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von Rudolf Stadelmann
Der zu den klassischen Gestalten des 19. Jahrhunderts zählende Geschichtsschreiber und Geschichtsdenker Jacob Burckhardt ist in Basel am 25. Mai 1818 geboren und in derselben Stadt am 8. August 1897 gestorben. Sein Leben deckt sich, fast auf die Jahre genau, mit der Lebenszeit Bismarcks und fällt in jene stürmische Entwicklungsperiode der modernen Technik und des modernen Nationalstaats, welche der große Humanist aus seinem innersten Wesen heraus ablehnen mußte. Burckhardt war sich schon früh bewußt, das Reich der Bildung und der Schönheit zu vertreten in einer Zeit, in der die Würde und Eigenständigkeit des Geistes von allen Seiten bedroht war. Schon 1846 hat er einen Strich zwischen seiner Welt und der politischen Wirklichkeit des Jahrhunderts gezogen – ohne jedoch eigentlich zu bereuen, in eine Epoche hineingeboren zu sein, die seit der Französischen Revolution und seit Hegel, durch das Massenhandeln und Zwangsgeschehen mehr vom historischen Prozeß zu begreifen gelernt hatte als alle Generationen vorher.
Als Sohn des Münsterpfarrers (Antistes) in Basel hatte er zunächst nach Schul- und Pensionszeit im Jahr 1837 das Studium der Theologie in Basel aufgenommen und fünf Semester lang durchgeführt. Dann drängte es ihn unwiderstehlich zum Fach der Geschichte, in dem er sich 1843 bei dem größten Geschichtsforscher der Zeit, bei Leopold von Ranke, in Berlin den Doktorgrad erwarb. An den beiden führenden deutschen Universitäten Berlin und Bonn hat Burckhardt nicht nur seine Lehrmeister, sondern auch seine Freunde gefunden und er ist damals tief in die Gedankenwelt der deutschen Romantik eingetaucht. Seine kunstgeschichtlichen Arbeiten und seine Gedichte aus diesen Jahren bezeugen es ebenso wie seine Briefe und seine Lebensform. Die tiefsten und nachhaltigsten Eindrücke hat er in dem Hause des Kunsthistorikers Franz Kugler und aus dem musisch bewegten Umgang mit Gottfried Kinkel und seinem Maikäferbunde gewonnen.
1844 habilitierte sich Burckhardt als Dozent für Geschichte und Kunstgeschichte an seiner Heimatuniversität Basel, wo er schon 1845 den Titel eines nichtbeamteten außerordentlichen Professors erhielt. Aber seine Wanderzeit war noch nicht beendet. Er versuchte es als Hauslehrer, als Zeitungsredakteur, als kunsthistorischer Mitarbeiter seines Lehrers Kugler, er trieb Archivstudien in Paris und Basel und nahm schließlich 1848 eine Lehrerstelle an der Oberstufe des Pädagogiums seiner Vaterstadt an, um eine äußere Grundlage seiner Existenz zu finden. Das wichtigste Ereignis am Ende dieses Lebensabschnitts war die Reise nach Rom im Frühling 1846. Diese Flucht nach dem Süden, die Burckhardt aus engen politischen Verhältnissen der Gegenwart und wesensfremden politischen Idealen der Zukunft befreite, machte ihn »vollkommen glückselig«, indem sie ihm die heiterschöne, zeitlose Welt der klassischen Kunst, die »edle Muße« und den »artigen Müßiggang« der mittelmeerischen Völker erschloß. Vom Oktober 1847 bis zum Mai 1848 reihte sich ein zweiter Italienaufenthalt an, dessen biographische Bedeutung Burckhardt in einem Brief an seinen burschenschaftlichen Freund Hermann Schauenburg während des europäischen Revolutionsjahres unübertrefflich festgehalten hat: »Du hast wirken wollen und Dich deshalb mit dem Zerfallenen und Verworrenen abgeben müssen, ich will schauen und suche das Harmonische« (23. August 1848).
Die literarische Frucht dieser zweiten Lebensperiode sind eine Reihe von Werken, mit denen Burckhardt seinen europäischen Ruhm begründet hat. 1853 erschien »Die Zeit Konstantins des Großen«, eine universalhistorische Studie über die politische und religiöse Daseinsform der spätesten Antike, welche mit außerordentlichem Einfühlungsvermögen »die Alterung des antiken Lebens und seiner Kultur« bis in das Hofzeremoniell und die Heeresverwaltung, in die Mysterienkulte und den Unsterblichkeitsglauben hinein verfolgte. Ein Jahr später schon (1854) war der künstlerische Reisebegleiter durch Italien, der »Cicerone«, im Manuskript fertig, für den sein Verfasser in einer gewaltigen Arbeitsleistung auf einer mehrmonatigen Reise von Neapel bis Verona das Material gesammelt hatte. Aus einem tiefen, fast noch romantischen Heimweh nach dem »unvergeßlichen Rom« ist das Werk entsprungen und an seinem Ende wünscht der Autor allen Lesern jenes »ruhige Glück der Seele, welches er in Rom genossen hat«. Der »Cicerone«, der Führer zu den Kunstwerken des antiken, mittelalterlichen, wiedergeborenen und barocken Italien, ist wohl das vollkommenste, geschlossenste und anschauungsreichste Werk aus der Feder Jacob Burckhardts. Es ist das Textbuch der Italia Diis sacra, die Bibel des Klassizismus bis zum heutigen Tage geblieben. Die dritte große Darstellung dieser Epoche wendet sich dann wieder einem kulturgeschichtlichen Gegenstand zu: der italienischen Renaissance. Burckhardt hat den Keim dazu schon von seiner dritten Italienreise (1854) mit nach Hause gebracht. In den folgenden Jahren hat er die zurückgezogene Tätigkeit als Professor der Kunstgeschichte am eidgenössischen Polytechnikum in Zürich dazu benutzt, um sich durch eine ausgebreitete Lektüre der historischen Quellen für die Niederschrift vorzubereiten. »Die Kultur der Renaissance in Italien« ist schließlich 1860 in Basel erschienen, hat zunächst einen sehr bescheidenen Absatz gefunden und ist erst in den 70er und 80er Jahren auch ins Englische, ins Italienische und zuletzt ins Französische übersetzt worden. Sie bedeutet eine völlig neue Form der kulturhistorischen Darstellung. An die Stelle einer fortschreitenden Erzählung und entwicklungsgeschichtlichen Dramatik, wie man es von Voltaire bis Droysen in der europäischen Geschichtsschreibung gewohnt war, trat nun das Ebenmaß der statischen Schilderung und die psychologische Analyse der Zeit, ihrer Sitten und Einrichtungen, ihrer Feste und Geselligkeit, ihrer literarischen und politischen Kunstformen, ihres Persönlichkeitsbegriffs und ihres Weltgefühls. Die Bewegung der Geschichte scheint stillzustehen, um den Blick auf das Gemeinsame, Typische, Charakteristische einer Epoche nach allen Richtungen freizugeben. Eine neue Kunstform der Historie ist gefunden, die bis zu Dilthey und Huizinga hin immer neue Schüler erziehen und begeistern wird.
Der vierte Arbeitsplan dieser Jahre ist nicht bis zur Vollendung gediehen. Burckhardt hatte sich vorgenommen, auch noch die kunstgeschichtliche Welt der italienischen Renaissance, ihre Baukunst, Plastik und Malerei in einem mehrbändigen Werk anschaulich und mit allem Farbenreichtum der kulturgeschichtlichen Methode darzustellen. Aber seine Kraft erlahmte an dem Gegenstand. Es wurde nur ein gelehrter einbändiger Grundriß der Architekturgeschichte der Renaissance fertig (1863) und auch er wurde zunächst, nur zu sieben Achteln vollendet, in das Schreibpult gelegt. Im Jahre 1867 ist dann dieser Abriß unter dem Titel ›Kunst der Renaissance‹ doch noch in Kuglers Geschichte der Baukunst erschienen, aber nach Burckhardts eigenem Urteil ist er ein Torso geblieben, an dem er innerlich nicht mehr teilhatte.
Seine ganze Arbeitskraft widmet Burckhardt in diesen 60er und 70er Jahren der Lehrtätigkeit am Gymnasium und an der Universität Basel. Im Frühjahr 1858 war er dem Ruf seiner Vaterstadt gefolgt und gehörte ihr von da an bis zu seiner Entpflichtung im Jahr 1885 als ordentlicher Professor der Geschichte an. Neben seinem Amt als professor historiarum vertrat er noch das Fach der Kunstgeschichte in seinem ganzen Umfang von der Antike bis zum Ausgang des Barock, und behielt diesen Lehrstuhl sogar bis in sein 75. Lebensjahr bei. Die Dankbarkeit gegen Basel, das ihn zu einer so befriedigenden und erfüllenden Lebensaufgabe berufen hatte, war in dem Schweizer Eidgenossen so stark, daß er alle Angebote, ihm an einer größeren deutschen Universität einen erweiterten Wirkungskreis zu eröffnen, entschlossen abgelehnt hat. Weder Karlsruhe noch Heidelberg, weder Tübingen noch Berlin vermochten ihn zu locken, und er hat ausdrücklich bezeugt, daß es nicht die politischen Verhältnisse gewesen sind, die ihn in dem neutralen Basel zurückhielten, sondern tiefere, fast religiöse Notwendigkeiten seiner asketischen Natur.
Burckhardt war seit 1862 einem neuen großen wissenschaftlichen Plan verpflichtet. Er wollte als begeisterter »Dilettant«, als Liebhaber der griechischen Geisteskultur, das weite Gebiet des Hellenentums »durchstreifen« und Material für eine umfassende Seelengeschichte des griechischen Menschen sammeln. Nach zehn Jahren der Vorbereitung hat er im Sommersemester 1872 den großen Wurf gewagt und zunächst in einer vierstündigen Vorlesung die ›Griechische Kulturgeschichte‹ in der alten Universität am Münsterplatz vorgetragen. Lange hat er sich mit dem Plan der Veröffentlichung dieses Manuskriptes getragen und noch um 1880 ist von einer Publikation im Selbstverlag des Verfassers die Rede. Aber erst sein Neffe und getreuer Schüler Jacob Oeri hat die' letzte Hand an die Redaktion gelegt und nach dem Tode Burckhardts das monumentale Werk in Druck gegeben (1898/1902).
Neben der hellenischen Geistesgeschichte ist es vor allem die moderne Welt, die Staatengeschichte des 17., 18. und 19. Jahrhunderts, die Burckhardt in den Jahren der erneuerten Schaffenskraft beschäftigt hat. Er reist nun nicht mehr so oft nach Italien, sondern mehr nach Frankreich und Paris. Er analysiert mit zunehmendem Pessimismus das »Revolutionszeitalter« von 1789 bis zur Gegenwart und er wird von der zweideutigen Figur Napoleons III. fasziniert. Seit 1866 ist es die Gestalt Bismarcks, des dämonischen Machtmenschen und modernen Staatsgestalters, in welchem sich ihm der Charakter der »Krise« politisch am deutlichsten manifestiert. Aber es gibt auch zahlreiche philosophische, wissenschaftliche und religiöse Zeichen der Erkrankung der abendländischen Kultur. Alles, was in dieser Hinsicht auf Burckhardt einstürmt, sucht er in dem Werk zu verarbeiten, das wir unter dem Titel ›Weltgeschichtliche Betrachtungen‹ kennen. Aus einem Plan von 1868 für ein einstündiges Nebenkolleg ›Über das Studium der Geschichte‹ erwachsen, ist das Manuskript in mehr als fünfjähriger Arbeit (bis 1873) auf den jetzigen Umfang angewachsen. Mit einer großartigen Freiheit der Diktion und einer Fülle von weltgeschichtlichen Beispielen hat der Basler Gelehrte in diesem Werk eine Synthese seiner klassischen und seiner historischen Anschauungswelt versucht und gleichsam Goethe und Ranke, Harmonie und Sturm, Ruhe des Seins und Bewegung des Werdens zu einer gedanklichen Einheit vermählt.
Das Alterswerk Jakob Burckhardts umfaßt neben Kabinettsstücken des kulturgeschichtlichen Essays aus allen Jahrhunderten in erster Linie wieder kunstgeschichtliche Schriften. Mit den ›Beiträgen zur Kunstgeschichte Italiens‹ und den ›Randglossen zur Skulptur der Renaissance‹ (beide 1895 abgeschlossen) kehrt er zu dem angefangenen Thema der Malerei und Plastik jenes Renaissancezeitalters zurück, in dem sich für ihn klassische, christliche und modernnationale Kultur am vollkommensten durchdrungen haben. Die vielen und vielseitigen Kunstreisen, die der sparsame Junggeselle aus der Basler St. Albanvorstadt Jahr für Jahr unternahm und die ihn wieder wie in seiner Frühzeit in steigendem Maß nach Norden, nach Deutschland, Holland und Belgien führten, haben ihren schönsten Niederschlag gefunden in dem heiter durchsichtigen Spätwerk »Erinnerungen aus Ruben«, das ebenfalls erst nach dem Tode des Verfassers an den Tag gekommen ist (1898). Rubens ist ihm nie als der Meister der höchsten »Idealität« in der bildenden Kunst erschienen wie Phidias oder Raffael. Aber es ist fast, wie wenn sich für Burckhardt in den Bildern des mächtigen Vlamen jene Begegnung von wilder Dramatik und schöner Form künstlerisch verkörpere, die er für seine Person in der Geschichtsphilosophie der Weltgeschichtlichen Betrachtungen gesucht hat. Ganz ist das klassische Ideal und die historische Realität nicht zur Deckung gekommen im Weltbild Jakob Burckhardts. Aber immer, wenn sich ein Zwiespalt aufzutun drohte zwischen schöner Norm und universalhistorischer Notwendigkeit, hat der edle Basler Humanist und Historiker nach dem traditionsgesättigten und doch freien Wort gelebt, mit dem er ein Kapitel der Weltgeschichtlichen Betrachtungen schloß: »Für den denkenden Menschen ist gegenüber der ganzen bisher abgelaufenen Weltgeschichte das Offenhalten des Geistes für jede Größe eine der wenigen sicheren Bedingungen des höheren geistigen Glücks.«