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3. Der Staat in seiner Bedingtheit durch die Religion

Sowie es noch spät anerkannt wird, daß die Religion das hauptsächlichste Band der menschlichen Gesellschaft sei, Religio praecipuum hununae societatis vinculum (Baco, sermones fideles). Über den neueren Ersatz durch das Ehrgefühl vgl. Prévost-Paradol, France nouvelle, S. 357 ff. indem nur sie eine genügende Hüterin desjenigen moralischen Zustandes sei, welcher die Gesellschaft zusammenhalte, so ist gewiß bei den Gründungen der Staaten – vermutlich nach furchtbaren Krisen – die Religion mächtig mitbestimmend gewesen und hat von daher einen dauernden Einfluß auf den ganzen Lebenslauf des Staates beansprucht.

Durch diese Verflechtung erklärt sich die Entstehung eines heiligen, von den Priestern befestigten Rechtes; der Staat sollte dadurch eine größtmögliche Haltbarkeit bekommen; Herrschern und Priestern war damit anfangs gleichmäßig gedient.

Das Unglück dabei war, selbst wenn die jetzt verdoppelte Macht nicht schon von selbst zu doppeltem Mißbrauch eingeladen hätte – die Hemmung alles Individuellen. Jeder Bruch mit dem Bestehenden wird zugleich ein Sakrilegium und daher mit höchst grausamen Strafen und Henkerserfindungen geahndet; eine weitere Entwicklung ist bei dieser heiligen Versteinerung nicht möglich.

Die Lichtseite ist, daß in Zeiten, wo das Individuelle gebändigt wird, durch die Staats- und Priestermacht wirklich Großes geschehen kann; daß große Zwecke erreicht werden, viel Wissen gewonnen wird und daß die ganze Nation darin ihren Ausdruck, ihr Pathos und ihren Stolz gegenüber anderen Völkern zu finden vermag. Die Völker des heiligen Rechts sind wirklich für etwas dagewesen und haben eine mächtige Spur zurückgelassen; es ist höchst wichtig, wenigstens ein solches zu studieren und zu betrachten, wie hier die Individualität des Einzelnen gebunden und nur das Ganze individuell ist.

Das heilige Recht gehört im höchsten Sinne zu den Schicksalen der Völker, die ihm je gedient haben. Zur Freiheit allerdings taugen sie nie mehr; die Knechtschaft der frühesten Generationen wirkt im Geblüt bis heute nach. Wie aber die geistige Kultur bei diesem Zustande gehemmt wird, haben wir früher am Beispiele des alten Ägyptens gesehen.

Lehrreich im höchsten Maße sind die heiligen Bücher nämlich nicht allein, sondern erst in Verbindung mit der Gegenrechnung dessen, was bei einem solchen Volke verhindert und unterdrückt worden ist.

Dazu kommt noch, daß über kurz oder lang unfehlbar die Despotie Meister zu werden und die Religion als ihre Stütze zu mißbrauchen pflegt.

Besondere Schattierungen stellen die Tempel- und Orakelstaaten Vorderasiens – eingerechnet das Ammonium – dar. Hier ist, freilich für einen nur kleinen Kreis, die Religion das Gründende, Alleinherrschende. Eine Bürgerschaft besitzen sie selten, meist aber Tempelsklaven, teils durch Schenkung, teils aus Stämmen, welche dem Gott irgendwie durch heilige Kriege oder auf andere Art dienstbar gemacht worden sind.

Auch Delphi und Dodona mögen als kleine Orakelstaaten ähnlicher Art hier genannt werden. Die Verfassung Delphis war so, daß aus einer Anzahl von Familien, die von Deukalion abstammten (den Aelphon aristeis, anaktes) die fünf regierenden Hauptpriester durch das Los gewählt wurden, und dazu kam dann noch als obere Behörde der Amphiktyonenrat. Vgl. Pauly, Realenc. II, S. 903 ff.

Mit einem Worte wollen wir hier auch des interessanten diodorischen Berichtes von der in Meroe von Ergamenes durchgeführten Säkularisation eines solchen Priesterstaates gedenken, Diodor III, 6. und endlich möge noch die um 100 v.Ch. blühende dacisch-getische Theokratie erwähnt sein, in der neben dem Könige noch ein Gott (d.h. ein Mensch als Gott) waltete. Strabo VII, 3, 5.

Die größten geschichtlich bedeutendsten, stärksten Theokratien fanden sich aber überhaupt nicht bei den Polytheismen, sondern bei solchen Religionen, die sich – vielleicht mit einem heftigen Ruck – dem Polytheismus entzogen haben, welche gestiftet, geoffenbart und durch eine Reaktion entstanden sind.

So sieht man die Juden durch alle Wandlungen ihrer Geschichte hindurch beständig wieder der Theokratie zustreben, wie sich am deutlichsten aus ihrer späteren Restauration als Tempelstaat zeigt. Sie hoffen nicht sowohl Weltherrschaft ihrer Nation als ihrer Religion; alle Völker sollen kommen, auf Moriah anzubeten. Freilich schlägt mit David und Salomo auch die jüdische Theokratie zeitweise in weltlichen Despotismus um; aber periodisch suchen die Juden wieder von ihrem Wesen alles das auszuscheiden, was Staat und was Weltkultur hineinzumischen trachten. Durch Umstülpen des arischen Polytheismus zum Pantheismus entstand die Brahminenreligion, die Zendreligion dagegen durch dessen große Veränderung zu einem Dualismus ohnegleichen. Und zwar kann diese nur eine einmalige und plötzliche von einem großen (sehr großen) Individuum getragene gewesen sein, weshalb denn an Zarduschts Persönlichkeit nicht zu zweifeln ist.

Sie ist im stärksten Sinne theokratisch gemeint gewesen; die ganze sichtbare und unsichtbare Welt, auch die vergangene Geschichte (Schah-Name) wird den beiden Prinzipien und ihren (kaum mehr individualisierten) Gefolgreihen zugeteilt. Und zwar in vorwiegend pessimistischem Sinne, so daß der früher gottgeliebte Herrscher als Böser in den Netzen Ahrimans endigt.

Aber gerade hier ist das leichte Umschlagen der Bedingtheit zwischen Religion und Staat wieder zu beachten: dies alles hat das tatsächliche persische Königtum (wenigstens das achämenidische) nicht gehindert, die Vertretung des Ormuzd auf Erden für sich einzukassieren und sich unter dessen besonderer und permanenter Leitung zu glauben, während es selbst ein scheußlicher orientalischer Despotismus wurde. Ja gerade aus diesem Wahn heraus hält es sich alles für erlaubt und verfügt die infamsten Quälereien gegen seine Feinde. Die Magier – deren Macht im Leben ungleich geringer als die der Brahminen ist – erscheinen nur als Besorger dieser und jener Hofsuperstition, nicht als Lenker und Warner. Im ganzen sind hier Staat und Religion zu ihrem großen Verderb verbunden gewesen.

Überhaupt sieht man nicht, daß die Sittlichkeit von diesem Dualismus den geringsten Vorteil gehabt hätte. Sie scheint schon a priori nicht als eine freie gemeint gewesen zu sein; denn Ahriman betört die Gemüter der Guten, bis sie böse handeln. Und dazu kommt dann gleichwohl ein vergeltendes Jenseits.

So mächtig war aber diese Religion, um die Perser zu hochmütigem Haß gegen alles Götzentum zu stacheln. Überhaupt war sie kräftig mit dem nationalen Pathos verflochten und daher auch stark genug, um es zu einer Renaissance zu bringen; auf Makedonier und Parther folgen die Sassaniden, welche mit jenem Pathos ihr großes, politisches Geschäft machen und die alte Lehre scheinbar rein herstellen. Freilich hält dann der Dualismus auch nicht stand gegen den Islam. War er schon eine gewaltsame Vereinfachung gewesen, so erlag er logisch der noch gewaltsameren; eine Abstraktion machte dabei einer anderen, noch einfacheren Platz.

Im Anschluß an die Renaissance der Zendreligion in der Sassanidenzeit möge nun aber im Vorübergehen von derartigen Restaurationen überhaupt kurz die Rede sein. Hierbei scheiden wir völlig aus die Restaurationen nach bloßen Bürgerkriegen, auch kommt die Wiederherstellung Messeniens zur Zeit des Epaminondas in Abrechnung, ebenso die Restaurationen von 1815, wo der Staat erst die Kirche herbeiwinkt, und ferner die noch zu vollziehenden Restaurationen: die der Juden, welche nach zweimaligem Verlust ihres Tempels ihre Sehnsucht an einen dritten Tempel gehängt haben, und die der Griechen, welche sich auf die Aja Sophia bezieht. Die Restaurationen aber, die wir meinen, sind fast immer Wiederaufrichtungen eines vergangenen Volks- und Staatstums durch die Religion oder doch mit ihrer Hilfe, und die Hauptbeispiele sind neben der genannten sassanidischen die der Juden unter Cyrus und Darius, das Imperium Karls des Großen, von welchem die kirchliche Vorstellung einen Zustand wie unter Konstantin und Theodosius postuliert zu haben scheint, und die Herstellung des Königreichs Jerusalem durch den ersten Kreuzzug. Was die Größe dieser Restaurationen betrifft, so liegt sie nicht im Erfolg, denn dieser ist meist geringer als die anfängliche optische Täuschung hoffen ließ, sondern in der Anstrengung, welche dazu gemacht wird, in der Kraft, etwas ersehntes Ideales, nämlich nicht die wirkliche Vergangenheit, sondern ihr verklärtes Gedächtnisbild herzustellen. Dies fällt denn freilich, da sich ringsum alles geändert hat, sehr eigentümlich aus; was übrig bleibt, ist etwa eine geschärfte alte Religion.

Und nun müssen wir nochmals Vgl. oben S. 134 ff. auf den Islam zurückkommen mit seiner Erörterung des Vaterlandsgefühls und seiner auf die Religion gepfropften elenden Staats- und Rechtsform, über welche seine Völker niemals hinauskamen. Höchst uninteressant als politisches Bild ist hier der Staat, wo sich beim Kalifat fast von Anfang an, und dann durch eine ganz unlogische Operation auch bei seinen Abtrünnlingen der nach oben und unten garantielose Despotismus wie von selber versteht. Höchst interessant aber ist, wie dies so kam und kommen mußte, und wie es vom Islam selber und von der Herrschaft über Giaurs bedingt ist, daher denn die große Ähnlichkeit der islamitischen Staaten vom Tajo bis an den Ganges, die nur hier mit mehr, dort mit weniger Stetigkeit und Talent regiert werden; nur beim seldschukischen Adel schimmert eine Art von Teilung der Macht durch.

Es scheint, daß es bei den Moslemin fast von Anfang an mit dem Jenseitsglauben nie weit her war. Kein Bann auf abendländische Manier hat Kraft, keine sittlichen Beängstigungen kommen dem Despoten an den Leib, und sich bei der Orthodoxie oder der eben herrschenden Sekte zu halten, ist ihm leicht. Nur kann ihm geschehen, daß ein Schwärmer unter irgendeiner Fahne sogenannte Fanatiker – man denke an die Wachabiten – sammelt, in deren trüben Seelenmischmasch wir nicht mehr hineinsehen. Freilich besteht dazwischen eine große Zärtlichkeit für gerechte Despoten; diese aber können doch nur in ihrer Nähe etwas wirken. Und nun mag die Frage sein, inwieweit der Islam (ähnlich dem älteren Parsismus und Byzantinismus) überhaupt ein Staatstum vertritt. Sein Stolz ist, daß er eben der Islam ist, und es ist dieser einfachsten aller Religionen selbst durch die eigenen Leute gar nicht beizukommen: Sakramente kann man dem Bösen nicht entziehen; sein Fatalismus hilft ihm über vieles hinweg; an Gewalt und Bestechung ist alles gewöhnt. Wer die Moslemin nicht ausrotten kann oder will, läßt sie am besten in Ruhe; ihre leeren ausgesogenen und baumlosen Länder kann man ihnen vielleicht nehmen, ihren wirklichen Gehorsam aber unter ein nicht koranisches Staatstum nicht erzwingen. Ihre Sobrietät schafft ihnen einen hohen Grad individueller Unabhängigkeit, ihr Sklavenwesen und ihre Herrschaft über Giaurs hält die zum Pathos nötige Verachtung der Arbeit, soweit diese nicht Ackerbau ist, aufrecht.

Eine eigentümliche Stetigkeit zeigt das osmanische Staatstum; sie ist vielleicht damit zu erklären, daß die Kräfte zur Usurpation aufgebraucht sind. Aber jede Annäherung an die okzidentalische Kultur scheint für die Moslemin unbedingt verderblich zu sein, anzufangen von Anleihen und Staatsschulden.

Im vollen Gegensatz zum Staats- und Religionswesen des alten Orients steht in der Zeit ihrer völligen Entwicklung die griechische und die römische Welt. Hier ist die Religion wesentlich vom Staat und von der Kultur bedingt; es sind Staats- und Kulturreligionen und die Götter Staats- und Kulturgötter, nicht der Staat ein Gottesstaat, daher es denn hier auch keine Hierarchien gibt.

Nachdem also hier die Religion durch den Staat bedingt gewesen war, weshalb wir auf das klassische Altertum später werden zu sprechen kommen, schlug dies alles mit dem christlichen Imperium um, und man kann sagen: es ist dies der größte Umschlag, der jemals vorgekommen. Wie sehr in der nun folgenden Zeit der christlichen Kaiser und ihrer Explikation in der byzantinischen Zeit die Kultur durch die Religion bedingt wurde, haben wir früher gesehen; bald wurde es der Staat fast ebenso sehr, und seither treffen wir bis auf die Gegenwart die Einmischung des Metaphysischen in alle Politik, alle Kriege usw. irgendwie und an irgendeiner Stelle, und wo es nicht Hauptursache ist, wirkt es doch mit zur Entschließung und Entscheidung, oder es wird nachträglich hineingezogen (z.B. in den jetzigen Geschrieben anfangs 1871. großen Krieg).

Der Byzantinismus entwickelt sich nun analog dem Islam und in häufiger Wechselwirkung mit ihm. Hier aber bildet den Grund der ganzen Macht und Handlungsweise der Hierarchie immer die stark betonte Lehre vom Jenseits. Diese war schon dem späteren Heidentum eigen gewesen, bei den Byzantinern kam aber in concreto noch die über den Tod hinaus dauernde kirchliche Bannkraft hinzu. Man hat es vor allem mit einem höchst gemischten, ja volklosen Rest des römischen Reiches mit uneinnehmbarer Hauptstadt und großer Ansammlung von Mitteln und politisch-militärischen Fähigkeiten zu tun, der imstande ist, eine große slavische Einwanderung zu amalgamieren und überhaupt Verlorenes stückweise wiederzugewinnen. Das Verhältnis der Bedingtheit aber wechselt: Bis zum Bilderstreit herrscht im wesentlichen die Kirche und erkennt und beurteilt das Imperium nur nach seiner Ergebenheit für ihre Zwecke, wie denn auch die Autoren die Kaiser rein nach der Förderung behandeln, welche der orthodoxen Kirche erwiesen wird. Dies geschieht aber freilich auch noch viel später. Selbst Justinian muß sich wesentlich als Repräsentant der Orthodoxie, als ihr Schwert und Verbreiter geltend machen. Vgl. Gibbon, Kap. 20. Nach diesem Maßstab garantiert die Kirche dem Imperium auch den Gehorsam der Völker und das Glück auf Erden. Seit Konstantin sind sämtliche Kaiser zum Mittheologisieren genötigt.

Dies geht so lange, bis endlich Leo der Isaurier von sich aus theologisiert. Vielleicht schon bei ihm, jedenfalls aber bei Kopronymos und dessen Nachfolgern macht sich der politische Hintergedanke geltend, das Heft selber wieder in die Hände zu nehmen und Luft zu bekommen gegen Klerus und Mönche. Im ganzen wird doch das Imperium wieder der bestimmende Teil und ist es deutlich zur Zeit der Makedonier und Komnenen; die höhere geistige Triebkraft der Kirche stirbt ab, was sich am Erlöschen aller wichtigeren Häresie zeigt; Kaisertum, Staat und Orthodoxie ist dem Imperium nicht mehr gefährlich, sondern eher die stützende Seele des Reiches. Die Religion dient ihm in Gestalt eines nationalen Pathos, gegen die Franken fast mehr als gegen die Mohammedaner.

Überhaupt beginnt dann ihr merkwürdiges letztes Stadium: Einmal noch (1261) hilft sie den Staat herstellen. Dann (seit 1453) beginnt sie, zur Nationalsache geworden, den untergegangenen Staat zu ersetzen und beständig auf dessen Herstellung zu dringen. Daß sie so ohne den Staat wirklich unter den Türken weiterdauert, kann als Beleg ihrer Lebenskraft oder ihrer völligen Ertötung dienen.

In den germanischen Staaten der Völkerwanderung treffen wir zunächst den denkwürdigen Versuch, vermöge des Arianismus ohne Mitherrschaft der Hierarchie durchzukommen. Dieser Versuch scheitert im Laufe der Zeiten überall; die orthodoxe Kirche wird Herrin und erzwingt sich eine gebietende politische Stellung, weshalb wir denn im folgenden zwischen der Kirche und ihrer hierarchischen Ausgestaltung gar nicht mehr zu unterscheiden brauchen; es handelt sich nur darum, wer diese Kirche in jedem Augenblick ist.

Zwar wird im Abendlande die Identifikation von Religion und Staat glücklich vermieden; es bildet sich eine höchst eigentümlich neben und ins Dasein hineingestellte große besitzende Korporation mit Anteil an der obersten Staatsgewalt und am Rechtswesen und mit stellenweiser Souveränität.

Mehrmals kommt die Kirche in einen Verfall, der jederzeit im Eindringen der weltlichen Gier und in der Richtung auf ihre stückweise Ausbeutung besteht. Aber da pflegen ihr oder doch wenigstens ihrem Zentralinstitut, dem Papsttum, weltliche Gewalten beizuspringen, welche sie zeitweise retten und moralisch bessern: Karl der Große, Otto der Große, Heinrich III. Diese haben die Absicht, sie dann als instrumentum imperii (und zwar über das ganze Abendland) zu brauchen.

Der Erfolg ist jedesmal der entgegengesetzte. Das Reich Karls zersplittert, und die Kirche wird mächtiger als zuvor; von Heinrich III. aus tiefstem Elend emporgerissen, richtet sie sich gegen seinen Nachfolger und alle anderen weltlichen Gewalten baumhoch auf. Denn der Lehnstaat ist eigentlich nur in Stücken vorhanden, während sie a) was Besitz und Rechte betrifft, eben auch ein Stück davon, aber b) gegenüber den Königtümern in der Regel überstark, also ein Teil und dann erst noch das Ganze ist.

So steht sie mit ihrer Einheit und ihrem Geiste neben der Vielheit und schwachen Organisation der Staaten. Mit Gregor VII. schickt sie sich zu deren Absorption an und indem sie unter Urban II. hievon etwas nachläßt, kommandiert sie doch das Abendland nach dem Orient. Aber seit dem XII. Jahrhundert spürt sie den Rückschlag davon, daß sie sich zu einem enormen »Reiche von dieser Welt«, welches ihre geistlichen und geistigen Kräfte zu überwiegen beginnt, ausgewachsen hat. Sie findet sich gegenüber nicht bloß der waldensischen Lehre von der Urkirche, sondern einem Pantheismus und (bei Amalrich von Bena und den Albigensern) einem mit Metempsychosenlehre verbundenen Dualismus.

Da zwingt sie den Staat, ihr als selbstverständlich das brachium saeculare zu leihen. Sobald man dieses zur Disposition hat, ist der Weg von dem »Eins ist not« zum »nur Eines ist erlaubt« nicht mehr weit. So gewinnt Innozenz III. mit den Drohungen und Versprechungen seiner Instruktionen den Sieg.

Seitdem aber steht die Kirche als siegreiche, rücksichtslose Reaktion gegen den eigentlichen Geist der Zeit, als Polizei da; sie ist an die äußersten Mittel gewöhnt und befestigt nun das Mittelalter künstlich aufs neue.

Dabei ist sie mit der Welt durch ihr Besitz- und Machtwesen tausendfältig verflochten, sie muß tatsächlich ihre höchstdotierten Stellen an den Adel verschiedener Länder überlassen, auch der Benediktinerorden versinkt im Junkertum, weiter unten herrscht allgemeine Pfründenjagd und das Treiben der Leute vom ius canonicum und von der Scholastik; Junker, Advokaten und Sophisten sind die Hauptpersonen; man hat es mit einer allgemeinen Ausbeutung und dem größten Beispiel der Überwältigung einer Religion durch ihre Institute und Repräsentanten zu tun.

Indem nun für Fortdauer der Orthodoxie nur noch rein polizeilich gesorgt wird, während sie den Mächtigen innerlich gleichgültig wird, kann man von demjenigen Institut, welches äußerlich weiter regiert, im Zweifel sein, ob es überhaupt noch eine Religion repräsentiere. Dazu kommt noch das spezielle Verhältnis des Kirchenstaates zur italienischen Politik; die eigentliche Andacht aber ist in strengere Orden, zu Mystikern und einzelnen Predigern geflüchtet.

Damals muß in der Kirche die Gesinnung des absoluten Konservatismus bereits begonnen haben, da ihr bei keiner Art von Änderung mehr wohl sein konnte und jede Bewegung ihr verdächtig war, weil das komplizierte Besitzwesen und Machtwesen dabei immer irgendwie leiden konnte.

Vor allem bekämpft sie den auftauchenden zentralisierten Gewaltstaat (in Unteritalien und in Frankreich unter Philipp dem Schönen) und drängt – doch immerhin mit Ausnahmen – wenigstens große Konfiskationen zurück. Heiß klammert sie sich an die Vergangenheit in Macht und Besitz an und ebenso in der Unbeweglichkeit der Lehre, nur daß man die Theorie von den Machtbefugnissen noch emporschraubt, während sie doch, was sie mehr bekommt, gierig annimmt, bis sie einen Dritteil aller Dinge besitzt. Seyssel (Histoire du roy Louis XII) gibt an, der Klerus besitze einen Dritteil des revenues d'iceluy royaume (Frankreichs) und mehr. Und das alles besitzt sie eigentlich nur zum geringeren Teile für sich und ihre geistlichen Zwecke, zum größeren nur für diejenigen Mächtigen, die sich ihr aufgedrängt haben.

Nachdem so der bloße Widerspruch mit der Religion, welcher sie entsprechen sollte, schon längst da ist, ist sie dann endlich auch in handgreiflichem Widerspruch mit den sie umgebenden Staatsbegriffen und Kulturkräften. Daher zeitweise ihre Akkorde mit dem Staat, welche tatsächlich Partialabtretungen sind, wie z.B. das Konkordat Franz' des Ersten. Freilich erspart ihr dies in solchen Staaten die Reformation.

Von der Reformation an wird sie dann wieder nach einer Seite hin ernstlich dogmatisch; aber die Kirche der Gegenreformation wird den Charakter einer Reaktion noch viel deutlicher bewahren als die Kirche Innozenz' des Dritten. Zum seitherigen Charakter des Katholizismus gehört – von Ausnahmen wie der Demagogie der Ligue abgesehen – der Bund von Thron und Altar; beide erkennen die Komplizität ihrer beiderseitigen Konservatismen gegenüber vom Geist der modernen Völker. Die Kirche liebt zwar keinen Staat, neigt sich aber demjenigen Staatswesen zu, welches das bereitwilligste und fähigste ist, für sie die Verfolgungen zu exequieren. Sie richtet sich auf den modernen Staat ein, wie sie sich einst auf das Lehenswesen eingerichtet.

Dagegen ist ihr der moderne politische Völkergeist ganz direkt zuwider, und sie läßt sich nie selber mit ihm ein, Dies ist, was man in Frankreich nennt l'antagonisme entre l'église catholique et la révoluiton francaise. Man denke auch an den Syllabus. wohl aber läßt sie es geschehen, D.h. sie ließ es bis 1870 geschehen; das weitere wird die Zeit lehren daß einzelne ihrer Vorposten (Geistliche und Laien, welche nicht wissen, was sie dabei für Ketzerei begehen) sich mit ihm einlassen und allerlei milde Grenzpraxis befürworten.

Sie leugnet die Volkssouveränität und behauptet das göttliche Recht der Regierungen; Vgl. Bossuet, La politique tirée des propres paroles de l'écriture sainte. sie geht dabei von der menschlichen Verderbtheit aus und von der Aufgabe der Seelenrettung um jeden Preis; Über die Motivierung der Verfolgungen vgl. oben S. 81 ff. ihre wesentliche Schöpfung ist die moderne Idee der Legitimität.

Sie hat sich im Mittelalter auf die drei Stände eingerichtet, wovon sie der eine war. Dagegen perhorresziert sie die moderne konstitutionelle Repräsentation sowohl als die Demokratie. Sie selbst ist in ihrem Innern zuerst immer aristokratischer und endlich immer monarchistischer geworden. Sie übt Toleranz nur, wo und insoweit sie durchaus muß. Sie verfolgt jede für sie bedenkliche geistige Regung auf das äußerste.

Die protestantischen Kirchen in Deutschland und in der Schweiz wie auch in Schweden und Dänemark wurden von Anfang an Staatskirchen, weil die Regierungen von Anfang an übergingen und sie einrichteten. Der Kalvinismus, anfangs die Kirche derjenigen Westvölker, welche katholische und verfolgende Regierungen hatten, wurde später in Holland und England ebenfalls als Staatskirche organisiert, obwohl in England noch als Stand mit unabhängigem Vermögen und mit Repräsentation im Oberhaus; hier ist Kalvinismus auf ein Stück Lehnswesen geimpft.

Die Schulen sind in den katholischen und protestantischen Ländern bald mehr vom Staat, bald mehr von der Kirche bedingt.

Nach so engem Zusammenhang und so vielfachen Wechselbeziehungen zwischen Staat und Religion ist das Problem unserer Zeit die Trennung von Staat und Kirche. Sie ist die logische Folge der Toleranz, d.h. der tatsächlichen unvermeidlichen Indifferenz des Staates, verbunden mit der wachsenden Lehre der Gleichberechtigung aller, und sobald es einen Staat gibt, der die Leute zu Worte kommen läßt, ergibt sich die Sache von selbst; denn es ist eine der stärksten Überzeugungen unserer Zeit, daß Religionsunterschied keinen Unterschied der bürgerlichen Rechte mehr begründen dürfe, und zugleich dehnen sich diese bürgerlichen Rechte sehr weit aus: auf allgemeine Ämterfähigkeit und auf Freiheit von Besteuerung zum Unterhalt von Einrichtungen, an welchen man keinen Teil nimmt.

Zu gleicher Zeit hat der Begriff des Staates auch sowohl von oben, von den Herrschenden, als von unten, von der Bevölkerung her, neue Veränderung erfahren, welche ihn nicht mehr zum Gefährten der Kirche tauglich macht, so daß es dem Religionsbegriff nichts hilft, wenn er derselbe bleibt, da der Staatsbegriff nicht mehr derselbe ist; denn den Staat zur Beibehaltung des bisherigen Verhältnisses zu zwingen, hängt nicht von der Kraft der Religion ab.

Der Staat ist nämlich erstlich von oben – speziell in Deutschland und der Schweiz Andere Länder müssen wenigstens ihre Minoritätsreligionen als gleichberechtigt anerkennen. – paritätisch, indem er seit Anfang dieses Jahrhunderts durch Mischungen, Abtretungen, Friedensschlüsse usw. sogenannte »Staatsbürger« verschiedener Konfessionen, oft in starken Quoten beiderseits, enthält und seiner Bevölkerung nun gleichmäßiges Recht garantieren muß. Er übernimmt zunächst zwei oder mehrere Staatsreligionen und Staatskirchen, besoldet ihre Geistlichen – was er muß, weil er ihre früheren unabhängigen Güter aufgefressen hat – und hofft auf diese Weise durchzukommen, käme auch wirklich durch, wenn nicht innerhalb der sämtlichen einzelnen Religionsgemeinschaften der große Riß zwischen Orthodoxie und »Aufklärung« vorhanden wäre, und hier wird ihm das Aufrechthalten einer Parität so unendlich sauer! Denn mit Bevorzugung von »Majoritäten« kommt er nicht durch, da diese weder maßgebend noch auch nur tatsächlich zu konstatieren sind.

Zweitens von den Bevölkerungen her ist es mehr und mehr die Kultur (im weitesten Umfang des Wortes), welche an die Stelle der Religion tritt, sobald es sich darum handelt, wer den Staat bedingen soll. Sie schreibt ihm bereits im großen seine jetzigen Programme.

Die Kirchen aber werden mit der Zeit das Verhältnis zum Staat so gerne aufgeben wie dieser das Verhältnis zu ihnen. Gleichen sie jetzt dem Schiff, welches einst auf den Wogen ging, aber seit langer Zeit zu sehr ans Vorankerliegen gewohnt ist, so werden sie wieder schwimmen lernen, sobald sie einmal im Wasser sind; selbst der Katholizismus hat es ja in Amerika bereits gelernt. Dann werden sie wieder Elemente und Belege der Freiheit sein.


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