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Fünftes Buch.


Einleitungs-Kapitel,

welches Mr. Caxtons Warnung, nicht langweilig zu werden, enthält.

» Ich hoffe, Pisistratus,« sagte mein Vater, »du hast nicht im Sinne, langweilig zu werden?«

»Gott behüte! Was kann dich zu dieser Frage veranlassen? und wie sollte ich diese Absicht haben? Wenn ich langweilig bin, so bin ich es in lauterer Unschuld.«

»Du bringst da eine sehr lange Abhandlung über das Wissen,« sagte mein Vater wieder. »Sie ist zu lang. Ich würde sie weglassen.«

Ich blickte meinen Vater an, wie etwa ein byzantinischer Gelehrter einen Vandalen angeschaut haben würde. »Sie weglassen!«

»Sie hält die Handlung auf,« bemerkte mein Vater hartnäckig.

»Die Handlung! Aber eine Novelle ist ja kein Drama.«

»Nein, sie ist viel länger – ich möchte fast sagen, zwanzig Mal länger,« erwiderte Mr. Caxton mit einem Seufzer.

»Ich glaube in der That, meine Abhandlung über das Wissen steht in enger Beziehung zu meinem Gegenstande und bildet einen wesentlichen Bestandtheil desselben. Sie hält die Handlung nicht auf, sondern dient ihr vielmehr zur Erklärung und Erläuterung. Und ich kann mich nur wundern, Vater, daß du, ein Gelehrter und Beförderer des Wissens –«

»Genug – genug!« rief mein Vater. »Ich gebe nach – ich gebe mich gefangen! Was konnte ich auch Besseres erwarten, als ich mich zum Kritiker aufwarf! Und wann hat es je einen Schriftsteller gegeben, der nicht selbst gegen seinen leiblichen Vater in Harnisch gerieth, wenn dieser sich erlaubte, zu sagen: ›Laß dies weg!‹ Pacem imploro Ich erflehe Frieden. –«

Mrs. Caxton. – »Mein lieber Austin, ich bin gewiß, Pisistratus wollte dich nicht beleidigen, und ohne Zweifel wird er deinen Rath –«

Pisistratus. – »Für die Zukunft befolgen – gewiß! Ich will die Handlung beschleunigen und –«

»Mit der Novelle fortfahren,« flüsterte Roland, von seinem verzweifelten Rechnungsbuche aufblickend. »Wir haben an unserer Gerste zweihundert Pfund verloren.«

Bei diesen Worten tauchte ich meine Feder in die Tinte und ließ meine Gedanken in das »schöne Reich der Schatten« entschweben.


Zweites Kapitel.

» Halt!« rief eine Stimme, und Leonard war nicht wenig überrascht, als der Fremde, der ihn am vorhergehenden Abend angeredet hatte, in die Kutsche stieg.

»Nun, sagte Richard, »ich bin wohl nicht der Mann, den Sie zu sehen erwarteten? Lassen Sie sich Zeit, sich zu erholen.«

Mit diesen Worten nahm Richard ein Buch aus seiner Tasche, legte sich zurück und begann zu lesen. Leonard warf manchen verstohlenen Blick auf das schlaue, kühne und hübsche Gesicht seines Begleiters und erkannte nach und nach eine Familienähnlichkeit mit dem armen John, bei welchem trotz des Alters und der Gebrechlichkeit die Spuren einer ungewöhnlichen körperlichen Schönheit noch unverkennbar waren. Und mit jener raschen Gedankenverbindung, welche eine Eigentümlichkeit des mathematischen Talentes ist, kam der junge Forscher zu dem Schlusse, daß er seinen Onkel Richard vor sich habe. Er war jedoch bescheiden genug, dem Gentleman selbst die Wahl des Augenblicks zu überlassen, indem er es für passend finden würde, sich ihm zu erkennen zu geben, und hing schweigend den Gedanken nach, welche die Neuheit seiner Lage in ihm hervorrief.

Mr. Richard las mit merkwürdiger Schnelligkeit, wobei er die Blätter des Buches mit dem Federmesser aufschnitt oder zuweilen nur mit seinem Zeigfinger auseinander riß, wenn er es nicht vorzog, mehrere Seiten ganz zu überschlagen. So kam er im Galopp an das Ende des Bandes, warf ihn auf die Seite, zündete eine Cigarre an und begann zu sprechen.

Er richtete viele Fragen an Leonard in Bezug auf seine Erziehung und hauptsächlich über die Art, wie er seine Kenntnisse erworben habe, und Leonard, immer mehr in der Ueberzeugung bekräftigt, daß er mit einem Verwandten rede, antwortete ohne Rückhalt.

Es befremdete Richard nicht im mindesten, daß sich Leonard mit so geringer Hülfe so viele Kenntnisse erworben hatte, da er ja gleichfalls seine Ausbildung nur sich selbst verdankte. Er hatte zu lange mit unsern vorwärts drängenden Brüdern jenseits des atlantischen Oceans, die mit den Siebenmeilenstiefeln des Riesentödters die Welt durchschreiten, zusammen gelebt, um nicht von ihrem rühmlichen Lesefieber angesteckt worden zu sein; aber es war eine ganz andere Lectüre als diejenige, mit welcher sich Leonard vertraut gemacht hatte. Die Bücher, die er las, mußten neu sein; alte Bücher zu lesen, würde er für einen Rückschritt in der Welt gehalten haben, während, wie er sich einbildete, neue Bücher nothwendiger Weise auch neue Ideen enthalten mußten – freilich ein sehr allgemeiner Irrthum! Kurz, unser vom Glück gekrönter Abenteurer war der Mann seiner Zeit.

Endlich warf er, des Plauderns müde, Leonard das Buch zu, welches er soeben durchblättert hatte, zog seine Brieftasche nebst Bleistift heraus, fing an, sich mit sehr genauen geschäftlichen Berechnungen die Zeit zu vertreiben, und verfiel dann in eine Kette von Gedanken, die theils speculativer, theils ehrgeiziger Natur waren.

Leonard fand Interesse an dem Buch. Es war eine jener zahllosen halb statistischen, halb declamatorischen Schriften über den Zustand der arbeitenden Klassen, welche unser Jahrhundert besonders auszeichnen und wohl geeignet sein sollten, Reiche und Arme innig aneinander zu ketten, indem sie den Beweis liefern, welch' ernste Aufmerksamkeit unsere moderne Gesellschaft Allem schenkt, was auf die Wohlfahrt der niedern Klassen irgendwie Einfluß haben kann.

»Dummes Zeug – Theorien – Geschwätz!« sagte Richard, sich endlich seinen Träumereien entreißend; »es kann kein Interesse für Sie haben.«

»Ich glaube wohl, alle Bücher interessiren mich,« versetzte Leonard, »und dieses ganz besonders, da es sich auf die arbeitenden Klassen bezieht, zu denen ich selbst gehöre.«

»Zu denen Sie gestern gehörten, aber vielleicht morgen nicht mehr gehören werden,« entgegnete Richard, gut gelaunt ihm auf die Schulter klopfend. »Sehen Sie, mein Junge, der Mittelstand ist es, der im Lande das Steuerruder führen sollte. Was das Buch über die Unwissenheit der Ortsmagistrate sagt, ist sehr richtig; aber der Mann schreibt gewaltigen Unsinn, indem er die Zahl der Stunden bestimmen will, die ein freier Knabe in einer Fabrik arbeiten soll – nur zehn Stunden per Tag! Pah, so gingen der Nation zwei Stunden verloren! Arbeit ist Wohlstand; und wenn wir Leute finden könnten, die vierundzwanzig Stunden im Tage arbeiteten, so wären wir gerade noch einmal so reich. Wenn der Lauf der Civilisation fortschreiten soll,« fuhr Richard in hochtrabendem Tone fort,« so dürfen weder Männer, noch Knaben die ganze Nacht im Bette liegen und nichts thun.« Dann setzte er selbstgefällig hinzu: »Wir werden es doch zuletzt noch zu den vierundzwanzig Stunden bringen; wir müssen es – sonst können wir die Europäer nicht auf die Dauer ausstechen, wie es jetzt der Fall ist.«

Als sie vor dem Wirthshause anlangten, in welchem Richard zuerst Mr. Dale's Bekanntschaft gemacht hatte, fanden sie die Kutsche, mit welcher Richard die Reise fortzusetzen beabsichtigt hatte, bereits ganz besetzt, und so entschloß sich dieser, die Postchaise beizubehalten, jedoch nicht, ohne über die größere Ausgabe ärgerlich zu sein und den Postknechten unablässig den Befehl einzuschärfen, so rasch als möglich zu fahren.

»Ist das nicht ein langsames Land, trotz all' seiner Großthuerei!« rief er aus. »Entsetzlich langsam! Zeit ist Geld, das weiß man in den Vereinigten Staaten, denn dort ist Jeder Geschäftsmann. Wie könnte es aber auch anders als langsam in einem Lande hergehen, wo es ganze Haufen fauler, müssiger Lords, Herzoge und Barone gibt, die sich einzubilden scheinen, die Zeit sei nur zum Vergnügen da.«

Gegen Abend näherte sich die Postchaise dem Weichbilde einer sehr großen Stadt, und Richard begann jetzt unruhig zu werden. Seine cavaliermäßige Nachlässigkeit verschwand; er zog die Beine, welche er behaglich zum Schlag hatte hinaushängen lassen, herein, brachte seine Weste in Ordnung und schnallte seine Halsbinde fester; offenbar bemühte er sich, eine achtbare, standesgemäße Würde anzunehmen. Er glich einem Monarchen, der nach einer glücklichen Incognitoreise in seine Hauptstadt zurückkehrt. Aus all' diesen Anzeichen zog Leonard den Schluß, daß sie sich dem Ziel ihrer Reise näherten.

Demüthige Fußgänger schauten jetzt auf den Wagen und griffen an ihre Hüte. Richard erwiderte die Begrüßungen mit einem Kopfnicken, welches eher herablassend als freundlich war. Jetzt machte die Chaise eine rasche Biegung nach links und hielt vor einem neuen, blendend weiß getünchten Pförtnerhäuschen, das durch zwei dorische Säulen in Stuck verziert und zu beiden Seiten von Flügelthoren begrenzt war.

»Holla!« rief der Postillon und knallte mit der Peitsche. Zwei Kinder spielten vor dem Pförtnerhäuschen, und einige Kleidungsstücke hingen zum Trocknen auf den Büschen und Pfählen, die das hübsche Gebäude umgaben.

»Zum Henker mit der Brut! Da spielen sie wahrhaftig schon wieder!« brummte Dick. »Und so wahr ich lebe, die Person hat wieder gewaschen! Halt, Kutscher!«

Während dieses Selbstgesprächs war eine hübsche junge Frau zur Thüre herausgeeilt, hatte die Kinder, welche beim Anblick der Kutsche auf das Haus zuliefen, hineingejagt, vor Schrecken zitternd eines der Flügelthore geöffnet und verbeugte sich nun so tief, daß es fast aussah, als wollte sie vor dem grimmigen Gesichte, das ihr Gebieter zum Wagenfenster hinaussteckte, ganz in den Boden versinken.

»Habe ich Euch nicht schon oft gesagt,« begann Dick, »daß Eure schmutzige, unanständige Brut nicht vor meinem Portale spielen soll?«

»Verzeihung, Sir –«

»Keine Widerrede! Und habe ich Euch nicht gesagt, daß ich Euch, wenn Ihr wieder meinen spanischen Flieder zum Wäschetrocknen mißbrauchen würdet, über Hals und Kopf zum Hause hinauswerfen wolle?«

»Verzeihung, Sir –«

»Ihr verlaßt nächsten Sonntag mein Pförtnerhaus! Fahr zu, Bursche! Die Undankbarkeit und Unverschämtheit dieses gemeinen Volkes ist eine Schmach für die Menschennatur,« brummte Richard im Tone des bittersten Menschenhasses.

Die Kutsche rollte auf dem glattesten und frischesten Kieswege durch Felder des trefflichsten Landes, das sich auf der höchsten Stufe der Cultur befand. So schnell auch Leonard's Blick darüber hinstreifte, so genügte dies doch seinem in wirtschaftlichen Dingen geübten Auge, um die Merkmale eines meisterhaften Feldbaues zu erkennen.

Bisher hatte er des Squires Musterfarm für das Vollendetste im Fache einer guten Feldwirtschaft gehalten; denn Jackeymo's geschmackvolle, aber nur in sehr kleinem Maßstab ausgeführte Gartenanlagen konnte man nicht mit diesem Namen bezeichnen. Aber gleichwohl war der Meierei des Squires durch viele altmodische Vorstellungen und ästhetische Rücksichten, die man heutzutage bei keiner Musterwirtschaft mehr findet, Eintrag geschehen – zum Beispiel durch hohe, zwanglose Hecken, die, wenn sie auch zu den malerischsten Schönheiten Altenglands gehören, doch dem Ertrage bedeutenden Abbruch thun – durch große Bäume, die das Korn überschatten und den Vögeln zur Herberge dienen – durch kleine unbenutzte und verwilderte Rasenstücke und durch Waldausläufer zwischen den Feldern, welche dieselben den Verwüstungen der Kaninchen aussetzen und ihnen das Sonnenlicht entziehen.

Auf solche und ähnliche Mängel in dem Betriebe des grundherrlichen Gutes war Leonard theils durch seinen eigenen Verstand, theils durch Jackeymo's Belehrungen aufmerksam geworden. Aber keiner dieser Fehler war auf Richard Avenel's Besitztum wahrzunehmen. Die Felder lagen da in ausgedehnten Parzellen, die Hecken waren so beschnitten, daß sie blos ihrer ursprünglichen Bestimmung, als Grenzen zu dienen, entsprachen. Kein Waizenhalm verkümmerte unter dem kalten Schatten eines Baumes, kein Fußbreit Landes lag brach; nirgends war die geringste Spur von Unkraut zu sehen, und keine Distel streute ihren schädlichen Samen in die Luft. Einige junge Pflanzungen befanden sich nicht an Stellen, wohin ein künstlerischer Parkgärtner sie gesetzt haben würde, wohl aber da, wo der Landmann einen Schutz gegen den Wind brauchte.

Lag hierin nicht auch eine Schönheit? Ja, und zwar eine Schönheit eigener Art, die der Eingeweihte auf den ersten Blick zu würdigen wußte – eine Schönheit in Nutzbarkeit und Ertrag, die eine ungeheure Rente abzuwerfen versprach. Leonard stieß einen Ruf der Bewunderung aus, der Richard Avenel in's Innerste des Herzens drang.

»Das nenne ich Landwirtschaft treiben!« sagte der junge Dörfler entzückt.

»Glaub's wohl,« versetzte Richard, dessen üble Laune plötzlich verschwunden war. »Sie hätten das Land sehen sollen, als ich es kaufte. Aber wir neuen Leute Siehe Anm. 233., wie sie uns nennen (verdammt sei ihre Unverschämtheit!), wir sind das neue Blut dieses Landes.«

Nie hatte Richard Avenel ein wahreres Wort gesprochen. Möge dieses neue Blut lange durch die Adern der gewaltigen Riesin kreisen; möge aber auch ihr großes Herz dasselbe bleiben, wie es eine stolze Reihe von Jahrhunderten hindurch geschlagen hat!

Der Wagen fuhr jetzt durch eine hübsche Anpflanzung von Gesträuch, und allmälig wurde das Haus sichtbar. Es hatte eine gewölbte Vorhalle und die Nebengebäude waren alle sorgfältig den Blicken verborgen.

Der Postillon stieg ab und zog die Klingel.

»Ich glaube fast, man will mich warten lassen,« sagte Richard Avenel nahezu mit den Worten Ludwig's des Vierzehnten Der Ausspruch »J'ai failli attendre« gilt inzwischen als historisch nicht verbürgt.

Allein diese Besorgniß verwirklichte sich nicht. Die Thüre ging auf und ein wohlgenährter Livreebedienter erschien. Auf seinem Gesichte lag kein herzliches Lächeln des Willkomms; aber er öffnete den Kutschenschlag mit stummer, feierlicher Ehrerbietung.

»Wo ist Georg? Warum kommt er nicht herunter?« fragte Richard, langsam aussteigend und sich so vorsichtig auf den dargebotenen Arm des Dieners stützend, als ob er die Gicht hätte.

Glücklicher Weise wurde jetzt auch Georg sichtbar, der sich eilig in seine Livree geworfen hatte.

»Seht Ihr Beide nach meinen Sachen!« befahl Richard, während er den Postillon bezahlte.

Leonard stand auf dem Kiesweg und betrachtete das im Viereck gebaute weiße Haus.

»Hübsche Fronte – classisch – nicht?« sagte Richard, der zu ihm trat. »Aber Sie müssen erst die Wirtschaftsgebäude sehen!«

Dann nahm er mit zutraulicher Freundlichkeit Leonard's Arm und zog ihn mit sich in's Haus. Hier zeigte er ihm die Halle mit einem geschnitzten Mahagonyständer, um die Hüte daran zu hängen, führte ihn hierauf in das Besuchzimmer und machte ihn auf alle Schönheiten desselben aufmerksam. Obgleich es Sommer war, so sah der Salon doch kalt und ungemütlich aus, wie dies bei neu möblirten und neu tapezirten Zimmern in neu gebauten Häusern gewöhnlich der Fall ist. Die Möbel waren schön und dem Range eines reichen Geschäftsmannes angemessen – nichts Anspruchsvolles und deßhalb auch nichts von Gemeinheit, was mehr ist, als man von dem Hause mancher ehrenwerthen Mrs. Soundso in Mayfair sagen kann, die ihre zwölf Fuß im Quadrat haltenden Zimmer mit Rococo überladet, das besser für einen Salon in den Tuilerien passen würde.

Dann zeigte ihm Richard seine Bibliothek, wo die schön gebundenen Werke der neuesten Schriftsteller hinter Spiegelglas in Mahagonyschränken standen. Denn die neuen Leute sind weit bessere Freunde lebender Autoren als die alten Familien, die auf ihren Landsitzen sich höchstens in einem Leseclub abonniren.

Richard führte nun unsern jungen Freund die Treppe hinauf und durch die Schlafgemächer, welche insgesamt reinlich, behaglich und mit jeder modernen Bequemlichkeit ausgestattet waren, bis er endlich in einem sehr hübschen Zimmer, das für einen einzelnen Herrn eingerichtet schien, stehen blieb.

»Das ist Ihre Höhle,« sagte er. »Und nun – können Sie errathen, wer ich bin?«

»Niemand anders, als mein Onkel Richard, könnte so gütig sein,« erwiderte Leonard.

Aber es schien als ob sich Richard durch dieses Kompliment nicht sehr geschmeichelt fühlte. Er war äußerst enttäuscht und verdrießlich. Er hatte gehofft, wenigstens für einen Lord gehalten zu werden, ungeachtet er vorhin so geringschätzig von der Aristokratie gesprochen hatte.

»Puh!« sagte er endlich, sich auf die Lippen beißend – »du findest also nicht, daß ich wie ein Gentleman aussehe? Nun, sage mir's aufrichtig.«

Leonard bemerkte mit Erstaunen, daß er seinen Onkel beleidigt hatte, und erwiderte mit dem seinen Takte, der instinktartig aus einem guten Herzen quillt:

»Sir, ich beurtheile Sie nach Ihrer Güte und nach Ihrer Aehnlichkeit mit meinen Großvater – sonst hätte ich es nie gewagt, mir einzubilden, daß ich mit Ihnen verwandt sein könnte.«

»Hm!« erwiderte Richard. »Du kannst dir jetzt die Hände waschen und dann zum Diner hinunterkommen; in zehn Minuten wirst du den Gong anschlagen hören. Dort ist der Glockenzug; läute, wenn du etwas bedarfst.«

Mit diesen Worten drehte er sich um, stieg die Treppe hinunter, warf einen Blick in das Speisezimmer und bewunderte den platirten Präsentirteller auf dem Seitentische und die silbernen Löffel und Gabeln, die nach Mustern auf der königlichen Tafel gefertigt waren. Dann trat er vor den Spiegel über dem Kamin und stieg auf einen Stuhl, um den Effect seiner ganzen Gestalt beurtheilen zu können. Eben hatte er eine Stellung angenommen, die ihm imponirend däuchte, als der Kellermeister eintrat. Dieser jedoch, als wohlerzogener Londoner, besaß Klugheit genug, um den Rückzug zu versuchen, ehe er bemerkt wurde. Allein Richard hatte ihn bereits im Spiegel gesehen und erröthete bis über die Ohren.

»Jarvis,« sagte er in mildem Tone – »Jarvis, erinnere mich daran, daß ich mir diese Beinkleider verändern lasse.«


Drittes Kapitel.

Da eben von Beinkleidern die Rede ist, so muß ich bemerken, daß Richard nicht unterließ, seinen Neffen mit einer Garderobe zu versehen, die viel zu vollständig war, als daß sie in Doctor Riccabocca's Reisesack Platz gefunden haben würde. Die Stadt besaß einen sehr guten Schneider und die Kleider waren vortrefflich gemacht. Ueberhaupt hätte jetzt Leonard, wäre nicht seine unschuldige Miene und seine, trotz aller Stadien und Nachtwachen noch immer geröthete und sonnverbrannte Wange gewesen, beinahe an White's Adelsclub auf der St. James Street. Bogenfenster vorbeigehen können, ohne eine geringschätzige Bemerkung auf sich zu ziehen.

Richard brach in ein unmäßiges Gelächter aus, als er zum erstenmal die Uhr sah, welche der arme Italiener Leonard geschenkt hatte; um jedoch sein Lachen wieder gut zu machen, gab er ihm eine sehr hübsche Stellvertreterin und rieth ihm, »seine Rübe einzuschließen.« Den Jüngling schmerzte der Spott über das von seinem alten Beschützer erhaltene Andenken weit mehr, als er sich über das Geschenk seines Onkels freute. Allein Richard Avenel wußte nichts von Gefühlsrücksichten, und es währte geraume Zeit, ehe sich Leonard mit dem Benehmen seines Onkels aussöhnen konnte.

Nicht als ob der junge Landmann über die rein conventionellen Fehler hätte urtheilen können; aber es gibt eine schlechte Lebensart, für die wir Alle, welches auch unser Rang und unsere Erziehung sein mag, beinahe gleich empfindlich sind – ich meine diejenige, welche aus Mangel an Rücksicht für Andere hervorgeht. Obgleich der Squire in seiner Art ebenso ungezwungen war wie Richard Avenel, so verletzte der Erstere doch selten die Gefühle Anderer, und wenn es je geschah, so bemerkte er es sogleich und beeilte sich, sein Versehen wieder gut zu machen.

Richard hingegen, mochte er nun gut oder übel gelaunt sein, verletzte oft genug diese oder jene zarte Saite seiner Umgebung – nicht aus bösem Willen, sondern weil es in seinem eigenen Wesen keine zarte Saite gab. In manchen Beziehungen war er unstreitig ein ganz ausgezeichneter Mann und ein sehr werthvoller Bürger. Aber seinen Verdiensten fehlte jenes seine Colorit und jene leichte Wellenlinie, die zur Schönheit des Charakters gehören. Er war ehrenhaft, dabei aber genau in seinen Geschäften, und behielt stets seinen Vortheil scharf im Auge. Seine Gerechtigkeit war geschäftsmäßiger Natur und ließ der Liebe und Barmherzigkeit keinen Spielraum. Auch wußte er nichts von Nachsicht. Daß er sich freigebig erwies, entsprang mehr aus dem Gedanken an das, was er sich selbst schuldig zu sein glaubte, als aus dem Wunsche, Andern Freude zu bereiten, und die Großmuth erschien ihm als ein auf Zinsen ausgeliehenes Kapital. Er rechnete dafür auf eine sehr große Dankbarkeit und glaubte, wenn er Jemand eine Wohlthat erwiesen, sich in ihm einen Sclaven erkauft zu haben. Jeder bedrängte Stimmberechtigte wußte wohl, an wen er sich zu wenden habe, wenn er eine Unterstützung oder ein Anlehen bedurfte; aber wehe ihm, wenn Mr. Avenel ihm erklärte, für wen er zu stimmen habe, und er sich eine Einwendung oder ein Zögern erlaubte.

Richard hatte sich nach seiner Rückkehr aus Amerika, wo er anfänglich durch seinen Verstand und Fleiß und später durch kühne, vom Glück begünstigte Unternehmungen reich geworden war, in dieser Stadt niedergelassen, um sein Vermögen vorteilhaft umzutreiben. Zuerst betheiligte er sich an einer großen Brauerei, kaufte aber bald die übrigen Theilhaber aus und wurde dann Hauptactionär einer Kunstmühle, die sehr gut im Gange war. Seine Unternehmungen gediehen schnell, so daß er sich bald in der Lage befand, ein Grundstück von zwei bis dreihundert Morgen erwerben zu können. Hier ließ er ein hübsches Wohngebäude aufführen und beschloß, sich gütlich zu thun und eine Rolle zu spielen.

Er war nach und nach die Hauptperson in der Stadt geworden und hatte in der That seine Macht durchaus nicht überschätzt, als er Audley Egerton gegenüber prahlte, er könne einen, wenn nicht beide Abgeordnete der Stadt durchsetzen. Auch war der Vorschlag, den er damals dem Minister gemacht, nach seiner Ansicht keineswegs so grundsatzlos, wie er dem Staatsmann erschien.

Er hatte gegen die beiden städtischen Vertreter einen starken Widerwillen gefaßt, welcher bei einem empfindlichen Manne von gemäßigter politischer Gesinnung, der etwas zu verlieren hat, sehr natürlich war; denn Mr. Slappe Engl. slap: Klaps., der Volksmann, der bis über die Ohren in Schulden steckte, war einer jener wüthenden Demokraten, wie sie vor der Reformbill Siehe Anm. 100. nur selten auftauchten, und deren Ansichten selbst der Masse der liberalen Wählerschaft gefährlich erscheinen mußten; während Mr. Slerkie Assonanz an engl. lurk: lauern, und engl. slur: verleumden. von der liberalen Herrenpartei, der jedes Jahr fünftausend Pfund von dem Ertrag seiner Papiere zurücklegen konnte, zu jenen Leuten gehörte, welche Richard sehr bezeichnend » humbugs« (Schwindler) zu nennen pflegte; ein Mann, der dadurch um die Gunst der Ultras buhlte, daß er stets für Maßregeln stimmte, deren Unausführbarkeit sich von Anfang an voraussehen ließ, während er jedesmal von einem rechtzeitigen Catarrhfieber befallen wurde, wenn auch nur die geringste Möglichkeit vorhanden war, daß durch einen Beschluß der Geldmarkt beeinträchtigt werden könnte.

Solche Politiker sind heutzutage häufig genug. Schlagt Ihr ihnen vor, sie sollen dem tausendjährigen Reiche entgegenrücken Im Original: march to the Millennium. – Die Wendung »zum tausendjährigen Reich« hat Winterfeld offensichtlich von Carl Kolb übernommen; der Begriff Millennium hat im Englischen jedoch nicht jenes Nationale, das Kolb ihm unterlegt, sondern bedeutet lediglich »Jahrtausend« oder »tausend Jahre«. Czarnowski setzt deshalb, mit Rücksicht auf die spätere Viertelmeile, »tausend Meilen«., so sind sie die Männer dafür; fordert Ihr sie aber auf, auch nur eine Viertelmeile weit zu gehen, so wandelt sie die Angst um ihre Geldsäcke an, und sie zittern aus Furcht vor Straßenräubern. Nie sind sie so vergnügt, als wenn keine Aussicht auf einen Sieg vorhanden ist, und wenn unwillkürlich durch ihre Stimmen das Ministerium geschlagen würde, so müßte man sie ohnmächtig nach Hause trugen.

Richard Avenel, der diese beiden Herren verachtete, auch nicht freundlich gegen die Whigs gesinnt war, seit deren Hauptführer aus Lords bestanden, hatte die damalige Regierung mit wohlwollendem Auge betrachtet und stimmte besonders mit Audley Egerton, dem aufgeklärten Vertreter der Handelsinteressen übereilt. Aber indem er für Audley und dessen Collegen aus innerer Ueberzeugung seinen Einfluß aufbot, hielt er es für recht und billig, daß er ein quid pro quo Lat. für »dies für das«; Rechtsgrundsatz und ökonomisches Prinzip, nach dem eine Person, die etwas gibt, dafür eine angemessene Gegenleistung erhalten soll. erhalte, und wie er es aufrichtig gestanden hatte, so war es sein Lieblingsgedanke, sich zu einem »Sir Richard« aufzuschwingen. Dieser würdige Staatsbürger schimpfte auf die Aristokratie aus demselben Grunde, aus welchem die schöne Olivia so geringschätzig von Squire Thornhill In The Vicar of Wakefield von Oliver Goldsmith (siehe Anm. 120) ist Olivia eine der Töchter von Dr. Charles Primrose, der Haupt- und Titelfigur; der (vermeintliche) Frauenheld Squire Thornhill lässt Olivia gegenüber seinen Charme spielen. sprach: Er wäre für sein Leben gern das gewesen, was er schmähte.

Die Gesellschaft von Screwstown »Stadt der ›Geschraubten‹«. bestand, wie dies in Provinzialhauptstädten gewöhnlich der Fall ist, aus zwei Klassen: der Handelswelt und den Exclusiven. Diese Letzteren wohnten größten Theils um die sehr alte, zerfallene Abtei herum, und schrieben auch ihrem Stammbaum ein derselben entsprechendes Alter zu, während wiederum der Zustand ihrer Finanzen viele Aehnlichkeit mit der Ruine hatte. Wittwen von Landedelleuten aus der Nachbarschaft, alte adelige Fräuleins, Offiziere auf halbem Solde, jüngere Söhne reicher Squires, die jetzt alte Hagestolze geworden waren – kurz, ein sehr achtungswerther, stolzer, aristokratischer Schlag, der größere Stücke auf sich hielt als die Gowers und Howard's, Courtenays und Seymours zusammengenommen.

Früher hatte Richard Avenel den ehrgeizigen Wunsch gehegt, in diese geschlossene, vornehme Gesellschaft aufgenommen zu werden, und merkwürdiger Weise war ihm dies zum Theil auch gelungen. Nie fühlte er sich glücklicher, als wenn er wirklich dort war. Verschiedene Umstände vereinigten sich, um Mr. Avenel den Zugang zu diesen hohen Kreisen zu erschließen. Erstlich war er unverheirathet und noch immer ein schöner Mann, während es in dieser Gesellschaft eine große Anzahl unversorgter Damen gab. Zweitens war er der einzige reiche Kaufmann in Screwstown, der einen guten Koch hielt und im Rufe stand, vorzügliche Diners zu geben; und die Halbsoldkapitäne und Obristen verschluckten den Wirth dem Wildpret zulieb. Drittens und hauptsächlich aber verabscheuten alle diese Exclusiven die beiden Parlamentsmitglieder, und » idem nolle, idem velle de republica, ea firma amicta est« –das heißt, »gleiche politische Gesinnung verbindet Porzellan und Thonscherben inniger als der beste Demantkitt.«

Richard Avenel, der sich so viel auf seine amerikanische Unabhängigkeit einbildete, hatte eine wahrhaft braminische Ehrfurcht vor diesen Damen und Herrn. Ob dies daher kam, daß in England alle Begriffe, selbst die der Freiheit, historisch, traditionell und social mit jenem feinen Elemente der Aristokratie gemischt sind, welches, gleich der Presse, die Luft ist, die wir athmen – oder ob Richard glaubte, daß er wirtlich magnetisch durchdrungen werde von den Tugenden jener Silberpennies und goldenen Siebenschillingstücke, die sich so sehr von den gewöhnlich im Umlauf befindlichen Münzen unterscheiden, ist schwer zu bestimmen.

Allein die Wahrheit zu sagen, Richard war allgemein als ein Titel- und Ordensjäger bekannt. Er wünschte sehnlich, sich mit einer Dame aus der vornehmen Welt zu verbinden, hatte aber noch keine gefunden, die in Bezug auf hohe Geburt und Bildung alle seine Ansprüche befriedigt hätte. Mittlerweile war er zu der Ueberzeugung gelangt, daß sich die Sache leichter machen dürfte, wenn er seiner dereinstigen Erwählten den Titel » Mylady« würde anbieten können, und er fühlte, daß es die schönste Stunde seines Lebens wäre, wenn er als »Sir Richard‹ den Vortritt vor dem steifen Oberst Pompley Engl. pomp: Prunk, Pracht. erhalten würde.

Wie sehr ihn übrigens auch der schlechte Erfolg seiner plumpen Diplomatie bei Audley Egerton kränkte, und welchen Groll er auch gegen diesen Letzteren hegte, so schwor er doch nicht, wie mancher Andere an seiner Stelle gethan haben würde, aus persönlichem Hasse seine politische Ueberzeugung ab, sondern sparte seine Rache auf eine günstige Gelegenheit auf und fuhr fort, die Regierung zu unterstützen und einen der Minister zu hassen. Da außerdem Audley Egerton den Vorstellungen des Bürgermeisters und der Deputaten volle Rechnung getragen und seinen Gesetzesentwurf nach ihrem Sinne ausgefertigt hatte, so war Richard sammt der Regierung bedeutend in der guten Meinung der Bürger von Screwstown gestiegen.

Um aber Richard Avenel's Werth im Gegensatz zu seinen Schwächen nach Gebühr zu würdigen, mußte man sehen, was die Stadt ihm verdankte. Wohl durfte er sich des »neuen Blutes« rühmen, denn er hatte für die Stadt so viel gethan, wie für seine Felder. Seine Energie, seine rasche Auffassung alles dessen, was den allgemeinen Nutzen betraf, hatte, unterstützt durch seinen Reichthum und seinen kühnen, trotzigen, gebieterischen Charakter, das Werk der Civilisation mit der Schnelligkeit und Gewalt einer Dampfmaschine gefördert.

Wenn die Stadt so gut gepflastert und beleuchtet war – wenn man an der Stelle eines halben Dutzends kothiger Gäßchen eine stattliche Straße erblickte – wenn die Hälfte der Einwohnerschaft sich nicht mehr mit Teichwasser begnügen mußte – wenn die Armensteuer auf ein Drittel ihres früheren Betrags reducirt war – so verdankte man dies dem raschen, neuen Blute, das Richard Avenel dem Gemeinde- und Stiftungsrath eingeflößt hatte. Und dabei wirkte sein Beispiel ansteckend.

»Als ich in die Stadt kam, war noch keine einzige Scheibe Spiegelglas zu erblicken,« sagte Richard, »und jetzt sehe man einmal die Hauptstraße hinab!« Mit Recht schrieb er sich das Verdienst dieser Verschönerung zu; denn obwohl sein Geschäft keiner Spiegelglasfenster bedurfte, so hatte er doch jenen Unternehmungsgeist geweckt, der einer ganzen Stadt zur Zierde gereicht.

Mr. Avenel ließ mehr als vierzehn Tage verstreichen, ehe er Leonard seinen Freunden vorstellte. Er sollte sich erst ein wenig abschleifen. Dann gab er ein großes Mittagsmahl, bei welchem er seinen Neffen förmlich vorstellte, der jedoch zu des Onkels großem Verdruß und Aerger die Lippen nicht ein einziges Mal öffnete. Was hätte der arme Junge aber auch sprechen sollen, da Miß Clarina Mowbrey Homophon zu Mowbray, dem Namen eines der alten normannischen Adelsgeschlechter Englands. nur von der vornehmen Welt redete, bis der stolze Oberst Pompley in prunkhafter Weise die Geschichte der Belagerung von Seringapatam Mit der Belagerung von Seringapatam (1799) endete der Vierte Mysore-Krieg zwischen der Britischen Ostindien-Kompanie und dem Königreich von Mysore. Die Briten konnten mit der Erstürmung der Stadt einen klaren Sieg erringen. zum Besten gab!


Viertes Kapitel.

Während sich Leonard allmälig an die ihn umgebende Pracht gewöhnt und oft mit einem Seufzer seiner mütterlichen Hütte und des funkelnden Springbrunnens in dem Blumengarten des Italieners gedenkt, wollen wir, mein lieber Leser, rasch nach der Weltstadt fliegen und uns unter den heitern Gruppen niederlassen, die über die staubigen Rasenplätze von Hydepark wandern oder sich über das Wegegeländer lehnen.

Die Saison ist noch auf ihrem Höhepunkt; aber der kurze Tag des fashionablen Londoner Lebens, der erst zwei Stunden nach Mittag beginnt, nähert sich seinem Ende. Das Gedränge in Rotten Row Langer Reitweg am südlichen Ende des Hyde Parks. Der irreführende Name ist eine Verballhornung des älteren französischen Namens »route du roi«, oder Weg des Königs: Im 17. Jahrhundert wurde dieser Weg sehr oft von Wilhelm III. als direkte Verbindung vom Palast in Kensington zum St. James's Palace genutzt. fängt an, sich zu verlieren. In der Nähe der Achillesstatue Dieses Monument im Hyde Park wurde 1822 zu Ehren des Waterloo-Siegers, Herzog Wellington, errichtet., von allen übrigen Spaziergängern abgesondert, mit der einen Hand auf sein Meerrohr Engl. cane: Gehstock. gestützt, während die andere in seiner Westentasche steckt, blickt ein Gentleman gleichgültig auf den glänzenden Kreis der Equipagen und Reiter. Er steht noch in der Blüthe seines Lebens, in dem Alter, in welchem der Mann am geselligsten zu sein pflegt. Die Bekanntschaften der Jugend sind zur Freundschaft herangereift, und eine Persönlichkeit von einigem Rang und Vermögen ist zu einem wohlbekannten Zuge in dem beweglichen Gesichte der Gesellschaft geworden. Obgleich jedoch dieser Mann als der erste der Tonangeber in der Modewelt geglänzt hatte, indeß seine Altersgenossen noch als Knaben in der Schule saßen – obgleich er durch Natur und äußere Verhältnisse noch immer alle Eigenschaften besitzt, diese Stellung bis auf's Letzte zu behaupten oder sie gegen einen gediegenern Ruf zu vertauschen, so steht er doch jetzt als Fremdling unter der Menge seiner Landsleute. Schönheiten wirbeln an ihm vorüber zu ihrer Toilette; Staatsmänner gehen nach dem Senat; Stutzer machen sich auf den Weg nach ihren Clubs, und kein Kopfnicken, kein einladendes Lächeln sagt dem einsamen Zuschauer: »Geh' mit uns – du bist einer der Unserigen!« Hin und wieder nähert sich ein im mittleren Alter stehender Geck dem Posten des müssigen Mannes und schaut sich, wenn er vorbei ist, nach ihm um; aber mit dem zweiten Blick scheint er seine Täuschung einzusehen und setzt schweigend seinen Weg fort.

»Bei den Gräbern meiner Väter!« sagte der Einsame zu sich selbst, »jetzt weiß ich, was ein Todter fühlen würde, wenn er wieder auf diese Erde zurückkehrte und sich unter den Lebenden umschaute.«

Die Zeit verging und die Schatten des Abends lagerten sich über der Gegend. Unser Fremdling in London befand sich nun beinahe allein im Parke. Er schien jetzt freier aufzuathmen, als er den Platz so gelichtet sah.

»Jetzt ist Sauerstoff in der Atmosphäre,« sagte er halblaut, »und ich kann spazieren gehen, ohne das Stickgas der Menge zu athmen! O die Chemiker, was sind sie nicht für Thoren! Sie lehren uns, daß die Menge die Luft verderbe, aber sie errathen nie, warum. Pah! nicht der Hauch der Lunge ist es, der das Element vergiftet, sondern der Qualm, der aus den schlechten Herzen steigt. Wenn so ein Perückenkopf mich anhaucht, so meine ich, einen ganzen Mund voll Sorgen einzuathmen. Komm, Freund Nero! laß uns ein wenig herumgehen!«

Er berührte mit seinem Spazierstock einen großen Neufundländer Hund, der zu seinen Füßen lag, und Mann und Hund wandelten nun langsam in der einbrechenden Dämmerung über den dürren, braunen Rasen. Endlich machte unser Einsiedler Halt und warf sich auf eine Bank unter einem Baume.

»Halb neun,« sagte er, auf seine Uhr blickend. »Jetzt werde ich wohl eine Cigarre rauchen können, ohne der Welt ein Aergerniß zu geben.«

Er zog sein Cigarrenetui heraus, schlug Feuer und hatte sich im nächsten Augenblick der Länge nach auf der Bank ausgestreckt, anscheinend ganz in die Betrachtung der Rauchwölkchen vertieft, die, nur schwach gefärbt und kaum entstanden, gleich wieder in der Luft verschwanden.

»Sieh, Nero,« sagte er, sich an seinen Hund wendend, »diese vielgerühmte Freiheit ist die unverschämteste Lüge von der Welt. Da bin ich nun, ein freigeborner Engländer, ein Weltbürger, der sich keinen Strohhalm um Kaiser oder Pöbel kümmert, wie ich oft zu mir selbst sage – und doch wage ich es ebenso wenig, um halb Sieben, wenn alle Welt in diesem Parke versammelt ist, meine Cigarre zu rauchen, als ich mich unterfangen möchte, dem Lord Kanzler die Taschen auszuleeren oder dem Erzbischof von Canterbury einen Nasenstüber zu geben. Und doch, Nero, verbietet mir kein Gesetz in England, eine Cigarre zu rauchen! Was um halb Neun erlaubt ist, war um halb Sieben kein Verbrechen. Brittania sagt: ›Mensch, du bist frei,‹ aber sie lügt wie ein ganz gewöhnliches Frauenzimmer. O Nero, Nero! beneidenswerter Hund! Du dienest blos aus Liebe. Kein Gedanke an die Welt kostet dich auch nur ein Wedeln des Schwanzes. Dein großes Herz und dein richtiger Instinkt ersetzen Dir Vernunft und Gesetz. Nichts würde dir mehr zur Glückseligkeit fehlen, wenn du in diesem Augenblick der Langeweile eine Cigarre rauchen könntest. Versuch es, Nero! Versuch es!«

Und sich aus seiner bisherigen Stellung erhebend, bemühte er sich, dem Hunde das Ende der Cigarre zwischen die Zähme zu stecken.

Während er auf diese ernste Weise beschäftigt war, hatten sich zwei Personen dem Platze genähert: ein Mann von schwachem, kränklichem Aussehen, dessen fadenscheiniger Rock, bis an's Kinn zugeknöpft, schlaff über seiner eingefallenen Brust herabhing, und ein Mädchen von zwölf bis vierzehn Jahren, auf dessen Arm sich der Leidende schwerfällig stützte. Ihre Wangen waren bleich, und in ihrem Antlitz lag ein geduldiger und trauriger Zug, der so eingewurzelt schien, daß man sich zu dem Glauben veranlaßt sah, die Kleine habe nie die Heiterkeit der Jugend gekannt.

»Bitte, Papa, ruhe dich hier aus,« sagte das Kind sanft und deutete dabei auf die Bank, ohne die geringste Notiz von dem Inhaber derselben zu nehmen, der allerdings auf das Ende der Bank beschränkt, beinahe ganz in dem Schatten des Baumes verborgen war.

Mit einem matten Seufzer setzte sich der Mann nieder und sagte dann, als er den Fremden erblickte, in jenem Tone der Stimme, der die Gewohnheit, sich in gebildeter Gesellschaft zu bewegen, verräth:

»Entschuldigen Sie, mein Herr, wenn ich mich Ihnen aufdränge.«

Der Fremde sah von seinem Hunde auf und erhob sich sogleich, als er bemerkte, daß das Mädchen stand, um ihr den Platz einzuräumen. Allein die Kleine beachtete es nicht.

Sie schmiegte sich an ihren Vater und wischte ihm zärtlich mit einem kleinen Tuche, das sie zu diesem Zweck von ihrem Halse knüpfte, die Stirne ab.

Nero, froh, der Cigarre entronnen zu sein, machte seiner Aufregung durch einige linkische Sprünge Luft, kehrte aber bald wieder zurück, näherte sich der Bank mit einem leisen Brummen des Erstaunens und beschnüffelte die Eindringlinge, welche die Einsamkeit seines Gebieters störten.

»Hierher, Bursche!« rief sein Herr. »Sie brauchen sich nicht zu fürchten,« sagte er, sich an das Mädchen wendend.

Aber die Kleine rief jetzt, ohne sich nach ihm umzudrehen, mit einer Stimme, die eher Schrecken als Furcht ausdrückte:

»Er ist ohnmächtig geworden! Vater – Vater!«

Der Fremde stieß den Hund, der ihm im Wege stand, auf die Seite und entfernte die steife, militärische Halsbinde des armen Mannes. Während er mit diesem Liebesdienst beschäftigt war, brach der Mond hervor und warf sein volles Licht auf das bleiche, kummervolle Antlitz des bewußtlosen Kranken.

»Diese Züge sollte ich kennen, obgleich sie sich traurig verändert haben,« sagte der Fremde bei sich selbst, und sich zu dem Mädchen niederbeugend, das auf die Kniee gesunken war und die Hände des Ohnmächtigen rieb, fragte er:

»Mein Kind, wie ist der Name Ihres Vaters?«

Die Kleine, zu sehr in ihre Beschäftigung vertieft, gab keine Antwort.

Der Fremde legte die Hand auf ihre Schulter und wiederholte seine Frage.

»Digby,« versetzte sie fast unbewußt, und während sie sprach, begann der Kranke wieder zur Besinnung zu kommen.

In wenigen Minuten hatte er sich so weit erholt, um dem Fremden seinen Dank stammeln zu können. Aber dieser ergriff seine Hand und sagte in beruhigendem Tone, wiewohl sich in seiner Stimme eine innere Bewegung verrieth:

»Ist es möglich, daß ich einen alten Waffengefährten wieder sehe? Algernon Digby, Sie stehen bei mir noch in gutem Gedächtniß; aber es scheint, England hat Sie vergessen!«

Eine schwindsüchtige Röthe überzog das Gesicht des Soldaten, und sich von dem Redner abwendend, sagte er:

»Ich heiße allerdings Digby, mein Herr; aber ich glaube nicht, daß wir uns je früher getroffen haben. Komm, Helene, ich fühle mich wieder besser – wir wollen nach Hause gehen.«

»Versuchen Sie es einmal, mit dem großen Hunde zu spielen, mein Kind,« sagte der Fremde; »ich möchte mit Ihrem Vater sprechen.«

Das Kind nickte gehorsam mit dem Köpfchen und trat zurück, aber sie spielte nicht mit dem Hunde.

»Ich sehe, ich muß mich Ihnen förmlich wieder vorstellen,« sagte der Fremde. »Sie dienten mit mir in demselben Regiments und mein Name ist L'Estrange.«

»Mein Lord,« sagte der Offizier, sich erhebend, »vergeben Sie mir, daß –«

»Ich denke nicht, daß es am Offizierstische Sitte war, mich ›Mein Lord‹ zu nennen. Nun, was ist Ihnen begegnet auf halbem Solde?«

Mr. Digby schüttelte traurig den Kopf.

»Digby, aller Bursche, können Sie mir hundert Pfund leihen?« sagte Lord L'Estrange, seinem vormaligen Kameraden auf die Schulter klopfend und mit einer Stimme, die beinahe knabenhaft schelmisch klang. »Nein? Nun, das ist schön, denn ich kann sie Ihnen leihen.«

Mr. Digby brach in Thränen aus.

Lord L'Estrange schien die Bewegung nicht zu bemerken und fuhr gleichgültig fort:

»Vielleicht wissen Sie nicht, daß mir, als ich mündig wurde, von einer Verwandten mütterlicherseits ein ungeheures Vermögen zufiel, dessen Einkünfte ich kaum zu verzehren wüßte, nichts davon zu sagen, daß ich der einzige Sohn und Erbe eines Vaters bin, der nicht blos reich, sondern auch freigebig ist. Aber in den Tagen unserer früheren Bekanntschaft waren wir Beide etwas verschwenderische Bursche, und ich kann mich noch wohl erinnern, daß ich Ihre Börse oft in Anspruch nahm.«

»Die meinige? O Lord L'Estrange!«

»Sie haben sich indessen verheiratet und ein geordnetes Leben angefangen, denke ich mir. Erzählen Sie mir alles, alter Freund!«

Mr. Digby war es unterdessen gelungen, seine aufgeregten Nerven einigermaßen zu beruhigen. Er erhob sich und begann in kurzen Sätzen, aber mit klarer, fester: Stimme:

»Mein Lord, es ist nutzlos, von mir zu sprechen. Ich werde bald sterben. Aber mein Kind, mein einziges Kind –« hier hielt er einen Augenblick inne, dann fuhr er hastig fort: »Ich habe Verwandte in einer entfernten Grafschaft. Wenn ich zu ihnen gelangen könnte – ich glaube, sie würden sich wenigstens meiner Tochter annehmen. Seit vielen Wochen war dies meine Hoffnung, mein Traum, mein Gebet. Ich kann das Reisegeld nicht erschwingen – es sei denn durch Ihre Hülfe. Ich habe mich nicht geschämt, für mich zu betteln – sollte ich mich schämen, es für mein Kind zu thun?«

»Digby,« sagte L'Estrange ernst und mit einer völligen Veränderung seines Benehmens, »sprechen Sie weder vom Sterben, noch vom Betteln. Sie waren dem Tode näher, als Ihnen bei Waterloo die Kugeln um den Kopf sausten. Wenn ein Soldat den andern trifft und zu ihm sagt: ›Freund, gib mir deine Börse,‹ so ist das kein Betteln, sondern Kameradschaft. Schämen! Bei der Seele des Belisar! Bedeutender oströmischer General und Feldherr des Kaisers Justinian (6. Jh.). wenn ich Geld brauchte, würde ich mich mit meiner Waterloo-Medaille auf der Brust an einen Kreuzweg stellen und jedem geschniegelten Spießbürger, den ich vor dem Schwerte des Franzmannes bewahren half, zurufen: ›Schmach über dich, wenn ich Hunger sterbe!‹ Nun stützen Sie sich auf mich, ich sehe, Sie sollten zu Hause sein – welchen Weg machen Sie?«

Der arme Soldat deutete nach der Oxfordstraße hin und nahm dann nach einigem Widerstreben den ihm dargebotenen Arm an.

»Und wenn Sie von Ihren Verwandten zurückkehren, so suchen Sie mich auf. Wie? Sie zögern? Kommen Sie, versprechen Sie es mir!«

»Ich verspreche es.«

»Auf Ihr Ehrenwort?«

»Auf Ehre – wenn ich lebe.«

»Gegenwärtig wohne ich bei meinem Vater in Knightsbridge; aber Sie werden meine Adresse stets bei Mr. Egerton, Grosvenor-Square Nr. – erfahren können. Sie haben also eine lange Reise vor sich?«

»Ja, eine sehr lange.«

»Strengen Sie sich nicht zu sehr an – reisen Sie langsam. Sie thörichtes Kind, ich sehe, Sie sind eifersüchtig auf mich. Ihr Vater hat ja noch einen Arm für Sie übrig.«

In dieser Weise fuhr Lord L'Estrange, obgleich er nur kurze Antworten erhielt, zu sprechen fort und ließ dabei jener launenhaften Charaktereigenthümlichkeit freien Lauf, welche ihm in der Welt den Ruf der Herzlosigkeit zugezogen hatte.Vielleicht ist der Leser mit der Ansicht der Welt nicht einverstanden. Aber wenn je die Welt dem Charakter eines Mannes Gerechtigkeit widerfahren läßt, der nicht für sie lebt, nicht für sie spricht und nicht mit ihr fühlt, so müssen schon Jahrhunderte dahingegangen sein, nachdem die Seele Harley L'Estrange's ihre Rechnung mit diesem Planeten abgeschlossen hat.


Fünftes Kapitel.

Lord L'Estrange trennte sich von seinem Gefährten am Eingang der Oxfordstraße. Der Vater und das Kind nahmen hier ein Kabriolet, und Mr. Digby befahl dem Kutscher, die Edgewarestraße hinunter zu fahren. Er weigerte sich hartnäckig, L'Estrange seine Adresse mitzutheilen, offenbar, weil sein Stolz es ihm nicht erlaubte, so daß L'Estrange über diesen Punkt nicht länger in ihn dringen mochte.

Harley erinnerte den Soldaten an sein Versprechen, ihn aufzusuchen, drückte ihm eine Brieftasche in die Hand und ging eilig auf Grosvenor-Square zu.

Er erreichte Egerton's Thüre, als dieser eben aus seinem Wagen stieg und die beiden Freunde gingen zusammen in's Haus.

»Macht die Nation heute Abend ein Schläfchen?« fragte L'Estrange. »Die arme, alte Dame! Sie hört so viel von ihren Angelegenheiten, daß sie wohl Ursache hat, sich ihrer Constitution zu rühmen. Sie muß in der That von Eisen sein.«

»Das Haus ist noch beisammen,« erwiderte Audley ernsthaft und ohne auf den Witz seines Freundes einzugehen. »Da jedoch über keinen Regierungsantrag debattirt wird und die Abstimmung erst spät stattfindet, so entfernte ich mich, und wenn ich dich nicht hier getroffen hätte, so würde ich in den Park gegangen sein, um dich zu suchen.«

»Ja, ja; man weiß, wo ich um diese Stunde zu finden bin. Neun Uhr Abends – Cigarre-Hydepark. In ganz England gibt es wohl Niemand, der so regelmäßig in seinen Gewohnheiten wäre.«

Die Freunde hatten nun das Besuchzimmer erreicht, in dem sich das Parlamentsmitglied nur selten aufhielt, denn seine Privatgemächer befanden sich alle im Erdgeschoß.

»Es ist doch die tollste Grille von dir, Harley,« begann Mr. Egerton.

»Was denn?«

»Daß du dich anstellst, als könntest du die Erdgeschosse nicht leiden.‹

»Anstellen! O verdorbener Mensch von Erde! Anstellen! Nichts widerstrebt der menschlichen Seele mehr als ein Erdgeschoß. Wir sind ohnehin weit genug vom Himmel entfernt, mögen wir noch so viele Treppen emporsteigen; wir brauchen uns nicht auch noch freiwillig in den Staub zu bücken.«

»Nach dieser symbolischen Auffassung der Sache,« erwiderte Audley, »solltest du in einem Dachstübchen wohnen.«

»Das würde ich auch thun, wenn ich nicht neue Pantoffeln verabscheute. Aus den Haarbürsten machte ich mir weniger.«

»Was haben denn Pantoffeln und Haarbürsten mit einer Dachstube zu thun?«

»Versuch's! Schlage nur einmal dein Bett in einem Dachstübchen auf, und am andern Morgen hast du weder Pantoffeln noch Haarbürste mehr.«

»Was sollte ich denn damit angefangen haben?«

»Nach den Katzen geworfen!«

»Was du für sonderbares Zeug sprichst, Harley!«

»Sonderbar? Beim Apollo und seinen neun Jungfrauen Musen.! es gibt kein menschliches Wesen, das weniger Einbildungskraft besäße als ein hochgestelltes Parlamentsmitglied. Antworte mir, du feierlicher, sehr Ehrenwerther, hast du dich schon in die Höhen einer erhabenen Betrachtung verstiegen? Hast du schon die Sterne mit dem entzückten Auge der Poesie betrachtet? Hast du schon von einer Liebe geträumt, die nur den Engeln bekannt ist; oder hast du schon in der Unendlichkeit nach den Geheimnissen des Lebens geforscht?«

»Nein, das habe ich nicht, mein armer Harley.«

»Dann wundert es mich auch nicht, mein armer Audley, daß du dir nicht denken kannst, wie Derjenige, welcher sein Bett in einem Dachstübchen aufschlägt, in seiner erhabenen Stimmung von einer schnöden Katzenmusik gestört, seine Pantoffeln nach den Musikanten wirft! Bring dir einen Stuhl auf den Balcon. Nero hat mir heut Abend meine Cigarre verdorben. Ich will jetzt rauchen. Du rauchst nie – so kannst du die Bäume und Gebüsche des Squares betrachten.«

Audley zuckte leicht die Achseln, folgte aber dem Rath und Beispiel seines Freundes und brachte seinen Stuhl auf den Balcon. Nero kam auch, zog sich aber beim Anblick und Geruch der Cigarre wieder zurück und flüchtete sich unter den Tisch.

»Audley Egerton! Ich möchte die Regierung um eine Gunst ersuchen.«

»Es freut mich sehr, dies zu hören.«

»In meinem Regiment war ein Cornet, der besser gethan hätte, vom Kriegsdienst wegzubleiben. Wir waren, wenigstens die meisten von uns, Laffen und eitle Gecken.«

»Nichtsdestoweniger habt Ihr Alle tapfer gekämpft!«

»Laffen und Gecken fechten in der Regel tapfer; denn Eitelkeit und Muth gehen gewöhnlich Hand in Hand. Cäsar, der sich nur mit der äußersten Vorsicht in seinen spärlichen Locken kratzte und sogar sterbend noch an die Falten seiner Toga dachte – Walter Raleigh, der wegen seiner mit Edelsteinen besetzten Schuhe keine zwanzig Schritte weit gehen konnte – Alcibiades Bedeutender athenischer Staatsmann, Redner und Feldherr zu Zeit des Peloponnesischen Krieges (Ende des 5. Jh. v.u.Z.). – Taube und Apfel sind Zeichen der Venus, und das Herumlungern auf dem Marktplatz bedeutet in diesem Zusammenhang: Ausschauhalten nach Hetären (gehobene Dirnen in Griechenland)., der mit Tauben in seinem Busen und einem Apfel in der Hand auf der Agora lungerte – Murat Joachim Murat, französischer Kavallerieoffizier, der im Dienst Napoleons Karriere machte., der sich mit Goldstickereien und Pelzwerk schmückte, und Demetrius Demetrios Poliorketes (um 336-283 v. u.Z.), makedonischer Feldherr und Diadochenherrscher aus der Dynastie der Antigoniden., der Städtebezwinger, der sich herausputzte wie ein französischer Marquis – sie Alle waren recht wackere Bursche, wenn's in's Treffen ging. Ein schmutziger Held, wie Cromwell Oliver Cromwell (1599-1658), entscheidender Feldherr des Parlamentsheeres im Bürgerkrieg gegen den engl. König, den er hinrichten ließ; während der kurzen republikanischen Periode der englischen Geschichte Lordprotektor (1653-58)., ist eine Sonderbarkeit der Natur und ein Wunder in der Geschichte. Aber um wieder auf meinen Cornet zurückzukommen. Wir waren reich und er war arm. Wenn ein thönerner Topf mit eisernen Kesseln stromabwärts getrieben wird, so geht er sicher in Stücke. Die Andern sagten, Digby sei filzig, aber ich sah, daß er schon über seine Kräfte that. Ich fürchte indeß, Jedermann will lieber für geizig als für arm gelten. Kurz – ich verließ die Armee und sah ihn heute Abend zum ersten Mal wieder. Nie habe ich auf der Bühne einen armen, schäbigen Gentleman so furchtbar schäbig und dabei so pathetisch vornehm gesehen! Und dieser Mann hat für England gefochten! Es war kein Kinderspiel bei Waterloo, ich kann es dich versichern, Audley Egerton, und solchen Männern hast du's zu verdanken, daß du nicht jetzt im besten Fall ein sous-préfet Die französischen 102 Départements haben als nächste Verwaltungsebene 335 Arrondissements, deren oberster Verwaltungsbeamte der Unterpräfekt (sous-préfet) darstellt. bist, und dein Parlament nicht ein Provinziallandtag ist. Du mußt etwas für Digby thun. Was soll es sein?«

»In der That, mein lieber Harley, dieser Mensch war doch kein intimer Freund von dir – oder?«

»Wenn er's gewesen wäre, so brauchte er keine Unterstützung von der Regierung – er würde sich alsdann nicht schämen, Geld von mir anzunehmen.«

»Das ist alles recht schön, Harley, aber wir haben so viele arme Offiziere und können so wenig zu ihrer Unterstützung thun. Es ist der schwierigste Auftrag von der Welt, den du mir da gibst. Ich bin überzeugt, es wird nichts zu machen sein. Er hat doch wohl seine Pension?«

»Ich glaube kaum; und wenn er eine hat, so werden seine Gläubiger wohl den größten Theil davon bekommen. Das geht uns übrigens nichts an. Der Mann und sein Kind sind am Verhungern.«

»Aber wenn es seine eigene Schuld ist, – wenn er unvorsichtig war?«

»Ah – gut, gut! Zum Teufel, wo ist denn Nero?«

»Es thut mir wirklich sehr leid, Harley, dir hierin nicht dienen zu können. Wenn es etwas Anderes wäre –«

»Ich möchte allerdings noch etwas Anderes. Mein Kammerdiener – ich mag ihn nicht fortjagen, er ist sonst ein guter Kerl, aber er betrinkt sich hin und wieder. Könntest du ihm eine Stelle im Stempelbureau verschaffen?«

»Mit Vergnügen.«

»Doch nein. Wenn ich's besser überlege, der Mensch kennt nun einmal meine Art und Weise – ich will ihn lieber behalten. Aber mein alter Weinhändler, ein höflicher Mann, der mir nie mit ungestümem Mahnen zusetzte, ist bankerott geworden. Ich habe große Befindlichkeiten gegen ihn, und er ist der Vater einer sehr hübschen Tochter. Meinst du, daß es dir gelingen könnte, ihm eine kleine Stelle in den Colonien zu verschaffen oder ihn zu einem königlichen Kurier zu machen, oder sonst etwas der Art?«

»Wenn du es sehr wünschest, so wird es mir ohne Zweifel gelingen.«

»Mein lieber Audley, ich sondire blos. Die Wahrheit ist, daß ich etwas für mich selbst wünsche.«

»Nun, das freut mich in der That!« rief Mr. Egerton lebhaft.

»Der Gesandtschaftsposten in Florenz wird bald erledigt sein, wie ich aus Privatnachrichten weiß. Die Stelle würde mir zusagen. Eine angenehme Stadt – die besten Feigen in Italien – sehr wenig zu thun. Du könntest ja einmal bei Lord P*** anklopfen.«

»Ich will dir zum Voraus seine Antwort sagen. Es würde ihm das größte Vergnügen machen, einen so begabten Mann und den Sohn eines Peers, wie Lord Lansmere, für den öffentlichen Dienst zu gewinnen!«

Harley L'Estrange sprang auf und schlenderte seine Cigarre einem stattlichen Polizeidiener, der eben nach dem Balcon heraufschaute, in's Gesicht.

»Schändlich! Abscheulich!« rief er. »Also für einen kupfernasigen Lakaien kannst du eine Versorgung finden – für einen Weinhändler, der seiner Majestät Unterthanen mit Bleizucker und Schlehensaft vergiftete – für einen müßigen Sybariten Ein dem Luxus ergebenen Weichling; nach dem im antiken Griechenland sprichwörtlichen prächtigen und luxuriösen Lebensstil der » Sybariten«, der Bewohner von Sybaris an der Ostküste Kalabriens., der sich über ein verwelktes Rosenblatt beklagen würde – aber in der ganzen weiten Gönnerschaft von England findest du nichts für einen unglücklichen Soldaten, dessen furchtlose Brust das Land vertheidigt hat?«

»Harley,« sagte der Minister mit seinem ruhigen, geistreichen Lächeln, »dies wäre wohl ein sehr hübscher Knalleffekt auf einem kleinen Theater; allein in nichts verlangt das Parlament strengere Sparsamkeit als in der militärischen Abtheilung des öffentlichen Dienstes, und für Niemand ist es schwerer, irgend ein Unterkommen zu finden, als für einen Subalternoffizier, der nichts weiter als seine Pflicht gethan hat. Da dir übrigens die Sache so sehr am Herzen liegt, so will ich meinen ganzen Einfluß bei dem Kriegsministerium aufbieten und versuchen, ob ich ihm nicht eine Stelle als Kasernenverwalter verschaffen kann.«

»Das soll dein Glück sein; denn thust du's nicht, so schwöre ich dir, daß ich ein Radikaler werde und, von Hunt und Cobbett Henry Hunt (1773-1835), britischer radikaler Redner, Anhänger der demokratischen Radikalismus. – William Cobbett (1763-1835), englischer Schriftsteller, Verleger und radikal konservativer Politiker. unterstützt in deiner eigenen Stadt als Wahlbewerber gegen dich auftreten will.«

»Es würde mich ungemein freuen, dich im Parlament zu sehen, selbst wenn du als Radikaler und auf meine Unkosten hineinkämest,« versetzte Audley mit großer Freundlichkeit. »Allein die Luft wird kühl und du bist nicht an unser kälteres Klima gewöhnt. Solltest du aber auch zu poetisch für Catarrh und Rheumatismus sein, so bin ich es wenigstens nicht. Komm herein!«


Sechstes Kapitel.

Lord L'Estrange warf sich auf ein Sopha und stützte seine Wange gedankenvoll auf die Hand. Audley Egerton saß ihm zur Seite und blickte seinem Freunde mit einem ungewöhnlich weichen Ausdruck in dem festen Umriß seiner schönen Züge in's Antlitz.

Die beiden Männer waren in ihrem Aeußern ebenso verschieden, wie in ihrem Charakter. An Egerton war alles starr und streng, an L'Estrange alles leicht und ungezwungen. In jeder Stellung Harley's lag die unbewußte Grazie eines Kindes. Sogar in seiner Art, sich zu kleiden, zeigte er seinen Widerwillen gegen allen Zwang. Seine Kleider waren weit und lose, und das nachlässig geknüpfte Halstuch ließ seinen Hals zur Hälfte unbedeckt. Man sah ihm an, daß er viel in warmen und südlichen Ländern gelebt und die hergebrachten Formen verachten gelernt hatte; weder in seinem Anzuge, noch in seinen Reden ließ sich viel von der steifen Pünktlichkeit des Nordens erkennen. Obgleich er nur drei oder vier Jahre weniger als Audley zählte, sah er doch wenigstens um zwölf jünger als dieser aus.

Ueberhaupt gehörte er zu jenen Menschen, für welche es kein Alter zu geben scheint. Stimme, Blick, Gestalt – alles hatte den Zauber der Jugend; und vielleicht war eben diese anmuthige Jugendlichkeit die Ursache – jedenfalls war sie für die Art von Zuneigung, die er einflößte, charakteristisch – daß weder seine Eltern, noch die wenigen Freunde, mit denen er vertraulichen Umgang pflog, im gewöhnlichen Verkehr ihn je mit seinem Titelnamen anredeten. Für sie war er nicht L'Estrange, sondern Harley, und bei diesem seinem Taufnamen will auch ich ihn fortan nennen. Er gehörte nicht zu jenen Männern, welche Schriftsteller oder Leser nur aus der Ferne zu betrachten wünschen – man erinnerte sich seiner nicht als »Mylord« – er selbst gedachte ja so selten seines Ranges. Im Uebrigen behauptete ein schlauer Witzling von ihm, »er sei so natürlich, daß jedermann ihn geziert nenne.«

Vor dem Auge der Kritik war Harley L'Estrange nicht so schön wie Audley Egerton; ein gewöhnlicher Beobachter würde ihn höchstens hübsch gefunden haben. Die Frauen jedoch behaupteten, er habe ein »wirklich schönes Gesicht,« und sie hatten sicherlich nicht Unrecht. Sein kastanienbraunes Haar fiel in langen, natürlichen Locken auf seine Schultern herab, und anstatt des englischen Backenbartes trug er den ausländischen Schnurrbart. Er hatte eine zarte Gesichtsfarbe, die jedoch mehr an den Teint eines Studenten als an den eines Mädchens erinnerte. Allein in dem klaren grauen Auge drückte sich eine wunderbare Lebensfrische aus. Ein geübter Physiolog, der nur einmal in dieses Auge geschaut hätte, würde darin eine seltene Kraft der Constitution, eine so reiche Natur erkannt haben, daß es trotz ihrer leichten Erregbarkeit doch nur der vollen Wirkung der Zeit oder dem schädlichen Zusammenwirken des Schmerzes und der Leidenschaft gelingen dürfte, sie zu erschöpfen. Selbst im gegenwärtigen Augenblick, obgleich gedankenvoll und traurig, war der Strahl dieses Auges so fest und concentrirt, wie das Feuer des Diamanten.

»Es war also nur ein Scherz von dir,« sagte Audley nach einer langen Pause, »als du von dem Gesandtschaftsposten in Florenz sprachst. Willst du noch immer nicht in's öffentliche Leben eintreten?«

»Nein.«

»Ich hatte etwas Besseres gehofft, als ich dir die Zusage abgewann, eine Saison in London zuzubringen. Dem Wortlaute nach hast du dein Versprechen gehalten, allein, um es dem Sinne nach zu brechen. Ich konnte in der That nicht ahnen, daß du alle Gesellschaften fliehen und hier ebenso sehr als Einsiedler leben werdest, wie unter den Weingeländen am Comersee.«

»Ich bin auf der Fremdengallerie gesessen und habe Eure großen Redner gehört; ich bin im Parterre der Oper gewesen und habe Eure schönen Damen gesehen; ich bin durch Eure Straßen gewandert und in Euren Parks herumgeschlendert – aber ich muß gestehen, daß ich mich nicht in eine verblühte Wittwe verlieben kann, wenn sie auch ihre Runzeln mit Schminke bedeckt.«

»Von welcher Wittwe sprichst du?« fragte der prosaische Audley.

»Sie hat gar viele Titel. Die Einen nennen sie die vornehme Welt, die Andern Politik: sie ist alles zugleich, abgefeimt und künstlich. Ich meine das Londoner Leben. Nein, wie gesagt, ich kann mich in die schmachtende alte Wittwe nicht verlieben!«

»Ich wollte, du könntest dich in irgend etwas verlieben!«

»Ich wünsche es auch von ganzem Herzen.«

»Du bist zu blasirt.«

»Im Gegentheil, ich bin zu frisch. Schau einmal zum Fenster hinaus – was stehst du?«

»Nichts.«

»Nichts?«

»Nichts als Häuser und staubige Fliederbüsche, meinen Kutscher, der auf seinem Bocke schlummert, und zwei Frauen, die in Holzschuhen über die Gasse schreiten.«

»Von dem Sopha aus, auf dem ich liege, bemerke ich von alledem nichts. Ich sehe nur die Sterne, und mein Gefühl für sie ist noch das nämliche, als zu der Zeit, da ich noch ein Schulknabe in Eton war. Du bist blasirt, nicht ich. Doch genug davon. Du vergissest doch nicht meinen Auftrag in Betreff des Flüchtlings, der in die Familie deines Bruders geheirathet hat?«

»Nein; aber da gilt es eine noch schwierigere Aufgabe, als die Besorgung deines Cornets.«

»Ich weiß, daß sie schwierig ist, denn die Gegenpartei ist wachsam und hat einen starken Einfluß. Aber andererseits ist der Feind ein so fluchwürdiger Verräther, daß man sicher auf den Beistand der Schicksalsgöttinnen und Laren In der antiken römischen Religion die Schutzgötter oder Schutzgeister bestimmter Orte und Familien. rechnen darf.«

»Nichtsdestoweniger,« versetzte der praktische Audley, sich über ein auf dem Tische liegendes Buch niederbeugend, »würde ich es für das Beste halten, einen Vergleich mit dem Gegner zu versuchen.«

»Wenn ich Andere nach mir selbst beurtheilen darf,« erwiderte Harley mit Feuer, »so wäre es weniger bitter, das Unrecht zu ertragen, als durch List eine Entschädigung dafür zu suchen. Und ein solches Unrecht! Mit einem offenen Feinde verbietet es die Ehre nicht, einen Vergleich abzuschließen; aber mit einem verrätherischen Freunde – das hieße den Meineid verzeihen!«

»Du bist zu rachsüchtig,« sagte Egerton; »es kann Entschuldigungsgründe für den Freund geben, die sogar –«

»Still, Audley, still! Sonst muß ich glauben, die Welt habe in Wahrheit auch dich verdorben. Entschuldigungsgründe für den Elenden, der seinen Freund betrogen und verrathen hat? Nein, er ist der Auswurf der Menschheit und die Furien Rachegöttinnen in der römischen Mythologie. umgeben ihn, selbst wenn er in einem Tempel schläft.«

Der Weltmann erhob langsam seinen Blick zu dem lebhaften Antlitz seines Freundes, der noch natürlich genug war, um in Leidenschaft zu gerathen. Dann kehrte er wieder zu seinem Buche zurück und sagte nach einer Pause:

»Es wäre Zeit, daß du heiratetest, Harley.«

»Nein,« erwiderte L'Estrange, über diese plötzliche Wendung des Gespräches lächelnd; »noch nicht. Denn, was ich vorzüglich gegen eine solche Veränderung in meinem Leben einzuwenden habe, ist der Umstand, daß die heutigen Damen zu alt für mich sind oder daß ich für sie zu jung bin. Einige darunter sind allerdings so kindisch, daß man sich schämen müßte, ihr Spielzeug zu sein; allein die meisten sind so schlau, daß man wohl thun wird, vor ihnen auf der Hut zu sein. Wenn die Ersteren sich herablassen, einen Mann zu lieben, so sehen sie in demselben nur die größte Puppe, mit der sie bis jetzt gespielt haben, und lieben ihn auch nur wegen Eigenschaften, die jede gute Puppe hat – wegen der hübschen blauen Augen und dem schönen Anzug. Letztere aber, wenn sie klüglich einen Antrag annehmen, so handeln sie dabei ganz nach algebraischen Grundsätzen. Der Freier ist nur das X oder Y, welches ein gewisses Aggregat von Ehestandsgütern repräsentirt – Stammbaum, Titel, Renten, Diamanten, Nadelgeld, Opernloge. Mit Hülfe der Mama wird der künftige Gemahl taxirt, und eines Morgens erwacht er, um sich zu überzeugen, daß plus Weib minus Liebe gleich ist – dem Teufel!«

»Unsinn!« sagte Audley mit seinem ruhigen, ernsten Lachen. »Ich gebe zu, daß Männer in deiner Stellung oft in die unglückliche Lage kommen, um dessen willen, was sie haben, und nicht wegen dessen, was sie sind, geheirathet zu werden. Aber du besitzest Scharfsinn genug, um dich in dem Charakter der Dame, welcher du den Hof machst, nicht zu täuschen.«

»Der Dame, welcher ich den Hof mache – nein; aber sehr leicht könnte ich mich im Charakter derjenigen täuschen, die ich zur Frau wähle. Das Weib ist ein veränderlich Ding, wie wir schon in der Schule aus unserem Virgil gelernt haben. Aber die größte Veränderung geht mit ihr vor, wenn sich die Fee, um die man geworben, in einen Kobold, den man geehelicht hat, verwandelt. Nicht als ob sie eine Heuchlerin gewesen wäre – es ist ein natürlicher Uebergang von einem Zustand in den andern. Du heirathest ein Mädchen wegen ihrer Talente. Sie malt allerliebst oder spielt, wie die heilige Cäcilia. Stecke einen Ring an ihren Finger, und sie nimmt kein Bleistift mehr in die Hand, als etwa, um deine Carricatur auf ein Briefcouvert zu zeichnen, und macht, sobald die Flitterwochen vorüber sind, das Klavier nicht mehr auf. Du nimmst sie wegen ihres sanften Charakters; aber schon im nächsten Jahr sind ihre Nerven so erschüttert, daß du keinen Widerspruch wagen darfst, ohne einen wahren Sturm hysterischer Paroxismen herbeizuführen. Du heirathest sie, weil sie erklärt, sie hasse die Bälle und liebe die Ruhe; aber ich wette zehn gegen eins, daß sie nach der Hochzeit eine Patronin von Almack's Almack's Assembly Rooms, Gesellschaftsklub in London, der von 1765 bis 1871 existierte, und einer der ersten Klubs, in denen Frauen und Männer Mitglied werden konnten. Er war einer der wenigen Örtlichkeiten in London, wo sich Frauen und Männer der höheren Gesellschaft außerhalb der Residenzen der Aristokratie begegnen konnten. wird, und ihre Cirkel kein Ende nehmen.«

»Und doch heirathen die meisten Männer und überleben diese Operation.«

»Wenn es sich darum handelte, überhaupt nur zu leben, so hätte deine Bemerkung allerdings etwas sehr Tröstliches und Ermuthigendes. Aber im Frieden zu leben, mit Würde und Freiheit zu leben, in Harmonie mit seinen Gedanken, Gewohnheiten und Bestrebungen zu leben – und dies in unaufhörlichem Umgange mit einem Wesen, dem wir die Macht eingeräumt haben, unsern Frieden zu stören, unsere Würde zu verletzen, unsere Freiheit zu verkümmern, uns jeden Gedanken, jede Gewohnheit zu vergällen und uns zu den niedrigsten Kleinigkeiten der Erde herabzuziehen, während wir das arme Geschöpf einladen, sich mit uns in höhere Sphären aufzuschwingen – wenn wir daran denken, dürfen wir wohl sagen: ›Sein oder Nichtsein, das ist die Frage!‹«

»An deiner Stelle, Harley, würde ich es machen, wie von dem Verfasser von Sandford und Merton The History of Sandford and Merton (1783-1789), erfolgreiches Jugendbuch von Thomas Day. Der Autor hatte, nachdem sieben seiner Heiratsanträge abgewiesen worden waren, im Sinne der Maximen Rousseaus ein Projekt begonnen, das zur Erziehung der perfekten Ehefrau führen sollte und mit der Adoption zweier weiblicher Waisen im Alter von 12 und 11 Jahren begann; der Versuch scheiterte freilich: das eine Mädchen schied rasch wegen unzureichender intellektueller Begabung aus; das andere, dem er, um deren Charakter zu stärken, heißes Wachs auf den Arm tropfen ließ, brüllte dabei dermaßen, dass Day das Vorhaben entnervt aufgab. erzählt wird – ich würde mir ein Kind auswählen und dasselbe ganz nach meinem Herzen erziehen.«

»Du hast es getroffen,« erwiderte Harley ernst. »Dieser Gedanke ist mir schon längst, wiewohl, ich gestehe es, nur sehr unklar vorgeschwebt. Allein ich fürchte, daß ich ein alter Mann sein werde, ehe ich nur ein solches Kind gefunden habe. Ah!« fuhr er mit großer Wärme fort, während der Ausdruck seiner wechselvollen Züge sich aufs Neue veränderte – »ah! wenn ich in der That entdecken könnte, was ich suche: ein Wesen, das mit dem Herzen eines Kindes den Geist eines Weibes verbände; das Sinn hätte für die Abwechslung, für den Zauber in der Natur und für ihre nie fieberhafte, sondern stets wohlthätige Aufregung, die Andere vergeblich in der unächten Sentimentalität eines durch künstliche Formen falsch gewordenen Lebens zu finden glauben; ein Wesen, das gleichsam durch höhere Eingebung die reiche Poesie zu fassen vermöchte, in welche die Schöpfung gekleidet ist – eine Poesie, die dem Kinde klar wird, wenn es über eine Blume in Entzücken geräth oder mit Bewunderung zu den Sternen aufblickt! Wenn ein solch' herrliches Wesen mir zu Theil würde – ja, dann –« er hielt inne, seufzte tief und fuhr dann, sein Gesicht mit der Hand bedeckend, in gebrochenen Lauten fort:

»Einmal – nur einmal tauchte eine solche Verkörperung des Schönen in menschlicher Gestalt vor mir auf – es erschien mir in dem ›goldenen Nebel der Morgenröthe‹ und sein Verschwinden hat mein Leben bettelarm gemacht. Du allein weißt – nur du – wie – wie –«

Er senkte das Haupt, und Thränen quollen zwischen den krampfhaft verschlungenen Fingern hervor.

»So lange schon!« sagte Audley, die Bewegung seines Freundes theilend. »Wie viele Jahre sind indessen verflossen und noch immer hältst du fest an einer knabenhaften Erinnerung!«

»Wohlan denn, fort damit!« rief Harley aufspringend und mit seltsamer Fröhlichkeit in Lachen ausbrechend. »Dein Wagen wartet. Fahre mich nach Hause, ehe du in's Parlament zurückkehrst.«

Dann legte er seine Hand leicht auf des Freundes Schulter und sagte:

»Steht es dir zu, Audley Egerton, höhnend von knabenhaften Erinnerungen zu sprechen? Sind nicht sie das Baud, das uns Beide verbindet? Was sonst vermöchte mein Herz zu erwärmen, wenn ich mit dir zusammentreffe? und deine Gedanken von den Blaubüchern und Biertaxen abzuziehen, um sie an einen unstäten Menschen, wie ich bin, zu verschwenden? Gieb mir deine Hand, o Freund meiner Knabenjahre! Gedenke unserer Flußfahrten und unserer Ballspiele – gedenke unserer flüsternden Gespräche auf der Moosbank, als wir Schlösser in die Sommerluft bauten, herrlicher als das Windsorschloß. Glaube mir, diese knabenhaften Erinnerungen sind starke Bande. Noch entsinne ich mich, als ob es gestern gewesen wäre, meiner Uebersetzung jener lieblichen Stelle des Persius – wie fängt sie nur an –

Quum primum pavido custos mihi purpura cessit –‹ Da ich zum ersten Mal als schüchternes Kind vom schützenden Purpurgewand mich trennte. (Aulus Persius Flaccus, 5. Satire, V. 30)

jene Stelle über die Freundschaft, welche so lebendig dem ernsten Herzen des Satyrikers entquillt. Und als der alte N. meine Verse belobte, suchte mein Auge das deinige. Wahrlich, noch jetzt sage ich, wie damals –

Nescio quod, certe est quod mihi temperet astrum.Dir nach stimmte ein Stern mein Herz – doch welcher? nicht weiß ich's. [ Anm.d.Verf. – Persius, aaO., V. 51]

Audley wandte sich ab, indem er den Händedruck seines Freundes erwiderte, und blieb, während Harley leicht und elastisch die Treppe hinabsprang, ein wenig zurück, keine Spur in seinem Gesichte verrieth mehr den Weltmann, als er im Wagen neben Harley Platz nahm.

Zwei Stunden später verstummte der Ruf »Schluß! Schluß! Abstimmung!« und machte einem widerstrebenden Schweigen Platz, als Audley Egerton sich erhob, die Debatte zu schließen. Da stand der Mann der Männer, um spät am Abend vor ungeduldigen Bänken zu sprechen: ein Mann, dem man zuhören mußte, den kein losgelassenes Tollhaus niederzubrüllen vermocht hätte; da stand er – eine Gestalt, so fest ihren Grund behauptend, wie ein Kirchthurm, seine Stimme so klar und kräftig, wie Glockengeläute. Und während Audley Egerton in solcher Weise für die langweiligste aller langweiligen Fragen Aufmerksamkeit erzwang – wo war Harley L'Estrange! Einsam stand er an dem Flusse zu Richmond und murmelte leise phantastische Gedanken vor sich hin, während er in die vom Monde erhellte Fluth hinabschaute.

Nachdem Audley ihn verlassen, hatte er sich zu seinen Eltern begeben und dieselben mit seiner sorglosen Fröhlichkeit erheitert, bis die altmodischen Leutchen sich zur Ruhe legten; dann – während sie ihn vielleicht auf's Neue den Helden der Ballsäle und den Polarstern der Clubs wähnten, fuhr er langsam durch die laue Sommernacht dahin unter den Wohlgerüchen zahlreicher Gärten und an schimmernden Baumgruppen vorüber, ohne einen andern Zweck, als den lieblichsten Punkt von Englands lieblichstem Flusse in der Stunde zu erreichen, in welcher der Mond am hellsten strahlte und die Nachtigall am süßesten flötete. Und so excentrisch launenhaft war dieser Mann, daß er sich, indem er dort herumschlenderte, ohne daß Jemand in der Nähe gewesen wäre, um »Wie geziert!« oder »Wie romantisch!« zu rufen, der ihn umgebenden Scene weit mehr erfreute, als wenn er in dem heißesten Londoner Salon die höflichsten »Wie geht es Ihnen?« gewechselt oder beim Whist als Lord R***'s Partner seine Hunderte auf den Trick gesetzt hätte.


Siebentes Kapitel.

Leonard hatte ungefähr sechs Wochen bei seinem Onkel zugebracht und diese Zeit wohl angewendet. Er war von Mr. Richard auf sein Comptoir genommen und in die Geschäfte, sowie auch in die Geheimnisse der doppelten Buchführung eingeweiht worden, und zum Dank für die Bereitwilligkeit und den Eifer des jungen Mannes für Dinge, die, wie der scharfblickende Kaufmann wohl einsah, nicht nach dessen Geschmack sein konnten, berief Richard den besten Lehrer der Stadt, um seinem Neffen in den Abendstunden Unterricht zu ertheilen. Dieser Gentleman, der erste Hülfslehrer an einer großen Schule, konnte von acht Uhr an über seine Zeit verfügen und brachte gerne in das langweilige Einerlei des zwangsmäßigen Unterrichts einige Abwechslung durch die Lectionen, die er einem Schüler ertheilte, der so trefflich auffaßte und so große Freude am Lernen – sogar der lateinischen Grammatik – bezeigte.

Leonard machte schnelle Fortschritte und lernte in diesen sechs Wochen mehr als mancher sonst gelehrige Knabe in zweimal so viel Monaten. Diese Zeit, welche Leonard den Studien widmete, brachte Richard meistens außer dem Hause zu, entweder mit Besuchen bei seinen vornehmen Bekannten in den Abteigärten oder in dem, jenen Aristokraten gewidmeten Lesezimmer. Wenn er zu Hause blieb, so geschah es in Gesellschaft seines ersten Buchhalters und in der Absicht, seine Bücher zu vergleichen oder die Namen zweifelhafter Wähler durchzugehen.

Natürlich war es Leonard's Wunsch gewesen, seine alten Freunde von seinen veränderten Aussichten in Kenntniß zu setzen, damit diese ihrerseits seine Mutter mit der guten Botschaft erfreuen möchten. Allein er hatte sich noch nicht zwei Tage im Hause befunden, als ihm Richard auf das Strengste jede Correspondenz untersagte.

»Du siehst wohl ein,« bemerkte er, »daß es sich vorläufig um einen Versuch handelt – wir müssen sehen, wie wir uns gegenseitig zusagen. Vorausgesetzt, wir gefielen uns nicht, so hättest du bei deiner Mutter Hoffnungen erweckt, welche bitter enttäuscht würden; im andern Falle aber ist es Zeit genug, zu schreiben, wenn wir einen bestimmten Entschluß gefaßt haben.«

»Aber meine Mutter wird sich so sehr ängstigen –«

»Mache dir darüber keine Sorgen. Ich werde regelmäßig an Mr. Dale schreiben, und er soll ihr mittheilen, daß du gesund bist, und es dir gut geht. Kein Wort mehr darüber, junger Mann – wenn ich etwas sage, so bleibt es dabei.«

Als er bemerkte, daß Leonard bestürzt und niedergeschlagen aussah, setzte er mit gutmüthigem Lächeln hinzu: »Ich habe für alles dies meine guten Gründe, die du später erfahren sollst. Und ich will dir noch etwas sagen. Wenn du meinem Wunsche nachkommst, so ist es meine Absicht, deiner Mutter etwas Schönes auszuwerfen; wo nicht, so soll sie keinen Pfennig von mir erhalten.«

Mit diesen Worten drehte sich Richard auf dem Absatze herum, und wenige Augenblicke später hörte man ihn mit lauter Stimme einen seiner Leute schelten.

Ungefähr in der vierten Woche nach Leonard's Eintritt in das Haus seines Onkels zeigte sich in dem Benehmen des Letztern eine gewisse Veränderung. Er war nicht mehr so herzlich gegen seinen Neffen und bewies weniger Theilnahme an dessen Fortschritten. Etwa um dieselbe Zeit ertappte ihn auch sein Londoner Kellermeister häufig vor dem Spiegel. Mr. Richard hatte immer auf einen guten Anzug gehalten; aber jetzt nahm er es in diesem Punkte noch viel genauer. Wenn er des Abends in Gesellschaft ging, so konnte er drei weiße Halsbinden zerknittern, ehe er den Knoten zu seiner Zufriedenheit geschlungen hatte. Auch kaufte er ein Adelshandbuch, in welchem man ihn in freien Viertelstunden mit großem Interesse studiren sah. Alle diese Symptome gingen von einer und derselben Ursache aus, und diese Ursache war – eine Frau.


Achtes Kapitel.

Als die ersten Personen von Screwstown galten unstreitig die Pompleys. Oberst Pompley war hochmüthig; aber Mrs. Pompley war noch hochmüthiger. Der Oberst war majestätisch Kraft seines militärischen Ranges und seiner in Indien geleisteten Dienste; Mrs. Pompley war majestätisch Kraft ihrer Familienverbindungen. In der That würde der Oberst von der Last der Würde erdrückt worden sein, welche seine Gemahlin ihm zubrachte, wenn er nicht seine eigene Stellung gleichfalls durch »Familienverbindungen« zu unterstützen im Stande gewesen wäre.

Nie hätte er sich unterfangen dürfen, seinen Kopf aufrecht zu tragen oder eine unabhängige Ansicht in aristokratischen Dingen auszusprechen, wäre ihm nicht der wohlklingende Name seiner Verwandten, »der Digbies,« zu Hülfe gekommen. Wenn der Oberst seine Verwandten, »die Digbies,« nicht allzu bestimmt bezeichnete, obschon er gelegentlich zu verstehen gab, daß es die Digbies in Debrett's Adelshandbuch seien, so folgte er vermutlich dem Grundsatze, daß Dunkelheit die natürliche Größe der Gegenstände erhöht und ein Element des Erhabenen ist. Nahm es sich aber irgend ein unbescheidener Plebejer (ein Lieblingsausdruck der beiden Pompleys) heraus, geradezu zu fragen, ob er »Mylord Digby« meine, so pflegte Oberst Pompley mit stolzer Miene zu erwidern: »Den ältern Zweig, mein Herr.« Niemand in Screwstown hatte je diese Digbies gesehen; sie lagen in der Ferne – im Dunkeln und Verborgenen – selbst für Oberst Pompley's eigene Gattin.

Hin und wieder, wenn der Oberst auf den schnellen Lauf der Jahre und den Unbestand menschlicher Neigungen zu sprechen kam, pflegte er zu sagen: »Als der junge Digby und ich in unserer Knabenzeit beisammen waren –« und dann setzte er wohl mit einem Seufzer hinzu: »Aber wir werden uns in diesem Leben nicht wieder sehen. Durch den Einfluß seiner Familie erhielt er einen bedeutenden Posten in einem sehr entlegenen Theile der britischen Besitzungen.«

Mrs. Pompley fühlte sich stets ein wenig eingeschüchtert durch die Digbies. Ungläubig konnte sie freilich hinsichtlich dieser Verwandtschaft nicht sein, da des Obersten Mutter ganz gewiß eine Digby war, und Letzterer das Digbywappen mit dem seinigen verbunden führte.

En revanche, wie der Franzose sagt, für diese eheherrlichen Connexionen hatte Mrs. Pompley ihre eigene Lieblingsverwandtschaft, die sie aus allen übrigen erwählte, wenn es ihr besonders darum zu thun war, Effect zu machen; aber auch bei ganz gewöhnlichen Anlässen schwebte der Name der »Ehrenwerthen Mrs. M'Catchley« auf ihren Lippen. Bewunderte man den Schnitt ihres Kleides oder ihrer Haube, so hatte ihre Cousine, Mrs. M'Catchley, das Muster unlängst von Paris gesandt. Handelte es sich um eine Ministercrisis, so war Mrs. M'Catchley in das Geheimniß eingeweiht, hatte aber Mrs. Pompley gebeten, nichts zu verrathen. Gab es starkes Eis, so hatte »meine Cousine, Mrs. M'Catchley, geschrieben, man glaube, die Eisberge des Polarmeeres zögen sich nach unserer Seite her.« Schien die Sonne mit ungewöhnlicher Glut, so hatte Mrs. M'Catchley ihr mitgetheilt, »Sir Henry Halford sei entschieden der Ansicht, daß die Cholera daran Schuld sei.« Die guten Leute wußten alles, was in London, am Hofe, in dieser Welt – ja, fast auch, was in der andern vorging durch die Vermittlung der Ehrenwerthen Mrs. M'Catchley. Mrs. M'Catchley war überdies noch die eleganteste Dame, das witzigste, liebenswürdigste Wesen. König Georg der Vierte hatte sich erkühnt, Mrs. M'Catchley zu bewundern; allein Mrs. M'Catchley, obschon sie nicht spröde war, hatte ihm gezeigt, daß sie gestählt sei, selbst gegen die Verführungen eines Thrones.

So lange hatte der Ruhm Mrs. M'Catchley's in den Ohren von Mrs. Pompley's Freunden geklungen, daß diese zuletzt Mrs. M'Catchley insgeheim für eine Mythe, ein Geschöpf der Elemente, eine poetische Erfindung von Mrs. Pompley's Einbildungskraft hielten. Nur Richard Avenel, der sonst gewiß nicht zu den Leichtgläubigen gehörte, zweifelte nicht im mindesten an Mrs. M'Catchley's leibhaftiger Existenz. Er hatte erfahren, daß sie eine Wittwe sei, welche sowohl Kraft ihres Geburtsrechts, als ihrer Heirath den Titel ›Ehrenwerth‹ führte, von einem schönen Leibgedinge Siehe Anm. 44. lebte, und fast jeden Tag Heirathsanträge abwies. Ich weiß nicht, wie es kam, aber so oft Richard Avenel an eine Gatten dachte, drängte sich ihm unwillkürlich der Name der Ehrenwerthen Mrs. M'Catchley auf. Vielleicht bewahrte diese romantische Anhänglichkeit an die schöne Unsichtbare sein Herz unversehrt trotz aller Verlockungen von Screwstown.

Nun plötzlich bewies Mrs. M'Catchley zum großen Erstaunen der Abteigärten ihre Identität, indem sie in einem schönen Reisewagen, von einem Kammermädchen und Bedienten begleitet, vor Oberst Pompley's Hause anfuhr. Sie war gekommen, ihre Cousine auf einige Wochen zu besuchen, und es wurde ihr zu Ehren eine Theegesellschaft gegeben. Auch Mr. Avenel und sein Neffe hatten eine Einladung erhalten.

Oberst Pompley, der selbst inmitten der größten Aufregung den Kopf klar behielt, und eben zu jener Zeit ein an seinen Garten stoßendes städtisches Grundstück zu pachten wünschte, sah Richard Avenel kaum eintreten, als er ihn auch schon am Rockknopf ergriff und in eine ruhige Ecke zog, um sich seine Verwendung bei dem Stadtrath zu sichern. Mittlerweile wurde Leonard von dem Strome fortgerissen, bis ein Sophatisch, an welchem Mrs. M'Catchley neben der Herrin des Hauses saß, seinem weiteren Vorrücken Einhalt gebot. Denn die Wirthin hatte bei dieser wichtigen Gelegenheit den ihr geziemenden Posten am Eingange aufgegeben und – sei es, um Mrs. M'Catchley ihre Verehrung zu beweisen oder um derselben ihre vornehme Verachtung der Screwstowner Gesellschaft zu zeigen – paradirte beständig an ihrer Seite, während sie nur die élite der Stadt der Ehre würdigte, dem erlauchten Gaste vorgestellt zu werden.

Mrs. M'Catchley war eine sehr schöne Frau – eine Frau, auf welche Mrs. Pompley mit Recht stolz sein konnte. Zwar waren ihre Backenknochen etwas vorstehend, allein dies bewies nur die Reinheit ihrer Caledonischen Abstammung; im Uebrigen hatte sie eine blendend weiße Haut, erhöht durch einen soupçon Hauch. von Roth, gute Augen und Zähne, einen schönen Wuchs, und alle Damen von Screwstown erklärten ihre Toilette für tadellos. Sie mochte jenes Alter erreicht haben, bei welchem man beabsichtigt, die nächsten zehn Jahre stehen zu bleiben; aber selbst ein Franzose würde sie nicht für passée erklärt haben – das heißt, für eine Wittwe. Bei einem Fräulein wäre es freilich etwas Anderes gewesen.

Mit einer Lorgnette umherschauend, von welcher Mrs. Pompley zu behaupten pflegte, daß sie dieselbe »wie ein Engel zu gebrauchen wisse,« hatte Mrs. M'Catchley plötzlich Leonard Fairfield bemerkt, dessen ruhige, einfache, gedankenvolle Miene und Haltung einen so scharfen Contrast zu den steifen beaux Schönlingen. bildete, welche ihr vorgestellt worden waren, daß sie sich trotz aller Erfahrung, die man von einer so gewandten Weltfrau erwarten konnte, so weit täuschen ließ, um Mrs. Pompley zuzuflüstern:

»Jener junge Mann hat in der That ein air distingué Aura von Vornehmheit. – wer ist er?«

»O,« versetzte Mrs. Pompley mit ungekünstelter Ueberraschung, »das ist der Neffe des reichen Plebejers, von dem ich Ihnen diesen Morgen erzählte.«

»Ah, und Sie sagen, er sei Mr. Arundel's Erbe?«

»Avenel, nicht Arundel, meine süße Freundin!«

»Avenel ist kein übler Name,« bemerkte Mrs. M'Catchley. »Aber ist der Onkel wirklich so reich?«

»Erst heute hat der Oberst versucht, zu errathen, wie groß sein Vermögen wohl sein könnte; allein er sagt, es sei unmöglich, ihn zu schätzen.«

»Und der junge Mann ist sein Erbe?«

»Man vermuthet es. Er bereitet sich für die Universität vor, wie ich höre, und soll sehr talentvoll sein.«

»Stellen Sie mir ihn vor, meine Theure! Ich hege eine Vorliebe für talentvolle Leute,« sagte Mrs. M'Catchley und fiel schmachtend in die Sophaecke zurück.

Als es etwa zehn Minuten später Richard Avenel gelungen war, von dem Obristen loszukommen, und er, durch das Geflüster der bewundernden Menge aufmerksam gemacht, seine Blicke nach dem Sophatische richtete, erblickte er seinen Neffen in lebhafter Unterhaltung mit dem lang ersehnten Abgott seiner Träume. Ein heftiger Stich der Eifersucht durchbohrte sein Herz. Nie hatte sein Neffe so schön und geistvoll ausgesehen. In der That war es auch das erste Mal, daß eine Weltdame, die ihre wenigen Kenntnisse wohl zu benützen verstand, dem armen Leonard Gelegenheit gegeben hatte, seinen Geist zu entfalten. Und da die Eifersucht wie ein Blasebalg auf glimmendes Feuer wirkt, so brach bei dem ersten Anblick des Lächelns, dessen die schöne Wittwe unsern Leonard würdigte, Mr. Avenel's Herz in helle Flammen aus.

Er näherte sich mit weniger zuversichtlichen Schritten, als gewöhnlich, horchte auf Leonard's Gespräch und wunderte sich höchlich über die Keckheit des Knaben. Mrs. M'Catchley hatte von Schottland und den Waverleyromanen Die Reihe der historischen Romane von Walter Scott, die mit »Waverley« (1814) eröffnet wird. gesprochen, von denen Leonard nichts wußte. Allein er kannte Burns, und über Burns ließ er sich in ungekünstelter Beredsamkeit aus. Burns, der Dichter und Landmann Robert Burns (1759-1796), bedeutender schottischer Dichter. Er verfasste zahlreiche Gedichte, politische Texte und Lieder. Sein bekanntestes Lied ist Auld Lang Syne, das inzwischen Teil der britischen Tradition geworden ist. – Was den »Landmann« angeht, so pachtete Burns 1789 ein Gut, das sich jedoch in etwas verwahrlostem Zustand befand; schon nach 3½ Jahren musste er die Pachtung mit großem Verlust aufgeben. Der häufige Konsum von Alkohol untergrub seine Gesundheit, so dass er bereits im Alter von 37 Jahren starb. – Leonard hatte wohl Ursache, über ihn beredt zu werden! Mrs. M'Catchley fand großes Wohlgefallen an seiner Frische und Natürlichkeit, so ungleich allem, was sie bisher gesehen und gehört hatte, und so riß sie ihn immer weiter fort, bis Leonard in's Citiren kam; Richard vernahm eben, und zwar mit weit weniger Achtung für den Sinn der Worte, als man hätte erwarten sollen, daß

»Der Rang ist nur des Goldstücks Stempel,
Der Mensch selbst ist das Gold dazu.«

»Das gestehe ich!« rief Mr. Avenel. »Ein hübsches Stückchen Höflichkeit, einen solchen Vers einer Dame zu declamiren, wie die Ehrenhafte Mrs. M'Catchley! Sie müssen ihn entschuldigen, Ma'am!«

»Mein Herr!« sagte Mrs. M'Catchley überrascht und ihre Lorgnette vor das Auge haltend. Leonard erhob sich etwas verwirrt und bot Richard seinen Stuhl an, auf welchem dieser sich ohne Umstände niederließ. Die Dame brauchte keine förmliche Vorstellung abzuwarten, um zu errathen, daß sie den reichen Onkel vor sich sehe.

»Welch' ein süßer Dichter – Burns!« sagte sie, ihr Glas sinken lassend. »Und wie erfrischend ist es, so viel jugendlichen Enthusiasmus zu finden!« setzte sie hinzu, mit ihrem Fächer auf Leonard deutend, der sich rasch in dem Gedränge verlor.

»Allerdings, er ist sehr jugendlich, mein Neffe – noch ziemlich grün!«

»Sagen Sie nicht grün,« versetzte Mrs. M'Catchley, und eine Scharlachröthe überflog Richard's Gesicht, denn er fürchtete, sich durch einen gemeinen, anstößigen Ausdruck eine Blöße gegeben zu haben. Die Dame fuhr fort:

»Sagen Sie lieber unsophistisch Engl. unsophisticated: unkompliziert, unverfälscht.

»Ein verdammt langes Wort!« dachte Richard; doch schwieg er klüglich und antwortete nur mit einer Verbeugung.

»Die jungen Männer heutzutage geben sich ein so altes Ansehen,« fuhr Mrs. M'Catchley fort und drückte sich wieder in ihre Sophaecke. »Sie tanzen nicht, sie lesen nicht, sie sprechen wenig, und Viele tragen toupets, noch ehe sie zweiundzwanzig Jahr alt sind.«

Mechanisch fuhr Richard mit der Hand durch seine dichten Locken. Aber er blieb noch immer stumm und stellte reumüthige Betrachtungen über das Beiwort grün an. Welch' schreckliche, geheime Bedeutung mochte es wohl für ein gebildetes Ohr haben. Warum sollte er nicht »grün« sagen?

»Ein sehr hübscher junger Mann, Ihr Neffe, Sir!« fing Mrs. M'Catchley wieder an.

Richard grunzte.

»Und scheint voll Talent zu sein. Noch nicht auf der Universität? Wird er nach Oxford oder Cambridge gehen?«

»Ich bin noch gar nicht entschlossen, ob ich ihn überhaupt auf eine Hochschule senden will.«

»Wie? Einen jungen Mann von seinen Aussichten?« rief Mrs. M'Catchley schlau.

»Aussichten!« wiederholte Richard aufbrausend. »Hat er mit Ihnen von seinen Aussichten gesprochen?«

»Nein, gewiß nicht, Sir. Aber der Neffe des reichen Mr. Avenel! Ja, ja, man spricht viel von den reichen Leuten, wie Sie wohl wissen. Es ist die Strafe des Reichthums.«

Richard fühlte sich sehr geschmeichelt. Der Kamm schwoll ihm.

»Und man sagt,« fuhr Mrs. M'Catchley fort, ihre Worte langsam fallen lassend, während sie ihren Blondenshawl zurecht zog, »Mr. Avenel sei entschlossen, nicht zu heirathen.«

»Zum Teufel, was wissen die Leute!« platzte Richard ärgerlich heraus; biß sich dann aber über diesen lapsus linguae Sprachliche Fehlleistung. beschämt auf die Lippen und starrte mit vor Entrüstung funkelnden Augen auf die Gesellschaft.

Mrs. M'Catchley beobachtete ihn über ihren Fächer hinweg. Plötzlich drehte Richard sich um, worauf sie ihre Augen bescheiden niederschlug und ihr Gesicht hinter ihrem Fächer verbarg.

»Sie ist eine wahre Schönheit,« murmelte Richard.

Der Fächer setzte sich in schwingende Bewegung.

Fünf Minuten später schienen die Wittwe und der Junggeselle in so gutem Vernehmen mit einander, daß Mrs. Pompley, welche genöthigt gewesen, ihre Freundin zu verlassen, um die Frau Dechantin zu begrüßen, kaum ihren Augen traute, als sie zu dem Sopha zurückkehrte.

Von diesem Abend an ward in Richard Avenel's Benehmen jene Veränderung bemerkbar, die wir früher erwähnten. Und von jenem Abend an unterließ er es, Leonard mit zu den Gesellschaften in den Abteigärten zu nehmen.


Neuntes Kapitel.

Einige Tage nach dieser denkwürdigen Soirée saß Oberst Pompley, in seine Haushaltungsrechnungen vertieft, allein in seinem Studirzimmer, von welchem eine Thüre bequem in einen altmodischen Garten führte. Oberst Pompley überließ nämlich seiner Frau diese häusliche Sorge nicht – vielleicht weil sie zu vornehm dazu war. Mit seiner eigenen, klangvollen Stimme bestellte der Oberst die Hammelskeulen, und mit seiner eigenen Heldenhand theilte er die Vorräthe aus.

Um jedoch dem Obersten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muß ich hinzusetzen, obgleich ich mich dadurch der Gefahr aussetze, das schöne Geschlecht zu beleidigen, daß in ganz Screwstown kein Hauswesen so wohl geordnet war, wie dasjenige der Pompley's, und daß man in keinem die schwierige Kunst, Prunksucht und Sparsamkeit zu vereinigen, so gut verstand, wie in dem ihrigen. Es wäre sicher keine leichte Aufgabe, dem Leser einen richtigen Begriff beizubringen, bis zu welchem Umfange Oberst Pompley sein Einkommen auszudehnen wußte; denn obgleich ihm jährlich nur siebenhundert Pfund zu Gebote standen, so lebte er damit doch großartiger, als manche andere Familie, die in derselben Zeit dreitausend verbrauchte. Freilich hatten die Pompley's keine Kinder und konnten somit alles, was sie besaßen, auf sich selbst verwenden. Die Pompley's überschritten ihr Einkommen nie, gaben sich aber auch nicht den Anschein, viel davon zu ersparen. Wenn an Weihnachten abgerechnet wurde, hatten sich jedesmal Einnahmen und Ausgaben vollkommen ausgeglichen.

Oberst Pompley saß an seinem Schreibtische. Er hatte seinen wohlgebürsteten blauen Rock über der Brust zugeknöpft; die grauen Beinkleider lagen knapp an und wurden durch ein kettenartig gegliedertes Drahtband, das unter der Stiefelsohle weglief, stramm gehalten; dadurch ersparte er die sogenannten Stege. Niemand hatte Mr. Pompley je in Pantoffeln und Schlafrock gesehen. Er und sein Haus waren stets gleichmäßig in Ordnung und stets in einem Zustande, daß sie sich vor Jedermann zeigen konnten –

»Vom Morgen bis zum Mittag,
Vom Mittag zum thauigen Abend.«

Der Oberst war ein kleiner, untersetzter Mann mit einiger Anlage zum Starkwerden und hatte ein sehr rothes Gesicht, das nicht blos rasirt, sondern sogar gefeilt schien. Er trug die Haare kurz geschnitten, und ließ nur vorne einen Büschel stehen, der, wie sich der Haarkünstler ausdrückte, eine Feder bildete; allein sie schien so stark und steif, als ob sie von Eisen wäre, wie denn überhaupt Festigkeit und Bestimmtheit charakteristische Züge in dem Gesichte des Obersten waren.

So saß er vor seinem Haushaltungsbuche, die Stahlfeder in der Hand und da und dort Kreuze oder Fragzeichen machend. »Mrs. M'Catchley's Kammerjungfer muß auf Rationen gesetzt werden,« brummte er vor sich hin. »Es ist unerhört, was sie Thee trinkt! Thee und wieder Thee!«

Von der äußern Thüre her ließ sich ein bescheidenes Klingeln vernehmen.

»Zu früh für einen Besuch,« dachte der Oberst; »vielleicht will man die Wassersteuer holen.«

Der äußerst anständige Bediente, der nie anders, als gepudert und in grand tenue Festlich aufgeputzt. vor seiner Herrschaft erschien, trat ein und verbeugte sich.

»Ein Gentleman wünscht Sie zu sprechen, Sir.«

»Ein Gentleman?« wiederholte der Oberst, auf die Uhr sehend.

»Bist du gewiß, daß es ein Gentleman ist?«

Der Bediente zögerte.

»Ich bin nicht ganz sicher, Sir; aber er spricht wie ein Gentleman. Er sagt, er komme von London, um Sie zu sehen, Sir.«

Es fand gerade damals ein langer und interessanter Briefwechsel, die sichere Anlegung von Kapitalien seiner Frau betreffend, zwischen dem Obersten und einem Bevollmächtigten Mrs. Pompley's statt.Vielleicht war es dieser – ja, er mußte es sein. Er hatte versprochen, nach Screwstown zu kommen, wenn es ihm irgend möglich wäre.

Lassen Sie ihn eintreten,« befahl Oberst Pompley, »Und wenn ich klingle – Sandwichs und Sherry.«

»Rinderbraten, Sir?«

»Schinken.«

Der Oberst legte sein Hausbuch bei Seite und wischte seine Feder aus.

Im nächsten Augenblick öffnete sich die Thüre, und der Bediente meldete –

»Mr. Digby.«

Das Gesicht des Obersten verlängerte sich; er fuhr betroffen zurück.

Die Thüre wurde zugedrückt, und Mr. Digby stand in der Mitte des Zimmers; er schien einer Stütze zu bedürfen und lehnte sich an den großen Schreibtisch. Der arme Soldat sah elender, schäbiger, dem Ende alles Irdischen näher gerückt aus, als bei seinem Zusammentreffen mit Lord L'Estrange. Gleichwohl bewies der Bediente Weltkenntniß, indem er Digby einen Gentleman nannte, denn keine andere Bezeichnung würde auf ihn gepaßt haben.

»Sir,« begann der Oberst, nachdem er sich einigermaßen erholt hatte, mit großer Feierlichkeit, »ich war auf dieses Vergnügen nicht vorbereitet.«

Der arme Besucher blickte schwindlich umher, sank in einen Stuhl und schöpfte mühsam Athem. Der Oberst betrachtete ihn, wie man nur einen armen Verwandten betrachtet, und knöpfte zuerst die eine, dann die andere seiner Taschen zu.

»Ich glaubte, Sie wären in Canada,« sagte endlich der Oberst.

Mr. Digby war jetzt wieder so weit zu Athem gekommen, um sprechen zu können, und erwiderte kleinlaut:

»Das Klima hätte mein Kind getödtet. Ich bin seit zwei Jahren zurückgekehrt.«

»So haben Sie ohne Zweifel eine sehr gute Anstellung in England gefunden, da Sie diejenige in Canada dafür aufgaben.«

»Der Arzt erklärte, sie würde keinen Winter in Canada mehr überleben.«

»Pah,« brummte der Obrist.

Mr. Digby athmete tief auf. »Ich mochte nicht zu Ihnen kommen, Oberst Pompley, so lange Sie denken konnten, ich wolle für mich etwas erbitten.«

Die Stirne des Obristen glättete sich.

»Eine sehr ehrenhafte Gesinnung, Mr. Digby.«

»Ich that es nicht, obwohl ich viel durchzumachen hatte; aber sehen Sie, Oberst,« setzte der arme Verwandte mit einem matten Lächeln hinzu, »der Feldzug ist bald zu Ende und der Frieden vor der Thüre.«

Der Oberst schien gerührt.

»Sprechen Sie nicht so, Digby! Ich höre dergleichen nicht gerne. Sie sind jünger, als ich – es gibt nichts Unangenehmeres, als diese trübe Anschauung der Dinge. Sie haben, wie Sie sagen, genug, um zu leben, wenigstens habe ich Sie so verstanden, und ich bin sehr erfreut darüber, denn leider wäre ich nicht im Stande, Ihnen zu helfen, da ich von so vielen Seiten in Anspruch genommen werde. Es ist also ganz gut so, Digby!«

»O, Oberst Pompley!« rief der Soldat, mit fieberhafter Heftigkeit seine Hände zusammenpressend – »ich komme als ein Bittender, zwar nicht für mich, aber für mein Kind! Ich habe nur ein einziges – ein Mädchen. Sie war so gut gegen mich. Sie wird Ihnen nicht viele Kosten verursachen. Nehmen Sie sie auf, wenn ich sterbe; versprechen Sie mir, ihr ein Obdach, eine Heimath in Ihrem Hause zu gewähren! Sie sind mein nächster Verwandter, und ich habe außer Ihnen Niemand auf der Welt, an den ich mich wenden könnte. Sie sind kinderlos – meine Tochter wird ein Segen für Sie sein, wie Sie mein ganzes Erdenglück war!«

Wenn das Gesicht des Obristen Pompley schon in gewöhnlicher Zeit roth genannt werden konnte, so genügt kein Ausdruck, um die dunkle, blutähnliche Färbung zu bezeichnen, welche dasselbe während dieser Rede annahm.

»Der Mann ist verrückt,« sagte er endlich in einem Tone, der mehr noch Erstaunen, als Zorn ausdrückte – »total verrückt! Ich soll sein Kind aufnehmen – einem wirklichen, großen hungrigen Kinde Kost und Wohnung geben! Wie oft habe ich nicht zu Mrs. Pompley gesagt: ›Es ist ein Glück, daß wir keine Kinder haben. Wir könnten nicht anständig leben – wir würden nicht reichen, wenn wir Kinder hätten.‹ Ein Kind – das kostspieligste, hungrigste Ding von der Welt – wohl im Stande, Einen zu Grunde zu richten!«

»Sie ist an das Hungern gewöhnt,« versetzte Mr. Digby kläglich. »O, lassen Sie mich mit Ihrer Gattin sprechen; vielleicht kann ich ihr Herz rühren – sie ist ein Weib!«

Unglücklicher Vater! Das Schicksal hätte dir keine unpassendere und unzeitigere Bitte in den Mund legen können!

Mrs. Pompley sollte die Digbies sehen! Mrs. Pompley sollte die traurige Lage der vornehmen Verwandten des Obersten kennen lernen! Der Oberst wäre nie wieder derselbe Mann gewesen. Schon bei dem bloßen Gedanken hätte er vor Scham in die Erde versinken mögen. In seiner Aufregung machte er einen Schritt nach der Thüre, um sie zu verriegeln. Gütiger Himmel, wenn Mrs. Pompley hereinkäme! Und der Mensch war noch dazu mit seinem Namen angemeldet worden. Mrs. Pompley hatte vielleicht schon erfahren. daß sich ein Mr. Digby bei ihrem Gatten befinde; vielleicht war sie eben jetzt damit beschäftigt, sich in ihren besten Staat zu werfen, um ihn würdig zu empfangen. Nein, es war wirklich kein Augenblick mehr zu verlieren.

Der Oberst platzte heraus:

»Sir, ich wundre mich über Ihre Unverschämtheit. Mrs. Pompley sprechen! Stille, Sir – schweigen Sie! Ich habe mich von Ihrer Verwandtschaft losgesagt, und ich werde es nicht dulden, daß meine Gemahlin, eine Dame aus einer der vornehmsten Familien, sich derselben schämen müsse. Ja, Sie brauchen nicht aufzubrausen. John Pompley ist nicht der Mann, der sich in seinem eigenen Hause beleidigen läßt. Ich sage ›schämen‹ – oder haben Sie nicht Ihr Vermögen vergeudet und sich in Schulden gestürzt? Haben Sie nicht eine gemeine Person geheirathet, – eine Plebejerin – die Tochter eines Handwerkers? und Ihr Vater war ein so achtungswerther Mann – ein bepfründeter Geistlicher! Haben Sie nicht Ihre Offiziersstelle verkauft? Weiß der Himmel, was aus dem Gelde geworden ist! Sind Sie nicht – mich schaudert davor, es auszusprechen – ein ganz gewöhnlicher Komödiant geworden? und dann, als Sie keinen Pfennig mehr hatten, habe ich Ihnen da nicht zweihundert Pfund aus meiner eigenen Börse gegeben, damit Sie nach Canada gehen konnten? und nun stehen Sie wieder da und verlangen mit einer Ruhe, die mir den Athem benimmt, ich solle für Ihr Kind sorgen – ein Kind, dessen Verwandte von mütterlicher Seite dem niedrigsten, verächtlichsten Stande angehören. Verlassen Sie mein Haus – gehen Sie, Sir! Gütiger Himmel, nicht dort hinaus – hier!«

Mit diesen Worten öffnete der Oberst die Glasthüre, welche in den Garten führte.

»Ich will Sie auf diesem Wege hinaus lassen. Wenn Mrs. Pompley Sie gewahr würde!« Bei diesem Gedanken ergriff der Oberst den Arm seines unglücklichen Verwandten und zog ihn durch den Garten mit sich fort.

Mr. Digby sprach kein Wort, sondern suchte sich nur, wiewohl vergeblich, von dem Obersten loszumachen; dabei wechselte er so schnell die Farbe, daß man wohl sah, wie in seinen welken Adern noch immer einige Tropfen ächten Soldatenblutes floßen.

Jetzt hatte der Oberst ein kleines Pförtchen in der Gartenmauer erreicht und schob seinen armen Vetter hinaus. Dann schaute er den langen, schmalen Heckenweg hinab, und als er Niemand dort gewahrte, fiel sein Blick wieder auf den unglücklichen Mann. Für einen Augenblick empfand er eine Anwandlung von Reue – er zog rasch seine Börse.

»Da,« sagte er, »dies ist alles, was ich für Sie thun kann. Verlassen Sie die Stadt so schnell als möglich, und nennen Sie gegen Niemand Ihren Namen. Ihr Vater war ein so achtbarer Mann – ein bepfründeter Geistlicher!«

»Und hat Ihnen Ihre Offiziersstelle gekauft, Mr. Pompley! Meines Namens brauche ich mich nicht zu schämen. Doch fürchten Sie nicht, daß ich meine Verwandtschaft mit Ihnen jemals wieder geltend machen werde. Nein; ich schäme mich Ihrer

Verächtlich stieß der arme Vetter die ihm noch immer dargebotene Börse zurück und ging festen Schrittes den Heckenweg hinab.

Der Oberst blieb unschlüssig stehen. In diesem Augenblick wurde ein Fenster in seinem Hause geöffnet. Er hörte das Geräusch, drehte sich rasch um und sah, daß seine Frau sich herausbeugte. Leise schlich er durch das Gebüsch zurück und verbarg sich unter den Bäumen.


Zehntes Kapitel.

» Unglück ist ein albernes Ding,« sagte der große Cardinal Richelieu, und ich fürchte, daß seine Eminenz am Ende Recht hatte. Wenn man Dick Avenel und Mr. Digby mitten in Oxfordstreet hinstellen könnte – Dick in einem Arbeitskittel, Digby in einem Anzug vom allerfeinsten Tuch – Dick mit fünf Schillingen, Digby mit tausend Pfund in der Tasche – und wenn man dann nach Verlauf von zehn Jahren die Beiden wieder aufsuchte, so würde man Dick auf dem Wege zu einem Vermögen, Digby aber gerade noch in demselben Lage finden, in welcher er das erste Mal gewesen! Und doch gab Digby sich keinem Laster hin; er war weder ein Trinker, noch ein Spieler.

Nun, was war er denn? Hülflos. Er war der einzige Sohn gewesen – ein verwöhntes Kind, das man zum »Gentleman« erzogen, das heißt zu einem Manne, von dem man nicht erwartete, daß er im Stande sein würde, seine Hände zum Arbeiten zu gebrauchen.

Er trat, wie wir gesehen haben, in ein sehr kostspieliges Regiment ein, in welchem er sich bei dem Tode seines Vaters noch befand – mit viertausend Pfund in der Tasche und der Unfähigkeit, »Nein« zu sagen. Von Natur war er nicht verschwenderisch, aber ohne irgend einen Begriff vom Werthe des Geldes, dabei der verträglichste, sanfteste und gutmüthigste Mensch, den je das böse Beispiel Anderer auf Abwege geführt.

Dieser Abschnitt seiner Laufbahn umfaßt eine sehr gewöhnliche Geschichte, nämlich die eines armen Mannes, der auf gleichem Fuße mit dem Reichen lebt. Schulden; seine Zuflucht nehmen zu Wucherern; für Andere Wechsel unterschreiben und für das Erneuern derselben zwanzig Procent bezahlen, so daß die viertausend Pfund wie Schnee zusammenschmolzen; dringendes Appelliren an Verwandte; diese haben selbst Kinder; man gewährt eine kleine Unterstützung, obwohl mit Widerstreben, und begleitet dieselbe mit einer Menge guter Rathschläge und allerlei Bedingungen.

Unter den Bedingungen befindet sich eine sehr sachgemäße und kluge – durch Tausch in ein weniger kostspieliges Regiment einzutreten. Die Versetzung findet statt; Friede; schlechte Quartiere auf dem Lande; Langeweile, Flötenspiel und Müßiggang. Mr. Digby kann an regnerischen Tagen zu nichts Anderem seine Zuflucht nehmen, als – zum Flötenspiel; ein hübsches Mädchen von niedrigem Stand; alle Offiziere hinter ihr her; Digby verliebt; das hübsche Mädchen sehr tugendhaft; Digby's Absichten nehmen einen ehrenhaften Charakter an; vortreffliche Gefühle; unkluge Heirath.

Digby kömmt herunter; die Gemahlin des Obersten will nicht mit Mrs. Digby umgehen; die ganze Verwandtschaft sagt sich von Digby los; viele unangenehme Verhältnisse im Militärleben; Digby verkauft seine Offiziersstelle; Liebe in einer Hütte; Auspfändung in eben derselben.

Digby ist einst mit vielem Beifall auf einem Liebhabertheater aufgetreten; er denkt daran zur Bühne zu gehen; die Schauspielkunst ist etwas Edles – ein gentlemanischer Beruf. Er macht unter einem anderen Namen einen Versuch in einer Provincialstadt und hat unglücklicherweise Erfolg; Leben eines Schauspielers; Leben von der Hand in den Mund; Krankheit; die Brust angegriffen; Digby's Stimme wird heiser und schwach; er bemerkt es nicht; schreibt den Mangel an Erfolg der Unwissenheit des Publikums in der Provinz zu; tritt in London auf; wird ausgepfiffen; kehrt nach der Provinz zurück; sinkt herab zu sehr kleinen Rollen; Gefängniß; Verzweiflung; seine Frau stirbt; er wendet sich abermals an seine Verwandten; man veranstaltet eine Subscription, um ihn los zu werden; schickt ihn außer Landes; eine Stelle in Canada – Oberaufseher eines Gutes mit hundertundfünfzig Pfund jährlich; vom Unglück verfolgt; hat sich nie früher für ein Geschäft geeignet und eignet sich auch jetzt nicht dafür; ist grundehrlich, aber nachlässig in seiner Rechnungsführung; das Kind kann den Winter in Canada nicht ertragen; Digby's ganze Seele hängt an dem Kinde; er geht wieder nach Hause; zwei Jahre lang ein geheimnißvolles Leben; das Kind ist geduldig, aufmerksam, liebevoll; es hat arbeiten gelernt; besorgt die Haushaltung des Vaters und unterstützt ihn oft; mit seiner Gesundheit geht er rasch abwärts; der Gedanke an die Zukunft seines Kindes ist für ihn die schlimmste aller Krankheiten.

Armer Digby! Er hat sich in seinem Leben nie eine niedrige, grausame, lieblose Handlung zu Schulden kommen lassen; und jetzt tritt er aus Oberst Pompley's Hause und geht den Heckenweg hinunter! Nun, wenn Digby etwas Welterfahrung gehabt hätte, so glaube ich, daß er selbst bei Oberst Pompley etwas ausgerichtet haben würde. Hätte er die hundert Pfund, die er von Lord L'Estrange erhalten, darauf verwendet, Effect zu machen – hätte er sich und seine hübsche Helene mit einer passenden Garderobe ausgestattet; hätte er auf der letzten Poststation angehalten, einen eleganten Zweispänner genommen und sich Oberst Pompley in einer Weise vorgestellt, daß die Verwandtschaft des Obersten nicht dadurch in Mißcredit käme – hätte er endlich, statt um ein Obdach für sein Kind zu bitten, den Obersten ersucht, im Fall seines Todes der Vormund seines Kindes zu werden, so bin ich fest überzeugt, der Oberst hätte sich, trotz seines Geizes, dazu bequemt, Helene zu sich zu nehmen.

Aber unser armer Freund kannte keine solche Kunstgriffe. Von den hundert Pfunden hatte er in der That noch sehr wenig übrig, denn bevor er die Stadt verließ, that er, was Sheridan Richard Brinsley Sheridan (1751-1816), irischer Dramatiker und Politiker. für die allergrößte aller Unbesonnenheiten hielt – er verzettelte sein Geld, indem er seine Schulden bezahlte; und was die Aufbesserung seiner und Helenens Garderobe betrifft – so würde er einen solchen Gedanken, wenn er ihm je eingefallen wäre, als thöricht verworfen haben. Er würde gedacht haben, daß er, je mehr er seine Armuth zeigte, um so mehr bemitleidet werden würde – einer der größten Fehler, den ein armer Vetter sich zu Schulden kommen lassen kann. Nach Theophrast hat das paphlagonische Rebhuhn zwei Herzen Gellius (siehe Anm. 124) berichtet in seinen »Attischen Nächten« XVI, 15 von dieser Aussage Theophrasts.; ebenso verhält es sich mit den meisten Menschen – und es ist der gewöhnliche Fehler der Unglücklichen, daß sie bei dem unrechten anklopfen.


Elftes Kapitel.

Mr. Digby trat in das Zimmer des Gasthauses, in welchem er Helenen zurückgelassen hatte. Sie saß am Fenster und blickte sehnsuchtsvoll in die schmale Straße hinab, die dort spielenden Kinder betrachtend – Helena hatte nie eine Spielzeit gehabt! Als ihr Vater kam, sprang sie ihm entgegen. Seine Ankunft war für sie ein Festtag.

»Wir müssen nach London zurückgehen,« sagte Mr. Digby, indem er matt auf einen Stuhl niedersank. Dann sprach er mit seinem eigentümlichen kränklichen Lächeln denn er war auch gegen sein Kind die Sanftmuth selbst – »willst du so gut sein, zu fragen, wann der erste Wagen abgeht?«

Wenn es sich um Thätigkeit in ihrem sorgenvollen Leben handelte, so fiel diese jedes Mal seinem stillen Kinde zu. Sie küßte ihren Vater, stellte eine Mixtur gegen Husten, die sie von London mitgebracht hatte, vor ihn hin und ging schweigend hinaus, um nachzufragen und Vorbereitungen zur Rückreise zu treffen.

Um acht Uhr saßen Vater und Kind mit noch Einem Passagier – einem bis an das Kinn eingehüllten Manne – in dem Nachtwagen. Nachdem sie eine Meile gefahren, ließ der Mann eines der Fenster herab. Obgleich Sommer, war die Luft kühl und rauh. Digby zitterte und hustete.

Helene legte ihre Hand auf das Fenster, lehnte sich gegen den Passagier und flüsterte sanft einige Worte.

»Ha!« sagte der Passagier, »das Fenster aufziehen? Sie haben Ihr eigenes Fenster; dieses ist das meinige. Oxygon, junge Dame,« fügte er feierlich hinzu, »Oxygon ist der Athem des Lebens. Der Tausend, Kind!« fuhr er mit unterdrücktem Aerger und in einem wallisischen Accente sprechend fort, »der Tausend! Laß uns athmen und leben.«

Helene erschrack und zog sich zurück.

Ihr Vater, welcher diese Unterhaltung nicht gehört oder nicht auf dieselbe Acht gegeben hatte, lehnte sich zurück in die Ecke, schlug seinen Rockkragen auf und hustete wieder.

»Es ist kalt, liebe Helene,« sagte er mit matter Stimme.

Der Passagier fing das Wort auf und antwortete unwillig, aber als wenn er mit sich selber spräche –

»Kalt – hu! Die Engländer, glaube ich, sind das verzärtelste Volk von der Welt. Man darf nur ihre Betten mit den vier hohen Pfosten sehen! – alle Vorhänge zusammengezogen, die Fensterladen geschlossen, vor dem Ofen einen Schirm – in keinem Hause findet man einen Ventilator! Kalt – hu!«

Das Fenster neben Mr. Digby schloß nicht fest in den Rahmen.

»Es zieht abscheulich,« sagte der Kranke.

Helene bemühte sich augenblicklich, die Ritzen der Fenster mit ihrem Taschentuch zu verstopfen Mr. Digby blickte traurig nach dem anderen Fenster. Der Blick, der sehr beredt war, erregte den Groll des Reisenden noch mehr.

»Angenehm!« sagte er. »Kalt! Ich glaube gar, Sie werden verlangen, daß ich nächstens aussteigen soll! Aber Leute, die mit dem Postwagen fahren, sollten die Gesetze der Postwagen kennen. Ich bekümmere mich nicht um Ihr Fenster; es ist nicht Ihre Sache, sich um das meinige zu kümmern.«

»Sir, ich habe nichts gesagt,« sagte Mr. Digby sanft.

»Aber das Fräulein that es.«

»Ach, Sir!« sagte Helene in klagendem Tone, »wenn Sie wüßten, wie mein Vater leidet!« und sie streckte wieder ihre Hand gegen das störende Fenster aus.

»Nein, meine Liebe, der Herr ist in seinem Rechte,« sagte Mr. Digby, verbeugte sich in seiner gewohnten milden Weise und fügte hinzu: »Entschuldigen Sie meine Tochter, Sir, sie denkt zu viel an mich.«

Der Passagier sagte nichts, und Helene schmiegte sich fest an ihren Vater und gab sich Mühe, ihn gegen die Luft zu schützen.

Der Passagier rückte unruhig hin und her. »Gut,« sagte er in einem schnarrenden Tone, »Luft ist Luft und Recht ist Recht, aber hier mag« – und damit zog er rasch das Fenster auf.

Helene wandte sich mit einem Ausdruck der Dankbarkeit im Gesichte, den man sogar im Zwielichte bemerken konnte, gegen den Fremden.

»Sie sind sehr gütig, Sir,« sagte der arme Mr. Digby; »ich schäme mich zu« – der Husten unterbrach den Schluß des Satzes. Der Passagier, ein vollblütiger, sanguinischer Mann, war dem Ersticken nahe; aber er entledigte sich seiner Umhüllung und verzichtete auf das Oxygon wie ein Held.

Alsbald rückte er dem Leidenden näher und legte seine Finger auf dessen Handgelenk.

»Ich befürchte, daß Sie Fieber haben; ich bin ein Arzt. Pst! – eins – zwei – Der Tausend! Sie sollten nicht reisen; Sie können das nicht ertragen.«

Mr. Digby schüttelte den Kopf; er war zu schwach, um zu antworten.

Der Passagier steckte seine Hand in die Rocktasche und zog einen Gegenstand heraus, der wie ein Cigarrenetui aussah, in der That aber ein ledernes Repertorium war, das eine Menge verschiedener kleiner Glasfläschchen enthielt.

Aus einem derselben nahm er zwei winzig kleine Kügelchen. »Da,« sagte er. »Oeffnen Sie Ihren Mund, legen Sie diese auf die Zungenspitze; sie werden den Puls langsamer machen – das Fieber stillen. Sie werden sich bald wohler fühlen – sollten aber nicht reisen – Sie bedürfen der Ruhe – Sie sollten zu Bett – Aconit! – Bilsenkraut! – hum! Ihr Vater hat eine helle Hautfarbe – einen schüchternen Charakter, und ich möchte beinahe sagen, daß er arbeitsscheu ist. Wie, mein Kind?«

»Sir!« stöhnte Helene verwundert und beunruhigt. – War der Mann ein Zauberer?

»Hier muß man Phosphor anwenden; der einfältige Browne Samuel Browne (†1698) war Arzt der britischen Ostindien-Kompanie im indischen Madras. Er vergiftete am 30. August 1693 versehentlich durch eine mit Arsen kontaminierte Arznei das Ratsmitglied James Wheeler. würde Arsenik gesagt haben.«

»Arsenik, mein Herr!« wiederholte Digby in mildem Tone. »Nein; so unglücklich ich auch bin, so glaube ich doch, daß Selbstmord, wenn man sich auch dazu veranlaßt sehen könnte, eine höchst verbrecherische Handlung ist.«

»Selbstmord,« sagte der Passagier ruhig – »Selbstmord ist mein Steckenpferd! Sie haben, sagen Sie, keine derartigen Symptome?«

»Gütiger Himmel! Nein, Sir.«

»Wenn Sie je einen heftigen Trieb empfinden sollten, sich zu ertränken, nehmen Sie pulsatilla Kuh- oder Küchenschelle, ein Hahnenfußgewächs; findet Verwendung als homöopathisches Mittel.. Empfinden Sie dagegen eine Neigung, sich zu erschießen, begleitet von Schwere in den Gliedern, Mangel an Appetit, trockenem Husten und Schmerz in den Hühneraugen, dann nehmen Sie Schwefelantimon. Vergessen Sie das nicht.«

Obgleich es Mr. Digby schien, als ob der Gentleman nicht recht im Kopfe sein müsse, so versuchte er doch, ihm in höflicher Weise zu sagen, »daß er ihm sehr verbunden sei, und gewiß seine Rathschläge im Gedächtniß behalten werde,« allein die Zunge versagte ihm ihren Dienst, und seine Gedanken verwirrten sich. Sein Kopf sank schwer zurück, und er verfiel in ein Schweigen, gleich dem eines Schlafenden.

Als Helene den Kopf ihres Vaters sanft auf ihre Schulter stützte und ihn dort mit rührender Zärtlichkeit zurecht legte, warf der Reisende einen scharfen Blick auf sie.

»Moralisches Gemüth – sanft – zu bedauern! – ein gutes Kind, und es würde alles gut gehen mit – pulsatilla

Helene hob den Finger in die Höhe, blickte vom Vater auf den Fremden und dann wieder auf den Vater.

»Gewiß – pulsatilla!« murmelte der Homöopath, worauf er sich in seine eigene Ecke zurückzog und ebenfalls zu schlafen versuchte. Aber nach einigen vergeblichen Bemühungen, welche von unruhigen Geberden und Bewegungen begleitet waren, erhob er sich plötzlich und zog wieder sein Phiolenetui heraus.

»Was zum Henker, gehen sie mich an!« murmelte er. »Krankhafte Empfindsamkeit des Charakters – Kaffee? Nein! – in Verbindung mit einem lebhaften und ungestümen Temperament – Nux Nux Vomica, Brechnuss; soll als homöopathisches Mittel auf das Zentralnervensystem wirken und bei Schmerzen, Stress und Übelkeit helfen.!« Er hielt das Etui an das Fenster und versuchte, die Aufschrift auf einem Fläschchen zu lesen. » Nux! das ist es,« sagte er – und verschluckte ein Kügelchen!

»Nun,« fuhr er nach einer Pause fort, »ich kümmere mich nicht das Geringste um das Unglück anderer Leute – ja, ich habe halb und halb Lust, das Fenster niederzulassen.«

Helene blickte auf.

»Aber ich will nicht,« fügte er entschlossen hinzu; und diesmal schlief er sanft ein.


Zwölftes Kapitel.

Der Wagen machte um elf Uhr Halt, damit die Passagiere zu Abend speisen konnten. Der Homöopath wachte auf, stieg aus, schüttelte sich und athmete die frische Luft in seine kräftigen Lungen mit einer Empfindung ein, die ihm offenbar Entzücken bereitete. Dann drehte er sich um und blickte in den Wagen.

»Lassen Sie Ihren Vater aussteigen, mein liebes Kind,« sagte er in einem sanfteren Tone, als gewöhnlich. »Ich möchte ihn drinnen im Hause sehen – vielleicht kann ich ihm nützlich sein.«

Wie entsetzte sich aber Helene, als sie fand, daß ihr Vater sich nicht bewegte. Er war in eine tiefe Ohnmacht gefallen und noch vollkommen bewußtlos, als sie ihn aus dem Wagen hoben. Nachdem er wieder zur Besinnung gekommen, kehrte sein Husten zurück, und die Anstrengung verursachte ihm Blutspucken.

Es war unmöglich, daß er weiter reisen konnte. Der Homöopath war behilflich ihn auszukleiden und zu Bett zu bringen. Nachdem er ihm noch eines seiner geheimnisvollen Kügelchen gereicht hatte, fragte er den Wirth, wie weit es bis zum nächsten Arzte sei – denn das Wirthshaus stand allein in einem kleinen Dörfchen.

Die Apotheke des Kirchspiels lag drei Meilen davon entfernt. Als er aber hörte, daß die vornehmeren Leute Dr. Dosewell als Arzt benützten, und daß es gute sieben Meilen bis zu seiner Wohnung sei, holte der Homöopath tief Athem. Der Wagen hielt sich nur eine Viertelstunde auf.

»Der Tausend!« sprach er zornig vor sich hin – » Nux hat nichts genützt. Meine Empfindlichkeit ist chronischer Natur. Ich muß eine lange Cur durchmachen, um sie los zu werden. Holla, Conducteur, thun Sie meinen Reisesack heraus. Ich gehe diese Nacht nicht weiter.«

Und nachdem der gute Mann ein ganz bescheidenes Abendessen eingenommen, ging er wieder hinauf zu dem Kranken.

»Soll ich Dr. Dosewell holen lassen, Sir!« fragte die Wirthin, indem sie ihn an der Thüre anhielt.

»Hum! Um wie viel Uhr geht der nächste Wagen Morgen nach London?«

»Nicht vor acht Uhr, Sir.«

»Gut, lassen Sie den Doctor morgen um sieben Uhr hier sein. Das läßt uns wenigstens einige Stunden Ruhe vor Allopathie Schulmedizin, die Krankheiten (im Gegensatz zur Homöopathie) mit Medikamenten behandelt, deren Wirkung den Symptomen der Krankheit entgegengesetzt ist. und Mord,« ächzte der Schüler Hahnemannn's Christian Friedrich Samuel Hahnemann (1755-1843), deutscher Arzt, medizinischer Schriftsteller und Übersetzer; Begründer der Homöopathie., als er in das Zimmer eintrat.

Ob es nun das Kügelchen war, welches der Homöopath dem Patienten gereicht hatte, oder die Wirkung der Natur, unterstützt von der Ruhe, die den Bluterguß gehemmt und den armen Kranken zeitweilig gestärkt hatte, ist mehr, als Jemand, der nicht zur Fakultät gehört, zu entscheiden befugt ist. Jedenfalls aber schien sich Mr. Digby besser zu befinden und versank allmälig in tiefen Schlaf. Vorher jedoch hatte der Doctor sein Ohr an die Brust des Kranken gelegt, dieselbe mit seiner Hand befühlt und ihm verschiedene Fragen vorgelegt; hierauf zog sich der Homöopath in eine Ecke des Zimmers zurück und schien, das Gesicht auf die Hand gestützt, nachzudenken. Er wurde durch eine sanfte Berührung gestört. Helene kniete zu seinen Füßen.

»Ist er sehr krank – sehr?« sagte sie und heftete ihre lieblichen, gedankenvollen Augen mit dem Ernst der Verzweiflung auf die des Arztes.

»Ihr Vater ist sehr krank,« antwortete der Doctor nach einer kurzen Pause. »Wenigstens kann er vor einigen Tagen nicht von hier abreisen. Ich gehe nach London – soll ich bei Ihren Verwandten vorsprechen und bitten, daß Jemand zu Ihnen kömmt?«

»Nein, ich danke Ihnen, Sir,« antwortete Helene erröthend; »aber sie brauchen nicht besorgt zu sein; ich kann ihn allein pflegen Ich glaube, er ist schon kränker gewesen – das heißt, er hat schon mehr geklagt.«

Der Homöopath stand auf und schritt zweimal im Zimmer auf und ab, dann blieb er am Bette stehen und horchte auf das Athmen des Schlafenden.

Er schlich sich zurück nach dem Kinde, welches noch immer kniete, umarmte und küßte es.

»Zum Kukuk!« sprach er zornig, indem er das Kind wieder losließ, »gehen Sie jetzt zu Bette. Sie sind nicht mehr nothwendig.«

»Verzeihen Sie, Sir,« sagte Helene, »ich kann ihn nicht verlassen; wenn er aufwacht, würde er mich vermissen«

Die Hand des Doctor zitterte. Er nahm seine Zuflucht zu einem Kügelchen. »Angst, unterdrückter Kummer,« murmelte er. »Haben Sie nicht das Bedürfniß, zu weinen, mein liebes Kind? Weinen Sie doch.«

»Ich kann nicht,« erwiderte Helene.

» Pulsatilla!« sagte der Doctor fast triumphirend. »Ich habe es von Anfang an gesagt. Oeffnen Sie die Lippen – hier haben Sie es. Gute Nacht. Mein Zimmer befindet sich gegenüber – Nro. 6; rufen Sie mich, wenn er aufwacht.«


Dreizehntes Kapitel.

Um sieben Uhr kam Doctor Dosewell an und wurde in das Zimmer des Homöopathen gewiesen, der, schon aufgestanden und angezogen, seinen Patienten bereits besucht hatte.

»Mein Name ist Morgan,« sagte der Homöopath – »Ich bin Arzt. Ich übergebe Ihnen einen Patienten, den, wie ich fürchte, weder Sie noch ich wiederherstellen können. Kommen Sie und sehen Sie ihn«

Die beiden Aerzte traten in das Krankenzimmer. Mr. Digby war sehr schwach, er hatte aber das Bewußtsein wieder erlangt und nickte ihnen höflich zu.

»Es thut mir leid, daß ich Ihnen so viel Mühe verursache,« sagte er.

Der Homöopath zog Helene weg; der Allopath nahm Platz lieben dem Bette, stellte seine Fragen, fühlte den Puls, klopfte an des Patienten Brust, um die Lungen zu untersuchen, und ließ sich die Zunge zeigen. Helenen's Augen waren auf den fremden Doctor gerichtet, und ihre Wangen wurden röther, und ihre Augen strahlten, als er heiter aufstand und in freundlichem Tone sagte: »Sie können ein wenig Thee trinken.«

»Thee!« brummte der Homöopath – »der Barbar!«

»Er befindet sich also besser, Sir?« sagte Helene leise zu dem Allopathen.

»O ja, mein liebes Kind – gewiß; und ich hoffe, daß wir gut durchkommen werden.«

Hierauf zogen sich die beiden Aerzte zurück.

»Ungefähr noch eine Woche,« sagte Doctor Dosewell, freundlich lächelnd, und zeigte dabei zwei Reihen sehr weißer Zähne.

»Ich würde einen Monat gesagt haben, aber unsere Systeme sind verschieden,« antwortete Doctor Morgan trocken.

Doctor Dosewell (höflich). – »Wir Aerzte auf dem Lande müssen uns vor denen der Hauptstadt, als uns überlegen, bescheiden; was würden Sie rathen? Sie würden vielleicht das Experiment versuchen, dem Patienten zur Ader zu lassen?«

Doctor Morgan (hastig und wallisisch redend, was er nur that, wenn er aufgeregt war). – »Zur Ader lassen! Gott im Himmel! Halten Sie mich für einen Metzger – einen Scharfrichter? Zur Ader lassen! Niemals!«

Doctor Dosewell. – »Ich finde es selbst nicht passend, wenn beide Lungen fort Engl. gone: hier »hin«. sind.Vielleicht aber wären Sie für das Mittel des Einathmens?«

Doctor Morgan. – »Ah, bah!«

Doctor Dosewell (etwas unzufrieden). – »Was würden Sie denn rathen, um das Leben unseres Patienten noch einen Monat zu verlängern?«

Doctor Morgan. – »Der Hämoptysie ein Ende machen – ihm Rhus geben.« Hämoptysie: Blutiger Auswurf. – Rhus Toxicodendron: Der Upas-Baum oder Eichenblättrige Giftsumach, ein Maulbeergewächs. Legenden besagen, der Baum sei so giftig, dass Vögel beim bloßen Überfliegen verstürben. Auch wurde behauptet, dass Menschen, die sich einem blühenden Baum näherten, den Tod gefunden hätten. Rhus Toxicodendron gehört zu den wichtigsten homöopathischen Arzneien.

Doctor Dosewell. – » Rhus, Sir, Rhus! Ich kenne das Mittel nicht. Rhus

Doctor Morgan. – » Rhus Toxicodendron

Die Länge des letzteren Wortes flößte Doctor Dosewell Respect ein. Ein Wort von fünf Sylben – das doch etwas auf sich haben mußte! Er verbeugte sich ehrerbietig, sah aber noch etwas verlegen aus. Endlich sagte er mit einem offenen Lächeln: »Ihr großen Londoner Aerzte habt so viele neue Mittel; darf ich fragen, was Rhus toxicotoxico –«

» Dendron

»Ist?«

»Der Saft des Upas – gewöhnlich Giftbaum genannt.«

Doctor Dosewell fuhr auf.

»Upas – Giftbaum – kleine Vögel, die in seinen Schatten gerathen, fallen todt zur Erde. Sie geben Upas-Saft bei Hämoptysie – welche Dosis?«

Doctor Morgan verzog das Gesicht zu einem boshaften Lächeln und zeigte ein Kügelchen von der Größe eines kleinen Stecknadelknopfes.

Doctor Dosewell trat mit Zeichen des Eckels einen Schritt zurück.

»Oh!« sagte er sehr kalt und nahm plötzlich eine Miene stolzer Ueberlegenheit an. »Ich sehe, Sie sind ein Homöopath, Sir.«

»Ein Homöopath!«

»Hm!«

»Hm!«

»Ein wunderbares System,« sagte Doctor Dosewell, indem er wieder freundlich, aber mit einem Anstrich von Verachtung lächelte, »das bald die Apotheker zu Grunde richten würde.«

»Geschähe ihnen recht. Die Apotheker richten rasch die Patienten zu Grunde.«

»Sir!«

»Sir!«

Doctor Dosewell (mit Würde). – »Sie wissen vielleicht nicht, Doctor Morgan, daß ich zugleich Apotheker und Arzt bin. Allerdings,« fügte er mit einer gewissen großartigen Demuth hinzu, »habe ich noch kein Diplom genommen, und man nennt mich nur aus Höflichkeit Doctor.«

Doctor Morgan. – »Kömmt auf Eins heraus, Sir! Der Doctor unterschreibt den Hinrichtungsbefehl – der Apotheker vollstreckt denselben.«

Doctor Dosewell (mit trockenem Hohn). – »Gewiß behaupten wir nicht, einen Sterbenden durch den Saft des todtbringenden Upasbaumes am Leben erhalten zu können.«

Doctor Morgan. – »Natürlich thun Sie das nicht. Bei uns gibt es kein Gift. Das ist gerade der Unterschied zwischen Ihnen und mir, Doctor Dosewell!«

Doctor Dosewell (auf des Homöopathen Reisepharmakopöe deutend und mit gezierter Aufrichtigkeit). – »In der That, ich habe immer gesagt, wenn Sie nichts nützen können, so können Sie mit Ihren unendlich kleinen Gaben auch nicht schaden.«

Doctor Morgan, welcher sich gegen die Beschuldigung des Vergiftens unempfindlich gezeigt hatte, geräth in Harnisch über die Andeutung, daß er keinen Schaden thun könne. »Sie verstehen nichts davon! Ich könnte ebenso viele Menschen tödten, wie Sie, wenn ich das wollte; aber ich will es nicht.«

Doctor Dosewell (die Achsel zuckend). – »Sir, es ist nicht der Mühe werth, darüber zu streiten; die Sache ist gegen den gesunden Menschenverstand. Kurz, es ist meine bestimmte Ansicht, daß es ein – ein vollkommener –«

Doctor Morgan. – »Ein vollkommener – was?«

Doctor Dosewell (auf's Aeußerste aufgebracht). – »Schwindel ist!«

Doctor Morgan. – »Schwindel! Gott im Himmel! Sie alter –«

Doctor Dosewell. – »Was alter, Sir?«

Doctor Morgan (wohl bewandert in einer Reihe von alliterirenden Vocalen, die nur ein Cymbrier Waliser; »Gymru« heißt Wales in der Sprache der Waliser. hätte aussprechen können, ohne nach Luft zu schnappen). – »Alter allopathischer Anthropophag Menschenfresser.

Doctor Dosewell (springt auf, ergreift den Stuhl, auf welchem er gesessen, an der Lehne und stößt ihn mit den vier Beinen heftig auf den Boden). – »Sir!«

Doctor Morgan (dasselbe mit seinem Stuhle vornehmend). – »Sir!«

Doctor Dosewell. – »Sie sind ein Lästermaul.«

Doctor Morgan. – »Sie sind ein unverschämter Mensch.«

Doctor Dosewell. – »Sir!«

Doctor Morgan. – »Sir!«

Die beiden Gegner nahmen Stellung einander gegenüber.

Sie waren Beide athletisch gebaute und heftige Männer. Doctor Dosewell war größer, Doctor Morgan aber stämmiger. Doctor Dosewell war von der Mutter Seite irländischer, Doctor Morgan aber von beiden Seiten wallisischer Abkunft. Alles in Betracht gezogen, würde ich, wenn es zu einem Faustkampf gekommen wäre, auf Doctor Morgan gewettet haben. Aber zum Glück für die Ehre der Wissenschaft klopfte in diesem Augenblick das Zimmermädchen an die Thüre und sagte:

»Der Wagen kömmt, Sir!«

Bei dieser Nachricht erlangte Doctor Morgan seine ruhige Gemüthsstimmung und sein gesetztes Benehmen wieder.

»Doctor Dosewell,« sagte er, »ich bin zu hitzig gewesen. Ich bitte um Verzeihung.«

»Doctor Morgan,« antwortete der Allopath, »ich vergaß mich. Ihre Hand, Sir.«

Doctor Morgan. – »Unser Beider Beruf ist, der Menschheit zu dienen, obgleich unsere Ansichten verschieden sind. Wir sollten uns gegenseitig achten.«

Doctor Dosewell. – »Wo sollte man Toleranz suchen, wenn die Männer der Wissenschaft gegen einander intolerant wären?«

Doctor Morgan (bei Seite). – »Der alte Heuchler! Er würde mich in einem Mörser zu Brei stampfen, wenn das Gesetz es erlaubte.«

Doctor Dosewell (bei Seite). – »Der elende Charlatan! Ich möchte ihn in einem Mörser zerstampfen.«

Doctor Morgan – »Leben Sie wohl, mein verehrter College.«

Doctor Dosewell. – »Mein vortrefflicher Freund, leben Sie wohl.«

Doctor Morgan (eilig zurückkehrend). – »Ich vergaß, Ihnen etwas zu sagen; ich glaube nicht, daß unser armer Patient sehr reich ist. Ich empfehle ihn Ihrem uneigennützigen Wohlwollen.« (Eilt schleunigst wieder hinaus.)

Doctor Dosewell (wüthend). – »Sieben Meilen um sechs Uhr Morgens, und vielleicht kein Honorar! Quacksalber! Schurke!«

Doctor Morgan war indessen in das Krankenzimmer zurückgekehrt.

»Ich muß Ihnen Lebewohl sagen,« sprach er zu dem armen Mr. Digby, welcher matt seinen Thee schlürfte. »Aber Sie befinden sich in den Händen eines – Sachverständigen.«

»Sie sind zu gütig gewesen – ich kann Ihnen nicht genug danken,« sagte Mr. Digby. »Helene, wo ist meine Börse?« Doctor Morgan schwieg.

Er schwieg erstens, weil man gestehen muß, daß seine Praxis eine beschränkte war, und ein Honorar der natürlichen Eitelkeit eines verkannten Talentes schmeichelte und den Reiz der Mannheit hatte. Zweitens war er ein Mann –

»Der seine Rechte kennt und deßhalb zu behaupten wagte.«

Er mußte ein neues Billet für den Postwagen nehmen – hatte sich eine Nacht aufgehalten – und glaubte, seinem Patienten Erleichterung verschafft zu haben. Er hatte ein Recht auf sein Honorar. Andererseits schwieg er, weil er sich, obgleich seine Praxis nicht groß war, in ziemlich guten Umständen befand, sich aus dem Golde an und für sich nichts machte und vermuthete, daß sein Patient kein Crösus sei.

Mittlerweile hatte Helene die Börse gefunden. Doctor Morgan sah in dem ziemlich durchsichtigen Netzwerk nur wenige Sovereigns. Er nahm das Kind ein wenig bei Seite.

»Antworten Sie mir offen, mein liebes Kind – ist Ihr Vater reich?«

»Ach nein!« antwortete Helene und ließ den Kopf hängen.

»Ist das Alles, was Sie haben?«

»Alles.«

»Ich schäme mich, Ihnen zwei Guineen anzubieten,« sprach Mr. Digby mit hohler Stimme von seinem Bette aus.

»Und ich würde mich noch mehr schämen, sie anzunehmen. Leben Sie wohl, Sir.«

»Kommen Sie her, mein Kind. Behalten Sie Ihr Geld und verschwenden Sie an den andern Doctor nicht mehr als Sie durchaus müssen. Seine Arznei kann Ihrem Vater nichts nützen. Aber ich glaube, daß Sie selbst welche nehmen müssen. Es ist kein eigentlicher Arzt, weßhalb kein Honorar zu bezahlen ist. Er wird Ihnen eine Rechnung schicken, die nicht viel betragen kann. Sie verstehen? und nun, Gott segne Sie!«

Doctor Morgan war fort. Als er aber der Wirthin seine Rechnung bezahlte, sagte er: »Die armen Leute eben können Sie, aber nicht diesen Doctor bezahlen – und er nützt ihnen auch nichts. Seien Sie gütig gegen das kleine Mädchen und veranlassen Sie den Doctor, seinem Patienten zu sagen (in vorsichtiger Weise, natürlich), daß er seinen Freunden schreiben möge – aber bald – Sie verstehen mich. Irgend Jemand muß sich des armen Kindes annehmen. Und halt – geben Sie Ihre Hand her und passen Sie auf – diese Kügelchen sind für die Kleine, wenn ihr Vater stirbt« – (Hier murmelte der Doctor vor sich hin: »Kummer – Aconit«) – »und wenn sie nachher zu viel weint – dann diese (aber machen Sie keinen Mißgriff) – Thränen – Causticum Destillat aus frisch gebranntem Marmorkalk und Kaliumhydrogensulfat, eine Erfindung Hahnemanns.!‹

»Kommen Sie, Sir,« rief der Kutscher.

»Ich komme! – Thränen – Causticum,« wiederholte der Homöopath, zog, als er in den Wagen stieg, sein Taschentuch zugleich mit seinem Phiolen-Etui hervor und verschlang eilig ein thränenstillendes Kügelchen.


Vierzehntes Kapitel.

Richard Avenel befand sich in großer Aufregung. Er beabsichtigte eine für Screwstown ganz neue Art von Festlichkeit zu geben. Mrs. M'Catchley hatte mit vieler Beredsamkeit die déjeûnés dansants Frühstück mit Tanz. ihrer vornehmen Freunde in den eleganten Vorstädten von Wimbledon und Fulham beschrieben. Sie erklärte, daß sie nichts Angenehmeres kenne, und hatte zu Mr. Avenel gerade heraus gesagt: »Warum geben Sie nicht ein déjeûné dansant?« und so beschloß Mr. Avenel, ein déjeûné dansant zu geben.

Der Tag war festgesetzt, und Mr. Avenel traf alle nothwendigen Vorbereitungen mit der Energie eines Mannes und der Umsicht einer Frau. Als er eines Morgens sinnend auf dem Grasplatze stand, unentschlossen, wo man am besten die Zelte aufschlagen könnte, kam Leonard mit einem offenen Briefe in der Hand auf ihn zu.

»Mein lieber Onkel,« sprach er in sanftem Tone.

»Ha!« rief Mr. Avenel zusammenfahrend. »Ha – nun – was gibt's?«

»Ich habe so eben einen Brief von Mr. Dale erhalten. Er theilt mir mit, daß meine arme Mutter sehr unruhig und besorgt ist, weil sie ihm nicht glauben will, daß er von mir gehört habe. Sein Brief erheischt eine Antwort, und ich würde in der That als sehr undankbar gegen ihn – ja gegen Alle – erscheinen, wenn ich nicht schriebe.«

Richard Avenel zog die Augenbrauen zusammen. Er ließ ein ungeduldiges »pfui« vernehmen und wandte sich ab. Dann richtete er sein klares, habichtartiges Auge auf Leonard's offenes Antlitz, nahm seinen Neffen am Arme und zog ihn mit sich in's Gebüsch.

»Nun, Leonard,« sagte er nach einer Pause, »es ist Zeit, daß ich dir die Pläne mittheile, welche ich mit dir vorhabe. Du hast meine Lebensweise gesehen, die, glaube ich, etwas verschieden ist von allem, was dir bis jetzt begegnet ist. Nun habe ich dir etwas geboten, was mir Niemand geboten hat – eine hülfreiche Hand; und wo ich dich hinstelle, mußt du dir selbst helfen.«

»Das ist meine Pflicht und mein Wunsch,« sagte Leonard herzlich.

»Gut. Du bist ein aufgeweckter Bursche Und ein wohlgesitteter junger Mensch; du wirst mir Ehre machen. Ich bin nicht darüber im Zweifel, was für dich das Beste sei. Einmal dachte ich daran, dich auf die Universität zu schicken. Das ist, wie ich weiß, Mr. Dale's Wunsch; vielleicht ist es auch der Deinige. Aber ich habe den Plan aufgegeben. Ich habe etwas Besseres für dich im Sinne. Du hast einen hellen Kopf für Geschäfte und bist ein vortrefflicher Rechner. Ich habe die Absicht, dich so zu erziehen, daß du die Aufsicht über mein Geschäft übernehmen kannst, und mit der Zeit werde ich dich zum Theilhaber an denselben machen; bevor du dreißig Jahr alt bist, wirst du ein reicher Mann sein. Sage einmal, gefällt dir dies?«

»Mein lieber Onkel,« entgegnen Leonard freimüthig, »es schickt sich nicht für mich, eine Wahl zu beanspruchen. Ich würde es vorgezogen haben, auf die Universität zu geben, weil ich mir dort Selbständigkeit hätte erwerben können und alsdann aufhören würde, Ihnen zur Last zu fallen. Außerdem zieht mich meine Neigung mehr zu den Studien auf der Universität, als zu denen im Comptoir. Das Alles ist indessen nichts im Vergleich mit dem Wunsche, Ihnen nützlich zu sein und auf irgend eine, wenn auch noch so schwache Weise, meine Dankbarkeit für alle Ihre Güte an den Tag zu legen.«

»Du bist ein guter, dankbarer und verständiger Bursche,« rief Richard herzlich; »und du darfst glauben, daß mir, obgleich ich ein roher Edelstein bin, dein wahres Interesse am Herzen liegt. Du kannst mir von Nutzen sein, und wenn du das bist, dann dienst du dir selbst am besten. Um dir die Wahrheit zu sagen, so denke ich daran, meinen Stand zu ändern. Ich habe eine Dame von Rang kennen lernen, die, wie ich glaube, sich herablassen würde, Mrs. Avenel zu werden; und wenn dem so ist, so werde ich wahrscheinlich einen großen Theil des Jahres in London zubringen. Ich mag nicht mein Geschäft aufgeben. Keine andere Anlage des Kapitals würde dieselben Zinsen eintragen. Du wirst aber bald lernen, es für mich zu beaufsichtigen, da ich mich ja doch einmal zurückziehen werde, in welchem Fall du dann eintreten kannst. Wenn du einmal Mitglied unserer großen kaufmännischen Gemeinschaft bist, dann kannst du mit deinen Talenten alles werden – Mitglied des Parlaments und zuletzt vielleicht noch Staatsminister. Und meine Frau – hm! – meine künftige nämlich – hat große Verbindungen, und du wirst eine gute Partie machen; und – die Avenel's werden, aller Wahrscheinlichkeit nach, ihre Köpfe so hoch tragen wie die Höchsten! Zum Kukuk mit der Aristokratie – wir gescheidten Bursche werden die Aristokratie sein – ho!« Richard rieb sich die Hände.

Sicherlich war Leonard, wie wir gesehen, besonders bei seinen ersten Schritten auf dem Wege des Wissens mit seiner Stellung auf der großen Stufenleiter des Lebens unzufrieden gewesen – sicherlich war er noch immer ehrgeizig – sicherlich würde er jetzt nicht damit einverstanden gewesen sein, zu der bescheidenen Beschäftigung zurückzukehren, welche er verlassen; und wehe dem jungen Mann, dessen Puls nicht rascher schlägt, und dessen Auge nicht heller glänzt, wenn er Worte hört, die ihm Unabhängigkeit versprechen und ihm mit der Hoffnung auf Auszeichnung schmeicheln.

Als sich indeß Leonard einige Stunden nach der erwähnten Unterredung mit seinem Onkel allein im Freien befand und über die vor ihm liegenden Aussichten nachdachte, trat eine erkältende und düstere Rückwirkung des Mißbehagens bei ihm ein. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, seine intellectuelle Erziehung dadurch zu vervollständigen, daß er die in ihm schlummernden Kräfte entwickelte, welche der literarischen Laufbahn zustrebten und sich gegen das blos Geschäftliche des Handels empörten.

Zu seinem Ruhme sei es aber gesagt, daß er diesem natürlichen Gefühl des Mißbehagens kräftigen Widerstand leistete und sich stufenweise darauf einschulte, die Bahn, welche die Pflicht ihm vorgeschrieben, und welche die männliche Gesinnung, die das Mark seines Charakters bildete, gut hieß, mit freundlichen Blicken anzuschauen.

Diese Selbstüberwindung bewies, glaube ich, daß der junge Mann das wahre Genie besaß. Ein verkehrtes Genie würde Sonette geschrieben und sich der Verzweiflung überlassen haben.

Richard Avenel hatte indessen seinen Neffen in Beziehung auf die ursprüngliche Frage, von welcher ihre Unterhaltung über die Zukunft abgeschwächt war, ganz im Dunkeln gelassen – die Frage nämlich, ob er an den Pfarrer schreiben und die Angst seiner Mutter beschwichtigen sollte. Wie könnte er dies ohne Richard's Einwilligung thun, da dieser bei einer früheren Gelegenheit gebieterisch erklärt hatte, daß in diesem Fall seine Mutter die ihr von Richard zugedachte Unterstützung verlieren würde?

Während er, an einen Zaun gelehnt, welcher den Fußweg nach der Stadt unterbrach, diese Angelegenheit mit seinem Gewissen in's Reine zu bringen suchte, wurde er aus seinen Betrachtungen emporgeschreckt. Er blickte auf und sah Mr. Sprott, den Kesselflicker, vor sich.


Fünfzehntes Kapitel.

Der Kesselflicker, der schwärzer und grimmiger aussah als je, blickte seinen so veränderten alten Bekannten scharf an und streckte seine schmutzigen Finger aus, als wollte er sich durch den Gefühlssinn überzeugen, daß er der leibhaftige Leonard sei, den er in so wunderbar eleganten und so übernatürlich saubern Kleidern vor sich sehe.

Leonard schrak unwillkürlich vor der Berührung zurück, während er sehr überrascht hervorstotterte:

»Sie hier, Mr. Sprott! Was hat Sie so weit von der Heimath weggeführt?«

»Von der Heimath?« wiederholte der Kesselflicker, »ich habe keine Heimath! oder vielmehr, Mr. Fairfield, ich mache mir überall, wo ich hinkomme, eine Heimath! Ja, ja, ich bin in keinem Kirchspiel ansässig. Ich wandere da und dort hin und meine Heimath ist überall, wo ich meine Kessel flicken und meine Traktätchen verkaufen kann!«

Mit diesen Worten brachte der Kesselflicker seine Körbe auf den Boden herunter, ließ ein Grunzen der Erleichterung und der Zufriedenheit vernehmen und setzte sich mit großer Gemüthsruhe auf den Zaun, von welchem Leonard sich zurückgezogen hatte.

»Aber der Blitz soll mich erschlagen,« fuhr Mr. Sprott fort, als er Leonard noch einmal musterte, »wahrhaftig, Sie sind jetzt ein ganzer Gentleman! Was für Kniffe stecken dahinter – he?«

»Kniffe!« wiederholte Leonard mechanisch. »Ich verstehe Sie nicht.«

Da er es jedoch weder für nöthig, noch für vortheilhaft erachtete, seine Bekanntschaft mit Mr. Sprott weiter zu pflegen, und es auch nicht für klug hielt, sich der Batterie von Fragen auszusetzen, wozu, wie er voraussah, eine weitere Unterhaltung Veranlassung geben würde, so reichte er dem Kesselstecker eine Krone und sagte halb lächelnd:

»Sie müssen mich entschuldigen, wenn ich Sie verlasse – ich habe Geschäfte in der Stadt; thun Sie mir den Gefallen, diese Kleinigkeit anzunehmen.«

Damit ging er rasch von dannen.

Der Kesselflicker schaute die Krone lang an, steckte sie dann in seine Tasche und sagte vor sich hin:

»Oho – Geld, um mich zum Schweigen zu bringen! Geht nicht, mein Prahlhänschen!«

Nachdem er dieses kurze Selbstgespräch beendigt, blieb er einige Augenblicke schweigend sitzen, bis er Leonard fast aus dem Gesicht verloren hatte; dann stand er auf, ergriff wieder seine sieben Sachen und schlich, Leonard folgend, langsam längs den Hecken nach der Stadt. Als er auf dem letzten Felde gerade über die Hecke schaute, sah er, wie Leonard von einem Gentleman von gefälligem Aussehen und wichtigthuendem Benehmen angeredet wurde. Der Gentleman verließ bald den jungen Mann und kam, laut pfeifend, den Pfad entlang gerade auf den Kesselflicker zu. Mr. Sprott schaute um sich, aber die Hecke war in zu gutem Stande, um einen passenden Versteck zu gewähren, weßhalb er mit dreister Stirne mannhaft vorwärts schritt. Aber zu seinem Mißgeschick hatte der Eigentümer der Felder, Mr. Richard Avenel, bevor er den öffentlichen Weg erreichen konnte, den Uebertreter entdeckt und rief ihn nun mit einem »Holla, Bursche!« an, in welchem all' die Würde lag, die Solchen eigen ist, welche Felder besitzen, und all' den Grimm eines Mannes, welcher wahrnimmt, daß Jemand dieselben unbefugter Weise zu betreten wagt.

Der Kesselflicker blieb stehen, und Mr. Avenel schritt auf ihn zu.

»Was zum Teufel thust du auf meinem Eigenthum und schleichst an meiner Hecke herum? Ich habe dich im Verdacht, daß du ein Brandstifter bist!«

»Ich bin ein Kesselflicker,« sagte Mr. Sprott, sich nicht zu tief verbeugend (denn Mr. Sprott war ein derber Republikaner), sondern wie ein Herr der Schöpfung –

»Von stolzer Haltung, Trotz in seinen Blicken.« Oliver Goldsmith, The Traveller, V. 327f.: Pride in their port, defiance in their eye, / I see the lords of human kind pass by.

Mr. Avenel juckten die Finger, den elenden Hut des Kesselflickers von dessen Jacobinerhaupt herunterzuschlagen; aber er unterdrückte diese seiner nicht würdige Neigung dadurch, daß er seine beiden Hände tief in die Taschen seiner Beinkleider steckte.

»Ein Kesselflicker!« rief er – »das heißt, ein Landstreicher; und ich bin eine obrigkeitliche Person; und ich hätte große Lust, dich in die Tretmühle zu schicken – hätte ich! Was thust du hier? frage ich. Du hast mir auf meine Frage nicht geantwortet.«

»Was ich hier thue?« sagte Mr. Sprott. »Nun, da thäten Sie besser, den jungen Herrn, den ich eben mit Ihnen sprechen sah, nach meinem Leumund zu fragen; er kennt mich!«

»Was! mein Neffe kennt dich?«

»Wi–e,« pfiff der Kesselflicker, »Ihr Neffe, Sir? Ich habe große Achtung vor Ihrer Familie. Ich habe Mrs. Fairfield, die Waschfrau, viele Jahre gekannt. Ich bitte demüthig um Verzeihung.«

Und diesmal zog er seinen Hut ab.

Mr. Avenel wurde roth und weiß in einem Athem. Er murmelte etwas kaum Hörbares vor sich hin, drehte sich um und ging von dannen. Der Kesselflicker beobachtete ihn, wie er Leonard beobachtet hatte, und folgte dann dem Onkel, wie er dem Neffen gefolgt war.

Ich maße mir nicht an, zu behaupten, daß das, was sich in jener Nacht zutrug, Ursache und Wirkung gewesen sei; aber es war ein sogenanntes »eigentümliches Zusammentreffen,« daß in jener Nacht eine von Richard Avenel's Scheuern in Brand gesteckt wurde, und daß Richard an jenem Tage Mr. Sprott einen Brandstifter geheißen hatte. Mr. Sprott war ein Mann von sehr stolzem Charakter und verzieh keine Beleidigung. Er war von entzündbarer Natur, und so waren auch die Zündhölzer, die er immer nebst seinen Traktätchen und Leimtöpfen mit sich herumtrug.

Am nächsten Morgen stellte man Nachforschungen nach dem Kesselflicker an, aber er war aus der Gegend verschwunden.


Sechzehntes Kapitel.

Es war ein glücklicher Umstand, daß das déjeûné dansant die Gedanken Mr. Avenel's dergestalt in Anspruch nahm, daß selbst der Brand seiner Scheuer nicht vermochte, die lieblichen und poetischen Bilder, welche sich mit jener ländlichen Festlichkeit verknüpften, zu verscheuchen. Selbst in den Fragen, welche er an Leonard über den Kesselflicker richtete, war er unzusammenhängend und achtlos. Auch ließ er den herumziehenden Gewerbsmann nicht durch die Justiz verfolgen, denn Avenel war, um die Wahrheit zu sagen, gewohnt, sich Feinde unter den gemeinen Leuten zu machen; und obgleich er Mr. Sprott im Verdacht hatte, seine Scheune in Brand gesteckt zu haben, so wußte er doch, daß er, wenn es sich einmal um Verdacht handelte, ebenso gut fünfzig andere Personen im Verdacht haben könnte. Wie in aller Welt konnte ein Mann sich um Scheunen und Kesselflicker kümmern, dessen ganze Sorge und Energie auf ein déjeûné dansant gerichtet war!

Es gehörte zu Richard Avenel's Grundsätzen, »nur Ein Ding auf einmal zu thun;« und darum verschob er alle andern Erwägungen bis nach Beendigung der großen Festlichkeit. Zu diesen Erwägungen gehörte auch die wegen des Briefes, den Leonard an den Pfarrer zu schreiben wünschte.

»Warte noch ein wenig, und wir wollen Beide schreiben,« sagte Richard gut gelaunt, »sobald das déjeûné dansant vorbei ist.«

Die vielbesprochene Fête konnte allerdings keine gewöhnliche ländliche Festlichkeit genannt werden. Richard Avenel war der Mann dazu, eine Sache, die er einmal in Angriff genommen, auch gehörig durchzuführen.

Nach und nach hatten seine ersten Pläne dergestalt an Umfang zugenommen, daß das, was er sich anfangs nur als hübsch und elegant ausgedacht, jetzt auch kostspielig und prachtvoll zu werden drohte. Künstler, welche mit déjeûnés dansants vertraut waren, kamen den weiten Weg von London, um Beistand zu leisten und anzuordnen. Ungarische und tyrolische Sänger, sowie schweizerische Bäuerinnen, welche den Kuhreigen singen, Kühe melken oder kalte Schale aus Milch und Wein bereiten sollten, wurden bestellt. Das große Zelt war gleich einer gothischen Bankethalle decorirt; das Frühstück sollte aus »allen Delicatessen der Jahreszeit« bestehen. Kurz, »es mußte,« wie Richard Avenel zu sich selbst sagte, »etwas ganz Besonderes sein; etwas, wobei es mir nicht darauf ankommt, Geld auszugeben, wenn nur etwas recht Gelungenes daraus wird.«

Es hatte Anlaß zu ernsten Erwägungen gegeben, wie man eine Gesellschaft zusammen bringen könne, die des Festes würdig sei; denn Richard Avenel begnügte sich nicht mit der Aristokratie von Screwstown – sein Ehrgeiz war mit seinen Ausgaben gestiegen.

»Da es jedoch einmal so viel kosten wird,« sagte er, »so kann ich am Ende ebenso gut großartig auftreten und die Grafschaft mit berücksichtigen.«

Freilich war er persönlich nur mit sehr wenigen von den sogenannten Grafschaftsfamilien bekannt; wenn sich aber ein Mann in einer großen Stadt hervorthut und bei der Wahl eines oder gar beider Mitglieder, welche diese Stadt in das Parlament sendet, den Erfolg der Wahl in seiner Hand hat; und wenn ferner dieser Mann ein großartiges und originelles Fest zu geben beabsichtigt, bei welchem die Alten essen und die Jungen tanzen können, so gibt es keine Grafschaft auf der britischen Insel, die nicht Familien genug aufzuweisen hätte, deren sehnlicher Wunsch es wäre, von diesem Manne eingeladen zu werden; und als Richard fand, daß die Gemahlin des Dekans und Mrs. Pompley und verschiedene andere einflußreiche Personen, sobald man von der Sache zu sprechen anfing, sich die Freiheit nahmen, zu vermuthen, daß dieser und jener Squire und angesehene »Herr von« sich sehr freuen würden, eingeladen zu werden, so faßte er ohne weiteres den Stier bei den Hörnern und schickte seine Einladungskarten an alle Schloß- und Park- und Hallenbesitzer in einem Umkreis von zwölf Meilen. Nur Wenige lehnten die Einladung ab, und Richard zählte auf nahezu fünfhundert Gäste.

»Habe ich den Kreuzer nicht geschont, so will ich auch den Thaler nicht schonen,« sagte Mr. Richard Avenel. »Ich bin begierig, zu erfahren, was Mrs. M'Catchley sagen wird!«

Wenn wir nämlich die Wahrheit gestehen sollen, so gab Mr. Richard Avenel sein déjeûné dansant nicht nur zu Ehren von Mrs. M'Catchley, sondern er hatte sich auch im Innersten seines Herzens vorgenommen, bei dieser Gelegenheit (wenn er von all' seinem Glanze umgeben und von Terpsichore Muse der Chorlyrik und des Tanzes. und Bacchus mit ihren verführerischen Künsten unterstützt sein würde) Mrs. M'Catchley jene sanften Worte in's Ohr zu flüstern, welche – doch warum sollte ich nicht Mr. Richard Avenel in seiner ureigenen, unsophistischen Siehe Anm. 290. Redeweise sprechen lassen?

»Die Katze muß aus dem Sack heraus,« sagte Mr. Avenel für sich, »dann werde ich im Handumdrehen die Frage erledigt haben!«


Siebenzehntes Kapitel.

Endlich kam der große Tag, und Mr. Richard Avenel blickte vom Fenster seines Ankleidezimmers auf die Scene unten herab, wie Hannibal oder Napoleon von den Alpen auf Italien herabgeblickt haben mochte. Es war in der That ein Anblick geeignet, Eroberungsgedanken zu befriedigen und die Anstrengungen des Ehrgeizes zu belohnen.

Auf einer kleinen Anhöhe stunden die Tyroler Bergsänger, deren hohe, spitzigen Hüte, durchbrochene Knöpfe und gestickte Gürtel hell in der Sonne glänzten. Gerade von diesem Beobachtungsort aus sichtbar, jedoch dem Auge des gewöhnlichen Zuschauers verborgen lagen die ungarischen Musiker mitten in einer kleinen Anpflanzung von Lorbeeren und amerikanischen Sträuchern im Hinterhalte. Weit nach rechts lag, was man einst ( horresco referens Mit Bangen berichte ich es.) den Ententeich genannt hatte, wo – Dulce sonant tenui gutture carmen aves Tibull, Elegien, I, 3, V. 60.: Süßer Gesang aus zarten Vogelkehlen erklingt.. Allein die mitleidslose Erfindungsgabe des obersten Festordners hatte den Ententeich in einen Schweizer See verwandelt, obgleich dadurch dem assuetum innocuumque Ovid, Fasti I, 442; die Übersetzung läßt Bulwer im Text selbst folgen. – den dort heimischen und harmlosen Bewohnern großes Unrecht geschah, indem sie alle auf ihren heimatlichen Wellen verwiesen und verbannt wurden. Große Stangen, die mit Fichtenzweigen umflochten waren, hatte man in dichten Reihen rings um den See eingeschlagen, damit dieselben dem Wasser die entsprechende helvetische Düsterheit verliehen; und hier standen neben drei mit Bändern geschmückten Kühen die Schweizer Mädchen, welche angewiesen waren, in der schattigen Kühle und Stille den Kuhreigen anzustimmen. Zur Linken, ganz oben auf dem fast gänzlich davon bedeckten Rasenplatze ragte das große gordische Zelt empor, in zwei Abtheilungen geschieden – eine für den Tanz, die andere für das déjeûné.

Der Tag war günstig – nicht eine Wolke stand am Himmel. Die Musiker stimmten bereits ihre Instrumente; Kellnergestalten – von Gunbar gemiethet – hübsch und anständig in schwarzen Beinkleidern und weißen Westen, bewegten sich auf und ab in dem Raume zwischen dem Hause und dem Zelte.

Richard schaute und schaute und zog während dessen mechanisch sein Rasirmesser über den Streichriemen; und als er sich satt geschaut hatte, wandte er sich mit Widerstreben zum Spiegel und rasirte sich! Den ganzen lieben Morgen war er zu beschäftigt gewesen, um an das Rasiren zu denken.

Es liegt außerordentlich viel Charakteristisches in der Art und Weise, wie ein Mann die Operation des Rasirens ausführt. Man mußte Richard Avenel beim Rasiren sehen! Man konnte beurtheilen, wie er seine Mitmenschen über den Löffel barbieren Junge Barbiergesellen, die noch nicht so gut rasieren konnten, bedienten sich bei Männern mit stark eingefallenen Wangen eines Tricks; sie steckten den Kunden einen Löffel mit der Laffe nach außen in den Mund und nutzten diese Rundung, um die Wange heraus zu drücken, wodurch eine schöne glatte, leicht rasierbare Fläche entstand. Im Lauf der Zeit wandelte sich die Bedeutung zu »jemanden betrügen, übervorteilen«. würde, wenn man sah, wie rasch und vollendet er sich selbst rasirte. – Ein Zug nach vorne und ein Zug rückwärts und – dem Barbierenden fiel der Bart! Wange und Kinn waren so glatt wie Glas. Man würde, wenn man ihn gesehen hätte, instinktmäßig seine Taschen zugeknöpft haben.

Die übrige Toilette Mr. Avenel's wurde jedoch nicht mit derselben Schnelligkeit vollendet. Auf seinem Bett, auf seinen Stühlen, auf seinem Sopha und auf seiner Comode lagen Beinkleider, Westen und Cravatten in solcher Anzahl, um selbst einem Stoiker die Wahl schwer zu machen. Zuerst wurde nun Ein Paar Beinkleider und dann ein zweites Paar anprobirt – dann Eine Weste, dann eine zweite, dann eine dritte. Allmälig entwickelte sich hieraus jenes chef d'oeuvre Meisterwerk. der Civilisation, – ein angekleideter Mensch; und endlich trat Mr. Richard Avenel an das Licht des Tages. Er war glücklich in der Wahl seines Anzugs gewesen – das fühlte er. Derselbe möchte in Betreff der Farbe und des Schnitts nicht Jedem zugesagt haben, aber ihm stand beides gut.

Seine Kleidung war folgendermaßen zusammengesetzt – denn welcher epische Dichter würde nicht bei einer solchen Gelegenheit das Staatskleid und die Tunika seines Helden beschreiben?

Sein surtout – nach moderner Redeweise sein kurzer Ueberrock – war blau, ein reiches Blau, wie es die königlichen Brüder Georg's des Vierten vorzugsweise liebten. Der einreihige surtout wurde galanter Weise offen getragen, und in dem zweiten Knopfloch steckte eine Moosrose. Die Weste war weiß und die Beinkleider von perlgrauer Farbe »fielen« nach der Schneider-Sprache »hübsch über die Stiefel.« Ein blauseidenes Halstuch, lose und nachlässig um den Hals geschlungen, ein stark sichtbares Hemd mit einfachen goldenen Knöpfen, ein Paar citronenfarbige, gemslederne Handschuhe und ein weißer Hut, etwas zu keck auf eine Seite gesetzt, vollendete die Erscheinung und »gibt der Welt gewisse Kunde von dem Manne.« Shakespeare, Hamlet, III, 4. Wenn man dazu seine leichte, feste, gut gebaute Gestalt, seine klare Hautfarbe, sein durchdringendes, glänzendes Auge und die ausdrucksvollen Züge nimmt, in welchen sich Muth, Bestimmtheit und rasche Entschlossenheit aussprechen – das heißt kühne, nicht grobe, proportionirte und regelmäßige Züge – so würde man lange durch Stadt und Land wandern müssen, bevor man ein hübscheres Exemplar eines Menschen fände, als unsern Freund Richard Avenel.

Hübsch und mit dem Selbstgefühl, hübsch zu sein; reich, und wohl wissend, daß er reich sei; Herr des Festes und sich bewußt, Herr des Festes zu sein, trat Richard Avenel hinaus auf den Rasenplatz.

Und jetzt begann der Staub auf der Landstraße aufzuwirbeln, und Equipagen, Gigs Siehe Anm. 56., Einspänner und Zweispänner konnte man in kurzen Zwischenräumen und in rascher Aufeinanderfolge wahrnehmen. Die Leute trafen so ziemlich zu gleicher Zeit ein – wie gewöhnlich auf dem Lande – wofür der Himmel sie belohne!

Richard Avenel fühlte sich anfangs beim Empfang der Gäste nicht ganz behaglich, besonders Denjenigen gegenüber, die er nicht von Angesicht kannte. Als aber das Tanzen begann und er sich der schönen Hand der Mrs. M'Catchley für die Eröffnungsquadrille versichert hatte, kehrte sein Muth und seine Geistesgegenwart zurück; und als er sah, daß viele Leute, die er gar nicht empfangen hatte, sich gut zu unterhalten schienen, so gab er den Versuch auf, den später Kommenden entgegen zu gehen – und das war für beide Theile eine große Erleichterung.

Mittlerweile betrachtete Leonard das belebte Schauspiel schweigend und traurig mit einem Gefühl, das er vergebens los zu werden sich bemühte, und das in solchen Fällen bei jungen Männern gewöhnlicher ist, als wir anzunehmen geneigt sind. Aus diesem oder jenem Grunde sagte ihm das Vergnügen nicht zu; er hatte keine Mrs. M'Catchley, um ihm dasselbe theuer zu machen – er kannte sehr wenig Leute – er war schüchtern – er fühlte, daß seine Stellung bei seinem Onkel eine zweideutige war – er war nicht an das gesellschaftliche Leben gewöhnt – er hörte zufällig viele boshafte Bemerkungen über seinen Onkel und das Fest – er war entrüstet und niedergedrückt. Er hatte sich viel glücklicher gefühlt als er an dem kleinen Springbrunnen in Riccabocca's Garten seinen Rettig verzehrte. Er zog sich nach einem ruhigen Theile der Anlagen zurück, setzte sich unter einen Baum, stützte sein Kinn auf die Hand und vertiefte sich in Gedanken. Er war bald weit weg – glückliches Alter, in welchem die Zukunft, mag die Gegenwart sein, wie sie will, immer so schön und unendlich erscheint!

Jetzt folgte das déjeûné den ersten Tänzen; und als Champagner in Strömen floß, nahm die Heiterkeit des Festes in erstaunlichem Grade zu.

Die Sonne hatte schon angefangen, sich dem Westen zuzuneigen, als der Tanz zeitweilig aufhörte und die Mehrzahl der Gäste sich auf dem Platze versammelte, welchen das Zelt auf dem Rasen noch übrig gelassen. Die bunten Kleider der Damen, das lustige Lachen, welches sich von allen Seiten hören ließ, und der alles bestrahlende Sonnenschein bewirkten nun endlich, daß auch Leonard nicht eine blos scheinbare, sondern eine wirkliche, gesunde Freude empfand. Er erwachte aus seiner Träumerei und mischte sich schüchtern unter die Gruppen.

Aber Richard Avenel hatte sich mit der hübschen Mrs. M'Catchley, deren Gesichtsfarbe lebhafter, deren Augen glänzender und deren Gang elastischer schien als sonst, in demselben Augenblick von dem Feste zurückgezogen, in welchem sich Leonard demselben anschloß, und die Beiden befanden sich nun an eben dem nämlichen stillen, schattigen Platze, den der junge Träumer verlassen hatte.

Und jetzt! ach jetzt! welch' ein passender Moment für die süßeste Frage aller Fragen!

Welch' ein geeigneter Ort für das schüchterne, verschämte Flüstern derselben?

Da, plötzlich drangen von dem Rasenplatze vor ihm und von den Gruppen jenseits so unbeschreiblich gemischte, so ominöse Töne – gleich denen eines allgemeinen Kicherns, eines entsetzlichen, boshaften, aber unterdrückten Gelächters – zu den Ohren Richard Avenel's. Mrs. M'Catchley aber streckte ihren Sonnenschirm aus und rief:

»Mein Gott, Mr. Avenel, was mag der Grund sein, daß alle Leute sich dort zusammendrängen?«

Es gibt gewisse Töne und gewisse Erscheinungen – von welchen die ersteren undeutlich, die letzteren nur unbestimmt und auf Muthmaßungen gegründet sind – die aber doch, wie wir instinctmäßig wissen, irgend eine teuflische Einmischung in unsere Angelegenheiten verkünden. Und wenn irgend Jemand eine Festlichkeit veranstaltet und von der Ferne ein allgemeines, schlecht unterdrücktes Kichern hört und alle seine Gäste sich nach Einem Fleck drängen sieht, so möchte ich den sehen, der unbewegt und theilnahmlos bliebe, ja, der (so fest er es sich auch vorgenommen haben mag) gerade diese Veranlassung benützte, um graziös auf das rechte Knie vor der allerschönsten Mrs. M'Catchley niederzusinken und – »die Frage rasch zu erledigen!«

Richard Avenel entfuhr unüberlegter Weise etwas gleich einem Fluche, und da er irgend einen Zwischenfall vermuthete, welcher nicht gleich zur Kenntniß der Mrs. M'Catchley zu bringen sein dürfte, so sagte er hastig zu ihr:

»Entschuldigen Sie mich. Ich will rasch hingehen und sehen, was es gibt – bitte, bleiben Sie, bis ich zurückkomme.«

Damit sprang er fort und im nächsten Augenblick war er mitten in der Gruppe, die sich zuvorkommend theilte, um ihm Platz zu machen.

»Was gibt es denn?« fragte er ungeduldig und doch ängstlich. Keine Stimme antwortete. Er drang weiter vor – und erblickte seinen Neffen in den Armen eines Weibes.

»Gerechter Gott!« rief Richard Avenel.


Achtzehntes Kapitel.

Und was für ein Weib!

Sie hatte ein baumwollenes Kleid an – recht nett, allerdings für ein Hausmädchen etwa – und so dicke Schuhe! Auf dem Kopfe trug sie einen kleinen schwarzen Strohhut und ein Halstuch, das zehn Pence gekostet haben mochte, war statt eines Shawls kreuzweise über ihre Brust festgesteckt; sie sah ohne Zweifel im Ganzen sehr ehrbar, aber außerordentlich staubig aus! Und sie hing an Leonard's Halft und schalt und liebkoste ihn, indem sie fortwährend weinte und schluchzte.

»Gerechter Gott!« rief Mr. Richard Avenel.

Und als er diese unschuldige Herzensergießung laut werden ließ, drehte sich die Frau plötzlich um, eilte von Leonard fort, warf sich auf Richard Avenel und begrub unter ihren Umarmungen den blauen Rock, die Moosrose und die weiße Weste, während sich heftige Seufzer und laute Ausrufe ihrer Brust entrangen.

»Oh! Bruder Dick! lieber, lieber Bruder Dick! Und ich erlebe es, dich wieder zu sehen!« Und dann erfolgten zwei so kräftige Küsse, daß man sie eine Meile weit hätte hören können!

Die Lage des Bruders Dick war schrecklich; und die Menge, welche bisher nur höflich gekichert hatte, konnte der Wirkung dieser plötzlichen Umarmung nicht widerstehen. Es gab eine allgemeine Explosion!

Es war ein förmliches Gebrüll! Dieses Gebrüll würde einen schwachen Mann getödtet haben. Dem kraftvollen und muthigen Richard Avenel aber klang es wie die Herausforderung eines Feindes und riß für einen Augenblick sein lebhaftes angelsächsisches Temperament über alle conventionellen Hindernisse und Schranken hinweg.

Er erhob rasch seinen schönen männlichen Kopf und warf einen hochmütigen Blick des Tadels und der Ueberraschung rings herum auf den Kreis seiner ungezogenen Gäste.

»Meine Damen und Herren,« sagte er dann sehr kalt,« ich begreife nicht, was es da zum Lachen gibt! Ein Bruder und eine Schwester treffen sich nach vieljähriger Trennung, und die arme Schwester weint. Ich, meines Theils, halte es für sehr natürlich, daß sie weint, aber nicht, daß Sie lachen!«

In einem Augenblick war die Scham vollständig von Richard auf die Umstehenden hinübergewälzt. Es läßt sich unmöglich beschreiben, wie dumm und einfältig sie Alle aussahen, und wie still sie davon zu schleichen suchten.

Richard Avenel benützte seinen Vortheil mit der Entschlossenheit eines Mannes, der in Amerika vorwärts gekommen war und sich deßhalb in jeder kritischen Lage zu helfen wußte. Er gab Mrs. Fairfield den Arm und führte sie in das Haus; als er sie aber wohlbehalten in seinem Wohnzimmer sah, wohin ihm Leonard gefolgt war, und die Thür sich hinter den Dreien geschlossen hatte, brach Richard Avenel's Zorn los.

»Du unverschämte, undankbare freche – Dirne!«

Ja, Dirne war das Wort; ich sage es mit Widerwillen; aber die Pflichten eines Geschichtschreibers sind strenger Natur; und das Wort war Dirne.

»Dirne!« stammelte die arme Jane Fairfield; und sie klammerte sich an Leonard an, um nicht umzufallen.

»Sir!« rief Leonard aufbrausend.

Ebenso gut hätte man einem Bergstrom »Sir!« zurufen können. Richard fuhr heftig fort, denn er war wüthend –

»Du häßliche, schmutzige, staubige Schlampe! Wie kannst du es wagen, hierher zu kommen, um mir in meinem eigenen Hause Schande zu bereiten, nachdem ich dir fünfzig Pfund geschickt? und dazu gerade einen Zeitpunkt zu wählen, wo – wo –«

Richard schnappte nach Athem, und das Gelächter seiner Gäste hallte in seinen Ohren wieder, es drang in seine Brust und drohte ihn zu ersticken. Jane Fairfield richtete sich empor, ihre Thränen waren getrocknet.

»Ich bin nicht gekommen, um dir Schande zu bereiten; ich bin gekommen, um meinen Jungen zu sehen.«

»Ha!« unterbrach sie Richard, »um ihn zu sehen.«

Er wandte sich an Leonard. »Du hast also an dieses Weib geschrieben?«

»Nein, Sir, das habe ich nicht.«

»Ich glaube, du lügst.«

»Er lügt nicht und er ist so gut wie du und besser, Richard Avenel,« rief Mrs. Fairfield, »und ich will nicht hier stehen und ihn beschimpfen hören. Das will ich nicht. Und was deine fünfzig Pfund anbelangt, so sind hier fünfundvierzig davon, und ich will mir die Finger wund arbeiten, bis ich die übrigen fünf zurückbezahlt habe. Und fürchte nicht, daß ich dir Schande mache, denn ich werde dein Gesicht nie wieder ansehen; du bist ein elender, schlechter Mensch – das bist du!«

Die Stimme des armen Weibes war so laut und gellend, daß jedes andere reuigere Gefühl, welches Richard empfunden haben mochte, durch die Erwägung erstickt wurde, sie könnte von seinen Dienern oder Gästen gehört werden – eine Erwägung, die man bei Männern, aber selten bei Frauen trifft; im Gegentheil wird sie von Letzteren gern als feige Furcht auf Seiten ihrer männlichen Unterdrücker ausgelegt.

»Still! höre auf mit deinem Teufelslärm – höre auf!« sagte Mr. Avenel in einem Tone, der beschwichtigend sein sollte. »Da – setze dich – und rühre dich nicht, bis ich wieder komme und ruhig mit dir sprechen kann. Leonard, begleite mich und hilf mir, die Sache unsern Gästen zu erklären.«

Leonard blieb stehen und schüttelte leise den Kopf.

»Was soll das heißen, Sir?« sagte Richard Avenel mit einem unheilverkündenden Brummen. »Du wagst es, gegen mich den Kopf zu schütteln? Du willst dich unterstehen, mir ungehorsam zu sein? Du würdest besser thun, dich in Acht zu nehmen!«

Leonard legte einen Arm um seine Mutter und erwiderte: »Sir, Sie sind gütig und edelmüthig gegen mich gewesen und nur der Gedanke hieran brachte meine Entrüstung zum Schweigen, als ich hörte, in welcher Sprache Sie meine Mutter anredeten; denn ich fühlte, daß ich, wenn ich spräche, zu viel sagen würde. Jetzt aber spreche ich, und um es Ihnen kurz zu sagen –«

»Still, mein Sohn,« sagte die arme Mrs. Fairfield erschrocken: »kümmere dich nicht um mich. Ich kam nicht hierher, um Unheil anzustiften und deine Aussichten zu zerstören. Ich will gehen.«

»Wollen Sie Ihre Schwester um Verzeihung bitten, Mr. Avenel?« sagte Leonard fest und trat auf seinen Onkel zu.

Richard, welcher von Natur hitzig war und keinen Widerspruch ertragen konnte, gerieth jetzt in Aufregung, und zwar nicht allein durch den Aerger, welchen, wie man zugeben muß, ein so mitten in seinem höchsten Triumphe gedemüthigter Mann wohl empfinden mochte, sondern auch dadurch, daß er mehr Wein getrunken hatte, als er gewöhnt war; und als Leonard sich ihm näherte, hielt er seine Bewegung fälschlich für eine drohende und auf einen Angriff berechnete. Er erhob seinen Arm.

»Einen Schritt näher,« sagte er zwischen den Zähnen, »Und ich schlage dich zu Boden.«

Leonard trat ungeachtet des Verbots einen Schritt näher; als aber Richard ihm in's Antlitz blickte, sah er in seinem Auge nichts Herausforderndes oder Drohendes, sondern nur Muth und Unerschrockenheit, was Richard anerkannte und achtete, denn es deutete den freien Mann an. Der Arm des Onkels sank mechanisch wieder an seine Seite nieder.

»Sie können mich nicht schlagen, Mr. Avenel,« sagte Leonard, »denn Sie wissen wohl, daß ich den Bruder meiner Mutter nicht wieder schlagen könnte. Als ihr Sohn sage ich nochmals zu Ihnen – bitten Sie Ihre Schwester Um Verzeihung.«

»In zehn tausend Teufel Namen! Bist du verrückt? – oder willst an mich verrückt machen? du unverschämter Bettler, den ich in meiner Güte genährt und gekleidet habe! Sie Um Verzeihung bitten! – weßhalb? weil sie mit ihrem verd– Kattunkleide und ihren zweimal verd– dicken Schuhen mich zum Spott und Gelächter gemacht hat? Ich will einen Eid darauf schwören, daß sie mit Nägeln beschlagen sind. Hör' mal, Junge, ich bin von ihr beleidigt worden, aber von dir lasse ich mich nicht übertäuben. Du kommst augenblicklich mit mir, oder ich sage mich von dir los; nicht einen Schilling wirst du von meinem Vermögen erhalten, so lange ich lebe. Triff deine Wahl – werde ein Bauer, ein Arbeiter, oder –«

»Ein gemeiner Renegat natürlicher Neigungen, ein elender Bettler in der That!« rief Leonard, während seine Brust wogte und seine Wangen glühten. »Mutter, Mutter, komm' mit mir! Habe keine Angst – ich bin jung und stark, und wir wollen zusammen arbeiten, wie früher.«

Aber die arme Mrs. Fairfield sank, von der Aufregung überwältigt, in Richard's eigenen hübschen, mit Maroquin überzogenen Lehnstuhl und vermochte weder zu sprechen, noch sich zu rühren.

»Ein Blitz soll Euch Beide erschlagen!« murmelte Richard vor sich hin. »Man darf Euch jetzt nicht aus meinem Hause herausschleichen sehen. Behalte sie hier, du junge Natter, du; behalte sie hier, bis ich wieder komme; und wenn du es dann vorziehst, zu gehen, so gehe und sei –«

Mr. Avenel beendigte den Satz nicht, sondern eilte aus dem Zimmer, schloß die Thüre ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. In der Vorhalle zögerte er einen Augenblick, um seine Gedanken zu sammeln, holte drei oder viermal tief Athem, schüttelte sich tüchtig und beschloß, treu zu bleiben seinem Grundsatze, nur Ein Ding auf einmal zu thun. Somit schüttelte er denn auch mit diesem Einen Schütteln alle störenden Erinnerungen an seine aufrührerischen Gefangenen von sich ab. Ernst, wie Achilles den Trojanern erschien, schritt Richard nach seinem Rasenplatz zurück.


Neunzehntes Kapitel.

So kurz auch seine Abwesenheit gedauert, so bemerkte der Festgeber doch, daß in dieser Zwischenzeit eine große und merkliche Veränderung in der Stimmung seiner Gäste eingetreten war. Einige von Denen, welche in der Stadt wohnten, schickten sich offenbar eben an, zu Fuß nach Hause zurückzukehren; Diejenigen, welche entfernter wohnten, und deren Wagen zum Abholen auf eine spätere Stunde bestellt waren, hatten sich in kleinen Häufchen und Gruppen versammelt. Alle sahen mürrisch und mißvergnügt aus, und Alle wandten sich instinctmäßig von ihrem Wirthe ab, als er an ihnen vorüberging. Sie fühlten, daß sie eine Zurechtweisung erhalten, und befanden sich in größerer Verlegenheit als Richard. Sie konnten nicht wissen, ob sie nicht eine zweite Lection bekommen würden. Wessen wäre dieser gemeine Mann nicht fähig?

Richard's scharfer Verstand begriff augenblicklich die ganzen Schwierigkeiten seiner Lage. Er schritt mit Bedacht gerade auf Mrs. M'Catchley zu, welche mit den Pompleys und der Gemahlin des Dekans dicht am Rasenzelte stand. Als diese Leute sahen, daß er so dreist auf sie zukam, wurden sie unruhig.

»Der T– soll den Kerl holen!« sagte der Oberst, indem er seine Cravatte weiter hinaufzog; »er kömmt hieher. Das ist eine gemeine und unangenehme Geschichte. Was sollen wir thun? gehen wir weiter!«

Richard schnitt ihnen aber den Rückzug ab.

»Mrs. M'Catchley,« sagte er sehr ernst, indem er ihr seinen Arm bot; »erlauben Sie, daß ich drei Worte mit Ihnen spreche?«

Die arme Wittwe sah sehr verlegen aus. Mrs. Pompley zupfte sie am Kleide. Richard stand immer noch mit ausgestrecktem Arme da und blickte ihr in's Gesicht. Sie zögerte eine Minute und nahm darauf seinen Arm.

»Entsetzlich unverschämt!« rief der Oberst.

»Laß Mrs. M'Catchley nur ihren eigenen Weg gehen, mein Lieber,« erwiderte Mrs. Pompley; »sie wird ihm schon eine Vorlesung halten.«

»Madame,« sagte Richard, sobald er sich mit seiner Begleiterin so weit entfernt hatte, daß man ihn nicht hören konnte, »ich vertraue auf Sie, daß Sie mir eine Gefälligkeit erweisen werden.«

»Ich?‹

»Ja. Sie allein besitzen bei allen jenen Leuten großen Einfluß, und ein Wort von Ihnen wird das, was ich wünsche, zu Stande bringen. Mrs. M'Catchley,« fügte er mit einer wahrhaft imponirenden Feierlichkeit hinzu, »ich schmeichle mir, daß Sie einige Freundschaft für mich empfinden, was mehr ist, als ich von irgend einer andern Person behaupten möchte, die sich gegenwärtig innerhalb meines Gebietes befindet. Wollen Sie mir diese Gefälligkeit erweisen – ja oder nein?«

»Was ist es für eine Gefälligkeit, Mr. Avenel?« frug Mrs. M'Catchley sehr beunruhigt und einigermaßen erweicht – denn sie war keineswegs eine Frau ohne Gefühl; ja sie hielt sich in der That für nervös.

»Sorgen Sie dafür, daß alle Ihre Freunde um jeden Preis und sobald als möglich in das Zelt zurückkehren. Ich wünsche einige Worte an sie zu richten.«

»Mein Gott! Mr. Avenel – einige Worte an sie zu richten!« rief die Wittwe. »Das ist es ja gerade, vor was sich Alle fürchten! Sie müssen mir verzeihen, aber Sie können doch wahrhaftig nicht Leute zu einem déjeûné dansant einladen und sie dann – ausschelten!«

»Ich werde sie nicht ausschelten,« sagte Mr. Avenel mit großem Ernst – »auf meine Ehre, das werde ich nicht thun! Ich werde alles wieder in's Geleis bringen, und ich hoffe sogar, daß das Tanzen wieder beginnen wird, und daß Sie mich mit Ihrer Hand beehren werden. Ich überlasse es Ihnen jetzt, Ihre Aufgabe zu lösen; und glauben Sie mir, ich bin kein undankbarer Mann.«

So sprechend verbeugte er sich mit einer gewissen Würde und verschwand in der Frühstücksabtheilung des Zeltes. Dort machte er sich damit zu schaffen, die Aufwärter wieder zusammenzubringen und ihnen die Anweisung zu geben, die verstümmelten Ueberreste der Gerichte so gut als möglich wieder zu ordnen. Mrs. M'Catchley, deren Neugierde und Interesse erregt waren, vollzog ihren Auftrag mit der Gewandtheit und dem Takte einer Frau von Welt, und in weniger als einer Viertelstunde war das Zelt gefüllt. – Die Pfröpfe knallten – der Champagner sprudelte und schäumte – man trank stillschweigend, naschte Früchte und Kuchen und war in dem Bewußtsein, sich in einer so großen Gesellschaft zu befinden, guten Muthes, sowie man auch ein großes Verlangen hatte, zu erfahren, was da kommen werde.

Mr. Avenel, der an der Spitze der Tafel saß, erhob sich plötzlich.

»Meine Damen und Herrn,« sagte er, »ich habe mir die Freiheit genommen, Sie noch einmal in dieses Zelt einzuladen, um Sie zu ersuchen, Sie möchten mir bei einer Gelegenheit, die uns Alle heute etwas überraschte, Ihre Theilnahme schenken. Sie wissen natürlich Alle, daß ich ein Emporkömmling, ein Mann bin, der sich sein Vermögen selbst geschaffen hat.«

Viele der Anwesenden verbeugten sich unwillkürlich, diese Worte wurden auf eine mannhafte Weise ausgesprochen, und man empfand in dem ganzen Kreise ein Gefühl der Achtung.

Auch werden Sie wahrscheinlich wissen,« fuhr Mr. Avenel fort, »daß ich der Sohn sehr achtbarer Handwerksleute bin. Ich sage ›achtbarer‹, und sie schämen sich meiner nicht; ich sage ›Handwerksleute‹, und ich schäme mich ihrer nicht. Meine Schwester verheirathete sich und ließ sich ferne von hier nieder. Ich nahm ihren Sohn zu mir, um für sein Fortkommen zu sorgen und ihn zu erziehen, aber ich hatte ihr nicht mitgetheilt, wo er sich befinde, ja nicht einmal, daß ich von Amerika zurückgekehrt sei. Es war mein Wunsch, selbst den geeigneten Zeitpunkt zu wählen, da ich sie nicht nur mit einem reichen Bruder, sondern auch mit einem Sohne überraschen könnte, den ich zu einem Gentleman zu machen gedachte, so weit dies gute Manieren und eine anständige Erziehung zu erzielen vermögen. Nun, die arme gute Frau hat mich früher gefunden, als ich erwartete, und mir eine Ueberraschung nach ihrer eigenen Erfindung bereitet. Ich bitte Sie, die Verwirrung zu verzeihen, welche diese kleine Familienscene verursachte; und obgleich ich gestehen muß, daß der Moment etwas sehr Lächerliches an sich hatte, und daß ich unrecht handelte, mich in anderer Weise darüber auszudrücken, so bin ich doch überzeugt, ich beurtheile Ihre guten Herzen richtig, wenn ich Sie ersuche, in Erwägung zu ziehen, was Bruder und Schwester fühlen müssen, die von einander getrennt gewesen, seit sie Knabe und Mädchen waren. Was mich anbelangt« (und hier holte Richard lief Athem, denn er fühlte, daß er nur dadurch die abscheuliche Lüge, welche er auszusprechen im Begriff war, hinunterschlucken konnte) »für mich ist dies ein sehr glückliches Ereigniß gewesen! Ich bin ein einfacher Mann, Niemand kann das, was ich gesagt habe, übel nehmen, und mit dem Wunsche, daß Sie alle in Ihren Familien ebenso glücklich sein mögen, wie ich es in der meinigen bin, mag sie auch geringern und niedern Standes sein – bitte ich Sie, mir zu erlauben, daß ich auf Ihre Gesundheit trinke.«

Als hierauf Richard wieder Platz nahm, erhob sich ein allgemeiner Beifallssturm – er hatte in seiner einfachem Weise die Sache von einem sehr richtigen Gesichtspunkt aus angefaßt und überhaupt so gut gemacht, daß wenigstens die Hälfte der Anwesenden, welche bis dahin ihn theils nicht leiden konnten, theils mit Verachtung auf ihn herabgesehen hatten, plötzlich fühlte, sie seien auf seine Bekanntschaft stolz; denn so aristokratisch auch unser englisches Vaterland sein mag, und so aristokratisch besonders die vornehmeren Classen in den Provinzialstädten und in ihren Coterien Cliquen. sind, so gibt es doch nichts, was die Engländer in den höchsten, wie in den niedersten Kreisen so sehr von ganzem Herzen respektiren, wie einen Mann, welcher aus Nichts Etwas geworden ist.

Sir Compton Delaval, ein alter Baronet, mit einem Stammbaum so lang, wie der eines Wallisers, der mit Widerwillen von seinen drei unverheiratheten Töchtern – von welchen jedoch keine sich bisher dazu herabgelassen hatte, dem Festgeber ihr Compliment zu machen – zum Feste gelockt worden war, erhob sich jetzt. Er hatte ein Recht dazu, denn er war seinem Range und Stande nach die erste Person unter den Anwesenden.

»Meine Damen und Herrn,« sprach Sir Compton Delaval, »ich bin überzeugt, ich drücke die Gefühle aller Anwesenden aus, wenn ich sage, daß wir die Worte, welche unser vortrefflicher Festgeber an uns gerichtet hat, mit eben so großem Vergnügen wie Bewunderung angehört haben.« (Beifall.) »Und wenn Einige von uns durch das, was Mr. Avenel ganz mit Recht als eine Ueberraschung des Augenblicks schildert, sich hinreißen ließen zu einer unpassenden Heiterkeit über – über –« (die Gemahlin des Dekans flüsterte: »einige der«) – »einige der – – einige der –« wiederholte Sir Compton verwirrt und blieb stecken – (»heiligsten Gefühle,« flüsterte die Gemahlin des Dekans) – »ja, über einige der heiligsten Gefühle unserer Natur – so bitte ich ihn, unsere aufrichtigsten Entschuldigungen entgegennehmen zu wollen. Ich kann für meinen Theil nur sagen, daß ich stolz bin, Mr. Avenel zu den Gentlemen der Grafschaft zählen zu dürfen« (hier schlug Sir Compton vernehmlich auf den Tisch,) »und ihm unsern Dank auszudrücken für eines der glänzendsten Feste, denen ich je in meinem Leben beigewohnt habe. Wenn er sein Vermögen auf eine ehrenhafte Weise erworben hat, so versteht er auch, es auf eine noble Weise zu verwenden!«

In demselben Augenblick knallte der Pfropf einer frischen Flasche Champagner.

»Ich bin nicht gewohnt, öffentlich zu sprechen, aber ich habe meine Gefühle nicht unterdrücken können, und ich schlage Ihnen nur noch die Gesundheit unseres Wirthes, Richard Avenel, Esquire, und zugleich diejenige seiner – sehr interessanten Schwester vor! Sie leben Beide hoch!«

Dieser Satz wurde durch begeisterten Beifall und drei Hochs auf Richard Avenel, Esquire, und seine sehr interessante Schwester übertäubt.

»Ich bin ein verdammter Windbeutel,« dachte Richard Avenel, als er seine Stirn abwischte; »aber die ganze Welt ist eine Windbeutelei!«

Dann warf er einen Blick auf Mrs. M'Catchley, und sah zu seiner großen Genugthuung, wie Mrs. M'Catchley ihre Augen wischte.

Obgleich die schöne Wittwe gewiß über die Wahrscheinlichkeit nachgedacht hatte, Mr. Avenel zum Gemahl zu nehmen, so war sie doch bis jetzt nicht im geringsten verliebt in ihn gewesen; jetzt aber war sie es. Es liegt etwas in dem Muthe und in der Geradheit, mit Einem Worte in der Männlichkeit, welches selbst die weltlichsten Frauen an den Männern bewundern; und Richard Avenel erschien, obgleich ihm sein Gewissen sagte, daß er ein Windbeutel sei, Mrs. M'Catchley wie ein Held.

Der Festgeber sah seinen Triumph. »Jetzt noch einen Tanz!« sagte er heiter und war im Begriff Mrs. M'Catchley seine Hand zu reichen, als Sir Compton Delaval dieselbe ergriff, herzlich schüttelte und rief: »Sie haben noch nicht mit meiner ältesten Tochter getanzt; wenn Sie sie nicht dazu auffordern wollen, so muß ich Sie Ihnen als Tänzerin anbieten. Komm her, Sarah!«

Miß Sarah Delaval, die fünf Fuß hoch und ebenso stattlich, wie groß war, neigte anmuthsvoll ihren Kopf, und ehe Mr. Avenel wußte, wo er war, fand er, daß sie an seinem Arme hing.

Als er aber in die nächste Abtheilung des Zelts hineinschritt, mußte er allen Gentlemen, welche sich an ihn herandrängten, die Hände schütteln. Ihre warmen englischen Herzen waren nicht zufrieden, bevor sie die Sünde, die sie durch ihren früheren Hochmuth und Spott begangen, wieder gut gemacht hatten. In diesem Augenblick hätte Richard Avenel seine Schwester mit sammt ihrem Kleide, Umschlagtuch und ihren dicken Schuhen getrost der Gesellschaft vorstellen können; aber daran dachte er nicht. Vielmehr dankte er Gott inbrünstig, daß sie sicher hinter Schloß und Riegel saß.

Erst beim dritten Tanze konnte er sich der Hand Mrs. M'Catchley's versichern, und bereits war die Dämmerung angebrochen. Die Wagen standen vor der Thüre; aber Niemand dachte daran, auszubrechen. Die Leute amüsirten sich wirklich.

Mr. Avenel hatte indessen Zeit gehabt, alle die Pläne zur Reife zu bringen, welche nothwendig waren, um den Triumph zu vervollständigen und zu vollenden, in welchen er durch seinen Takt und seine Geistesgegenwart eine augenblickliche Verlegenheit umgewandelt hatte.

Es blieb ihm indessen, obgleich er durch Wein und durch unterdrückte Leidenschaft aufgeregt war, doch Verstand genug, um zu begreifen, daß, wenn all dieser Hallo, der jetzt um ihn her tönte, verhallt sein werden, und Mrs. M'Catchley sich wieder bei der Familie Pompley befinde, von welcher er wußte, daß sie die letzte wäre, die er als Rathgeber in seinem Interesse wünschen könnte – daß dann zugleich mit der ruhigen Ueberlegung der Gedanke an seine niedrigen Verwandten zurückführen würde.

Jetzt oder nie. Das Eisen war heiß – jetzt war die rechte Zeit, es zu schmieden und eine dauerhafte Kette daraus zu machen.

Als er nach dem Tanze Mrs. M'Catchley auf den Rasenplatz führte, sprach er daher in zärtlichem Tone zu ihr.

»Wie soll ich Ihnen für die Gefälligkeit danken, die Sie mir erwiesen haben?«

»Oh!« sagte Mrs. M'Catchley mit Wärme, »es war keine Gefälligkeit – und ich bin so froh« – sie hielt inne.

»Sie schämen sich also meiner nicht ungeachtet dessen, was vorgefallen ist?«

»Ich mich Ihrer schämen! Ach, ich würde auf Sie stolz sein, wenn ich –«

»Beendigen Sie den Satz und sagen Sie – ›Ihre Gattin wäre!‹ Nun ist es heraus! Meine liebe Mrs. M'Catchley, ich bin reich, wie Sie wissen; ich liebe Sie von ganzem Herzen. Mit Ihrer Hilfe hoffe ich in größeren Kreisen eine Rolle spielen zu können, als diese ist; und daß, ein Vater mag gewesen sein, was er will, mein Enkel wenigstens. – Doch, von ihm zu sprechen, ist immer noch Zeit genug. Was sagen Sie? – Sie wenden sich ab. Ich will Sie nicht quälen – das ist nicht meine Art und Weise. Ich sage vorhin, Ja oder Nein; und Ihre Güte macht mich so muthig, daß ich wieder sage – Ja oder Nein?«

»Es kömmt mir so unerwartet, so – so – mein Gott, mein lieber Avenel; Sie sind so eilig – ich – ich –« Und die Wittwe erröthete in Wirklichkeit und war förmlich verschämt.

»Diese unausstehlichen Pompley's!« dachte Richard, als er den Obersten mit Mrs. M'Catchley's Shawl über seinem Arme geschäftig herannahen sah.

»Ich dringe auf Ihre Antwort,« fuhr der Freier sehr rasch fort. »Ich werde morgen diesen Ort verlassen, wenn Sie sie mir nicht geben.«

»Sie wollen diesen Ort verlassen – wollen mich verlassen?«

»Sie wollen also die Meinige werden!«

»Ach, Mr. Avenel!« sagte die Wittwe in mattem Tone und ließ ihre Hand in der Seinigen ruhen, »wer kann Ihnen widerstehen?«

In diesem Augenblick kam Oberst Pompley; Richard nahm den Shawl. »Das hat jetzt keine Eile, Oberst – Mrs. M'Catchley fühlt sich hier schon zu Hause.«

Richard Avenel richtete es so ein, daß zehn Minuten darauf die ganze Gesellschaft wußte, die Mrs. M'Catchley habe ihn als Bräutigam angenommen. Und Jedermann sagte: »Er ist ein sehr gescheiter Mann – und ein sehr guter Mann.« Nur die Pompley's sagten es nicht –und die Pompley's waren wüthend. Mr. Richard Avenel hatte sich mit Gewalt in die Aristokratie des Landes eingedrängt. Er der Gatte einer Dame aus den höchsten Ständen – die mit Peers verwandt war!

»Er wird im Parlament unsere Stadt vertreten – der gemeine Mensch!« rief der Oberst.

»Und seine Frau wird den Vortritt vor mir haben,« rief die Gemahlin des Obersten. – »Das abscheuliche Weib!« und sie brach in Thränen aus.

Die Gäste waren aufgebrochen; und Richard hatte jetzt Muße, zu überlegen, welchen Weg er in Beziehung auf seine Schwester und ihren Sohn einschlagen sollte.

Der Sieg über seine Gäste hatte sein Herz um Vieles gegen seine Verwandten erweicht. Aber er fühlte sich doch noch immer durch Mrs. Fairfield's unzeitiges Dazwischenkommen schwer beleidigt, und sein Stolz war durch das kühne Auftreten Leonard's auf's Tiefste verletzt. Er hatte keine Vorstellung davon, daß irgend Jemand, dem er Dienste geleistet oder Dienste zu leisten gedachte, einen eigenen Willen, ja auch nur einen einzigen Gedanken haben könnte, der im Widerspruch stände mit dem, was ihm gefiele. Er begann außerdem zu fühlen, daß zwischen ihm und Leonard Worte gewechselt worden, welche von keinem von Beiden vergessen werden konnten, und ihren näheren Umgang weniger angenehm machen mußten, als dies bisher der Fall gewesen. Er, der große Richard Avenel, sollte Mrs. Fairfield, die Wäscherin, um Verzeihung bitten. Nein, sie und Leonard mußten um die seinige nachsuchen.

»Dies muß der erste Schritt sein,« sagte Richard Avenel; »und ich denke, sie sind zur Vernunft gekommen.«

In dieser Erwartung schloß er die Thüre seines Wohnzimmers auf – und sah sich dort vollständig allein. Der Mond, der eben aufgegangen war, schien mit seinen vollen Strahlen in das Zimmer und erleuchtete jeden Winkel. Er blickte verwirrt um sich – die Vögel waren ausgeflogen.

»Sind sie durch das Schlüsselloch entkommen?« sagte Mr. Avenel. »Ha! ich sehe! – das Fenster ist offen!«

Das Fenster reichte bis an den Boden. Mr. Avenel hatte in seiner Aufregung diesen bequemen Ausgang ganz und gar vergessen.

»Gut,« sagte er, indem er sich in seinen Lehnstuhl warf, »ich werde wohl bald von ihnen hören; sie werden bald genug mein Geld vermissen, denke ich mir.«

Sein Blick fiel auf einen Brief, der unversiegelt auf einem Tische lag. Er öffnete denselben und erblickte darin Banknoten bis zu dem Betrage von fünfzig Pfund Sterling – die fünfundvierzig Landbanknoten der Wittwe und eine neue Note der englischen Bank, welche er vor Kurzem Leonard gegeben hatte. Bei dem Gelde befanden sich folgende Zeilen, von Leonard mit fester und deutlicher Hand geschrieben, obwohl ein oder zwei Worte zeigten, daß seine Hand gezittert. –

»Ich danke Ihnen für alles, was Sie einem Menschen gethan haben, den Sie als einen Gegenstand Ihrer Mildthätigkeit betrachteten. Meine Mutter und ich vergeben Ihnen, was vorgefallen ist. Ich reise mit ihr ab. Sie haben mir befohlen, meine Wahl zu treffen – ich habe gewählt.

Leonard Fairfield.«

Das Papier entfiel Richard's Hand, und er stand einen Augenblick stumm und reuevoll da. Er fühlte jedoch, daß er kein anderes Mittel dagegen habe, als sich in Zorn hineinzuarbeiten.

»Unter allen Menschen auf der Welt,« rief er und stampfte mit dem Fuße, »gibt es keine widerwärtigeren, unverschämteren und undankbareren, als arme Verwandte. Ich wasche ihretwegen meine Hände in Unschuld!«



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