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Die Allegorie in den Künsten

15. Februar 1887.

Akademischer Vortrag, gehalten in der Aula des Museums. Manuskript, 16 Quartblätter, im Jac. Burckhardt-Archiv, Nr. 171; dazu 3 Uebersichtsblätter. Auf der inneren Seite des Umschlags die Notiz: Aus Bl. 10 und 11 einiges herübergenommen in das Manuskript »die Griechen und ihre Götter« 28 a und b (Griechische Kulturgeschichte, Bd. II, S. 68/69). Der Anfang hat einige leichte stilistische Ergänzungen durch den Herausgeber erfahren.

 

Religionen und Völkergeschichten, sollte man denken, bedürften zu ihrer Verherrlichung durch die Kunst nur ihrer großen göttlichen und menschlichen Persönlichkeiten und Ereignisse. Allein tatsächlich und zu allen Zeiten hat sich auch die Allegorie eingestellt und in Farbe, Marmor und Erz Verwirklichung verlangt. Allegoria ist Andeutung oder Darstellung einer Sache durch eine andere, indem man den Gedanken verhüllen und doch offenbaren will, zum Beispiel Darstellung einer allgemeinen Wahrheit durch eine Erzählung, Parabel, äsopische Fabel. In der Kunst und ihrer Sprache dagegen hat das Wort einen ganz bestimmten und engen Sinn: Darstellung eines Allgemeinen in einer menschlichen Gestalt. Sprache und allgemeine Betrachtung sind der Kunst längst vorangegangen: aus vielen Erscheinungen derselben Gattung ist bereits das ihnen Gemeinsame abgezogen worden, es sind Abstracta entstanden, und zu deren Darstellung wird nun nicht nur die bildende Kunst veranlaßt, sondern auch die Poesie ist nicht selten hierauf eingegangen. Wir werden fortan »Abstractum« und »allegorische Figur« als gleichbedeutend brauchen.

Sorgfältig beseitigen wir hier andere Bedeutungen des Wortes Allegorie: das schon erwähnte Gleichnis in Gestalten aus dem wirklichen Leben, die Parabel, ferner die Anspielung auf irgend eine Tatsache durch Ereignisse der Vorzeit, so bei Rafael in den vatikanischen Sälen, als er den französischen Ueberfall des Kirchenstaates durch die Geschichte des Heliodor züchtigte und den religiösen Zweifel der damaligen Zeit durch die Messe von Bolsena widerlegte.

Im allgemeinen sind nun die allegorischen Gestalten oder Abstracta beim Volk nicht beliebt, und ein häufig vorkommendes Vorurteil findet sie langweilig. Einst war hier ein Kupferstich sehr verbreitet, welcher die Hoffnung darstellte, wie sie vor einem Vorhang sitzend, zum Fenster hinaus sah, neben sich einen großen Anker; sie schien die personifizierte Langeweile.

Allein die Jahrtausende vor uns haben längst für die Allegorie entschieden; eine mächtige Tradition hat die Umwälzungen der Staaten, Völker und Kulturen überstanden, und nun ist die Allegorie so wenig mehr aus der Kunst zu entfernen, als die allgemeinen Ausdrücke aus der Sprache.

Wenn auch die christliche Religion sie allenfalls in der Kunst entbehren kann, so konnte es, wie sich zeigen wird, die griechische Religion nicht; vollends aber kann die weltliche monumentale Kunst nicht ohne sie auskommen, und die Ruhmredigkeit des Menschengeschlechtes klammert sich fest an sie an.

Die Tätigkeit, durch welche Menschen kulturgeschichtlich und weltgeschichtlich mächtig geworden, die Summe ihrer moralischen und intellektuellen Eigenschaften läßt sich zunächst nicht in ihrem Bildnis allein sichtbar machen, sodann in der Regel auch nicht durch Einzelereignisse, die der Künstler erzählen könnte, und hier nimmt sich die Allegorie, das Abstractum sein Recht.

Man wird jene Eigenschaften in besondern Gestalten verewigen, daneben aber auch die Richtungen und Tätigkeiten, die von einem Mächtigen ausgegangen, in figurenreichen Schilderungen entwickeln. In Skulptur und Malerei, in großen Räumen und an großen Bauten können dann allegorische Gestalten mit solchen allgemeinen Tätigkeitsbildern zusammen ausgedehnte Zyklen, Gedankenkreise bilden.

Welches ist der heutige Bestand an Allegorie?

Vor allem lassen sich Völker und Reiche ihre Personifikation in möglichst großartigen, äußerlich oft kolossalen Gestalten nicht nehmen, und auch die Städte haben sich von Alters her so darstellen lassen, kenntlich an ihren Mauerkronen. Die Physiognomie wird neben ihrer Idealität auch etwas besonderes, der einzelnen Nation oder Stadt gemäßes zu erreichen suchen, und für weiteres sorgen zunächst Attribute, sodann aber Reliefs um Sockel und Aufbau und Nebenfiguren, welche wiederum Allegorien sind, teils örtlicher Art (besonders große Ströme), teils moralischer und intellektueller Art (Krieg, Handel, Industrie, Ueberfluß und so weiter). Die Aufgaben der Völker-Allegorie können riesige sein, wie die Germania im Niederwald. Hier ist auch der Viktoriendenkmäler zu gedenken, obgleich hier eine Gestalt der antiken Kunst benützt werden konnte.

Prachtbrunnen bedürften der Abstracta kaum oder doch nicht notwendig, da sie mit den schönen Wasserfabelwesen im Geist des Altertums auf das reichste geschmückt werden können. Der Brunnen kann schon mit bloßer Schönheit auskommen.

Das eigentliche Denkmal, die Verherrlichung eines Individuums, ist gegenwärtig massenhaft in Uebung. Sobald man irgend über die Porträtstatue hinausgeht und die Beziehungen des betreffenden zum Leben andeuten soll – sei er Fürst, Feldherr, Beamter, Dichter, Künstler oder was immer gewesen – melden sich die Abstracta unvermeidlich von selbst, am Sockel oder in Nebenfiguren.

Man denke an das Goethe-Denkmal in Berlin mit den Gestalten der lyrischen und tragischen Poesie und wissenschaftlichen Forschung samt drei Genien; an das Schillerdenkmal von Begas mit lyrischer und tragischer Poesie, Geschichtschreibung und Philosophie; an das Beethovendenkmal in Wien mit Prometheus und dem Geier.

Es zeigt sich, daß die kräftigsten Meister der Plastik diese Gestalten lieben, und besonders beim Berliner Schillerdenkmal käme man nicht auf die Idee, welche man wohl aussprechen hört: »Die Allegorie sei eine besondere Liebhaberei verfallender Kunstepochen«. Die Skulptur, was auch Individuelles von ihr verlangt werde, bleibt dem Idealen zugeneigt, welches allein ihr gestattet, frei ihren innersten Antrieben nachzuleben Randbemerkung: Hier auch die Tiere, besonders die Löwen zu erwähnen, auch die Löwenverschwendung; Bären in Bern. Das Tier kann Wappentier sein..

Vieles, was in einer Porträtstatue selbst bei geistvollster Auffassung ganz unmöglich anzudeuten ist, Eigenschaften, welche der Mann hatte und Wirkungen, die er hervorbrachte, werden auch in den Reliefs des Sockels irgendwie ausgesprochen, in plastischen Schilderungen. Es können Zustände, ideal gegebene, aber konkrete Genrebilder sein: am Sockel eines Mächtigen das Gedeihen, der Kunstfleiß, die Festfreude, die Rüstungen zur Wehrkraft als Beschäftigungen – in Summa Tätigkeitsbilder; oder auch wiederum Allegorien; so findet sich am Max-Josephsdenkmal zu München außer der Bavaria die Felicitas publica zwischen den Beschäftigungsreliefs. An Kundmanns Schubert-Denkmal im Stadtpark zu Wien ist auf der einen Seite das Quartett als vier liebliche Genien angebracht.

Es findet sich auch zum Beispiel bei sehr bevorzugten Fürsten, daß gerade die äußern Ereignisse bei weitem weniger wünschbar sind für die Darstellung als die Zustände, – abgesehen davon, daß letztere im Relief bei weitem darstellbarer sind; das zarte Leben und die innere Bedingung des Reliefs machen es nicht geeignet zur Illustrierung jedes beliebigen äußeren Hergangs, selbst wenn derselbe an sich wichtig und sogar zum Beispiel im malerischen Bilde der Darstellung würdig wäre.

Vollends aber soll man beiden Künsten nicht Momente zumuten, welche erst in ihren Folgen wichtig geworden sind.

Kolossale Aufgaben wie Rauchs Friedrichs-Denkmal, an dessen Sockel sogar alle berühmten norddeutschen Zeitgenossen versammelt sind, oder vollends das Prinz Alberts-Denkmal im Hyde Park, welches die geistigen Beziehungen einer halben Welt in Porträts und Allegorien um den Verewigten gruppiert, bleiben außer Betracht.

Als neueste allegorische Aufgabe seien das Lessingdenkmal für Berlin und die in der Presse besprochenen Konkurrenzarbeiten genannt, soweit die Sockelreliefs in Frage kommen. Eine ganze Anzahl von Allegorien werden hier namhaft gemacht: die Athene schmettert ein Ungetüm, die Lüge, nieder; die Toleranz: sie ist ein Weib mit Fackel, das gen Himmel schaut, und über ihren Schoß reichen sich kniend ein Mann und ein Knabe die Hände, mit stürmischem Drängen, wie von langer Knechtschaft erlöst; auf jeder Seite steht ein Ringer, welcher die Hydra der Heuchelei bezwingt; da ist auch ein Jüngling, welcher Gott um den Trieb nach Wahrheit bittet, da die Wahrheit selbst, nur für Gott bestimmt, in ihrer Felsenkammer schlummert; sogar »der kritische Geist« erscheint als allegorische Gestalt. Bei Dichtern hat man sich etwa statt der Allegorien der Hauptgestalten aus ihren Dichtungen bedient, zum Beispiel an Schwanthalers Goethestatue in Frankfurt; allein auch wenn diese besser wären, würden sie der mißratenen Porträtstatue nicht aufhelfen können, an welcher nur der Kopf gut ist.

In den drei letzten Jahrzehnten hat nun eine zunehmende Verbindung der Skulptur und besonders der Allegorien mit der Architektur stattgefunden.

Das monumentale Bauwesen des Empire und der nächstfolgenden Zeit war fast ohne plastischen und malerischen Schmuck; hie und da wurde eine Nische für die Statue eines berühmten Mannes geschaffen und da blieb noch die Nische oft unausgefüllt.

Eine Aenderung begann mit einigen figurenreichen Giebelgruppen auf Anregung der Elgin Marbles. Die Giebelgruppe der 1830 vollendeten Glyptothek von Wagner enthält eine einzige allegorische Figur und dies ist, dem häufigen Gebrauch seit der Renaissance zufolge, eine Gottheit, bei welcher der Künstler einen fertigen und vorzüglichen Typus geschenkt bekommt, diesmal Pallas als Schützerin der plastischen Kunst. Die übrigen acht Figuren sind die plastischen Künstler nach ihren einzelnen Beschäftigungen: der Modellierer, der Erzgießer, der Steinbildhauer, der Töpfer als solcher und so weiter, und man kann streiten, ob sie Allegorien oder eher Repräsentanten zu nennen sind; jedenfalls brauchte die Kunst sie nicht erst zu schaffen, wie die Abstracta, sondern sie fand sie im Leben vor, wenigstens im vergangenen. In Paris entstanden die Giebelgruppen des Pantheon und der Madeleine, und allmählich wurde die reichere Anwendung des Plastischen wenigstens ein allgemeiner Wunsch bei Prachtbauten Randbemerkung: Die Skulpturen des Berliner Schauspielhauses von Tieck..

Aber erst seit Mitte unseres Jahrhunderts verband sich die architektonische Komposition selbst in reicherem Maße mit figürlichen Elementen jeder Art, und erst seit anderthalb Dezennien tritt zum gemeißelten Stein an den Fassaden auch noch das Mosaik, die glasierte Malerei, die einst blühende, dann längst vergessene gewöhnliche Malerei, das Sgraffito hinzu und im Innern ganze Zyklen von Fresken und anderm. Residenzen, Gerichtspaläste, Ministerien, Museen, Theater, Bahnhöfe, Banken, Börsen, Zeughäuser, Kunstschulen und jetzt oft auch Privatgebäude werden mit einem früher unerhörten figürlichen Reichtum ausgestattet. Manches ist wohl nur dekorativ und für die Ferne berechnet; immer aber sind es sehr vorherrschend ideale Gestalten und Ereignisse, und als solche ein Glück für die Kunst gegenüber dem sonst vordringenden Realismus. Hier tritt denn eine massenhafte Verwendung der Allegorien oder Abstracta auf. Wir werden völlig davon umringt, ob wir wollen oder nicht.

Die Bestimmung oder Idee des Baues selber wird meist in einer großen weiblichen Gestalt versinnbildlicht, sei es, daß sie allein vorhanden ist, sei es, daß sie als Mitte einer Giebelgruppe, thronend oder stehend erscheint. Dann kommen in Nischen oder auf Dächern und Balustraden verteilt vor: verwandte Abstracta, Seitenideen oder wiederum jene Repräsentanten entweder in allgemeinem Sinn, wie im Giebel der Glyptothek, oder in historischem Sinn als berühmte Männer des betreffenden Faches (in Statuen, Büsten, Medaillons) Bemerkung B.'s: Die Professoren auf dem Kranzgesimse der Straßburger Universität.. Manches in Bogenwinkeln, Dreiecken, Giebelenden und anderswo verrät sich bald als bloße Füllfigur, womit nur eine höhere Belebung des Raumes bezweckt wird als die Architektur von sich aus erreichen könnte; aber auch diese Füllfiguren sollen der Kunst um ihres idealen Stiles willen willkommen sein.

Auch die Karyatiden oder weiblichen Stützfiguren erregten Entzücken, als sie an Drakes Haus im Tiergarten nach langem Todesschlaf wieder aufwachten; nur wurde seither etwas starke Verschwendung damit getrieben, und in Wien allein wäre an Karyatiden in Freiskulptur und Wandrelief wohl ein Bataillon zusammenzubringen, jedenfalls sehr viel mehr als einst im ganzen alten Hellas vorhanden waren.

Nun ist zuzugeben, daß dieser ganze Schmuck moderner Prachtfassaden lange nicht so im einzelnen genossen wird, wie die Schöpfer desselben erwarten mochten. Nicht viele Leute haben die physische Kraft, ein Ganzes so reich an Einzelgestalten und Szenen genau durchzugehen, bei der Ermüdung, welche der Anblick von unten und die Bewaffnung des Auges unvermeidlich mit sich bringen, zumal bei grellem Sonnenlicht. Und was vollends auf dem Dache gegen die Luft steht, ist wirklich mühsam zu prüfen. Die Zeit hätte man immer, wenn man wollte. Es bleibt aber gemeinhin bei einem summarischen Eindruck von Reichtum.

Schlimmer ist aber, daß man auch von dem, was man wirklich ansieht, – allegorischen Figuren und Gruppen – oft nur wenig berührt wird und wenig behält. Man weiß bald nicht mehr recht, was man gesehen hat. Von den Gruppen am Erdgeschoß der großen Oper in Paris, welche doch gewiß keine geringen Arbeiten sein können, fixiert sich keine, als »la Danse«, das so viel bestrittene Wunderwerk des jung verstorbenen Carpeaux. Man kann wohl sagen: Die Aufgabe war bei weitem günstiger als die »Musique dramatique« und »Musique lyrique« anderer, welche in den übrigen Gruppen dargestellt sind; aber es möchte wohl den tüchtigen Meistern dieser übrigen Gruppen auch der Tanz nicht so gelungen sein, wie er Carpeaux in seiner frevelhaften Weise gelang.

Ferner wird bisweilen eine plastische Profusion an unrechter Stelle geübt. Börsen zum Beispiel mögen notwendige Atmungsorgane des modernen Lebens sein und sollen in der Mitte des Luxusquartiers einer großen Stadt eine reiche bauliche Physiognomie erhalten. Es hat aber keinen Sinn mehr, wenn an der Börse von Brüssel schon die Podeste der Vortreppe mit großen Gruppen, Löwen von Genien gelenkt, beginnen. Die eigentlichen Abstracta wären auf einer Börse die Gestalten der Hausse und der Baisse, und diese könnte man ja auf dem Giebel eines solchen Gebäudes auf einem ehernen Wagebalken und vom Winde beweglich anbringen, weiterer Allegorien, wozu der Ort einladen würde, nicht zu gedenken, zum Beispiel der Dämonen des Kraches.

Eine der gediegensten Gesamtdekorationen in Plastik, Mosaik und Malerei aus unsern Tagen ist wohl die des Berliner Kunstgewerbemuseums. Ohne einige kühne Allegorien ist man doch nicht ausgekommen: in einem Giebel lehnen zu beiden Seiten einer Pallasbüste zwei männliche Gestalten, welche den erfindenden und den ausübenden Künstler andeuten sollen; in venezianischem Mosaik sind anderswo die Hauptepochen des Kunstfleißes versinnlicht durch allegorische Gestalten, wie die Kunst des Islams, die Byzantinik, die Gotik, die Renaissance und andere, welche man durch Baumodelle in ihren Händen kenntlich gemacht hat; ein Fries im Lichthof schildert die Ueberbringung von Festgaben aller Zeiten und Völker, von der Steinzeit an, an die thronende Borussia.

Im ganzen wird man sagen müssen: Bei fortdauerndem reicherem Schmuck öffentlicher Gebäude jeder höhern Bestimmung wird man auf stets neue Offenbarungen der plastischen und gemalten Allegorik gefaßt sein müssen. Gar zu vielartige und wichtige geistige Beziehungen, deren Darstellung man verlangt, lassen sich durch bloß historische Gestalten und Szenen absolut nicht verwirklichen. Es wird nicht immer leicht sein, deutlich zu sprechen, selbst für Gebildete; aber die Kunst wird solche ideale Aufgaben immer willkommen heißen, und ihr Genius wird sie führen.

Und nun steigen wir die vergangenen Zeiten rasch aufwärts, um den Gang der Allegorien auch durch die ältere Kunst zu verfolgen.

Die nächste Vorzeit, welche wenigstens bei ihren Festen einen großen Verbrauch derselben aufgewiesen hat, war die französische Revolution. Unter der Leitung Davids entstanden riesige Statuen der Natur, der Liberté beim Feste des 10. August 1793 sah man das »Volk« auf einem Fels sitzend, bedroht vom herankriechenden Ungeheuer des Fédéralisme; am Feste des höchsten Wesens, 8. Juni 1794, hatte Robespierre die Funktion, eine riesige Gruppe von Atheismus, Ehrgeiz, Genußsucht, Zwietracht und falscher Einfachheit anzuzünden; als dieselbe zusammensank, kam, freilich etwas geschwärzt, eine Statue der Weisheit zum Vorschein. Von ähnlichem Geschmack waren auch die Feste des Directoire Bemerkung B.'s: C. A. Menzel, II, 46.. Da kam es etwa vor, daß Direktoren und Gesetzgeber zwischen griechischen und römischen Gottheiten nach dem Marsfelde zogen und der Sonnenwagen des Phöbus, von Jahreszeiten und Hören umtanzt, im Moraste stecken blieb, ehe er noch seinen hölzernen Tierkreis erreichte Randbemerkung: Laut Mercier kamen unter dem Directoire die Toaste auf abstracte Wesen in Mode..

Woher stammte aber zunächst diese Manier? Direkt aus der Kultur, Kunst und Poesie des vorhergegangenen Zeitalters, und Voltaire hatte in seiner Henriade ausgiebigen Gebrauch davon gemacht Randbemerkung: Sobald ihm die Tendenz wichtiger war als die Poesie.. Man darf freilich fragen: Hat die Poesie dasselbe Recht auf allegorische Gestalten wie die bildende Kunst? Hat sie nicht die Verpflichtung, alle Motive, das heißt alle Beweggründe des Handelns in lebendige Menschen zu verlegen und hiefür all ihre erfindende Kraft anzustrengen? Randbemerkung: Sie hat ja keine gegenwärtige Schönheit vorrätig wie die Kunst? Die Beantwortung ist nicht ganz einfach; soviel aber ist gewiß, daß die Poesie der Epoche Ludwigs XIV. mit ihren Allegorien schlechte Geschäfte gemacht hat.

Im V. Gesang der Henriade, nach einem Gebet des Jacques Clément, welcher zur Ermordung des Henri III. bestimmt war, läßt zum Beispiel Voltaire die Zwietracht auftreten:

La Discorde attentive, en traversant les aires
Entend ces cris affreux et les porte aux enfers.
Elle amène à l'instant, de ces royaumes sombres,
Le plus cruel tyran de l'empire des ombres.
Il vient, le Fanatisme est son horrible nom,
Enfant dénaturé de la religion ...

Er nimmt zum Erscheinen die Truggestalt des Guise an, weil sich Voltaire doch geniert, eine abstrakte Fratze vor Menschen handelnd auftreten zu lassen.

Diese Discorde ist aber eine alte Bekannte, unter anderm von Boileaus Lutrin her, wo sie im I. Gesang nach einer Runde durch Klöster sich vor ihrem Palast, dem Palais de justice, aufstellt und zusieht, wie von allen Straßen her die Landkutschen mit Plaideurs angefahren kommen. Weiterhin hat Boileau die Allegorien nur mäßig angewendet, bis auf den VI. Gesang, wo Piété sincère sich von der Grande Chartreuse aufmacht und, begleitet von den drei christlichen Tugenden, durch halb Frankreich nach Paris reist, um sich dort mit der Themis klagend zu besprechen. Diese absurde Partie nimmt dem hübschen komischen Epos einen guten Teil seines Wertes. Diese Gattung verträgt nicht leicht pathetische Einlagen, und wenn sie Abstracta mit Glück vorbringen soll, werden es komische, ja burleske sein müssen, wie sie etwa im italienischen komischen Epos vorkommen. Boileaus und Voltaires Abstracta sind öde Maschinerien.

Allein mit Boileau sind wir bereits in das so allegorienreiche XVII. Jahrhundert hinaufgelangt, welches in dramatischen Moralitäten, in Autos sagramentales, in katholischen und protestantischen Schul- und Volksdramen die abstrakten Gestalten nicht im mindesten scheut und in Marmor und Erz wie in farbenstrahlenden Bildern sie massenweise gebraucht Randbemerkung: Auch Shakespeare läßt einmal das »Gericht« auftreten, zu Anfang vom II. Teil Heinrichs IV.. Ein eigener Zweig der Gelehrsamkeit gab sich längst mit den Allegorien ab und schuf auch ganz undeutsame Gestalten.

Kein Grabmal von höherem Aufwand, welches nicht neben dem Bild des Verstorbenen noch mindestens eine klagende Tugend oder, bei Fürsten und Kriegern, eine posaunende Fama enthielte. Die unterliegende Partei, mögen es Feinde oder Untugenden sein, stürzt nicht selten purzelnd abwärts, oder wird mit Füßen getreten. Man denke an die Gruppen neben dem Altar des hl. Ignatius in der Gesùkirche zu Rom.

An den Papstgräbern in S. Peter zu Rom finden sich immer mindestens zwei Tugenden in lebhaftem Bezüge zueinander, oft noch von Putten begleitet; ruhig sind die allegorischen Gestalten nur vor dem Barocco (Grab Pauls III.) und nach demselben (Grab Pius VII.). An weltlichen Denkmälern, wie Reiterstatuen, pflegen unten gefesselte Figuren zu sitzen, deren Deutung vielleicht andern Leuten und Ländern Wehe und Schmach bereiten sollte.

Und in diesem Medium lebte auch die Malerei des XVII. Jahrhunderts, namentlich wenn sie Gegenstände darzustellen hatte, welche mit der bloßen Erzählung absolut nicht zu erledigen waren. Rubens in den Malereien der Galerie du Luxembourg füllte den ganzen Lebenslauf der Maria Medici an, teils mit Allegorien, teils mit den Göttern des Altertums, welche in allegorischem Sinne gebraucht sind, Minerva für alle Weisheit, Apoll für die Musik, Merkur für die diplomatische Verhandlung, und im Gouvernement de la Reine hat er den ganzen Olymp leuchten lassen. Die Malerei darf heute so etwas nicht mehr; allein wir möchten wissen, wie sie sich ohne Allegorien behelfen würde, wenn ihr Themata vorgeschrieben wären wie jene. Oder wären die Maler etwa heute so stoisch, sich solches zu verbitten? In der Regel werden Beweggrund und Entschluß in eine allegorische Gestalt verlegt und einiger derselben müssen wir hier gedenken: Gallia mahnt Heinrich IV. eifrig, das von Amor und Hymen dargebrachte Bildnis Mariens zu betrachten; auf der Landungsbrücke zu Marseille eilen Gallia und Massilia ihr entgegen; weiterhin wird der neugeborene Ludwig XIII. dem Genius der Gesundheit auf den Arm gelegt; bei der Huldigung nach Heinrichs Tode sieht man neben der Gallia auch die allegorische Figur der »Regentschaft«, welche der Königin das Steuerruder des Staates überreicht; bei der Unterhandlung in den Streitigkeiten zwischen Mutter und Sohn schreitet Merkur ganz unbefangen zwischen zwei Kardinälen einher. Der Friede als mächtige Frau löscht Fackeln, und endlich hebt die Zeit, als Saturn, die Wahrheit in die lichte Höhe. In den Gestalten des Bösen ist Rubens so reich, wie in denjenigen des Guten; wir lernen meist in heftiger Bewegung kennen die Zwietracht, Neid, Haß, Betrug, Wut, Unwissenheit, Uebelrede und so weiter, und als Rebellion figuriert eine mehrköpfige Hydra. Einiges galt freilich schon zu des Malers Lebzeiten für undeutsam. Wer nun Rubens wegen dieser Aufgaben bedauern sollte, würde seine Wehmut wegwerfen; der furchtlose Meister hat sich ein andermal mit offenbarer Begeisterung allegorisch vernehmen lassen in dem theologischen Zyklus von neun Bildern kolossalen Maßstabes für das Kloster Loeches. Man halte daneben die hohlen, ohne alles Gefühl konzipierten himmlischen Gruppen in Kaulbachs Fresken. Und welche gemalte Allegorie würde der des (30jährigen) Krieges im Palazzo Pitti gleichkommen?

Aus der Zeit des Barocco steigen wir wieder eine Stufe empor in das mächtige XVI. Jahrhundert, in die Renaissance, und hier lassen wir die ganze damalige Poesie und schriftliche Symbolik beiseite. Bei den großen Künstlern tritt hier die Allegorie auffallend wenig hervor; von Leonardo ist mir wenigstens keine bekannt, von A. del Sarto zweimal die Caritas, von Correggio findet sich nichts der Art; von Tizian etwa das späte Bild der Fides mit dem Dogen Grimani. Von Michelangelos berühmtesten Gestalten aber, seinen Schiavi, seinem Sieger, seinen vier Tageszeiten sei es hier gestattet, zu schweigen, damit nicht eine große umständliche Frage aufgerührt werde. Nun bleibt noch Rafael; er hat sehr mäßigen Gebrauch von dem Abstractum gemacht Randbemerkung: Sockelfiguren der Sala dell' incendio.; aber er hat am Gewölbe einer der vatikanischen Säle in einem Rundbild die holde und erhabene Wundergestalt der Poesie geschaffen, und die Worte auf den Tafeln der sie begleitenden Genien werden hier glaubhaft: Numine afflatur.

Diese Sparsamkeit der Größten kontrastiert mit der sonst sehr allgemeinen allegorischen Neigung und Praxis und mit dem Tun der nächsten Vorgänger. Im XV. Jahrhundert, zur Zeit der Frührenaissance, hatten auch die namhaftesten Meister Tugenden, Wissenschaften und geistige Qualitäten der verschiedensten Art sehr häufig personifiziert und von einem oder mehreren ihrer Anhänger oder Repräsentanten begleiten lassen. Daß aber die allegorischen Frauen öfter auf Wagen fahren, stammt entweder von einer wirklichen Uebung bei Carnevalszügen oder aus den Trionfi des Petrarca. Seit seinem Trionfo d'amore hat das Abstractum eigenes Fuhrwesen, hundert Jahre hindurch.

Mit dem XIV. Jahrhundert sind wir schon an den Pforten des Mittelalters angelangt. In Italien wird die Malerei dieser ganzen Zeit überschattet von Giotto und seinen Nachwirkungen, wobei die Menschengestalt und das Geschehen, das Ereignis ein völlig neues Leben empfing. Aber in den Aufgaben herrschte noch die strenge Theologie, öfter in dominikanischer Auffassung. Man darf daher das allegorische Wollen und Vermögen nicht sowohl beurteilen nach solchen Programmmalereien, wie Giottos Allegorien von Armut, Keuschheit und Gehorsam in der Unterkirche von Assisi, oder wie die vierzehn Künste und Wissenschaften in der spanischen Kapelle zu Florenz, als vielmehr nach dem freiwillig Entstandenen. Und hier wird die grausige Gestalt des Todes, der dahersausenden Morte, in dem nach ihr benannten wichtigsten Fresko des Camposanto zu Pisa auf alle Zeiten eine der großartigsten Personifikationen bleiben, welche der Kunst je gelungen sind. Und ebenso aus freier Begeisterung sind entstanden oder wenigstens gestaltet worden die königlichen Frauen als Tugenden, welche Ambrogio Lorenzetti in seinem sonst sehr wunderlichen Gemälde »vom guten Regiment« als höchsten Schmuck anbrachte. Die Pax und namentlich die Concordia gehören zu den reinsten Schöpfungen der allegorischen Malerei. Das »gute Regiment« selber ist freilich in sehr fragwürdiger Weise als riesige thronende Kaisergestalt personifiziert.

Im eigentlichen Mittelalter, seit dem Ende der altchristlichen Zeit, gilt die Kunst als unfrei und völlig von der Kirche abhängig, deren Theologie ihr in der Tat das Schema der heiligen Gestalten und Darstellungen bis zu einem gewissen Grade vorschrieb. Und darunter waren auch ganze Zyklen von Allegorien, zunächst die drei christlichen und die vier Kardinaltugenden Einsicht, Kraft, Mäßigung und Gerechtigkeit samt den sieben Todsünden, auch die von der Kirche in ihren Schutz genommenen sieben freien Künste: Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Musik, Geometrie, Astronomie. Sehr vieles aber ist in verschiedenen Jahrhunderten in freiwilligem, frommem Eifer durch einzelne Autoren und durch Besteller von Kunstwerken hinzugetan worden: Im Altar von Klosterneuburg sind von vierzehn Tugenden und löblichen Zuständen, z. B. Furcht und Freude, die Halbfiguren zu sehen. Ein Bischof von Cambray im X. Jahrhundert (Wibold, um 970), welcher das Würfelspiel seiner Kleriker mißbilligte, ersann für sie ein theologisch-symbolisches Spiel von 56 Abstracta, darunter außer den zeitüblichen Tugenden und intellektuellen Eigenschaften auch das gesunde Urteil, die Bescheidenheit, den Takt, die Zerknirschung und so weiter; nur ist der Bericht hierüber so undeutlich, daß man nicht sieht, ob es sich um gemalte oder plastische Figuren oder etwa nur um Täfelchen, etwa wie Dominosteine mit Inschriften handelte. Und haben die Kleriker von Cambray nicht etwa auch mit diesem Tarock Hasard gespielt?

In der Erzählung, sei es Malerei oder Relief, war das Abstractum entbehrlich, weil die Darstellung der guten und bösen Impulse durch Engel oder Dämonen geschehen konnte. In Einzelfiguren und Zyklen aber greift man bisweilen zu jeder Aushilfe. Man gab dem Abstractum, meist einer gekrönten Frau, einen Schild oder Rund in die Hand, welches irgend ein konventionelles Zeichen oder Attribut, etwa eine Tiergestalt enthielt; die Geduld erhielt ein Lamm, die Klugheit eine Schlange und so weiter. Andere Male, bei Allegorie des Bösen, entstand eine Genrefigur oder Genreszene; die Feigheit wurde dargestellt als Mann vor einem Hasen fliehend; die Torheit als Mensch mit einem Narrenkolben; die Abgötterei als Mann vor einem Affen betend; die Ungerechtigkeit als Gespräch zwischen Partei und Richter; die Zwietracht als Streit zwischen Mann und Frau; der Zorn als Weib, welches einen abmahnenden Mönch ersticht, und dergleichen mehr.

Bisweilen aber hat die Kunst offenbar aus freiem Schwung in die abstrakten Figuren ihr Bestes hineingelegt, und Werke hohen Ranges haben wir in der Nähe. Am Straßburger Münster, und zwar am Portal des südlichen Querschiffes, finden sich von all den zahllosen Darstellungen der Kirche und der Synagoge die weitaus bedeutendsten; jene als jugendliche Königin, diese zusammensinkend mit verbundenen Augen und zerbrochenem Rohrstab; von den Fassadenportalen enthält dasjenige links den Zyklus von speerbewaffneten Tugenden, welche auf Sünden treten. Am Freiburger Turm enthält schon das Aeußere am Erdgeschoß die merkwürdige Allegorie des weltlichen Standes, des Richtertums sitzende Gestalten mit Mützen. Das Innere der Vorhalle bietet dann in den Statuen längs den Wänden nicht nur ein Ganzes von höchstem plastischem Werte, darunter die zum Teil wunderschönen zehn Jungfrauen, sondern auch eine Auswahl wichtiger allegorischer Gebilde, die sieben freien Künste und dieselben beiden Figuren, welche auch am Portal unseres Münsters vorkommen: ein König, an dessen Rücken Feuerflammen und Kröten abgebildet sind, und eine zu ihm gewendete Frau; nur hier aber erfahren wir aus alten, obwohl nicht gleichzeitigen Beischriften mit Sicherheit die Namen: Verleumdung und Ueppigkeit. Nun heißt freilich calumnia griechisch διαβολη, und damit gelangt man schon in die Nähe des διαβολς, des Satan, wogegen freilich geltend zu machen wäre, daß dieser wohl in Historien und Weltgerichtsskulpturen, doch aber kaum in einer Reihe mit den christlichen Idealgebilden möchte dargestellt worden sein Randbemerkung: Memento: Chartres mit ganzen Reihen von »Tugenden«.. Der sehr große und freie Zug, welcher der abendländischen Kirchenskulptur im XIII. Jahrhundert eigen war, kam auch den allegorischen Gestalten in hohem Grade zustatten.

Die Kunst von Byzanz, soweit nicht Büchermaler Darstellungen der Römerzeit kopierten, machte sehr wenigen Gebrauch von den Allegorien, und von diesem Wenigen sind keine Abbildungen zu uns gedrungen. Es handelt sich um Gestalten der Welt (χοσνος, der Zeit (χρονος), der Nacht, des Tages und weniges andere.

Endlich sind wir beim alten Rom angelangt, und hier weiß schon jeder, welcher dessen Geschichte auch nur angesehen oder römische Münzen gehandhabt hat, daß eine ganze Anzahl von Abstracta es nicht nur zur Kunstform, sondern auch zum Kultus mit eigenen Tempeln gebracht hatte. Unversehens gerät man etwa auf die Idee, daß dergleichen dem trockenen, prosaischen Römervolk ziemlich leicht geworden sei. Aber der Tempel von Furcht und Erblassen (Pavor und Pallor) ist von König Tullus Hostilius in äußerster Kriegsgefahr gelobt worden, der der Bellona in heißer Etruskerschlacht von einem Consul, der von Ehre und Tapferkeit in furchtbarem Punierkampf von dem großen M. Marcellus, der der Concordia bei Beschwichtigung schwerer innerer Wirren von Camillus. Es muß also ein tieferer Ernst bei der Vergöttlichung solcher Wesen gewaltet haben. Freilich wurden ihrer allmählich eine große Anzahl, bis Vespasian der Pax, dem Frieden, einen der glänzendsten Tempel von Rom schuf, und was nicht bis zum Kultus gelangte, kommt doch personifiziert auf Münzen vor wie die drei Münzgöttinnen (Monetae) oder diese und jene Reichsstraße (Via) als Weib mit einem Rade, oder der jährliche Kornvorrat (Annona) als Frau mit Füllhorn und Kornmaß.

Die Kunstform dieser Wesen freilich, soweit wir sie kennen, ist längst keine rein römische, sondern eine griechisch-römische. Das weltherrschende Rom hatte die Kultur der Hellenen im allerweitesten Umfange sich angeeignet, und auch in der Kunst eine große und merkwürdige Fusion mit der griechischen vollzogen. Für die Moneta wurde die griechische Gestalt der Mnemosyne benützt.

Steigen wir nun eine letzte Stufe der Zeiten empor, um bei dem Kunstvolk aller Kunstvölker uns zu überzeugen, wie man es hier mit der Bildung der abstrakten Wesen gehalten. Kämen diese in der griechischen Kunst nicht vor, so hätte die ganze seitherige Plastik und Malerei in dieser Beziehung kein gutes Spiel. Denn die Welt hat sich gewöhnt in der Kunst von den Griechen die letzten Urteilssprüche anzunehmen. Der Reichtum und die Herrlichkeit ihres Olymps, die Lebendigkeit ihres Mythus, so scheint es nun, hätten ihnen die Allegorie völlig entbehrlich machen müssen; auch galten ihre Götter ja häufig, obwohl nicht immer genügend, schon als Fachgötter von Beziehungen des Menschenlebens und konnten die Allegorie vertreten, so wie sie oft dafür genommen werden bis heute. Und dennoch lernen wir die Griechen als sehr eifrige Allegoriker kennen. Das Bilden von Abstracta, welches uns Mühe macht, war bei ihnen ein populäres Vermögen, und die Allegorie brauchte hier nicht erst durch literarisch gebildete Leute dem Volke aufgeredet zu werden. Ohnehin hätte ihre Religion, wie sich bald zeigen wird, ohne Abstracta nicht völlig auskommen können.

Ihr Bewußtsein war dem Abstrahieren geneigt, und ihre Sprache verrät dies durch eine überreiche Fülle von Bildungen. Sodann werden schon sehr früh Kräfte der glückbringenden sowohl als der schrecklichen Art, Zustände, Leidenschaften zu persönlichen Gestalten, und die hesiodische Theogonie zählt ihrer ganze Scharen auf. Bei Homer besitzen einige dieser Kräfte eine bestimmte Handlungsweise samt Reflexionen und Entschlüssen. Die »Ate« (Schuld) hat in der Ilias einen umständlichen Mythus; Eris ist eine genau geschilderte Gestalt von ganz anderm Gewicht als die Discorde bei Voltaire und Boileau; die Bitten (Αιται) hat sich Homer als besondere, vom Bittenden abgetrennt handelnde Wesen vorzustellen vermocht. Im Gewissen anderer Völker ist das Schreckbild für einen Mörder die Gestalt des Ermordeten; hier tritt die Erinnys auf, die von ihrem Opfer getrennt gedachte Bluttat. In der Folge dringen handelnde Abstracta in die äsopische Fabel ein, und allen Dichtern ist die Anrede an abstrakte Wesen die geläufigste Sache; Pindar apostrophiert die Ruhe, die Zuverlässigkeit, die Wahrheit, die Botschaft und so weiter. Weltbekannt ist das szenische Auftreten von »Kraft« und »Gewalt« im Prometheus des Aeschylus, und zwar unterscheidet sich das mitleidlose Abstractum »Kraft« in Handeln und Reden von dem noch der Rührung fähigen konkreten Gott Hephästos. Das Lehrreichste in dieser Gattung bietet im »Rasenden Herakles« des Euripides die Gestalt des Wahnsinns ( Αυσσα), welche von der Pflicht ihrer Rolle völlig zu abstrahieren und ein davon getrenntes Bewußtsein auszusprechen vermag, indem sie zu ihrem Leidwesen und nur auf Heras Befehl den von ihr verehrten Helden überfallen muß. Der Komödie konnten solche Figuren bisweilen zu ihren Zwecken sehr dienlich sein; und bei Aristophanes finden sich als handelnde Personen Krieg und Kriegslärm, Armut und Reichtum, und in den »Wolken« die gerechte und die ungerechte Sache, beide ohne Zweifel in höchst barockem Aufzug, von den stummen Masken dieser Art nicht zu reden; was man aber auf der Szene sah, das konnte auch in der Abbildung nicht befremden.

Auch die Philosophie in ihrem frühern Stadium fühlt sich, zum Beispiel bei Empedokles, von Abstrakten umgeben, welche noch nahezu Personen und von eigentümlich mythischer Beschaffenheit sind.

Oft und relativ leicht erfolgt im griechischen Bewußtsein die Vergöttlichung des Abstractums, und zwar sobald ihm eine dauernde Macht zugetraut wird, wie Hesiod deutlich sagt. Die olympischen und übrigen Götter hatten wohl Fachpatronate, zugleich aber eine große Vieldeutigkeit. Und nun glaubte man in bestimmten Lagen und Augenblicken des Lebens etwas Göttliches als besonders mächtig oder tätig zu erkennen und wußte es doch auf keine sonst bekannte Gottheit sicher zu deuten; die Götterwelt, bei all ihrer Ausdehnung, war gerade an dem Punkt unvollständig, wo man ihrer am ernstlichsten bedurft hätte. Ein Abstractum gewährte die ersehnte Auskunft; es bedeutete nur, was sein Name besagte, dies aber sicher und klar; es erhielt einen Kultus des Dankes mit Wunsch nach fortdauernder Gewogenheit, oder einen Kultus der Furcht mit Wunsch fernem Unbehelligtlassens. Oefter sind ihrer zwei, weil man sich nicht getraut, mit einem Worte den ganzen Begriff zu erschöpfen und sicher gehen will. Gewiß sind manche Abstracta nur bei den Dichtern vergöttert, und namentlich Euripides ist freigebig mit solchen Apotheosen; aber eine große Anzahl hat wirklichen öffentlichen Kultus genossen, wenigstens in einzelnen Städten.

So die Gottheiten des Rechts: Themis, Dike, Eunomia; die der Sitte und Milde: Aidos, Eleos; die des Friedens: Eirene; dann die Gottheit der Beredung: Peitho, in doppeltem Sinn, in der Volksversammlung und im Leben des einzelnen. Nach dem Frevel gegen die Partei des Kylon errichteten die Athener Altäre der »Gewalttat« und des »Mangels an Scheu«. In Korinth gab es ein Heiligtum des Zwanges und der Gewalt, und noch ein spät-mazedonischer Korsar pflegte, wo er anlegte, Altäre der Gottlosigkeit und Ruchlosigkeit zu errichten.

Oefter befahl ein Orakel einen solchen Kult bei bestimmtem Anlaß, in Korinth den des Grauens ( Δειμα), in Sparta den der Furcht, des Todes, des Lachens; in Olympia, der Stätte der heftigsten Gemütsspannungen, hatte der günstige Moment ( Καιρος) seinen Altar am Eingang des Stadions. Timoleon, nach seinem Siege über die sizilianischen Tyrannen, baute einen Tempel der Automatia, und in seinem eigenen Bewußtsein mochte der Sinn dieser Gestalt schwanken zwischen »Zufall« und »innerm Antrieb«.

Nun versteht es sich nicht von selbst, daß eine Gottheit, welche Altar und Opfer besaß, auch bildlich dargestellt wurde, während andere, ohne Altar und Opfer, durch berühmte Bildwerke verherrlicht gewesen sind. Genug, daß schon die Religion wenigstens oft die Bildlichmachung verlangte, und daß ohnehin nach dem Vorgang der Poesie auch die Kunst vor der Verwirklichung des Abstrakten durchaus keine Scheu empfunden haben wird. In der erhaltenen Beschreibung eines berühmten Prachtstückes aus dem VII. Jahrhundert, des Kypseloskastens, finden wir unter anderm schon eine Allegorie in Aktion: ein schönes Weib trieb, würgte und schlug ein häßliches, und darunter waren Recht und Unrecht verstanden. Seuchen, an welchen die Kinder einer Stadt wegstarben, wurden gebildet als Pestweiber (Ποίναι); in Korinth war es das schon genannte Grauen oder Δεῖμα, als Statue, und zwar als schauerlich gestaltetes Weib. Als Anathem wahrscheinlich einer belagerten Stadt fand sich in einem Tempel zu Sparta ein Gemälde, welches den »Hunger« darstellte: ein blasses hageres Weib, die Hände auf den Rücken gebunden.

Von der Malerei und ihren Allegorien erfahren wir beinahe nur durch Nachrichten und dann nur zufällig, indem die meist summarischen Beschreibungen dergleichen am ehesten übergingen. So wird uns ein Bild aus ziemlich alter Zeit beschrieben, welches den als Bettler verkleideten Odysseus am Hofe des getäuschten Priamos darstellte; die Aufzählung der Figuren ist folgende: Priamos, Helena, die Leichtgläubigkeit, Odysseus, Deiphobos, Dolon; offenbar war das Abstractum an derjenigen Stelle eingereiht, wo ein innerer Vorgang dargestellt werden mußte, den die Kunst mit ihren noch einfachen Mitteln der bloßen Gebärde nicht erreichen konnte. Der Maler wird sich auch wohl nicht gescheut haben, den Namen beizuschreiben. Eine solche Beischrift findet sich wirklich auf der Dareiosvase des Museums von Neapel, und wir erfahren, daß die betreffende weibliche Gestalt der von der nahesitzenden Asia gegen Hellas ausgesendete Fluch (Ἀρά) ist. Und dies war lange nicht die einzige Darstellung dieses Abstractums; Demosthenes meldet wie folgt: »Die Maler in ihren Darstellungen des Haders pflegen die Gottlosen zu schildern, begleitet von den Gestalten des Fluches, der Lästerung, des Neides, der Empörung und des Zankes.«

Und welche kühne und für uns unerwartete Personifikationen wagte nicht die monumentale Skulptur! Im Vordergrund des griechischen Lebens stand lange das Treiben der Wettkämpfe zumal an den großen Festorten, und nun kam bald nach den Perserkriegen als Weihgeschenk nach Olympia eine Statue des Wettkampfes, des Agon selbst; der Künstler hatte unter den fünf Hauptgattungen des Kämpfens wählen müssen und sich für den Sprung entschieden, wie die Halteres oder Sprungkolben in den Händen der Figur bewiesen. Eben dort, in der Vorhalle des Zeustempels, stand eine Gruppe: Iphitos, der Neugründer der olympischen Spiele, bekränzt von der allegorischen Gestalt des Gottesfriedens (ἐκεχειρία), welchen der Festgau genoß. In Olympia fanden wir bereits auch den Altar des »günstigen Momentes«; die berühmteste Statue desselben aber stand im Vorhof eines Tempels zu Sikyon und war das Werk des großen Lysippos: es war die Gestalt eines Jünglings, dessen Haar am Occiput kurz geschoren war, vorne aber lang herabhing, weil man den günstigen Augenblick, die Gelegenheit, am Stirnhaar ergreifen müsse; in den Händen hielt er eine Wage, weil deren Zünglein gerne schwankt wie das Schicksal, ferner ein Schermesser, weil das Schicksal auf der Schärfe eines solchen steht; die Fersen seiner geflügelten Füße standen spitz auf einer Kugel, vielleicht als wollte er deren Rollen aufhalten. Mit Ausnahme der Wage, welche als Symbol und optisch erträglich ist, war hier alles übrige in absurder Weise auf sprichwörtliche Reden und übliche Metaphern gebaut, an welche man sich erst erinnern muß; die Griechen aber, als wortwitziges Volk, mögen die Statue mehr bewundert haben, als wir uns gerne denken.

Wieviel glücklicher war Kephisodot, der Vater des Praxiteles, als er für den Palast der Stadtbehörde von Athen die »Friedensgöttin« mit dem Knäblein »Reichtum« auf dem Arme schuf. Hier sprechen wir nach eigenem Anblick; denn die Glyptothek zu München besitzt eine wahrscheinliche Nachbildung des Werkes. Der überaus schöne und milde Kopf der Göttin hat nur einen leis matronalen Anflug; die Rechte mag man sich mit einem Szepterstabe denken. Von demselben Meister stammte auch derjenige Zyklus der Musen, welcher später am liebsten nachgebildet wurde; nun sind die Musen selbst keine Abstracta, sondern höhere Wesen, in welchen die Beglückung durch den Geist lebendig geworden; wohl aber ist ihre Mutter Mnemosyne, das »Erinnern«, eine echte Allegorie, und sie glaubt man zu erkennen in einer schön gedachten verhüllten Gestalt des vatikanischen Musensaales.

In manchem Tempel waren neben der Gottheit deren Verwandte, auch dienende Wesen mit aufgestellt, oft nur Eigenschaften, Prädikate der Gottheit selbst. Bei den Töchtern des Asklepios, des Heilgottes, sagen es ihre Namen: Gesundheit, Schmerzstillung, Heilung. Das herrlichste in diesem Sinne, aber für uns wohl auf ewig verloren, mögen zwei berühmte Dreiklänge gewesen sein, in einem Tempel zu Megara: Eros, begleitet von Sehnsucht und Verlangen, Werke des Skopas, und Aphrodite, begleitet von Ueberredung und Tröstung, Werke des Praxiteles.

Unter den im helikonischen Hain wunderbar zerstreuten Skulpturwerken befand sich auch die Gestalt der Mysterienweihe (τελετή), vielleicht ein Werk der besten Kunst und Allegorie höchsten Ranges. Unsere Phantasie wird schwerlich ausreichen, um uns auch nur eine Ahnung hievon zu gewähren Bemerkung B.'s: Zu übergehen Schlaf und Tod..

Seit dem Siege der Demokratie beginnen die politischen Allegorien, und zunächst taucht mehrmals die Gestalt der Ἀρετή, der Tugend, das heißt der Trefflichkeit im Staate auf. Schon ist von einer Kolossalgruppe, Arete und Hellas, die Rede.

Ganz vorzüglich aber gehört hierher die Gestalt des Demos, welche bereits von der Komödie in ihrer burlesken Weise ausgenützt worden war und nun, öfter in sehr großer Dimension, in den verschiedensten Städten aufgestellt wurde. Wenn die Stadt sich als solche verherrlichen wollte, so hatte man die weibliche Gestalt der Tyche; der Demos dagegen verherrlicht die siegreiche demokratische Partei. Wahrscheinlich, weil dann bei zeitweiligen Reaktionen solche Bilder zerstört wurden, weiß man nicht sicher, welches der Typus des Demos gewesen ist. Wir lassen ganz beiseite die Malereien, auch die bei Plinius so sonderbar beschriebene des Parrhasios, welcher die allerverschiedensten Charakterzüge in seiner Figur soll vereinigt haben; besäßen wir nur die Demosstatuen großer Meister, wie Leochares! Das Kolossalbild des Demos zu Sparta freilich kann erst in den elendesten Zeiten Lakedämons gesetzt worden sein, als es gar keinen echten spartanischen Staat mehr gab. Im III. Jahrhundert vor Christus kam zwischen zwei befreundeten Handelsstädten folgende Symbolik zustande: Die Syrakusier errichteten in ihrem rhodischen Bazar eine Gruppe des Demos von Syrakus, welcher den Demos von Rhodos bekränzte. Aber sechzig Jahre später stellten die Rhodier selbst in ihrem Athenetempel den Demos von Rom auf, dreißig Ellen hoch, gemäß ihrem Kolossalgeschmack.

Wieweit die Kraft der Charakteristik in den abstrakten Wesen ging, können wir schon deshalb nicht wissen, weil uns die ganze Tafelmalerei verloren gegangen ist, von welcher soeben ein rätselhaftes Meisterwerk erwähnt wurde. Neben einer vollendeten Beleuchtung, Abtönung, Modellierung stand ihr offenbar auch eine tiefe seelische Belebung und eine vielseitige Physiognomik zu Gebote. Ihre Meisterschaft verführte sie etwa auch zu einem Thema wie die Μὲθη, die Trunkenheit, in einem berühmten Gemälde des Pausias: man sah ihre Züge durch das Glasgefäß hindurch, aus welchem sie trank. Eine bedeutende Erfindung aber war die in genauer Beschreibung erhaltene Allegorie des berühmten Apelles von der Verleumdung, und diese Beschreibung hat in spätern Zeiten einem Sandro Botticelli und einem Rafael den Anlaß zur Nachdichtung geboten, auch einem Taddeo Zucchero, dessen Stich unser Hans Bock benützte, als er im Vorzimmer des heutigen Regierungsratssaales zu Basel sein großes Fresko entwarf. Ein törichter Herrscher, etwa König Midas, thront begleitet von Unwissenheit und Argwohn; vor ihn tritt heftig erregt ein schönes Weib, die Verleumdung, in der Linken eine flammende Fackel, mit der Rechten einen jammernden Jüngling an den Haaren schleppend; es geleitet sie ein blasser, abgezehrter, giftig blickender Kerl, der Neid; das weitere Gefolge sind zwei Zofen der Verleumdung, nämlich List und Täuschung; dann kommt in der Haltung der Trauer mit schwarzem, zerrissenem Kleide die Reue; weinend zurückgewandt sieht sie voll Scham die herannahende Wahrheit. Diese Komposition hatte jedenfalls in der Hauptgruppe ein höchst imposantes Motiv. Von andern Allegorien des Apelles erfahren wir, daß er in einem Triumph Alexanders den Krieg dargestellt hatte als einen beendigten mit auf den Rücken gebundenen Händen.

Glücklicher Weise ist wenigstens eine umständliche Allegorie, ein Marmorrelief erhalten, die Apotheose Homers im britischen Museum, zwar erst aus der Kaiserzeit, aber noch ein sehr zierliches Werk griechischer Kunst, von Archelaos von Priene. Die obern Teile mit Apoll, Zeus und den Musen sind leicht zu deuten; in der untersten Reihe aber ist der thronende Homer von lauter allegorischen Gestalten umgeben, welche einen gelehrten Beirat ahnen lassen und ohne die beigeschriebenen Namen selbst von den Zeitgenossen kaum würden verstanden worden sein. Recht poetisch knien zu beiden Seiten des Thrones Ilias und Odyssee, und auch das läßt sich noch hören, daß hinter dem Thron die bewohnte Erde und die Zeit stehen, weil Homers Ruhm beide erfüllt hat, daß ferner vor ihm der Knabe Mythos auftritt; die weitern Figuren aber: Historia, Poesie, Komödie, Tragödie, Physis, Arete, Mneme, Pistis und Sophia schmecken nach dem Schema einer Prunkrede, so hübsch sie künstlerisch gegeben sind.

In der Literatur selbst, wo man für keine Kunstform zu sorgen hatte, nahm später eine große Verschwendung von Allegorien überhand, gerade wie in der damaligen halbchristlichen Gnostik. Lucian verrät sich an vielen Stellen als Zeitgenossen dieser Gnostiker durch massenweises Auftreten abstrakter Figuren; nur spottet anderswo sein Tadelgott Momos selber über dergleichen Abstraktionen, wie Arete, Physis, Heimarmene, Tyche und so weiter und fragt den Zeus ganz keck, ob er diese Damen jemals selbst gesehen?

Ungern übergehen wir ganze große Gattungen von Allegorien, wie die der Elemente, der Tageszeiten und der sonstigen Zeitbestimmung, indem zum Beispiel schon allein die Personifikationen der Wasserwelt manches vom Schönsten enthalten haben müssen. Denn es gab zum Beispiel eine Thalassa (das Meer), welche, von Nereiden umgeben, die Aphrodite als meergeborenes Kind emporhielt, und in demselben Tempel (zu Korinth) eine Statue der Meeresstille (Galene).

Auch der Allegorien des Oertlichen können wir hier nur im Vorübergehen gedenken. Daß Quelle, Fluß, Gebirge, Insel in menschlichen Gestalten dargestellt wurden, lag nicht an einem Unvermögen, dergleichen abzubilden, sondern es war begründet in einem eigentümlichen Pandämonismus der Griechen. In den homerischen Hymnen spricht Leto mit der Insel Delos, Apoll mit dem Orakelquell Telphusa; in der bildenden Kunst aber lebte zugleich ein durchgehender Wille, nur menschliches oder tierisches Leben darzustellen.

Auf das, was die Natur geschaffen, folgt, was die Menschheit war und schuf: Die Stadt, die Nation, das Reich, alles, zumal seit Alexander oft in großen ambitiösen plastischen Werken. Die nicht seltenen Darstellungen der Hellas, in welcher die Künstler ihre eigene Nation geistig und leiblich geschildert haben müssen, sind untergegangen, während Roma in sehr stattlichen Bilderwerken fortlebt und die Provinzen wenigstens in zahlreichen Nachbildungen auf Münzen und Reliefs. In den griechischen Bildern der Städte wechseln zweierlei Typen: die stehende Glücksgöttin mit Füllhorn und Ruder, und eine sitzende Gestalt mit Mauerkrone und kenntlichen örtlichen Attributen.

Weit das wichtigste erhaltene Werk der letztern Art ist eine vatikanische Marmorstatue, Nachahmung eines berühmten Bronzewerkes von Eutychides. Wir sehen die verklärte Darstellung der großen Antiochia am Orontes; sie sitzt auf einem Fels als Andeutung der steilen Lage der Stadt, den Kopf auf den Arm und diesen auf den übergeschlagenen Schenkel gelehnt, den andern Arm rückwärts gestützt, in der denkbar anmutigsten Wendung; unter ihren Füßen taucht in halber Figur der jugendliche Flußgott Orontes empor. Ist es aber wirklich eine Allegorie?

Die spätern, äußerst abergläubigen Antiochener flüsterten sich eine Sage zu. Als König Seleukos, einer der gewaltigsten Marschälle des großen Alexander, die Stadt gründete, soll man deren künftiges Glück durch ein Menschenopfer habe sichern wollen; inmitten der anzulegenden Stadt, an vorbestimmtem Tage, bei Sonnenaufgang, hat der Weihepriester Amphion die schöne Jungfrau Aimathe geopfert; dann hat man ihre Gestalt in Erz gebildet und aufgestellt als Tyche, das heißt als vergötterte Darstellung der Stadt.

Und so würde vielleicht in jenem herrlichen Gebilde die Gestalt eines unglücklichen Mädchens fortleben, welches in hochkultivierter Zeit einem elenden Aberglauben zum Opfer gefallen und dann vergöttlicht worden wäre. Suchen wir eine harmlosere Grundlage für diesen Mythus: Oft mag eine berühmte Schönheit dem Bildner als Typus gedient haben, wenn er die Göttin ihrer Heimatstadt zu erschaffen hatte, und sie durfte in Glück und Ehren ausleben.


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