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3. Winke für das historische Studium

Was aber ist nun unsere Aufgabe bei der Enormität des geschichtlichen Studiums, das sich über die ganze sichtbare und geistige Welt erstreckt, mit weiter Überschreitung jedes früheren Begriffs von »Geschichte«?

Zur vollständigen Bewältigung würden tausend Menschenleben mit vorausgesetzter höchster Begabung und Anstrengung lange nicht ausreichen.

Denn tatsächlich herrscht die stärkste Spezialisierung bis in Monographien über die kleinsten Einzelheiten hinein. Wobei auch sehr wohlmeinenden Leuten bisweilen jeder Maßstab abhanden kommt, indem sie vergessen, welche Quote seines Erdenlebens ein Leser (der nicht ein bestimmtes persönliches Interesse am Gegenstand hat) auf ein solches Werk wenden kann. Man sollte bei Abfassung einer Monographie jedesmal Tacitus' Agricola neben sich haben und sich sagen: je weitläufiger, desto vergänglicher.

Schon jedes Handbuch über eine einzelne Epoche oder über einen einzelnen Zweig des geschichtlichen Wissens weist in eine Unendlichkeit von ermittelten Tatsachen hinein. Ein verzweiflungsvoller Anblick beim Beginn des geschichtlichen Studiums!

Für den, welcher sich vollständig diesem Studium und sogar der historischen Darstellung widmen will, haben wir hier auch gar nicht zu sorgen. Wir wollen keine Historiker und vollends keine Universalhistoriker bilden. Unseren Maßstab entnehmen wir hier von derjenigen Fähigkeit, welche jeder akademisch Gebildete bis zu einem gewissen Grade in sich entwickeln sollte.

Wir handeln ja, wie gesagt, nicht sowohl vom Studium der Geschichte, als vom Studium des Geschichtlichen.

Jede einzelne Erkenntnis von Tatsachen hat nämlich neben ihrem speziellen Werte als Kunde oder Gedanke aus einem speziellen Reiche noch einen universalen oder historischen als Kunde einer bestimmten Epoche des wandelbaren Menschengeistes und gibt zugleich, in den richtigen Zusammenhang gebracht, Zeugnis von der Kontinuität und Unvergänglichkeit dieses Geistes. Neben der unmittelbaren Ausbeutung der Wissenschaften für das Fach eines jeden gibt es eine zweite, auf welche hier hingewiesen werden soll. Vorbedingung von allem ist ein festes Studium; Theologie, Jurisprudenz oder was es sei, muß ergriffen und akademisch absolviert werden, und zwar nicht nur um des Lebensberufes willen, sondern um konsequent arbeiten zu lernen, die Gesamtheit der Disziplinen eines bestimmten Fachs respektieren zu lernen, den nötigen Ernst in der Wissenschaft zu befestigen. Daneben aber sollen diejenigen propädeutischen Studien fortgeführt werden, welche die Zugänge zu allem Weiteren bilden, besonders zu den verschiedenen Literaturen, also die beiden alten Sprachen und womöglich einige neuere. Man weiß nie zu viele Sprachen. Und so viel oder wenig man gewußt habe, darf man die Übung nie völlig einschlafen lassen. Gute Übersetzungen in Ehren – aber den originalen Ausdruck kann keine ersetzen, und die Ursprache ist in Wort und Wendung schon selber ein historisches Zeugnis höchsten Ranges. Sodann muß negativ empfohlen werden die Vermeidung alles dessen, was nur die Zeit vertreiben soll, die man doch kommen heißen und festhalten müßte, die Zurückhaltung gegenüber der jetzigen Verwüstung des Geistes durch Zeitungen und Romane. Für uns handelt es sich überhaupt nur um solche Köpfe und Gemüter, welche der ordinären Langeweile nicht ausgesetzt sind und eine Aufeinanderfolge von Gedanken aushalten können, welche Phantasie genug eigen haben, um der stofflichen Phantasie anderer nicht zu bedürfen, oder, wenn sie dieselbe in sich aufnehmen, ihr nicht untenan werden, sondern sie wie ein anderes Objekt sich gegenüberzuhalten vermögen.

Überhaupt muß man imstande sein, sich temporär von den Absichten völlig wegwenden zu können zur Erkenntnis, weil sie Erkenntnis ist; man muß zumal Geschichtliches zu betrachten fähig sein, auch wenn es sich nicht direkt oder indirekt auf unser Wohl- und Übelergehen bezieht; und auch, wenn es sich darauf bezieht, so soll man es objektiv betrachten können.

Ferner darf die Geistesarbeit nicht bloß Genuß sein wollen. Alle echte Überlieferung ist auf den ersten Anblick langweilig, weil und insofern sie fremdartig ist. Sie kündet die Anschauungen und Interessen ihrer Zeit für ihre Zeit und kommt uns gar nicht entgegen, während das modern Unechte auf uns berechnet, daher pikant und entgegenkommend gemacht ist, wie es die fingierten Altertümer zu sein pflegen. Dahin gehört besonders der historische Roman, den so viele Leute für Geschichte lesen, die nur ein wenig arrangiert, aber im wesentlichen wahr sei.

Für den gewöhnlichen halbgebildeten Menschen ist schon alle Poesie (mit Ausnahme der Tendenzpoesie) und aus der Vergangenheit auch das Vergnüglichste (Aristophanes, Rabelais, Don Quixote usw.) unverständlich und langweilig, weil ihm nichts davon auf den Leib zugeschnitten ist wie die heutigen Romane.

Aber auch dem Gelehrten und Denker ist die Vergangenheit in ihrer Äußerung anfangs immer fremdartig und ihre Aneignung eine Arbeit.

Vollends ein vollständiges Quellenstudium über irgend einen bedeutenden Gegenstand nach den Gesetzen der Erudition ist ein Unternehmen, das den ganzen Menschen verlangt. Die Geschichte z. B. einer einzigen theologischen oder philosophischen Lehre könnte allein schon Jahre in Beschlag nehmen, und gar die ganze eigentliche Theologie, selbst mit Ausschluß der Kirchengeschichte, Kirchenverfassung usw., bloß als Dogmengeschichte und Geschichte der kirchlichen Wissenschaft gefaßt, erscheint als eine Riesenarbeit, wenn wir an alle patres, concilia, bullaria, Scholastiker, Häretiker, neueren Dogmatiker, Homiletiker und Religionsphilosophen denken. Zwar bei tieferem Eindringen sieht man, wie sie einander abschreiben; auch lernt man die Methoden kennen und aus einem kleinen Teil das Ganze erraten, läuft aber Gefahr, die wichtige halbe Seite, welche irgendwo in dem Wust verborgen steckt, zu übersehen, wenn nicht ein glückliches Ahnungsvermögen das Auge vermeintlich zufällig doch darauf führt.

Und dann die Gefahr des Erlahmens, wenn man zu lange mit lauter homogenen Sachen von beschränktem Interesse zu tun hat! Buckle hat sich an den schottischen Predigten des XVII. und XVIII. Jahrhunderts seine Gehirnlähmung geholt.

Und nun vollends der Polyhistor, der nach der heutigen Fassung des Begriffs eigentlich alles studieren müßte! Denn alles ist Quelle, nicht bloß die Historiker, sondern die ganze Literatur und Denkmälerwelt, ja letztere ist für die ältesten Zeiten die einzige Quelle. Alles irgendwie Überlieferte hängt irgendwie mit dem Geiste und seinen Wandlungen zusammen und ist Kunde und Ausdruck davon.

Für unsere Zwecke aber soll nur vom Lesen ausgesuchter Quellen, aber als solcher, die Rede sein; der Theologe, der Jurist, der Philologe möge einzelne Schriftwerke entlegener Zeiten sich aneignen, nicht nur, insofern deren Sachinhalt sein Fach im engeren Sinne berührt, sondern zugleich im historischen Sinne, als Zeugnisse einzelner bestimmter Stadien der Entwicklung des Menschengeistes.

Für den, welcher wirklich lernen, d.h. geistig reich werden will, kann nämlich eine einzige glücklich gewählte Quelle das unendlich Viele gewissermaßen ersetzen, indem er durch eine einfache Funktion seines Geistes das Allgemeine im einzelnen findet und empfindet.

Es schadet nichts, wenn der Anfänger das allgemeine auch wohl für ein besonderes, das sich von selbst Verstehende für etwas Charakteristisches, das Individuelle für ein Allgemeines hält; alles korrigiert sich bei weiterem Studium, ja schon das Hinzuziehen einer zweiten Quelle erlaubt ihm durch Vergleichung des Ähnlichen und des Kontrastierenden bereits Schlüsse, die ihm zwanzig Folianten nicht reichlicher gewähren.

Aber man muß suchen und finden wollen, und bisogna saper leggere (De Boni). Man muß glauben, daß in allem Schutt Edelsteine der Erkenntnis vergraben liegen, sei es von allgemeinem Wert, sei es von individuellem für uns; eine einzelne Zeile in einem vielleicht sonst wertlosen Autor kann dazu bestimmt sein, daß uns ein Licht aufgehe, welches für unsere ganze Entwicklung bestimmend ist.

Und nun hat die Quelle gegenüber der Bearbeitung ihre ewigen Vorzüge.

Vor allem gibt sie das Faktum rein, so daß wir erst erkennen müssen, was daraus zu ziehen sei, während die Bearbeitung uns letztere Aufgabe schon vorwegnimmt und das Faktum schon verwertet wiedergibt, d.h. eingefügt in einen fremden und oft falschen Zusammenhang.

Die Quelle gibt ferner das Faktum in einer Form, die seinem Ursprung oder Urheber noch nahe, ja etwa dessen Werk ist. In ihrer originalen Diktion liegt ihre Schwierigkeit, aber auch ihr Reiz und ein großer Teil ihres allen Bearbeitungen überlegenen Wertes. Auch hier mögen wir wieder der Bedeutung der Originalsprachen und ihrer Kenntnis gegenüber den Übersetzungen gedenken.

Auch geht unser Geist die richtige chemische Verbindung nur mit der Originalquelle in vollständigem Sinne ein, wobei freilich zu konstatieren ist, daß das Wort »original« eine relative Bedeutung hat, indem, wo jene verloren ist, auch sekundäre und tertiäre ihre Stelle vertreten können. Die Quellen aber, zumal solche, die von großen Männern herrühren, sind unerschöpflich, so daß jeder die tausendmal ausgebeuteten Bücher wieder lesen muß, weil sie jedem Leser und jedem Jahrhundert ein besonderes Antlitz weisen und auch jeder Altersstufe des einzelnen. Es kann sein, daß im Thukydides z. B. eine Tatsache ersten Ranges liegt, die erst in hundert Jahren jemand bemerken wird.

Vollends ändert sich das Bild, welches vergangene Kunst und Poesie erwecken, unaufhörlich. Sophokles könnte auf die, welche jetzt geboren werden, schon wesentlich anders wirken als auf uns. Es ist dies auch gar kein Unglück, sondern nur eine Folge des beständig lebendigen Verkehrs. Wenn wir uns um die Quellen aber richtig bemühen, so winken uns als Preis auch die bedeutenden Augenblicke und vorherbestimmten Stunden, da uns aus dem vielleicht längst zu Gebote Stehenden und vermeintlich längst Bekannten eine plötzliche Intuition aufgeht.

Nun aber die schwierige Frage: Was soll der Nichthistoriker aus den ausgewählten Quellen notieren und exzerpieren?

Den materiellen Sachinhalt haben zahllose Handbücher längst ausgebeutet; nimmt er diesen heraus, so türmen sich Exzerpte auf, die er nachher wohl nie mehr ansieht. Und ein spezielles Ziel hat der Leser ja noch nicht. Es kann sich ihm aber eines ergeben, wenn er sich ansehnlich weit und noch ohne zu schreiben, in seinen Autor hineingelesen hat; dann beginne er frisch von vorn und notiere nach jenem einzelnen Ziele hin, lege aber eine zweite Reihe von Notizen über alles dasjenige an, was ihm überhaupt besonders merkwürdig vorkommt, und wären es nur die Kapitelangaben, resp. die Seitenzahlen, mit zwei Worten in betreff des Inhaltes.

Über der Arbeit ergibt sich dann vielleicht ein zweites und drittes Ziel; Parallelen und Kontraste mit anderen Quellen finden sich hinzu usw.

Freilich »mit alledem wird ja lauter Dilettantismus gepflanzt, welcher sich ein Vergnügen aus dem macht, woraus sich andere löblicherweise eine Qual machen!«

Das Wort ist von den Künsten her im Verruf, wo man freilich entweder nichts oder ein Meister sein und das Leben an die Sache wenden muß, weil die Künste wesentlich die Vollkommenheit voraussetzen.

In den Wissenschaften dagegen kann man nur noch in einem begrenzten Bereiche Meister sein, nämlich als Spezialist, und irgendwo soll man dies sein. Soll man aber nicht die Fähigkeit der allgemeinen Übersicht, ja die Würdigung derselben einbüßen, so sei man noch an möglichst vielen anderen Stellen Dilettant, wenigstens auf eigene Rechnung, zur Mehrung der eigenen Erkenntnis und Bereicherung an Gesichtspunkten; sonst bleibt man in allem, was über die Spezialität hinausliegt, ein Ignorant und unter Umständen im ganzen ein roher Geselle.

Dem Dilettanten aber, weil er die Dinge liebt, wird es vielleicht im Lauf seines Lebens möglich werden, sich auch noch an verschiedenen Stellen wahrhaft zu vertiefen.


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