leidige soziale Rangesinteressen ruinieren unaufhörlich das Beste. – Auch im Altertum blieb mancher in Athen hangen, aber nicht als Angestellter mit Pensionsberechtigung.
Die Versuche analoger Art im Mittelalter sind alle unfrei und nicht auf das Ganze des Geistes gerichtet, aber relativ mächtig und merkwürdig. Einen solchen Tauschplatz bildet die wandernde Kaste des Rittervolkes mit seiner Sitte und Poesie; sie bringt es immerhin zu großer Homogenität ihrer Hervorbringungen, zu einer charakteristischen Kenntlichkeit.
Das Paris des Mittelalters kann für sich die Herrschaft der Scholastik in Anspruch nehmen, woran sich noch viel einzelner Bildungsstoff und allgemeines Raisonnement knüpfte; aber es ist eine Kaste, die, wenn es ihr nachher im Leben irgend gelingt (d.h. wenn sie ihre Pfründe im Trocknen hat) nicht mehr viel von sich gibt.
Auch der jedesmalige Sitz der päpstlichen Kurie, wo enorm viel zu hören und zu lernen war, hinterläßt nicht viel mehr als einen trüben Streif von Medisance.
Das Neuere sind immer nur Höfe, Residenzen usw. Nur das Florenz der Renaissance kann sich an die Seite Athens stellen.
Die wahre Wirkung des freien geistigen Tauschplatzes ist die Deutlichkeit alles Ausdruckes und die Sicherheit dessen, was man will, das Abstreifen der Willkür und des Wunderlichen, der Gewinn eines Maßstabes und eines Stiles, die Wirkung der Künste und der Wissenschaften aufeinander. Den Produktionen aller Zeiten ist es ganz deutlich anzuhören, ob sie unter einer solchen Einwirkung entstanden sind oder nicht. Ihre geringere Ausprägung ist das Konventionelle, die edlere das Klassische. Dabei flechten sich die positive und die negative Seite beständig durcheinander.
Nun tritt in Athen auch der Geist frei und offen hervor oder schimmert wenigstens überall wie durch eine leichte Hülle hindurch infolge der Einfachheit des ökonomischen Daseins, des Sich-Begnügens mit mäßigem Landbau, Handel und Industrie, der großen Mäßigkeit des Lebens; leicht und strahlend entbinden sich aus diesem Treiben Teilnahme am Staat, Eloquenz, Kunst, Poesie und Philosophie.
Wir finden hier keine Abgrenzung von Ständen nach Rang, keine Trennung von Gebildeten und Ungebildeten, keine Quälerei, es einander an Äußerlichkeiten gleich- oder zuvorzutun, kein Mitmachen »anstandshalber«, daher auch kein Erlahmen nach der Überanstrengung, kein Philisterium im Négligé neben aufgedonnerten Gesellschaften und Festen, sondern eine gleichmäßige Elastizität; die Feste sind etwas Regelmäßiges, kein gequälter Effort.
So ist jene Geselligkeit möglich, die sich aus den Dialogen Platos und z.B. aus Xenophons Convivium ergibt.
Dagegen findet sich keine Überladung mit Musik, welche bei uns das Unzusammengehörige verdeckt; auch findet sich keine Zimperlichkeit mit gemeinen heimlichen Bosheiten daneben. Die Leute haben einander etwas zu sagen und machen auch Gebrauch davon.
So bildete sich ein allgemeines Verständnis aus: Redner und Dramatiker rechnen auf ein Publikum, wie es sonst nie mehr vorhanden gewesen. Die Leute hatten Zeit und Geist für das Höchste und Feinste, weil sie nicht im Erwerb- und Ranggeist und falschen Anstand untergingen. Es war Fähigkeit vorhanden für das Sublime und für die feinsten Anspielungen wie für den frechsten Witz.
Jede Kunde von Athen meldet selbst das Äußerlichste in Verbindung mit Geist und in geistiger Form. Es gibt hier keine langweiligen Seiten.
Sodann stellt sich hier klarer als sonst irgendwo die Wechselwirkung zwischen dem Allgemeinen und den Individuen dar. Indem sich ein starkes lokales Vorurteil bildet, daß man hier alles können müsse, und daß hier die beste Gesellschaft und die größte, ja einzige Anregung sei, produziert die Stadt wirklich eine unverhältnismäßige Menge bedeutender Individuen und läßt sie auch emporkommen. Athen will sich beständig im Einzelnen gipfeln; es ist Sache eines enormen Ehrgeizes, sich hier auszuzeichnen, und der Kampf um dieses Ziel ist furchtbar. Athen aber erkennt sich zeitweise mit offenem Zugeständnis in dieser und jener Gestalt, daher es ein Verhältnis zu Alkibiades hat, wie keine Stadt je zu einem ihrer Söhne gehabt hat. Freilich weiß es, daß es keinen zweiten Alkibiades aushielte.
Infolge der Krisen zu Ende des peloponnesischen Krieges bemerkt man dann aber ein starkes Abnehmen dieses Ehrgeizes, soweit er ein politischer ist, und die Wendung auf die Spezialitäten, zumal solche, die mit dem Staate nichts mehr zu tun haben. Während in allen Einzelfächern Athen die halbe Welt mit Leuten versehen könnte und zumal in Wissenschaft und Kunst weiterlebt, wird seine Demokratie das Tummelfeld offizieller Mittelmäßigkeiten. Es ist ein Wunder, daß es später noch so viel gute Zeit gehabt hat, nachdem über alles Politische jene rasche und verruchte Ausartung gekommen ist, deren Ursachen und Umstände bei Thukydides so klar vorliegen.
Die Ausartung knüpft sich daran, daß eine Demokratie ein Reich behaupten will, was eine Aristokratie (wie Rom und Venedig) viel länger kann, und daß Demagogen dies Pathos der Herrschaft ausbeuten. Hieran schließt sich alles übrige Unheil sowie die große Katastrophe.
Alles, was anderswo gemischt und umständlich und undeutlich ist, ist hier durchsichtig und typisch, auch alle Krankheitsformen; so im höchsten Grade die dreißig Tyrannen.
Und damit zur geistigen Vollständigkeit der Überlieferung nichts fehle, kommt zu allem noch die politische Utopie Platos, d.h. der indirekte Beweis, weshalb Athen verloren sei.
Für die geschichtliche Betrachtung aber kann der Wert eines solchen einzigen Paradigmas nicht hoch genug geschätzt werden, wo Ursachen und Wirkungen klarer, Kräfte und Individuen größer und die Denkmäler zahlreicher sind als sonstwo.
Es handelt sich nicht um eine phantastische Vorliebe, welche sich nach einem idealisierten alten Athen sehnt, sondern um eine Stätte, wo die Erkenntnis reichlicher strömt als sonst – um einen Schlüssel, der hernach auch noch andere Türen öffnet – um eine Existenz, wo sich das Menschliche vielseitiger äußert.
Was aber die griechischen Demokratien überhaupt betrifft, so wird hier das Staatswesen seines höheren Schimmers durchweg allmählich beraubt und stündlich diskutabel.
Es meldet sich die Reflexion, angeblich als Schöpferin neuer politischer Formen, tatsächlich aber als Allzersetzerin, zuerst in Worten, worauf es dann unvermeidlich auch zu den Taten kommt.
Sie kommt als politische Theorie und nimmt den Staat in die Schule; – sie könnte es nicht, wenn das wahre plastische politische Vermögen nicht schon tief im Sinken wäre; zugleich aber befördert sie noch dies Sinken und zehrt dasjenige plastische Vermögen, das überhaupt noch vorhanden ist, vollständig auf, wobei es demselben ungefähr wie der Kunst geht, wenn sie der Ästhetik in die Hände fällt.
Wehe, wenn man dann ein Mazedonien neben sich hat und in der Ferne schon ein Rom in Reserve bereit steht!
In den sinkenden Demokratien haben solche Großmächte dann ihre unvermeidlich gegebenen Parteien, und zwar brauchen es nicht einmal immer Bestochene zu sein; – Geblendete tun's auch.
Freilich läßt sich fragen, ob das wirklich eine Überwältigung des Staatswesens durch die reflektierende Kultur gewesen und nicht vielmehr durch einseitigen Parteiegoismus (vom Demagogen als Individuum zu schweigen). Irgend ein Element drängt sich gegenüber den von Anfang an sehr komplizierten Lebensgrundlagen vor und benützt ratlose und müde Augenblicke; es gibt sich für das Wesentliche, ja für das Ganze aus und verbreitet eine oft sehr allgemeine Blendung, welche erst aufhört, wenn das wirkliche, alte, ererbte Ganze sichtbar aus den Fugen und die Beute des nächsten Mächtigen ist.
Rom als Staat blieb seiner Kultur in allen ihren Phasen überlegen und ist deshalb früher (S. ?? ff.) besprochen.
Was folgt, ist das trübe Staatswesen der germanisch-romanischen Reiche der Völkerwanderung. Als Staaten sind sie rohe Pfuscharbeit, barbarisch-provisorisch und daher, sobald der Impetus der Eroberung irgend stille steht, raschem Verfall unterworfen. Nämlich die Dynastien sind ruchlos verwildert und haltungslos; Verwandtenkriege, Trotz der Großen und auswärtige Angriffe sind an der Tagesordnung; im Grunde herrscht hier weder Staat noch Kultur noch Religion. Das Beste mögen solche Länder gewesen sein, wo sich wenigstens die germanische Sitte wieder rekonstruieren konnte, etwa das der Alamannen in der fränkischen Zeit.
Obwohl diese Zustände zum Teil von der Reaktion des romanischen Elementes kommen, so wirkt dieses doch nicht durch seine Bildung oder durch verfeinerte Genüsse ein, sondern es regt sich so roh und wüst als das germanische und tritt, wie die Romanen bei Gregor von Tours zeigen, eben auch nur als elementare Kraft auf.
Am ehesten erbt im ganzen die Kirche, was der Staat an Macht verliert; eigentlich aber geht die Macht in Stücke, welche weiter nichts als eben rohe, wüste Machtfragmente sind.
Da retten die Pippiniden wenigstens das Frankenreich aus diesem Zerfall, und dieses schwingt sich dann mit Karl dem Großen zu einer Weltmonarchie auf.
Man kann nicht sagen, daß unter Karl der Staat von der Kultur bedingt gewesen; sie ist nur das Dritte neben Staat und Kirche, auch kann sie den raschen Verfall des Imperiums nicht aufhalten und weicht bald wieder einer Barbarei, welche ärger scheint als die frühere des VII. und VIII. Jahrhunderts.
Ja! Wenn man sich Karls Imperium in seinem vollen Glanz hundert Jahre dauernd denkt, dann hätte die Kultur das Übergewicht bekommen, wäre aus dem Dritten das Erste geworden. Dann wären Städteleben, Kunst und Literatur der allgemeine Charakter der Zeit geworden; es hätte kein Mittelalter mehr gegeben; die Welt hätte es übersprungen und hätte sogleich in die volle Renaissance (statt nur in einen Anfang) eingemündet; die Kirche aber, so sehr Karl sie begünstigte, würde nie von ferne den späteren Machtgrad erreicht haben.
Es waren aber zu viele nur scheinbar gebändigte barbarische Kräfte vorhanden, welche die karolingische Kultur direkt haßten Man denke an die Geschichte von Karl dem Großen und den Schülern und nur die erste schwache Regierung abzuwarten brauchten. Zunächst mußten diese »Großen« ihre Macht mit der Kirche teilen; – als aber die Gefahren von außen hinzukamen und die Normannenzeit den Beweis leistete, daß die Priester nur zu fliehen verstanden, da blieb in jeder Landschaft derjenige Meister, der für sich und daneben auch noch zum Schutze anderer Kraft bewies.
Es begann das Lehnswesen, auf welches sich auch die Kirche für ihren Besitz und ihre Rechte vollständig einließ.
Bei flüchtigem Anblick erscheint es der Kultur rein hinderlich, retardierend, und zwar nicht durch das Überwiegen des Staats, sondern durch seine Schwäche. Über das Königtum des Lehnswesens vergl. S 59. Rechtlich war es gegen Usurpation wie sonst in keiner Zeit gesichert; aber die Usurpation lohnte wirklich kaum der Mühe Denn wir haben es hier mit einem Staate zu tun, der sich offen unfähig bekennen muß, von sich d.h. vom König aus Ordnung und Recht zu organisieren, der im zweifelhaftesten Verhältnis zu seinen großen, mittleren und kleinen Einzelelementen lebt; der nur durch die Gewohnheit und durch seine Wirkungslosigkeit beisammen bleibt und allenfalls nur durch Mithilfe und auf Verlangen der Kirche; in welchem das provinziale Staatsleben das zentrale weit zu überwiegen pflegt; ja welcher in Italien tatsächlich in völlig souveräne Einzelstücke zerfällt und auch anderswo (in Deutschland) nicht einmal die nationale Integrität gegen Hussiten, Polen, Schweizer, Burgunder aufrechtzuerhalten imstande ist.
Davon, wie sich nun das Lehnswesen im kleinen und einzelnen ausgestaltet, war teilweise schon früher die Rede. Die Welt ist völlig in Kasten eingeteilt; zu unterst steht der hilflose Hörige (vilain); erst allmählich, unter schweren Gefahren heranwachsend, kommt der Bürger; dann der Adel, der durch sein Ritterwesen vollends vom Einzelstaat abstrahiert, indem der Einzelne durch eine kosmopolitische Fiktion davon ideell losgesprochen ist, und der als höher entwickelter allgemeiner Kriegerstand ein okzidentalisches gesellschaftliches Hochgefühl darstellt; weiter die Kirche in Gestalt von vielen Korporationen (Stiftern, Klöstern, Universitäten usw.). Und dies ist fast alles mit gebundenem Grundbesitz und Gewerbe verbunden und mit jener unbeschreiblichen Unbehilflichkeit jeder politischen Funktion, von der wir bereits gesprochen haben. Schon das Studium dieser endlosen Zerklüftung und Bedingtheit ist mühsam; kaum erfährt man, was jeder war, vorstellte, sollte und durfte, und wie er mit Obern, Abhängigen und seinesgleichen stand.
Aber, während nun alle Macht in Stücken lag, standen diese einzelnen Stücke dessen, was seither Staatsmacht geworden ist, unter einem starken Einfluß ihrer Partialkultur, so daß diese beinahe als der bestimmende Teil erscheint; jede Kaste: Ritter, Geistliche und Bürger, ist von dieser ihrer Kultur aufs stärkste bedingt, im höchsten Grade gilt dies von der ritterlichen Gesellschaft, welche rein als gesellige Kultur lebt.
Zwar ist das Individuelle noch gebunden, aber nicht innerhalb des geistigen Kreises der Kaste; hier konnte die Persönlichkeit sich frei zeigen und guten Willen entwickeln, und so bestand denn wirklich sehr viele und echte Freiheit. Es gab einen unendlichen Reichtum, noch nicht von Individualitäten, aber von abgestuften Lebensformen. Zeit- und ortweise herrscht ein bellum omnium contra omnes, das aber, wie früher gesagt, nicht nach dem Sekuritätsbedürfnis unserer Zeit zu beurteilen ist.
Gerade unsere Zeit zehrt vielleicht davon, daß damals retardiert worden ist, und daß nicht einheitliche Despotismen schon damals die Kräfte der Völker auffraßen. Ohnehin sollten wir gegen das Mittelalter schon deshalb den Mund halten, weil jene Zeiten ihren Nachkommen keine Staatsschulden hinterlassen haben.
Dann kam allmählich der moderne, zentralisierte Staat, welcher wesentlich über die Kultur herrschte und sie bedingte, göttlich verehrt und sultanisch waltend. Königtümer wie die von Frankreich und Spanien waren der Kultur schon dadurch ganz übermäßig überlegen, daß sie zugleich an der Spitze der großen religiösen Hauptpartei standen. Daneben standen die jetzt nur politisch machtlosen, aber tatsächlich sozial noch privilegierten Geburtsstände und der Klerus. Auch als in der Revolution diese Staatsallmacht nicht mehr Ludwig, sondern Republik hieß und alles anders wurde, wankte doch Eines nicht, nämlich eben dieser ererbte Staatsbegriff.
Allein im XVIII. Jahrhundert beginnt und seit 1815 eilt in gewaltigem Vorwärtsschreiten der großen Krisis zu die moderne Kultur. Schon in der Aufklärungszeit, als der Staat scheinbar noch derselbe war, war er tatsächlich verdunkelt durch Leute, welche nicht einmal über die Ereignisse des Tages disputierten, sondern als philosophes die Welt beherrschten: durch einen Voltaire, einen Rousseau u.a.; der contrat social des letztgenannten ist vielleicht ein größeres »Ereignis« als der Siebenjährige Krieg. Vor allem gerät der Staat unter die stärkste Herrschaft der Reflexion, der philosophischen Abstraktion: es meldet sich die Idee der Volkssouveränität, »Es gibt keine einzige politische Idee, die im Laufe der letzten Jahrhunderte eine ähnliche Wirksamkeit ausgeübt hätte, wie die Volkssouveränität. Bisweilen zurückgedrängt und nur die Meinungen bestimmend, aber dann wieder hervorbrechend, offen bekannt, niemals realisiert und immer eingreifend, ist sie das ewig bewegliche Ferment der modernen Welt«, sagte Ranke, Engl. Gesch. Bd. III, S. 287. (Freilich gerade im Jahre 1658 trat sie in einer Form hervor, die ihrem Inhalt Hohn sprach: die theoretische Behauptung der vollsten Rechte populärer Unabhängigkeit paarte sich im Parlament nach der Pride's purge mit faktischer Unterwerfung unter eine militärische Gewalt.) und sodann beginnt das Weltalter des Erwerbs und Verkehrs, und diese Interessen halten sich mehr und mehr für das Weltbestimmende.
Zuerst hatte es der Zwangsstaat mit seinem Merkantilsystem versucht. Eine Nationalökonomie in verschiedenen Schulen und Sekten war hinterdrein gekommen und hatte sogar schon den Freihandel als Ideal befürwortet; – allein erst seit 1815 fielen allmählich die Schranken jeder Tätigkeit, alles Zunftwesen, aller Gewerbezwang; es kam zur tatsächlichen Beweglichkeit alles Grundbesitzes und zu dessen Disponibilität für die Industrie, und England mit seinem Welthandel und seiner Industrie wurde das allgemeine Vorbild.
England brachte die massenhafte Verwendung von Steinkohle und Eisen, die der Maschine in der Industrie und damit die Großindustrie, es brachte mit Dampfschiff und Eisenbahnen die Maschine in den Verkehr, dazu eine innere Revolution in der Industrie durch Physik und Chemie, und es gewann die Herrschaft über den Großkonsum der Welt durch die Baumwolle. Dazu kam eine unermeßliche Ausdehnung der Herrschaft des Kredits im weitesten Wortsinn, die Ausbeutung Indiens, die Ausdehnung der Kolonisation über Polynesien usw., während zugleich die Vereinigten Staaten sich fast ganz Nordamerikas bemächtigten und zu diesem allem noch das östliche Asien dem Verkehr geöffnet wurde.
Von diesen Tatsachen aus mag es dann scheinen, als sei der Staat nur noch die Polizei für diese millionenfältige Tätigkeit, zu ihrem Schutze. Die Industrie, welche seiner Zeit allerlei Mithilfe von ihm begehrte, verlangt zuletzt nur noch, daß er Schranken abschaffe. Außerdem wünscht sie, daß sein Zollrayon so groß wie möglich und daß er selbst so mächtig als möglich sei.
Allein zu gleicher Zeit wirken die Ideen der französischen Revolution auf das stärkste politisch und sozial nach. Konstitutionelle, radikale, soziale Bestrebungen machen sich mit Hilfe der allgemeinen Gleichberechtigung geltend und dringen durch die Presse riesenhaft in die Öffentlichkeit; die Staatswissenschaften werden Gemeingut, Statistik und Nationalökonomie das Arsenal, wo jeder die Waffen holt, die seiner Natur angemessen sind, jede Bewegung ist ökumenisch. Die Kirche aber erscheint nur noch als irrationales Element: man will die Religion, aber ohne sie.
Und anderseits behauptet der Staat von diesem allem so unabhängig, als er jeweilen kann, seine Macht als eine ererbte und nach Kräften zu mehrende. Er macht, wo er kann, die Berechtigung der Kräfte von unten zu einer bloß scheinbaren. Es gab und gibt noch Dynastien, Bureaukratien und Militarismen, die fest entschlossen sind, sich selbst das Programm zu schreiben und es sich nicht diktieren zu lassen.
Aus diesem allem entsteht die große Krisis des Staatsbegriffs, in welcher wir leben.
Von unten herauf wird kein besonderes Recht des Staates mehr anerkannt. Alles ist diskutabel; ja im Grunde verlangt die Reflexion vom Staat beständige Wandelbarkeit der Form nach ihren Launen.
Zugleich aber verlangt sie für ihn eine stets größere und umfangreichere Zwangsmacht, damit er ihr ganzes sublimes Programm, das sie periodisch für ihn aufsetzt, verwirklichen könne; sehr unbändige Individuen verlangen dabei die stärkste Bändigung des Individuums unter das Allgemeine.
Der Staat soll also einesteils die Verwirklichung und der Ausdruck der Kulturideen jeder Partei sein, andernteils nur das sichtbare Gewand des bürgerlichen Lebens und ja nur ad hoc allmächtig! Er soll alles Mögliche können, aber nichts mehr dürfen, namentlich darf er seine bestehende Form gegen keine Krisis verteidigen, – und schließlich möchte man doch vor allem wieder an seiner Machtübung teilhaben.
So wird die Staatsform immer diskutabler und der Machtumfang immer größer. Letzteres auch in geographischem Sinne: der Staat soll jetzt mindestens die ganze betreffende Nation und noch etwas dazu umfassen; es entsteht ein Kultus der Einheit der Staatsmacht und der Größe des Staatsumfanges.
Je gründlicher das heilige Recht des Staates (seine frühere Willkür über Leben und Eigentum) erlischt, desto weiter breitet man ihm sein profanes Recht aus. Die korporativen Rechte sind ohnehin tot; nichts besteht mehr, was geniert. Zuletzt wird man äußerst empfindlich gegen jeden Unterschied; die Vereinfachungen und Nivellierungen, welche der Großstaat garantiert, genügen nicht mehr; der Erwerbssinn, die Hauptkraft der jetzigen Kultur, postuliert eigentlich schon um des Verkehrs willen den Universalstaat, wogegen freilich in der Eigenart der einzelnen Völker und in ihrem Machtsinn auch ein starkes Gegengewicht tätig ist. Dazwischen läßt sich dann hie und da ein Gewimmer nach Dezentralisation, Selfgovernment, amerikanischen Vereinfachungen u.dgl. hören.
Das Wichtigste aber ist, daß sich die Grenzen zwischen den Aufgaben von Staat und Gesellschaft gänzlich zu verrücken drohen.
Hierzu gab die französische Revolution mit ihren Menschenrechten Vgl. Sybel, Franz. Rev., Bd. I, S. 76. den stärksten Anstoß, während der Staat hätte froh sein müssen, wenn er in seiner Verfassung mit einer vernünftigen Definition der Bürgerrechte durchkam.
Jedenfalls hätte man sich dabei, wie Carlyle mit Recht bemerkt, auch etwas auf Menschenpflichten und Menschenkräfte, auch auf die mögliche Produktion des Landes besinnen sollen.
Die neuere Redaktion der Menschenrechte verlangt das Recht auf Arbeit und auf Subsistenz.
Man will eben die größten Hauptsachen nicht mehr der Gesellschaft überlassen, weil man das Unmögliche will und meint, nur Staatszwang könne dieses garantieren.
Nicht nur, was »Einrichtung« oder »Anstalt« heißt, kommt durch den jetzigen literarischen und publizistischen Verkehr rasch herum, so daß man es überall auch haben will, sondern man oktroyiert dem Staat in sein täglich wachsendes Pflichtenheft schlechtweg alles, wovon man weiß oder ahnt, daß es die Gesellschaft nicht tun werde. Überall steigen die Bedürfnisse und die dazu passenden Theorien. Zugleich aber auch die Schulden, das große, jammervolle Hauptridikule des XIX. Jahrhunderts. Schon diese Art, das Vermögen der künftigen Generationen vorweg zu verschleudern, beweist einen herzlosen Hochmut als wesentlichen Charakterzug.
Das Ende vom Liede ist: irgendwo wird die menschliche Ungleichheit wieder zu Ehren kommen. Was aber Staat und Staatsbegriff inzwischen durchmachen werden, wissen die Götter.