Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Buch.


Einleitungs-Kapitel,

welches zeigt, wie meine Novelle zu dem Titel »Meine Novelle« kam.

» So weit deine Novelle bis jetzt gediehen ist, gefällt sie mir nicht übel,« sagte mein Vater gnädig; »obgleich, was die Predigt betrifft –«

Ich zitterte; allein die Damen – möge der Himmel sie dafür segnen! – hatten Pfarrer Dale unter ihren besondern Schutz genommen. Als sie daher bemerkten, daß meines Vaters Stirne sich in kritische Falten legte, stürmten sie kühn hervor, um die Predigt zu verteidigen, und Mr. Caxton sah sich genöthigt, den Rückzug anzutreten. Gleich einem geschickten Feldherrn wiederholte er jedoch, den Angriff auf weniger tapfer bewahrte Außenposten. Da ich aber nicht die Absicht habe, selbst meine schwachen Seiten zu verrathen, so überlasse ich es dem Scharfsinn der Sophisten, die Stellen aufzufinden, gegen welche der Verfasser des › Menschlichen Irrthums‹ sein grobes Geschütz richtete.

»Aber Pisistratus,« sagte der Kapitän, »du bist ein viel zu aufgeweckter, munterer Kopf, um uns beständig auf dem Lande, in dem unbedeutenden Quartier von Hazeldean festhalten zu wollen. Du wirst uns doch jedenfalls vor dem Schlusse in's Feld rücken lassen?«

Pisistratus (mit einer Magistermiene, denn er ist durch Mr. Caxton's Bemerkungen etwas verletzt und gibt sich ein würdevolles Ansehen, um die geringern Angreifer abzuschrecken). – »Ja, Kapitän Roland; so bald zwar noch nicht – aber Alles zu seiner Zeit. Ich habe mir die Leinwand noch nicht abgeschnitten, und ich gedenke, hinter meinem Vordergrund, welcher die Halle und das Pfarrhaus darstellt, eine weite Perspective in die Wechselfälle des englischen Lebens zu eröffnen.«

Mr. Caxton. – »Hm!«

Blanche (ihre Hand auf meines Vaters Lippen drückend). – »Vielleicht werden wir den Plan besser verstehen, wenn wir den Titel kennen. Bitte, Herr Autor, sage uns doch den Titel!«

Meine Mutter (mit mehr als gewöhnlicher Lebhaftigkeit). – »Ach ja, Sisty! wie heißt der Titel?«

Pisistratus (betroffen). – »Der Titel! Bei der Seele des Cervantes! An einen Titel habe ich noch gar nicht gedacht!«

Kapitän Roland (feierlich). – »Es liegt sehr viel an einem guten Titel. Als Romanleser weiß ich dies aus Erfahrung.«

Mr. Squills. – »Ganz gewiß. Es gibt keine Flugschrift, und wäre sie noch so erbärmlich, die nicht reißend abginge, wenn sie nur einen geschickten und verlockenden Titel hat. Des › alten Parr's Lebenspillen‹ zum Beispiel werden zu Tausenden verkauft, während meine › Pillen für einen schwachen Magen‹, die doch, wie ich glaube, ganz dieselben Bestandteile enthalten, nicht einmal die Einrückungsgebühr abwarfen.«

Mr. Caxton. – »›Parr's Lebenspillen‹! Ein feiner Geniestreich! Es hat nicht Jeder einen schwachen Magen oder Zeit, sich damit abzugeben, wenn er einen solchen hat. Aber wer wollte nicht eine Pille verschlucken, um hundert und fünfzig Jahre alt zu werden?«

Pisistratus (in großer Aufregung das Feuer schürend). – »Mein Titel! Mein Titel! Wie soll mein Titel lauten?«

Mr. Caxton (die Hand in die Weste gesteckt und in seinem belehrendsten Tone). – »Schon von den frühesten Zeiten an hat die Wahl eines Titels den schreibenden Theil der Menschheit in Verlegenheit gesetzt. Wir sehen aus den seltsamen Verzerrungen, die sie hervorgebracht, wie sehr ihre Erfindungsgabe gefoltert wurde. Um mit den Hebräern anzufangen. › Die Lippen der Schlafenden‹ ( Labia Dormientium) – was meint Ihr wohl, daß dieses also betitelte Buch enthalte? Ein Verzeichniß rabbinischer Schriftsteller! Denkt Euch ferner eine junge Dame des Alterthums, die sich von dem sentimentalen Titel › Der Granatapfelbaum mit seinen Blüthen‹ angezogen fühlt, und beim Aufschlagen des Buches eine Abhandlung über das jüdische Ceremoniel findet! Wenden wir uns nun zu den Römern. Aulus Gellius beginnt sein angenehmes Geplauder in den › NoctesNoctes Atticae (»Attische Nächte«, um 170), ein im gebildeten Plauderton geschriebenes Werk von Aulus Gellius über alle damaligen Wissensgebiete, das vor allem wegen seiner Auszüge verlorener Texte bzw. Autoren bedeutsam ist. mit Aufzählung der Titel, welche damals Mode waren. Zum Beispiel: › Die Musen‹, › Der Schleier‹, › Das Füllhorn‹, › Der Bienenkorb‹, › Die Wiese‹. Freilich gab es auch grausenerregendere Titel, welche Denjenigen Nahrung versprachen, die sich gerne am Entsetzlichen weideten, wie › Die Fackel‹, › Der Dolch‹, › Das Mordmesser‹ –«

Pisistratus (ungeduldig). – »Ja,Vater! Aber nun auf meine Novelle zu kommen –«

Mr. Caxton (der die Unterbrechung keiner Aufmerksamkeit würdigt). – »Du hast hier eine schöne Auswahl, wie du siehst, von ganz gefälliger Art und einem Freunde der Klassiker nicht unbekannt. Du kannst dir aber auch von den frühern dramatischen Schriftstellern einen Wink geben lassen.«

Pisistratus (etwas mehr Hoffnung schöpfend). – »Ja; das Drama hat einige Verwandtschaft mit der Novelle. Da ließe sich vielleicht etwas finden.«

Mr. Caxton – »Der Verfasser der › Merkwürdigkeiten der LiteraturCuriosities of Literature (1791–1823) von Isaac D'Israeli (1766-1848). (beiläufig gesagt ist die Belehrung, die ich Euch ertheile, größtentheils ein Plagiat aus dieser Schrift) erzählt zum Beispiel von einem Spanier, der eine Komödie schrieb, durch welche er der Moralphilosophie zu dienen beabsichtigte.«

Pisistratus (gespannt). – »Nun?«

Mr. Caxton. – »Er betitelte dieselbe › Der Schmerz des Weltschlafes‹«.

Pisistratus. – »In der That höchst komisch.«

Mr. Caxton. – Man nannte damals ernste Dinge Komödie, wie man heutzutage alte Geschichten Novellen nennt. Ferner stehen dir noch alle Titel der alten Romane zur Verfügung – › Theagenes und Charikleia‹ oder › Der Esel‹ von Longus oder › Der goldene Esel‹ des Apulejus Aithiopika oder Die Abenteuer der schönen Chariklea, Abenteuer- und Liebesroman von Heliodorus aus Emesa aus der Mitte oder der zweiten Hälfte des 3. Jh. – Beim Titel »Der Esel« von Longus scheint es sich um einen Irrtum des Verfassers zu handeln; der einzige überlieferte Roman des Longus, aus derselben Zeit wie des des Heliodor, heißt Daphnis und Chloe. – Der Roman Der goldene Esel (eigentlich »Metamorphosen«) ist das Hauptwerk des Mittelplatonikers Apuleius (um 123-170).; sodann die Titel der gothischen Romane wie › Die schönste, anmuthigste, honigsüßeste, entzückendste Geschichte von Percival, König von Großbrittanien‹«. Und nun zählte mein Vater eine Liste von Titeln auf, so lang und ungefähr so unterhaltend, wie die Namenliste eines Adreßkalenders.

»Hm‹« bemerkte meine Mutter, »das muß ich sagen, die Romane, welche ich als Mädchen zu lesen pflegte (denn zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich seit jener Zeit nur wenige mehr gelesen habe –«

Mr. Caxton. – »Nein, du brauchst dich dessen gar nicht zu schämen, Kitty!«

Meine Mutter (fortfahrend). – »Waren viel einladender als alle, die du genannt hast, Austin!«

Der Kapitän. – »Das ist sehr wahr!«

Mr. Squills. – »Gewiß. heutzutage gibt es nichts Aehnliches mehr.«

Meine Mutter. – »› Sagt sie zu ihrem Nachbar, Was?‹«

Der Kapitän. – »› Der Unbekannte, oder die Gallerie auf der Nordseite‹«.

Mr. Squills. – » Darunter steckt ein Geheimniß; wer kann es ergründen?‹« Says She to Her Neighbour, What? by an Oldfashioned Englishman, von Barbara Hofland, 1815. – The Unknown, or The Northern Gallery, von Francis Lathom, 1826. – There is a Secret, Find it Out!, von Mary Meeke, 1808. – Es handelt sich bei allen um vierbändige Romane, die zur damaligen literarischen Massenproduktion gehören und von der Kritik ignoriert wurden.

Pisistratus (bis an den Rand der menschlichen Geduld getrieben und Zange, Schüreisen und Schaufel umwerfend). – »Welchen Unsinn schwatzt Ihr Alle mit einander! Bedenkt doch um des Himmels Willen, was für eine wichtige Sache wir zu entscheiden haben. Ich frage Euch jetzt nicht nach den Titeln all' der höchst achtbaren Werke, die aus der Minervapresse Minerva Press war jener Verlag, der im späten 18. und frühen 19. Jh. einen lukrativen Markt mit der Publikation von Liebes- und Schauerromanen (gothic novels) eroberte. hervorgegangen sind! Es handelt sich darum, einen Titel zu finden, für – meine Novelle!«

Mr. Caxton (sanft in die Hände klatschend). – »Vortrefflich! Ausgezeichnet! Nichts könnte besser sein; einfach, natürlich, kurz, treffend –«

Pisistratus. – »Nun, was ist's, Vater? Was ist's? Hast du wirklich einen Titel für meine Novelle gefunden?«

Mr. Caxton. – »Du hast ihn ja selbst gefunden – › Meine Novelle‹. Es ist deine Novelle – Jedermann wird wissen, daß es deine Novelle ist. Drehe und wende die englische Sprache, wie du willst – sei so allegorisch, wie die Hebräer, Griechen oder Römer – wie ein Fabeldichter oder Puritaner – jedenfalls ist es deine Novelle – nicht mehr und nicht weniger als deine Novelle!«

Pisistratus (nachdenklich und die Worte auf verschiedene Weise betonend). – »›Meine Novelle‹ – hm, hm! ›Meine Novelle‹! Etwas kurz und kühn, nicht?«

Mr. Caxton. – »Setze hinzu, was du sagst, daß du zu schildern gedenkst – Wechselfälle des englischen Lebens.«

Meine Mutter. – »› Meine Novelle; oder Wechselfälle des englischen Lebens‹ – mich däucht, das klingt nicht übel. Was sagst du dazu, Roland? Würde dich dieser Titel in einem Katalog ansprechen?«

Mein Onkel zaudert, indeß Mr. Caxton gebieterisch ausruft: »Die Sache ist abgemacht! Stört nicht die Camarina!«

Mr. Squills. – »Wenn ich mir erlauben darf, zu fragen – wer oder was ist die Camarina?«

Mr. Caxton. – »Die Camarina, Mr. Squills, war ein See, der zuweilen wenig Wasser hatte und dann trüb und schlammig wurde. ›Stört nicht die Camarina‹ war ein griechisches Sprüchwort, das sich von einem Orakel des Apollo herschrieb, und von diesem griechischen Sprüchwort rührt ohne Zweifel die Vorschrift her, › Quieta non movere‹, die Sir Robert Walpole und Pfarrer Dale zu ihrer Lieblingsmaxime erwählt haben. Die griechische Stelle, Mr. Squills (und hier begann meines Vaters Gedächtniß sehr lebendig zu werden) findet sich bei Stephanus Byzantinus Urbibus Griechisch-byzantinischer Autor des 6. Jh.

›Μὴ κίνει Καμάριναν, ἀκίνητος γὰρ ἀμείνων.‹ Rühr' Kamarina nicht an! 's ist besser, sie nicht zu berühren.

Zenobius Der Heilige Zenobius (4. Jh) war der erste Bischof von Florenz. erklärt sie in seinen Sprüchwörtern, Suidas Sagenhafter griechischer Lexikograph, der als Byzantiner beschrieben wird und in der zweiten Hälfte des 10. Jh. gelebt haben soll. schreibt Zenobius nach, Lucian Lukian von Samosata (2. Jh.), griechischsprachiger Satiriker der Antike. spielt darauf an, deßgleichen Virgil im dritten Buch seiner Aeneide, und Silius Italicus Tiberius Catius Asconius Silius Italicus (1. Jh.). Politiker und Dichter. Er verfasste die Punica, ein Epos über den zweiten Punischen Krieg. (Der Vers ebd. in Buch XIV, 198.) ahmt Virgil nach –

Et cui non licitum fatis Camarina moveri.Das Schicksal erlaubt keinem, Camarina zu bewegen.

Pfarrer Dale als Geistlicher und Gelehrter vermochte ohne Zweifel alle diese Autoritäten an den Fingern herzuzählen, und es wundert mich, daß er sie nicht angeführt hat. Doch er ist als ein milder Mann dargestellt und als solcher mochte er ohne Zweifel den Squire nicht allzu sehr vor seiner ganzen Familie demüthigen. Indessen bleibt es bei ›meiner Novelle‹ und da diese Sache nun abgemacht ist, so könnte man vielleicht das Schüreisen nebst Zange und Schaufel wieder aufheben und die Kinder zu Bette bringen; Blanche und Kitty könnten sich im Stillen über die künftigen Würden des Neogilos Der Neugeborene. unterhalten, Roland ein Abrechnungsbuch in's Reine bringen, Mr. Squills seinen Grog trinken – und so Jeder es sich auf seine eigene Weise bequem machen. Gehe jetzt vom Ofenschirm weg, Blanche, reiche mir meine Pantoffeln und überlasse Pisistratus sich selbst. ?? êßíåé ÊáìÜñéíáí – Störe die Kamarina nicht! Siehst du, meine Liebe,« setzte mein Vater freundlich hinzu, als er in seine Pantoffeln geschlüpft war und Blanche's Hand in der seinigen hielt, »jedes Haus hat seine Camarina. Der Mann, der ein träges Thier ist, läßt sie gern in Ruhe; aber das Weib, von Natur ein viel lebhafteres, emsigeres und neugierigeres Geschöpf, ist immer geneigt, sie heimlich zu stören.«

Blanche (mit weiblicher Würde). – »Ich versichere dich, wenn Pisistratus mich nicht gerufen hätte, so würde ich nicht –«

Mr. Caxton (sie unterbrechend, ohne seine Augen von dem Buche zu erheben, das er schon ergriffen hatte). – »Gewiß würdest du nicht. Ich bin eben jetzt mitten in der großen Puseyistischen Controverse Im Original: Oxford Controversy. In dieser geht es um die sog. Oxford-Bewegung, die dem englischen Theologen Edward Bouverie Pusey (1800-1882) folgte; er war Gründer einer entschieden katholisierenden Richtung in der englischen Hochkirche, des nach ihm benannten Puseyismus., Ì? êßíåé ÊáìÜñéíáí – Störe die Camarina nicht.«

Es folgte nun eine halbe stunde des tiefsten Stillschweigens, bis endlich Pisistratus hinter dem Schirm hervorruft .

»Blanche, meine Liebe, ich möchte gerne deinen Rath hören!«

Blanche rührt sich nicht.

Pisistratus. – »Blanche, hörst du?«

Blanche wirft einen triumphirenden Blick auf Mr. Caxton.

Mr. Caxton (der seine theologische Abhandlung bei Seite legt und traurig seine Brille abwischt). – »Ich höre ihn, mein Kind, ich höre ihn und nehme meine Verteidigung des Mannes zurück. Die Orakel warnen vergebens. So lange ein Weib auf der andern Seite des Schirmes steht, ist es aus mit der Camarina.«


Zweites Kapitel.

Es ist sehr zu bedauern, daß Mr. Stirn der Rede des Pfarrers nicht anwohnte – allein dieser schätzenswerthe Beamte war anderweitig beschäftigt und ließ sich überhaupt während der Sommermonate nur selten bei dem Nachmittagsgottesdienst blicken. Nicht als ob er sich etwas daraus gemacht hätte, wenn die Predigt auf ihn gemünzt war; o nein, Mr. Stirn hätte selbst dem Donner des Vaticans ein Schnippchen geschlagen. Der Grund war einfach der, daß Mr. Stirn am Sonntag eine Menge freiwilliger Geschäfte zu besorgen pflegte.

Der Besuch des Parks war nämlich an diesem Tage Jedermann gestattet, und viele Leute kamen von nah und fern, um an dem See zu lustwandeln oder unter den Ulmen auszuruhen. Diese Besucher nun waren für Mr. Stirn stets Gegenstände des Argwohns und entschiedenen Widerwillens, und zwar nicht ganz ohne Grund, denn die Engländer haben eine angeborne Liebe zur Freiheit, welcher sie sich auf den Gütern anderer Leute sogar nicht selten noch mehr überlassen, als auf ihrem eigenen Grund und Boden. Zuweilen ertappte Mr. Stirn zu seiner unaussprechlichen Befriedigung ein Paar Knaben, welche nach den Schwänen warfen; ein anderes Mal erblickte er ein junges Bäumchen, das ihm weggekommen, als Spazierstock in diebischen Händen; je und je gelang es ihm, einen Bauernlümmel abzufangen, der über den Graben geklettert war, um von einem der Lieblingsbeete Mrs. Hazeldean's einen Strauß für sein Liebchen zu pflücken; ja, nicht selten geschah es, wenn die ganze Familie andächtig in der Kirche saß, daß einige unverschämte Neugierige in den Garten schlichen, um durch die Fenster in die Halle zu schauen.

Auf Grund dieser und ähnlicher gleich schwerer Vergehen hatte Mr. Stirn schon längst, aber immer vergebens, den Squire zu überreden gesucht, die so schändlich mißbrauchte Erlaubniß zurückzunehmen. Obgleich der Squire zu Zeiten brummte und knurrte und schwor, daß er den Park zuschließen und (ganz gegen das Gesetz) Falleisen und Selbstgeschosse legen wolle, so war sein Zorn doch immer bald wieder verraucht. Der Park blieb nach wie vor am Sonntag für Jedermann offen, und dieser Tag der Ruhe und des Friedens wurde dadurch für Mr. Stirn zu einem Tag der Arbeit und des Unmuths.

Am meisten beunruhigt aber war das Gemüth des wachsamen Beamten vom letzten Geläute des Nachmittaggottesdienstes bis zur Dämmerung; denn unter den Heerden, welche sich aus den benachbarten Weilern um den Prediger zu sammeln pflegten, gab es immer einige verirrte Schafe, oder vielmehr unstäte, kletternde vagabundirende Böcke, die sich nach allen Richtungen hin zerstreuten, als ob sie es sich zur besondern Aufgabe gemacht hätten, Mr. Stirn's energische Wachsamkeit zu vereiteln. Sobald der Gottesdienst zu Ende war, wimmelte bei schönem Wetter der Park von rothen Mänteln oder bunten Shawls, Sonntags-Westen und Hüten, auf welchen wilde Blumen prangten, in denen Mr. Stirn nicht selten Mrs. Hazeldean's neueste Geranien erkennen wollte. An diesem Sonntage nun fühlte sich der Oberaufseher zu ganz besonderer Wachsamkeit berufen, denn es galt nicht nur, den gewöhnlichen Uebelthätern aufzupassen, sondern erstens die Anstifter der Verschwörung gegen den Stock zu entdecken und zweitens »ein Exempel zu statuiren.«

Er hatte daher schon am frühen Morgen seine Runde begonnen, und mit dem letzten Glockenton des Nachmittags-Geläutes trat er hinter einer Hecke hervor, woselbst er im Hinterhalte gelegen, um zu beobachten, wer sich wohl in verdächtiger Weise dem Stocke nähern werde. In diesem Augenblick war der Platz ganz einsam. In einiger Entfernung erblickte Mr. Stirn die schnell verschwindenden Gestalten einiger Gruppen, die etwas verspätet noch zur Kirche eilten; vor ihm stand der Stock, der ihn mit seinen vier großen Augen, die zwar vom Kothe gereinigt, aber doch noch trübe und befleckt aussahen, melancholisch anstarrte. Mr. Stirn nahm seinen Hut ab und wischte sich die Stirne.

»Wenn ich nur Jemand hätte, um hier Wache zu halten,« dachte er, »während ich einen Gang am Wasser hin mache; vielleicht könnte es etwas nützen; vielleicht sind die Schlingel, die es gethan haben, nicht zur Kirche gegangen, sondern schleichen hier herum, ihr schönes Werk zu besehen! Man sagt ja auch, daß Mörder sich immer nach der Stelle hin gezogen fühlen, wo sie den Leichnam gelassen haben. Allein im ganzen Dorfe ist außer mir Niemand, der sich im Geringsten um den Squire oder das Kirchspiel bekümmerte.«

Als er eben zu diesem misanthropischen Schlusse gekommen war, erblickte Mr. Stirn Leonhard Fairfield, der in großer Eile aus seiner Wohnung trat. Der Oberaufseher schwenkte den Hut und streckte seinen rechten Arm aus.

»Holla, Bursche,« rief er, als Lenny in Hörweite kam, »wohin läufst du so schnell?«

»Mit Verlaub, Sir, ich gehe zur Kirche.«

»Halt, Junge! Halt, Master Lenny! Zur Kirche willst du? Aber es hat schon aufgehört zu läuten, und der Pfarrer mag es nicht, wenn man zu spät kommt und die Versammlung stört. Du kannst nicht mehr zur Kirche!«

»Mit Verlaub, Sir –«

»Du kannst jetzt nicht mehr zur Kirche, sag' ich dir. Du mußt auch an Andere denken lernen, Junge! Du siehst, wie ich im Dienste des Squire's schwitze! Und deine Pflicht wäre es nicht minder, ihm zu dienen, denn deine Mutter hat Haus und Güter beinahe umsonst. Du solltest dankbar sein, Leonhard Fairfield. Und auch etwas Gefühl für den gnädigen Herrn an den Tag legen. Der arme Mann! Die schändliche That hat ihm fast das Herz gebrochen.«

Leonhard blickte Mr. Stirn mit seinen unschuldigen blauen Augen groß an, während dieser die seinigen mit einer Jammermiene abwischte.

»Schau dieses stumme Geschöpf hier an,« sagte Mr. Stirn plötzlich, auf den Stock zeigend, »schau es an! Wenn es sprechen könnte, was würde es wohl sage, Leonhard Fairfield? Antworte mir darauf, wenn du kannst! – ›Zum Teufel mit dem Stock‹! Ja, ja!«

»Es war recht schlecht von den Leuten, solche böse Worte zu schreiben,« sagte Leonhard ernsthaft. »Meine Mutter war ganz entsetzt, als sie diesen Morgen davon hörte.«

Mr. Stirn. »Das glaub' ich wohl – zumal, da sie so wenig Pachtzins zu bezahlen hat.« (Einschmeichelnd) »Weißt du nicht, wer es gethan hat, Lenny?«

Lenny. – »Nein, ich weiß es in der That nicht.«

Mr. Stirn. – »Du siehst wohl, daß es jetzt zu spät ist, um noch in die Kirche zu gehen – das Gebet muß schon halb vorüber sein. Und weißt du nicht mehr, daß ich dir die Aufsicht über den Stock anvertraut hatte? Wie hast du aber deine Pflicht gegen ihn erfüllt? Ich hätte fast Lust –«

Mr. Stirn blickte bei diesen Worten auf die Augen des Stockes.

»Mit Verlaub, Sir –« begann Lenny, ängstlich werdend.

»Ich erlaube nichts – bin gar nicht in der Laune dazu. Aber ich will dir diesmal noch verzeihen, Junge, wenn du mir in Zukunft scharfe Wache halten willst! So, nun bleibe hier – nein, dort hinter der Hecke – und passe auf, ob irgend Jemand hier herum schleicht – oder den Stock betrachtet – oder vor sich hin lächelt – während ich meine Runde mache. Ich werde wieder zurück sein, noch ehe die Kirche aus ist, oder gleich nachher. Du bleibst also, bis ich wieder komme, und machst mir dann deinen Rapport. Sei wachsam, Junge, sonst soll es dir und deiner Mutter übel bekommen; ich kann jeden Tag Jemand finden, der vier Pfund Pachtzins mehr für das Grundstück bezahlt.«

Mit dieser sehr bedeutsamen und etwas drohenden Bemerkung schloß Mr. Stirn seine Rede, winkte mit der Hand und entfernte sich.

Der arme Lenny blieb sehr niedergeschlagen bei dem Stock, zu dessen höchst unwillkommener Nachbarschaft er verurtheilt war. Endlich schlich er langsam nach der Hecke und setzte sich in den Hinterhalt, den Mr. Stirn ihm angewiesen hatte. Nun sagen uns die Philosophen, daß der sogenannte Ehrenpunkt nichts, als ein barbarisches Vorurtheil des Mittelalters sei. Unter den höhern Ständen, bei welchen diese Vorurtheile wohl am herrschendsten sind, würde Lenny Fairfield's Aufgabe nicht für besonders ehrenvoll gegolten haben; ebenso wenig aber würden die unruhigern Köpfe der niedern Klasse sie dafür gehalten haben, da dieselbe ihren eigenen Ehrenpunkt hat, der im festen Zusammenhalten, jeder gesetzlichen Autorität gegenüber, besteht.

Allein Lenny Fairfield's Begriff von Ehre beschränkte sich in Folge seiner einsamen Erziehung, die ihm wenig Umgang mit andern Knaben seines Alters gestattet hatte, und der tiefen Ehrfurcht und Dankbarkeit gegen den Squire, die ihm eingeprägt worden, auf eine strenge Anhänglichkeit an Wahrheit und Ehrlichkeit. Ihm schien daher nichts Erniedrigendes darin zu liegen, einem Uebelthäter auflauern zu müssen. Er fing im Gegentheil an, sich mit dem Verluste des Gottesdienstes auszusöhnen, des kühlen Schattens und des muntern Gezwitschers der Vögelein sich zu freuen und so den ihm gewordenen Auftrag von seiner heitern Seite zu betrachten. In der Jugend hat ja Alles – selbst die Anstellung als Hüter des Gemeindestocks – seine angenehme Seite. Freilich hegte Lenny für den Stock selbst durchaus keine Vorliebe; aber ebensowenig flößten ihm dessen Beschädiger die mindeste Theilnahme ein, und er konnte sich wohl vorstellen, daß der rebellische Versuch der vergangenen Nacht den Squire tief beleidigt haben mußte.

»Wenn ich Seiner Gnaden dienen kann,« dachte Lenny in der Einfalt seines Herzens, »indem ich boshafte Jungen fern halte, oder heraus bringe, wer die Verwüstung angerichtet hat, so wird meine Mutter sicherlich stolz darauf sein.«

Dann begann er zu überlegen, daß die Anstellung, wenn Mr. Stirn ihm dieselbe auch nicht auf sehr gnädige Weise übertragen hatte, doch immerhin als ein Beweis von Vertrauen ehrend für ihn sei und ihn, den Musterknaben des Dorfes, vor seinen Altersgenossen auszeichne: und Lenny besaß in allen Dingen, welche mit Charakter und gutem Ruf zusammenhingen, nicht geringen Stolz.

In Anbetracht alles dessen sagen wir, daß Leonhard Fairfield zwar nicht eben mit wirklicher Wonne und berauschendem Entzücken, so doch mit ziemlicher Zufriedenheit und nicht ohne einiges Wohlbehagen in seinem Hinterhalte lag.

Mr. Stirn mochte wohl seit einer Viertelstunde weggegangen sein, als ein Knabe durch ein kleines Pförtchen des Parkes, welches Lenny's Versteck hinter der Hecke gerade gegenüber lag, eintrat und – augenscheinlich müde vom Gehen oder erschöpft von der Hitze des Tages – einen Augenblick auf dem Rasen stehen blieb, dann aber unter dem Schatten des großen Baumes, welcher seine Zweige über den Stock ausbreitete, Schutz suchte.

Lenny spitzte die Ohren und schaute neugierig durch die Hecke. Er hatte den Knaben noch nie gesehen – es war ein ihm durchaus unbekanntes Gesicht.

Leonhard Fairfield war den Fremden nicht hold; er hatte eine unbestimmte Ahnung, daß es Fremde gewesen sein mußten, die den Frevel an dem Stocke verübt hatten. Der Knabe war nun unstreitig ein Fremder; aber welches Standes mochte er wohl sein? Gehörte er jener Stufe der Gesellschaft an, deren natürliche Vergehen im Einklang stehen mit Angriffen auf Stöcke, oder nicht? Ueber diesen Punkt konnte Lenny Fairfield nicht in's Reine kommen. Allen Erfahrungen des Dorfkindes gemäß, war der Knabe nicht wie ein junger Gentleman gekleidet. Leonhard's Begriffe von einem aristokratischen Anzuge richteten sich natürlich nach Frank Hazeldeans Vorbild und machten ihm eine blendende Erscheinung vor in schneeweißen Beinkleidern, schönem blauem Rocke und unvergleichlicher Halsbinde. Nun stimmte aber die Kleidung des Fremden, obgleich nicht der eines Pächters oder Bauern ähnlich, durchaus nicht mit Lenny's Vorstellungen von dem Costüm eines jungen Edelmannes überein, sondern schien ihm im Gegentheil in hohem Grade unanständig; der Rock war mit Koth überzogen und der Hut ganz zerdrückt, an manchen Stellen sogar zerrissen.

Lenny war verwirrt, bis ihm plötzlich einfiel, daß jene Pforte, durch welche der Knabe eingetreten, auf den nächsten Weg nach einem kleinen Städtchen führte, dessen Bewohner in der Halle im schlechtesten Rufe standen. Seit undenklichen Zeiten waren von dorther immer die verwegensten Wilddiebe, die lästigsten Verwüster des Parks, die gewissenlosesten Obstdiebe und die eigensinnigsten Verfechter problematischer Weggerechtigkeiten gekommen, welch' letztere die Stadt als öffentliches Eigenthum ansprechen zu dürfen glaubte, indeß man in der Halle beweisen wollte, daß dieselben seit der Eroberung Siehe Anm. 96. Privateigenthum geworden.

Allerdings führte derselbe Pfad auch direkt nach dem Hause des Squires; allein es war sehr unwahrscheinlich, daß der Frager eines so zweideutigen Anzuges dort zu Besuch gewesen sein sollte. Alles wohl überlegt, zweifelte Lenny nicht länger, daß der Fremde irgend ein Ladendiener oder Lehrling aus dem Städtchen Thordyke sein müsse, und der üble Ruf jenes Ortes in Verbindung mit solcher Anmaßung machte es Lenny höchst wahrscheinlich, daß er hier einen der mitternächtlichen Verbrecher vor sich habe. Dieser Argwohn, der in Lenny's Gemüth mit einer Schnelligkeit aufgestiegen war, die in gar keinem Verhältniß zu der Zahl der Zeilen steht, welche wir gebraucht haben, um den Leser damit bekannt zu machen – dieser Argwohn wurde noch bestärkt, als der Knabe, der jetzt gerade vor dem Stocke stand, sich bückte, um das schimpfliche Anathem, womit derselbe verunstaltet war, zu lesen. Er wiederholte die Worte laut, und Lenny sah ihn lächeln – und welch' ein häßliches, unheimliches Lächeln! Lenny hatte noch niemals ein sardonischeres Lächeln gesehen.

Man denke sich jedoch Lenny's Schrecken und frommes Entsetzen, als der unheimliche Fremde dreist auf dem Stocke Platz nahm, seine Absätze auf zwei jener runden Augen ruhen ließ und Taschenbuch und Bleistift herausziehend, zu schreiben begann. Wollte dieser freche Unbekannte vielleicht ein Inventar über Kirche und Halle aufnehmen, um dieselben in Brand zu stecken! Er starrte während des Schreibens mit so seltsamen Blicken bald nach der einen, bald nach der andern hin, anstatt seine Augen auf das Papier zu heften, wie Lenny gelehrt worden war, wenn er sein Schreibheft vor sich hatte.

Randal fühlte sich nämlich erschöpft und müde; die Erschütterung des Falles machte sich noch mehr bemerklich, nachdem er einige Schritte gegangen war, weßhalb er gerne die Gelegenheit ergriff, einige Augenblicke auszuruhen. Diese Muße wollte er benützen, um ein Paar Zeilen an Frank zu schreiben und sich zu entschuldigen, daß er seinen Besuch nicht werde wiederholen können. Das Blatt, auf welches er geschrieben, gedachte er aus seinem Taschenbuche zu reißen und in der nächsten Bauernhütte abzugeben mit der Weisung, es nach der Halle zu tragen.

Während so Randal in ganz unschuldiger Weise beschäftigt war, trat Lenny auf ihn zu mit dem festen, gemessenen Schritte eines Menschen, der entschlossen ist, seine Pflicht zu erfüllen, koste es was es wolle. Da jedoch Lenny zwar tapfer, aber keineswegs grausam war, so gab sich sein Zorn und der Argwohn, den er hegte, nur in folgender feierlicher Berufung an das Schicklichkeitsgefühl des Uebelthäters kund:

»Schämst du dich nicht vor dir selbst, da hinzusitzen auf des Squires neuen Stock? Willst du wohl gleich weggehen?«

Randal wandte sich rasch um, und obgleich er zu jeder andern Zeit Klugheit genug besessen hätte, um sich leicht aus dieser schiefen Lage herauszuziehen, so ist doch Nemo mortalium etc. (Niemand ist allezeit weise.) Zudem war Randal in ausnehmend übler Laune. Seine Leutseligkeit gegen Geringere, welche wir kürzlich von ihm rühmten, ging ganz verloren in der Verachtung gegen unverschämte Flegel, die einem beleidigten Etonianer so natürlich ist.

Randal musterte daher Lenny mit großer Geringschätzung und antwortete kurz:

»Du bist ein unverschämter junger Schlingel!«

Diese bündige Erwiderung trieb Lenny alles Blut in's Gesicht. War er vorher schon überzeugt gewesen, daß der Eindringling irgend ein gesetzloser Lehrling oder Ladenjunge sei, so sah er nun seine Ansicht bestätigt nicht nur durch die unhöfliche Sprache, sondern auch durch den wilden Blick, der dieselbe begleitete und sicher nicht an imposanter Würde gewann, indem er unter dem zerknitterten und zerfetzten Hute hervorblitzte.

Von all' den verschiedenen Gegenständen, aus welchen die männliche Bekleidung zusammengesetzt ist, besitzt vielleicht keiner so viel Charakter und Ausdruck, als die Kopfbedeckung. Ein hübscher, wohlgebürsteter, kurzhaariger, vornehmaussehender Hut, mit einem gewissen Anstand aufgesetzt, verleiht der ganzen Erscheinung einen Anstrich von Achtbarkeit und Würde; wogegen ein beschmutzter, zerrissener und zerquetschter Hut, gleich demjenigen Randal Leslie's, den stolzesten Gentleman, der je die St. Jamesstraße hinabwandelte, in das Urbild eines gemeinen, lüderlichen Landstreichers zu verwandeln vermag.

Es ist eine bekannte Thatsache, daß es für einen Bauernknaben nichts Widerwärtigeres gibt, als einen Ladenjungen. Selbst bei wichtigen politischen Gelegenheiten kann die Klasse der Landleute nur selten durch Schmeicheleien zur Sympathie für die gewerbtreibende Klasse der Städter gewonnen werden. Der ächte, englische Bauer ist immer ein Aristokrat. Aber auch abgesehen von den ewigen Reibereien zwischen den verschiedenen Ständen liegt etwas eigenthümlich Feindseliges in dem Verhältniß zwischen Knabe und Knabe, wenn ihrer Zwei einmal etwas gegen einander haben und sie sich allein auf einem ruhigen Rasenplätzchen zusammen finden. Es ist ein Gefühl, dem des Kampfhahnes ähnlich – ein Etwas, das in der sonst so lammartigen und friedfertigen Bevölkerung Großbritanniens die kriegerische Lust aufrecht erhält, den Daumen fest über den vier Fingern zu schließen, und, wie man zu sagen pflegt, »eine Faust zu machen.« Gefährliche Anzeichen dieser gemischten und kampflustigen Gesinnung waren bei den Worten und dem Blicke des nicht sehr einnehmenden Fremden an Lenny Fairfield erkennbar. Auch schien der Fremde dies wohl zu bemerken; denn sein bleiches Gesicht wurde noch bleicher, sein finsteres Auge noch finsterer und wachsamer.

»Mach', daß du von dem Stock herunter kommst!« rief Lenny, der eine Erwiderung auf die an ihn gerichteten Schimpfreden verschmähte. Und den Worten die That folgen lassend, gab er dem Eindringling einen Stoß, welchen dieser irrtümlicher Weise für einen Schlag hielt. Der Etonianer sprang auf, und die Schnelligkeit seiner Bewegung, unterstützt durch eine leichte Handberührung, ließ Lenny das Gleichgewicht verlieren, so daß er Hals über Kopf auf den Stock hin fiel. Glühend vor Wuth raffte sich Lenny rasch wieder auf und stürzte auf Randal los, indem er rechts und links um sich schlug.


Drittes Kapitel.

Helft mir, o Ihr Neun Die neun Musen, die in den antiken Epen stets zu Beginn angerufen werden., über deren Anrufung der unvergleichliche Persius Aulus Persius Flaccus (1. Jh.), römischer Dichter etruskischer Abstammung. In seinen Werken lehrte er die stoische Lebensweisheit und kritisierte zeitgenössische Missstände. seine Zeitgenossen verhöhnte, und welche er hierauf plötzlich zu seinen eigenen Gunsten anrief – helft mir jene denkwürdige Schlacht bei dem Stocke beschreiben, welche zwischen den beiden Vertretern des sächsischen und normannischen Englands geliefert wurde! Hier nüchternes Aufrechthalten von Gesetz, Pflicht und anvertrautem Gut – pro aris et focis Für Altar und Herd, im Sinne der Vertheidigung des Vaterlandes gegen fremde Unterdrücker.; dort hochmütiges Eindringen, kriegerischer Geist des Ritterthums und jene Achtung vor Person und Namen, die wir Ehre nennen. Hier starke körperliche Kraft; dort durch Uebung erworbene Gewandtheit. Hier – ach die Neun sind so taub, wie ein Thürpfosten, und so kalt, wie Stein! Die Pest über die Dirnen! Ich kann besser ohne sie fertig werden.

Randal war ein oder zwei Jahre älter, als Lenny; aber weder so groß, noch so stark, und selbst nicht einmal so behend, wie dieser. Als nach dem ersten blinden Anlauf die beiden Knaben inne hielten, um Athem zu schöpfen, faßte Lenny die schmächtige Gestalt und farblose Wange seines Gegners in's Auge, und da er bemerkte, daß von Randal's Lippe Blut niederträufelte, wurde er schnell von edelmüthiger Reue ergriffen. »Es war nicht schön,« dachte er, »mit Einem zu kämpfen, der so leicht zu besiegen ist.« Er zog sich daher zurück, ließ die Arme sinken und sagte in versöhnlichem Tone: »So, wir wollen's nun gut sein lassen; aber sei vernünftig und geh' jetzt nach Hause.«

Randal Leslie besaß keinen sehr hohen Grad von physischem Muthe, dafür aber alle jene moralischen Eigenschaften, welche dessen Stelle ersetzen. Er war stolz und rachsüchtig; er hatte eine hohe Meinung von sich selbst und zeigte in der Bildung seines Schädels eher das Organ der Zerstörung, als dasjenige der Kampflust, und wenn einmal sein Zorn durch etwas gereizt worden, so entstand in ihm die instinktartige Begier, es zu zerstören. Obgleich daher all' seine Muskeln zuckten, und heiße Thränen in seinen Augen standen, so näherte er sich doch Leonhard mit dem Trotze eines Gladiators und murmelte zwischen seinen fest aufeinandergebissenen Zähnen, während er gewaltsam das Schluchzen der Wuth und des Schmerzes niederzukämpfen bemüht war. –

»Du hast mich geschlagen – und du sollst nicht von der Stelle, bis ich dich dafür gezüchtigt habe. Halte die Hände vor, und vertheidige dich!«

Mechanisch gehorchte Lenny, der dieser Warnung wohl bedurfte, denn wenn er vorhin im Vortheil gewesen, so gestaltete sich der Kampf jetzt, nachdem Randal sich von seiner Ueberraschung erholt hatte, nicht zu Gunsten des Stärkeren.

Leslie hatte zwar in Eton nicht zu den Raufbolden gehört, war jedoch, als er sich noch in den untern Klassen befand, durch sein Temperament in manchen Streit verwickelt und dadurch einigermaßen in die Kunst und in die Geheimnisse des Faustkampfes eingeweiht worden. Dergleichen Uebungen haben gewiß ihre gute Seite, und ich bin barbarisch genug, zu hoffen, daß dieselben an unsern öffentlichen Schulen nie ganz aussterben werden. Wie mancher junge Herzog ist für seine ganze Lebenszeit zu einem erträglichern Menschen geworden um der Püffe willen, welche er im ehrlichen Kampf mit einem Bürgersohn erhielt; und wie mancher Bürgersohn hat auf der Wahltribüne einem Lord mannhafter in's Auge geschaut, wenn er sich der guten Tracht Prügel erinnerte, die er einst irgend einem kleinen Lord Leopold Dawdle Engl. dawdle: herumbummeln. angedeihen ließ.

Randal brachte nun seine Kunst und durch Uebung erlangte Fertigkeit in Anwendung, indem er die schweren, auf's Ungefähr geführten Schläge seines Gegners parirte und dann selbst rasch und scharf zuschlug, durch kunstgerechte Führung der Streiche die natürliche Schwäche seines Armes unterstützend. Ja, und auch der Arm selbst war nicht länger mehr schwach – so wunderbar wächst die Stärke mit der Leidenschaft.

Der arme Lenny, der nie zuvor in dieser Weise gekämpft hatte, war ganz betäubt; seine Empfindungen verschwommen so sehr in einander, daß er sich dieselben später nie mehr recht vergegenwärtigen konnte. Er hatte nur eine dunkle Erinnerung von einem athemlosen, unmächtigen Anlauf – von einem plötzlichen Schwarzwerden vor den Augen, dem rasche Blitze eines unerträglichen Lichtes folgten – von einem Schwinden aller Kräfte – von heftigen Schmerzen – hier – dort – allenthalben – die ihn das Bewußtsein nicht ganz verlieren ließen. Dann entsann er sich keines Weitern, als daß er schwer athmend am Boden lag, indeß sein Feind sich über ihn beugte mit einem Gesichte so finster und bleich, wie Lara den gefallenen Otho betrachtet haben mochte. Denn Randal Leslie gehörte nicht zu Denen, deren edle Gesinnung mit dem Grundsatze übereinstimmt: »Führe niemals einen Streich nach dem überwundenen Feinde;« und es kostete ihn einen schweren, wenn auch kurzen Kampf, seinen Fuß nicht auf den niedergestreckten Gegner zu setzen.

Es war der Beistand, nicht das Herz, was die wilden Leidenschaften seines Innern bändigte, als der Sieger, etwas vor sich hinmurmelnd, das gewiß nichts weniger, als christliche Versöhnung bedeutete, finster von seinem Opfer sich abwandte.


Viertes Kapitel

In diesem Augenblick erschien Mr. Stirn wieder auf dem Schauplatze. Die rechte Hand des Squires wünschte nichts mehr, als Lenny in Ungnade fallen zu sehen, und hatte sich der Hoffnung hingegeben, der Knabe werde den ihm anvertrauten Posten verlassen haben; daher kehrte er heimlich zurück, um zu sehen, ob seine liebenswürdige Erwartung in Erfüllung gegangen. Nun erblickte er Lenny, der sich mit Mühe vom Boden erhob, noch immer schwer keuchend und krampfhafte Laute ausstoßend, die man gemeiniglich mit dem Namen Heulen zu bezeichnen pflegt. Seine schöne neue Weste war mit Blut befleckt, das noch immer seiner Nase entströmte – einer Nase, die Lenny's Empfindung nach keine Nase mehr war, sondern ein – geschwollener, riesenhafter, bergartiger Auswuchs! Mr. Stirn wandte sich erschrocken von diesem Anblick ab und musterte nun mit nicht viel mehr Achtung, als Lenny an den Tag gelegt hatte, den fremden Knaben, der abermals auf dem Stocke Platz genommen hatte – entweder, um daselbst Athem zu schöpfen, oder um zu zeigen, daß er den Sieg errungen und im Rechte eines erkämpften Besitzes sei.

»Holla!« rief Mr. Stirn. »Was bedeutet dies? Was gibt's, Lenny, du Dummkopf?«

»Er will durchaus dort sitzen,« antwortete Lenny in abgebrochenen Lauten, »und hat mich geschlagen, weil ich es nicht leiden wollte; aber ich mache mir nichts daraus,« setzte der Dorfknabe hinzu, indem er sich Mühe gab, seine Thränen zu unterdrücken, »und bin bereit, es wieder mit ihm aufzunehmen – ja, das bin ich!«

»Und was hast denn du da auf dem Stock zu thun?« wandte sich Mr. Stirn an Randal.

»Ich betrachte die Gegend. Geht mir aus dem Lichte, Mann!«

Dieser Ton erfüllte Mr. Stirn augenblicklich mit Bedenken; es lag darin so wenig Respekt vor ihm, daß er unwillkürlich Achtung vor dem Sprecher bekam. Wer anders als ein Gentleman konnte so mit Mr. Stirn reden?

»Darf ich fragen, wer Sie sind?« sagte Mr. Stirn stotternd und nicht übel geneigt, an seinen Hut zu greifen. »Wie heißen Sie, und was suchen Sie hier?«

»Mein Name ist Randal Leslie, und meine Absicht war, die Familie Eures Herrn zu besuchen – das heißt, wenn Ihr, wie ich aus Eurem Benehmen schließe, Mr. Hazeldeans Ackerknecht seid!«

Mit diesen Worten erhob sich Randal, um sich zu entfernen, wandte sich jedoch nach einigen Schritten wieder um, warf eine halbe Krone auf den Weg und sagte zu Lenny:

»Da nimm dies für deine Beulen, und besinne dich ein andermal, wie du mit einem Gentleman zu sprechen hast. Was Euch betrifft,« fügte er mit einer verächtlichen Handbewegung gegen Mr. Stirn hinzu, der mit offenem Munde und nun wirklich entblößtem Haupte dastand und sich fortwährend tief zur Erde verbeugte – »was Euch betrifft, so bringt Mr. Hazeldean meine Empfehlung, und sagt ihm, wenn er uns einmal die Ehre schenke, uns in Rood Hall zu besuchen, so hoffe ich, werde das Benehmen der Bewohner unseres Dorfes dasjenige seiner Hazeldeaner beschämen.«

O armer Squire! Rood Hall sollte Hazeldean beschämen! Wäre dir dieser Auftrag ausgerichtet worden, du hättest niemals wieder freudig und stolz dein Haupt erhoben!

Mit den erwähnten bittern Worten schwang sich Randal über den nahen Zaun des Pfarrgartens, während Lenny noch immer seine Nase betastete, und Mr. Stirn fortfuhr, sich zur Erde zu verneigen.


Fünftes Kapitel.

Randal Leslie hatte einen sehr weiten Weg nach Hause; er fühlte sich müde und zerschlagen vom Kopf bis zu den Füßen und in seinem Innern noch schmerzlicher verwundet, als an seinem Körper. Hätte er jedoch in des Squire's Garten ausgeruht, ohne rückwärts zu gehen und ohne sich in Betrachtungen einzulassen, welche Marat ihm eingab und Lord Bacon bekräftigte, so würde er einen höchst angenehmen Abend zugebracht und von dem Reichthum des Squires in so fern einen Genuß gehabt haben, als er in dessen Equipage nach Hause gefahren wäre. Weil er es aber vorzog, fremdes Eigenthum von einem so intellectuellen Standpunkte aus zu betrachten, fiel er in einen Graben; weil er in einen Graben fiel, beschmutzte er seine Kleider; weil er seine Kleider beschmutzt hatte, gab er den beabsichtigten Besuch auf; weil er den Besuch aufgab, gerieth er auf den Gemeinderasen und setzte sich auf den Stock mit einem Hut auf dem Kopfe, der ihm das Aussehen eines entlaufenen Sträflings gab, weil er mit diesem Hute und einem darunter befindlichen finstern Gesicht auf dem Stocke saß, wurde er in einen höchst schmählichen Faustkampf mit einem Bauerntölpel verwickelt und hinkte jetzt, mit Göttern und Menschen zerfallen, der Heimath zu – ergo, wenn du auf eines reichen Mannes Gut wandelst, so begnüge dich, so viel davon zu genießen, als dir zukömmt, nämlich den einfachen Anblick – und wahrscheinlich wird er dir größern Genuß bereiten, als ihm!


Sechstes Kapitel.

Wenn Lenny Fairfield in der Einfalt seines Herzens und der Unzulänglichkeit seiner Erfahrung an die Möglichkeit gedacht hatte, daß Mr. Stirn seinen Muth loben oder ihn wegen der erhaltenen Beulen bedauern werde, so fand er sich bald sehr bitter enttäuscht. Dieser wahrhaft große Mann und würdige Premierminister von Hazeldean würde vielleicht ein Abweichen von seinen Befehlen verziehen haben, wenn es zum Vortheil des Dienstes ausgefallen wäre; aber er zeigte sich unerbittlich gegen jenes schlimmste aller diplomatischen Vergehen: einen unzeitigen, ungeschickten, übereifrigen Gehorsam, der, wenn gleich ein Beweis für die Ergebenheit des Beauftragten, doch den Auftraggeber in eine sogenannte Klemme bringen konnte. Denjenigen, welche das Labyrinth des menschlichen Herzens nicht kennen, und die namentlich nicht wissen, was in den ganz eigentümlichen Herzen der Premierminister und rechten Hände vorgeht, möchte nichts natürlicher scheinen, als daß Mr. Stirn, wie er so mit dem Hut in der Hand mitten auf dem Wege stand, entrüstet und gedemüthigt durch den von Randal Leslie erlittenen Schimpf, in eben diesem jungen Edelmanne den richtigen Gegenstand für seine Rache erkannt hätte. Doch ein solcher Verstoß gegen alle Etiquette des diplomatischen Lebens, wie Groll gegen eine höher stehende Gewalt, wäre der letzte Gedanke gewesen, der in dem tiefen Verstand des Premierministers von Hazeldean hätte aufsteigen mögen. Allein da der Zorn gleich dem Dampfe einen Ausweg haben muß, und Mr. Stirn fühlte, daß seine Brust zum Zerspringen voll war, so wandte er sich mit dem natürlichen Instinkt der Selbsterhaltung dem eine Explosion verhütenden Sicherheitsventil zu, und die Dämpfe seines Innern ergossen sich plötzlich über Lenny Fairfield. Mit wilder Miene drückte er sich den Hut auf den Kopf und erleichterte seine Brust in folgenden Worten:

»Du junger Spitzbube! Du verwegene Viper! So hast du den heiligen Sonntag Nachmittag, an dem du in der Kirche auf deinen Knieen hättest liegen sollen, um für deine Vorgesetzten zu beten, damit zugebracht, dich mit einem jungen Edelmann, der deinen Herrn besuchen wollte, herumzubalgen, und noch dazu Angesichts einer Gemeindeeinrichtung, welche deiner Hut und Aufsicht anvertraut war, und die du jetzt mit dem Blut aus deiner verwünschten Stumpfnase besudelst.«

Bei diesen Worten, als ob die Sache dadurch besser gemacht würde, wollte Mr. Stirn dem geschmähten Organ noch einen weitern Streich versetzen; Lenny jedoch hielt mechanisch beide Arme vor, um sein Gesicht zu schützen, so daß Mr. Stirn seine Knöchel gegen die großen Messingknöpfe schlug, welche die Aermelaufschläge des Knaben zierten – ein Umstand, der Mr. Stirn's Entrüstung auf's Höchste steigerte. Lenny aber, dessen Blut jetzt zu kochen begann ob einer Behandlung, welche ihm bei der Beschränktheit seiner Erziehung als ein empörendes Unrecht erschien, zog sich hinter den Baumstamm zurück und begann, sich zu rechtfertigen, was eben so unpolitisch als unklug von ihm war, da in solchen Fällen Vertheidigen nichts Anderes als Anklagen ist.

»Ich wundere mich über Sie, Mr. Stirn – wenn nur meine Mutter Sie hören könnte! Sie wissen gar wohl, daß Sie selbst mich abgehalten haben, in die Kirche zu gehen, und daß Sie mir aufgetragen haben –«

»Dich mit einem jungen Edelmann zu balgen und den Sabbath zu entheiligen?« unterbrach ihn Mr. Stirn mit vernichtendem Hohne. »Ja freilich! ich sagte dir, du sollest seine Ehren, den Squire, mich und das Kirchspiel in Schande und uns Alle in Ungelegenheit bringen! Aber der Squire hat mir aufgetragen, ein Exempel zu statuiren, und das soll jetzt sogleich geschehen!«

In diesem Augenblick nämlich durchblitzte der glorreiche Gedanke Mr. Stirn's Kopf, Lenny Fairfield in denselben Stock zu legen, den dieser nur zu gewissenhaft bewacht hatte. Eureka! Das Exempel war gefunden! Damit konnte er seinen langgehegten Groll gegen den Musterknaben auslassen Und durch die Wahl des besten Jungen im Kirchspiel dem Schlimmsten Furcht einjagen. Zugleich war dies eine Gelegenheit, Randal Leslie's beleidigte Würde zu versöhnen, den Squire über den seinem Gaste zugefügten Schimpf zu besänftigen und dessen Wunsch, daß der Stock so bald als möglich einen Bewohner finden möchte, in Erfüllung gehen zu lassen.

Dem Gedanken rasch die That folgen lassend, stürzte sich Mr. Stirn auf sein Opfer, ergriff den armen Lenny am Saum seiner Jacke, und wenige Secunden später hatten sich die Kinnbacken des Stockes geöffnet, um den Musterknaben des Dorfes aufzunehmen – ein trauriges Beispiel der Wechselfälle des Glückes! Nachdem dies geschehen, während der Knabe noch zu erstaunt und bestürzt war, um den geringsten Widerstand zu leisten, und kaum einige unverständliche Worte hervorzubringen vermochte, eilte Mr. Stirn von binnen, doch nicht, ohne zuvor die für Lenny bestimmt gewesene halbe Krone aufgelesen und eingesteckt zu haben. Hierauf schlug er den Weg nach der Kirche ein in der Absicht, den Squire an der Thüre zu erwarten, um ihm sogleich zuzuflüstern, was sich begeben, und ihn sammt der ganzen Versammlung an den Ort zu führen, wo den vereinten Mächten der Nemesis und Themis Nemesis: in der griechischen Mythologie die Göttin des »gerechten Zorns«, der »ausgleichenden Gerechtigkeit«, auch die Rachegottheit. – Themis: Göttin der Gerechtigkeit und der Ordnung. ein Opfer dargebracht worden war.


Siebentes Kapitel.

Bei meiner Ehre als Gentleman und bei meinem Rufe als Schriftsteller versichere ich den Leser, daß ich mich keiner Uebertreibung schuldig mache, indem ich sage, keine Worte vermöchten die Gefühle zu schildern, welche Lenny Fairfield bestürmten, während er allein auf jenem Strafplatze saß. Er empfand nicht mehr den physischen Schmerz seiner Beulen, denn die Qual seiner Seele überwog und erstickte alles körperliche Leiden – eine Qual so groß, als die kindliche Brust sie nur immer zu ertragen vermag. Zuvörderst und am tiefsten peinigte ihn das brennende Gefühl der an ihm verübten Ungerechtigkeit. Sein Urtheil hatte ihn vielleicht einen Fehlgriff thun lassen; allein ebenfalls war er mit ehrlichem und gewissenhaftem Eifer bemüht gewesen, den ihm gegebenen Auftrag zu erfüllen; er war mannhaft dafür eingestanden, hatte dafür gekämpft, gelitten und geblutet. Und dies war nun sein Lohn!

Lenny besaß in vorzüglich hohem Grabe die Eigenschaft, wodurch die angelsächsische Race sich auszeichnet: nämlich den Sinn für Gerechtigkeit. Dies war vielleicht der stärkste Grundzug in seiner moralischen Natur, und derselbe hatte seine jungfräuliche Blüthe und Frische nicht durch jene kleinlichen Akte von Bedrückungen und Unrecht verloren, welche Knaben von höherem Stande so oft von harten Eltern oder tyrannischen Lehrern erdulden müssen. So war es also das erste Mal, daß dieses Schwert in seine Seele drang und mit demselben zugleich als unzertrennliches Geleite der bittere Grimm über die eigene Ohnmacht. Man hatte ihm Unrecht gethan und er besaß kein Mittel, sich zu seinem Rechte zu verhelfen.

Dann kam eine andere, vielleicht minder tiefe, aber für den Augenblick weit schmerzlichere Empfindung – die Scham! Er, der Musterknabe des Dorfes und der Stolz des Pfarrers – er, den der Squire so oft vor allen seinen Altersgenossen durch einen freundlichen Schlag auf den Rücken ausgezeichnet, und den die gnädige Frau nicht selten liebevoll gestreichelt und gelobt hatte, daß er in so früher Jugend schon sich einen so guten Ruf erworben – er, der bereits gelernt hatte, die Süßigkeit eines ehrenvollen Namens hoch zu schätzen – er sollte nun in Einem Augenblick ein Gegenstand des Schimpfes, eine Zielscheibe des Hohns und der Verachtung, ein Spottname für Alle werden! Die Ströme seines Lebens waren in ihrer Quelle vergiftet.

Und dann kam ein zarterer Gedanke – der Gedanke an seine Mutter! Welch' ein Schlag mußte dies für sie sein – für sie, welche in ihm bereits ihre Stütze und ihren Stab gesehen hatte! Sein Haupt sank auf seine Brust, und die langverhaltenen Thränen rollten ihm über die Wangen.

Dann aber rang und arbeitete er mit aller Macht, um seine Glieder aus den verhaßten Banden zu befreien – denn er hörte bereits Schritte sich nähern. Das Bild der ganzen um ihn versammelten Gemeinde tauchte vor seiner Seele auf; er sah den traurigen Blick des Pfarrers und die gefurchte Stirn des Squire's und vernahm bereits das schlecht unterdrückte Kichern der auf seinen unbefleckten Ruf eifersüchtigen Knaben – ein Ruf, dessen Reinheit nie, nie wieder hergestellt werden konnte, denn er war für immer gebrandmarkt als der Knabe, welcher im Stocke gesessen!

Und endlich kamen ihm noch die Worte in den Sinn, welche der Squire gesprochen – gleich der Stimme des Gewissens in den Ohren eines dem Verderben geweihten Macbeth – »Eine arge Schande, Lenny – Du wirst nie in eine solche Verlegenheit gerathen.« Der arme Junge hätte beten mögen, daß die Erde sich aufthue und ihn verschlinge!


Achtes Kapitel.

» Kessel und Bratpfannen! Was ist das?« rief der Kesselflicker.

Mr. Sprott erschien diesmal ohne seinen Esel, der sich, weil es Sonntag war, vermuthlich auf der Gemeindewiese des Sabbaths freuen durfte. Der Kesselflicker war in seinen Sonntagskleidern reinlich und sauber herausgeputzt und im Begriff, einen Spaziergang durch den Park zu machen.

Lenny Fairfield gab keine Antwort auf die Anrede.

»Du in dem Holz, Kindlein? Diesen Anblick hätt' ich wahrlich am allerwenigsten erwartet. Was man nicht Alles erleben kann!« setzte der Kesselflicker weise hinzu. »Wer gab dir diese Kniebänder? Kannst du nicht reden, Junge?«

»Nick Stirn.«

»Nick Stirn! Ja, darauf hätt' ich schwören wollen. Und weßhalb?«

»Weil ich that, was er mich geheißen hatte, und mit einem Knaben kämpfte, der sich an dem Stock hier vergriff. Und der Knabe schlug mich – doch daraus machte ich mir nichts. Er war aber ein junger Gentleman, der den Squire besuchen wollte, und deßhalb hat Nick Stirn –«

Zorn und Scham erstickten Lenny's Stimme.

»Oho!« rief der Kesselflicker, die Augen weit aufsperrend. »Du bindest mit einem jungen Gentleman an. Thut mir leid, dies von dir hören zu müssen! Bleib' du nur sitzen und danke Gott, daß du so wohlfeilen Kaufes davon gekommen bist. 's ist Salz und Pfeffer, sich an Vornehmeren zu vergreifen, und ein Londoner Friedensrichter würde dich auf zwei Monate in die Tretmühle Hier ist ganz konkret jener Antrieb für Mühlen und insbesondere für Hebe-Vorrichtungen (am Hafen, im Bau usw.) gemeint, bei dem neben Tieren (Eseln und Pferden) auch Menschen, oft Gefangene, zum Einsatz kamen. Auch im Zeitalter er Dampfmaschine wurde diesem Verfahren oft noch aus Kostengründen der Vorzug gegeben. geschickt haben. Aber warum hast du ihn denn angegriffen, als er sich an dem Stock versündigte? Mir scheint, daß dies nicht die natürliche Seite ist, mit der du es halten solltest!«

Lenny murmelte einige ziemlich unverständliche Worte von einem Auftrag, den er erhalten, und mit welchem er dem Squire hatte dienen sollen.

»Aha, ich verstehe, Lenny,« unterbrach ihn der Kesselflicker im Tone großer Verachtung, »du gehörst zu Denen, die lieber mit den Hunden jagen als sich mit den Hasen jagen lassen. Und du bist der treffliche Musterknabe, der sich an seinem eigenen Volke versündigt, um sich bei den vornehmen Leuten in Gunst zu setzen! Pfui, Junge! Dir geschieht's recht. Halte dich zu Deinesgleichen, dann wirst du auch noch geehrt werden, wenn du in Noth kommst, statt daß dich jetzt allgemeine Verachtung trifft – wie du gleich erfahren wirst, wenn die Leute aus der Kirche kommen. Ei, ich mag mich nicht mit dir finden lassen, während du in dem Schraubstock da sitzest. Es könnte meinem guten Rufe schaden, sowohl bei Denen, die den Stock aufgerichtet haben, als bei Denen, die ihn niederreißen möchten. Alte Kessel zu flicken! Alle Wetter – über dir vergesse ich ganz und gar, daß es Sabbath ist! Gehorsamer Diener, mein Junge! Ich wünsche, wohl herauszukommen! Mein Kompliment an deine Mutter und sag' ihr, wir können doch noch wegen der Pfanne und der Schaufel handelseinig werden, wenn dir gleich dieses Unglück begegnet ist.«

Der Kesselflicker ging seines Weges und Lenny blickte ihm mit dumpfer Verzweiflung nach. Wie die ganze Zunft menschlicher Tröster hatte Mr. Sprott den Strauch nur begossen, damit die Dornen desto besser stechen konnten. Ja, wenn Lenny über dem Niederreißen des Stockes ertappt worden wäre, würden wenigstens Einige ihn bemitleidet haben; so aber, da er wegen Vertheidigung desselben eingesperrt war, hätte man ebenso wohl Mitleid und Theilnahme von den Wittwen und Waisen der Schreckensregierung erwarten können, als Doctor Guillotin's Haupt unter dem Messer der von ihm selbst erfundenen Mordmaschine fiel Joseph-Ignace Guillotin (1738-1814), französischer Arzt und Politiker der frz. Revolution; er starb infolge eines Karbunkels an der linken Schulter im Alter von 75 Jahren, also nicht unter der Guillotine und als die Revolution längst vorbei war. Die Guillotine ist lediglich nach ihm benannt, nicht von ihm erfunden. Er hatte allerdings nachdrücklich darauf hingewirkt, dass die traditionelle Enthauptung als Todesstrafe durch eine »humanere« Methode ersetzt wurde. Der Entwurf stammte von dem Professor für Chirurgie und Leibarzt des Königs, Antoine Louis, der das Fallbeil von Halifax zum Vorbild nahm. Die Guillotine war also lediglich eine moderne Weiterentwicklung vergangener Hinrichtungsapparaturen.. Ja sogar der Kesselflicker, ein zerlumpter Landstreicher, schämte sich, in der Gesellschaft des Musterknaben angetroffen zu werden!

Lenny's Haupt sank abermals auf seine Brust, als ob es von Blei wäre. So vergingen einige Minuten; da gewahrte der unglückliche Gefangene einen neuen Zeugen seiner Schande. Zwar hörte er keinen Tritt, allein er sah einen Schatten auf dem Rasen. Er hielt den Athem an und wagte nicht, aufzuschauen, in der dunkeln Vorstellung, daß wenn er nicht sehe, so könnte er vielleicht auch verhindern, gesehen zu werden.


Neuntes Kapitel.

» Per Bacco!« rief Doctor Riccabocca, seine Hand auf Lenny's Schulter legend und sich niederbeugend, um dem Knaben in's Gesicht zu sehen. » Per Bacco! mein junger Freund! Sitzest du hier aus eigener Wahl oder aus Notwendigkeit?«

Lenny schauderte leicht und suchte sich der Berührung eines Mannes zu entziehen, den er bisher mit einer Art abergläubischen Grausens betrachtet hatte.

»Ich fürchte,« begann Riccabocca von Neuem, nachdem er vergebens auf eine Antwort gewartet hatte, »daß du diesen Aufenthaltsort, so reizend die Aussicht auch ist, nicht freiwillig gewählt hast. Doch was ist dies?« – und die Ironie verschwand aus seinem Tone – »was ist dies, mein armer Junge? Du hast geblutet und die Thränen, die du zurückzuhalten suchst, quollen aus einem tiefen Born. Sage mir, povero fanciullo mio Mein armer Junge. (die süßen italienischen Laute klangen weich und besänftigend, obgleich Lenny die Worte nicht verstand), sage mir, mein Kind, wie alles dies gekommen ist. Vielleicht kann ich dir helfen. Wir irren Alle mannigfach und sollten einander hülfreiche Hand leisten.«

Lenny's Herz, das soeben noch wie in Erz gebunden zu sein schien, wurde weich, als der Italiener so freundlich zu ihm sprach, und ein Strom von Thränen brach hervor; allein er suchte sie abermals zu unterdrücken und rief heftig schluchzend:

»Ich habe nichts Unrechtes gethan! Es ist nicht meine Schuld – und das ist's, was mich umbringt!« schloß Lenny, alle seine Kraft zusammennehmend.

»Du hast nichts Unrechtes gethan? Dann –« sagte der Philosoph, indem er mit großer Ruhe sein Taschentuch hervorzog und es auf dem Boden ausbreitete – »dann werde ich mich neben dich setzen. Zu dem Sünder kann ich mich mitleidsvoll niederbeugen, aber mit dem Unglücklichen kann ich mich auf gleiche Stufe stellen.«

Lenny Fairfield verstand zwar diese Worte nicht ganz, doch erfaßte er genug von ihrem Sinn, um sich angetrieben zu fühlen, dem Italiener einen dankbaren Blick zuzuwerfen.

Während Riccabocca sein Tuch zurecht legte, begann er von Neuem: »Ich habe ein Recht auf dein Vertrauen, mein Kind, denn auch mich hat das Unglück heimgesucht, und wie du, darf ich sagen: ›Ich habe nichts unrechtes gethan.‹ Cospetto!« – mit diesem Ausruf setzte sich der Doctor wirklich nieder und stützte den einen Arm auf die Seitensäule des Stockes, so daß er in vertrauliche Berührung mit der Schulter des Gefangenen kam, während sein Blick über die liebliche Landschaft hinschweifte – » Cospetto! Wenn man mich gefangen hätte, würde mein Kerker keine so schöne Aussicht gewährt haben. Allein, das ist alles gleich – es gibt keine häßlichen Geliebten und keine schönen Gefängnisse!«

Nach dieser Sentenz, welche Riccabocca in seiner italienischen Muttersprache vor sich hin murmelte, wandte er sich gegen den Knaben und wiederholte seine besänftigende Aufforderung, ihm Vertrauen zu schenken. Ein Freund in der Noth ist ein wirklicher Freund, selbst wenn er in Gestalt eines Papisten und Zauberers sich darstellt. Lenny's frühere Abneigung gegen den Fremden war völlig verschwunden und er erzählte ihm jetzt seine ganze kleine Geschichte.

Doctor Riccabocca war viel zu schlau, um nicht die Beweggründe zu durchschauen, welche Mr. Stirn veranlaßt hatten, seinen Agenten in den Stock zu sperren (den peinlichen Groll jedoch ausgenommen, zu welchem ihm Lenny's Erzählung seinen Schlüssel gab). Daß ein Mann in Amt und Würden seinen eigenen Wachthund zum Sündenbock machte eines ungleichen Schnappens oder unzeitigen Bellens wegen, war dem weisen Schüler Macchiavelli's nicht befremdend. Indeß unterzog er sich seiner Ausgabe, zu trösten und zu beruhigen mit ebenso viel Philosophie als Zartgefühl.

Er begann damit, daß er Lenny daran erinnerte oder ihm mittheilte, wie viele berühmte Männer, die er mit Hülfe seines vortrefflichen Gedächtnisses der Reihe nach anführte, unter der Ungerechtigkeit der Menschen zu leiden hatten. Er erzählte ihm, wie der große Epictet Siehe Anm. 78. in Sklaverei gerieth und zu einem Herrn kam, dessen größtes Vergnügen darin bestand, ihn in das Bein zu kneifen, was, da diese Belustigung endlich einen Beinbruch zur Folge hatte, doch noch viel schlimmer war als der Stock. Dann kam er auf die Anekdote von Lenny's tapferem Landsmann, Admiral Byng John Byng (1704-57). Ein umstrittenes Kriegsgerichtsurteil verhängte über ihn die Todesstrafe wegen Nichteinhalten der Fighting Instructions, nachdem andere Anklagepunkte nicht hatten aufrecht erhalten werden können. Am 14. März 1757 wurde er in Portsmouth auf der HMS Monarch erschossen. Man äußerte schon damals den Verdacht, dass die Admiralität und die Regierung mit dem Urteil von eigenen Versäumnissen ablenken wollten. – Voltaires »Witzwort« findet sich zeitnah in seinem Roman »Candide« (1759)., zu sprechen, dessen Hinrichtung zu Voltaire's berühmtem Witzwort Veranlassung gab: » En Angleterre on tue un amiral pour encourager les autres« (In England tödtet man einen Admiral, um den andern Muth zu machen). Eine Menge weiterer Beispiele, die noch mehr zu dem vorliegenden Falle paßten, schöpfte seine Gelehrsamkeit aus den Schatzkammern der Geschichte.

Als er jedoch bemerkte, daß diese denkwürdigen Vorbilder Lenny nicht den geringsten Trost gewährten, änderte er seine Taktik und begann seine Logik auf ein ausschließliches argumentum ad rem Einer der Typen von Argumenten; während beim argumentum ad personam die Person eines Gegners im Streitgespräch zum Gegenstand gemacht wird, handelt es sich beim argumentum ad rem um eine Beweisführung, die sich nur auf die zu diskutierende Sache selbst stützt, unabhängig von Gefühlen und Meinungen. zu beschränken, indem er bewies, daß erstens Lenny's gegenwärtige Lage durchaus nicht schimpflich sei, da jeder billig denkende Mensch Mr. Stirn's Tyrannei und die Unschuld seines Opfers anerkennen müsse; zweitens aber – wenn er sich auch hierin irren sollte, da die öffentliche Meinung nicht immer den richtigen Weg gehe – was sei im Grunde die öffentliche Meinung? »Ein Hauch – eine Rauchwolke,« rief Doctor Riccabocca – »ein Ding ohne Körper, ohne Länge, Breite oder Wesenheit – ein Schatten – ein Gespenst unserer eigenen Einbildung. Das Gewissen des Menschen ist sein alleiniger Richterstuhl, und er sollte sich um das Phantom der öffentlichen Meinung nicht mehr bekümmern, als er sich vor einem Gespenste fürchtet, wenn er des Nachts über den Kirchhof geht.«

Da nun aber Lenny sich sehr vor Gespenstern fürchtete, wenn er in der Dunkelheit über den Kirchhof gehen mußte, so verdarb das Gleichniß die ganze Beweisführung, und er schüttelte traurig den Kopf dazu.

Eben war Doctor Riccabocca im Begriff, einen dritten Beweisgrund anzufangen, der, hätte er ihn zu Ende geführt, ohne Zweifel die Sache in's Reine gebracht und den Knaben mit dem Gedanken ausgesöhnt haben würde, bis zum jüngsten Tage in dem Stocke zu sitzen, als der Gefangene mit dem raschen Ohr und Auge des Schreckens und des Unglücks die Ueberzeugung gewann, daß die Kirche zu Ende und die ganze Versammlung in wenigen Secunden sich nach dieser Stelle drängen werde. Schon bildete er sich ein, Männer und Frauenhüte zwischen den Bäumen zu erblicken, die Riccabocca selbst mit Hülfe seiner vortrefflichen Brille nicht zu erkennen vermochte – er vernahm ein phantastisches Rauschen und Murmeln, das Riccabocca nicht hörte, trotz aller theoretischen Erfahrung in Complotten, Verschwörungen und Verräthereien, durch welche das Ohr des Italieners geschärft worden war. Nach einer erneuten heftigen, aber erfolglosen Anstrengung, sich zu befreien, rief der Gefangene:

»O, wenn ich doch nur heraus könnte, ehe sie kommen! O, lassen Sie mich heraus – lassen Sie mich heraus! Lieber Herr, erbarmen Sie sich meiner und lassen Sie mich heraus!«

» Diavolo!« erwiderte der Philosoph überrascht. »Daß mir dies nicht früher eingefallen ist! Ich glaube, der Knabe hat den Nagel auf den Kopf getroffen!«

Bei genauerer Besichtigung bemerkte er, daß das Abtheilungsbrett zwar fest in eine Art Federklappe, welche Lenny's Fluchtversuche vereitelt hatte, eingeschnappt, aber nicht wirklich abgeschlossen war (denn Vorlegschloß und Schlüssel befanden sich wohlbehalten im Gerichtszimmer des Squire, dem es nicht im Schlafe eingefallen wäre, daß man seine Befehle so buchstäblich und summarisch ohne vorhergegangene Berufung an ihm ausführen werde). Als Doctor Riccabocca diese Entdeckung machte, entsann er sich, daß die Weisheit aller Schulen, die je existirten, nicht vermöge, einen Menschen, alt oder jung, mit einer schlechten Lage auszusöhnen, sobald sich eine günstige Gelegenheit biete, ihr zu entrinnen. Ohne weitere Umstände hob er daher das knarrende Brett in die Höhe, und Lenny Fairfield schoß von dannen gleich einem dem Käfig entronnenen Vogel. Einen Augenblick stand er still – vielleicht vor Freude, vielleicht, um Athem zu schöpfen; dann aber floh er rasch wie ein Hase, der nach seinem Lager eilt, dem Hause seiner Mutter zu.

Doctor Riccabocca ließ das Brett wieder einschnappen, hob sein Taschentuch auf und steckte es ein. Hierauf begann er mit einiger Neugierde die Einrichtung der Strafanstalt zu untersuchen, die dem befreiten Opfer eine so qualvolle Aufregung verursacht hatte.

»Der Mensch ist im besten Fall ein sehr unvernünftiges Thier,« sagte der Weise bei sich selbst, »und läßt sich durch seltsame Popanze in Furcht setzen. Hier ist nun nichts als ein Stück Holz, das in der That gar nicht weh thut, und die Löcher dienen eigentlich nur den Beinen zur Stütze und bewahren sie vor dem Schmutze. Wahrlich, es muß sich ganz angenehm auf dieser grünen Bank im Schatten der Ulme ausruhen lassen! Ich hätte fast Lust –«

Der Doctor schaute sich um, und da er nirgends einen Zeugen wahrnahm, stieg ein höchst seltsamer Gedanke in ihm auf – doch nein, philosophisch betrachtet, war der Gedanke nicht so gar seltsam, da alle Philosophie auf praktische Versuche sich gründet – mit Einem Wort: Doctor Riccabocca fühlte ein unwiderstehliches Verlangen, an sich selbst zu erproben, worin eigentlich die Strafe des Stockes bestehe.

»Ich kann's ja versuchen – nur auf einen Augenblick,« entschuldigte er sich gegen eine innere Stimme, die ihm das Gefühl seiner Würde vorhielt. »Ich habe wohl noch Zeit, ehe Jemand kommt.«

Er hob das Brett von Neuem empor, allein die Stöcke sind nach dem richtigen Princip der englischen Gesetze gebaut, die nicht so leicht Jemand erlauben, sein eigener Ankläger zu werden – es war schwer, ohne die Hülfe eines Freundes hineinzukommen. Jedoch, wie schon früher bemerkt, reizten Hindernisse nur den Erfindungsgeist des Doctors. Er schaute sich um und erblickte ein trockenes Stück Holz unter dem Baume; er hob es auf und steckte es in den Spalt, etwa so, wie Knaben einen Span unter ein Sieb befestigen, um Sperlinge zu fangen. Als das verhängnißvolle Holz dergestalt gesperrt war, setzte sich Doctor Riccabocca mit ernster Miene auf die Bank und schob seine Füße durch die Oeffnungen.

»Es ist ja gar nichts daran!« rief er nach kurzer Ueberlegung triumphirend aus. »Das Uebel liegt nur in der Einbildung. Das ist die gerühmte Vernunft der Sterblichen!«

Dennoch war er eben im Begriff, seine Füße aus dem freiwilligen Gefängnisse wieder heraus zu ziehen, als das mürbe Holz plötzlich nachgab und das obere Brett in den Falz einklappte. Doctor Riccabocca war gefangen – » facilis descensus – sed revocare gradumDas Zitat bei Virgil, Aeneis, VI, 126-128, lautet vollständig: facilis descensus Averno; noctes atque dies patet atri ianua Ditis; sed revocare gradum superasque evadere ad auras, hoc opus, hic labor est (Leicht ist der Abstieg zur Hölle; Tag und Nacht stehen die düsteren Höllentore offen; aber den Weg zurück zu finden, um wieder den heiteren Himmel zu sehen, das macht Arbeit und Mühe). Allerdings hatte er noch die Hände frei; seine Beine waren jedoch so lang, daß sie es, auf diese Weise eingeklemmt, den Händen unmöglich machten, an ihrer Befreiung zu arbeiten, und da Doctor Riccabocca's Gestalt nichts weniger als biegsam war und die beiden hölzernen Backen mit der Festigkeit der Anziehung, welche frisch angestrichenen Gegenständen eigen ist, an einander hafteten, so ergab sich endlich das Opfer seines eigenen übereilten Versuchs nach einigen vergeblichen Windungen und Krümmungen, unter welchen alle seine Gelenke krachten, in sein Schicksal.

Doctor Riccabocca war einer von Denen, die nichts halb thun. Wenn ich daher sage, daß er sich in sein Geschick ergab, so meine ich nicht nur eine christliche, sondern eine philosophische Ergebung. Seine Lage war zwar in Wirklichkeit nicht ganz so angenehm, als sie ihm in der Theorie geschienen hatte; allein er beschloß, es sich so bequem als möglich darin zu machen. Wie es nun einem Manne natürlich war, welcher sich an den duftenden Tröster gewöhnt hatte, den Sir Walter Raleigh Engl. Seefahrer, Entdecker, Soldat, Spion, Politiker, Dichter und Schriftsteller sowie Günstling der englischen Königin Elisabeth I. (1542-1618). der kaukasischen Race geschenkt haben soll, so gebrauchte der Doctor zuvörderst die Freiheit seiner Hände dazu, um Pfeife, Feuerzeug und Tabaksbeutel aus seiner Tasche zu holen. Nachdem er einige Züge gethan, wäre er ohne Zweifel bald mit seiner Lage ganz ausgesöhnt gewesen, hätte er nicht die Entdeckung gemacht, daß die Sonne ihre Stellung am Horizonte verändert hatte, und die Ulme ihn nicht mehr vor ihren brennenden Strahlen schützte. Abermals schaute der Doctor umher und entdeckte, daß sich sein rother seidener Regenschirm, den er bei Seite gestellt, als er sich neben Lenny niedergesetzt hatte, im Bereich seines Armes befand. Er bemächtigte sich dieses Schatzes und hatte bald dessen schützende Falten ausgespannt. So in doppelter Weise von innen und außen gestärkt – unter dem Schatten des Schirmes und die Pfeife behaglich zwischen den Lippen – blickte Doctor Riccabocca sogar mit einiger Wohlgefälligkeit auf seine gefangenen Beine herab. Siehe dazu die Illustration »Dr. Riccabocca in the Stocks« (Frontispiz des ersten Bandes der zweibändigen amerikanischen Ausgabe des Romans, J. B. Lippincott & Co., Philadelphia 1876). Im Unterschied zu dem anderen Bild ist hier die Vorrichtung auch als ausschließliche Fußfessel erkennbar.

Dr. Riccabocca in the stocks

Dr. Riccabocca in the Stocks

»›Wer Alles verachten kann,‹« sagte er, eines seiner vaterländischen Sprichwörter citirend, »›der besitzt Alles.‹ Wenn man die Freiheit verachtet, so ist man frei! Dieser Sitz ist so weich wie das beste Polster! Ich weiß nicht,« fuhr er nach einer Pause in seinem Selbstgespräch fort, »ob nicht das Sprüchwort von den unschönen Gefängnissen, das ich gegen den fanciullo anführte, mehr Witz als männlichen Sinn und Philosophie enthält. Hat nicht der Sohn jenes berühmten Franzosen, Bras de Fer »Armdrücker«. genannt, ein Buch geschrieben, worin er nicht nur beweist, daß Widerwärtigkeiten weit nothwendiger seien als Annehmlichkeiten, sondern auch, daß unter allen Widerwärtigkeiten Gefangenschaft die angenehmste und nützlichste sei? »Entre tout, l'etat d'une prison est le plus doux et le plus profitable!« [ Anm.d.Verf. – Das Werk stammt von Odet de La Noue-Téligny, erschien 1588 und heißt mit vollständigem Titel: Paradoxes, que les adversités sont plus nécessaires que les prospérités, et qu'entre toutes, l'etat d'une étroite prison est le plus doux et leplus profitable.] Ist übrigens diese Lage, in welche ich mich freiwillig versetzt habe, nicht ein treffendes Bild meines Lebens? Ist es denn das erste Mal, daß ich mich in eine Klemme gebracht? und wenn ich die Klemme durch meine eigene Wahl herbeigeführt, warum sollte ich alsdann die Götter anklagen?«

Doctor Riccabocca versank hierauf in ein tiefes Nachsinnen, welches ihn der Zeit und dem Orte vollständig entrückte. Nach einigen Minuten schon wußte er ebenso wenig mehr, daß er in dem Kirchspielstock sitze als ein Liebender des Bibelwortes gedenkt – »alles Fleisch ist wie Gras« – oder ein Geizhals der Vergänglichkeit seines Mammons oder ein Philosoph der Eitelkeit aller menschlichen Weisheit. Doctor Riccabocca schwebte in höhern Regionen.


Zehntes Kapitel.

Der langweiligste Hund, der jemals eine Novelle schrieb (und unter uns gesagt, lieber Leser, es gibt in der Zunft gar manche, die keine Munitos Munito war der Name eines wegen seiner Gelehrsamkeit in den Tagen meiner Kindheit hochberühmten Hundes. Heutzutage gibt es keine solche Hunde mehr. [ Anm.d.Verf.] sind), hätte mit halbem Auge sehen können, daß die Rede des Pfarrers einen sehr lebhaften, humanisirenden Eindruck auf die Zuhörerschaft hervorgebracht hatte. Als der Gottesdienst vorüber war und die Gemeinde aufstand, um, wie es in Hazeldean Sitte war, den Gutsherrn mit seiner Familie zuerst durch den Mittelgang nach der Kirchthüre gehen zu lassen, richteten sich viele feuchte Blicke auf das sonnverbrannte, männliche Antlitz des Squires mit einer Freundlichkeit, welche bezeugte, daß die Erinnerung an gar manche empfangene Wohlthat und bereitwillig gewährte Bitte wieder aufgefrischt war. Mochte auch der Kopf hin und wieder irren, das Herz war doch stets auf dem rechten Fleck.

Und auch die gnädige Frau, die sich auf seinen Arm lehnte, hatte keinen kleinen Antheil an diesen wohlwollenden Gefühlen. Allerdings gab sie zuweilen Anstoß, wenn die Häuser nicht so reinlich gehalten waren, als sie es gewünscht hätte – denn arme Leute lieben es ebenso wenig wie reiche, wenn man sich Freiheiten mit ihren Häusern erlaubt – auch war sie bei den Weibern nicht so beliebt wie der Squire, weil sie in der Regel der Frau die Schuld beimaß, wenn der Mann zu viel in's Bierhaus ging, indem sie behauptete, »kein Mann würde sein Vergnügen außer dem Hause suchen, wenn er daheim ein freundlich Gesicht und eine reinliche Stube fände.« Der Squire dagegen stellte die galantere Ansicht auf, daß, »wenn Grete eine Keiferin sei, so komme dies daher, weil Hans ihr nicht, wie es seine Pflicht wäre, den Mund mit einem Kusse stopfe.«

Allein ungeachtet dieser kleinen Anstände und einer gewissen Ehrfurcht, welche ihr steifes Seidenkleid und ihre hübsche Adlernase einflößten, war es doch, zumal in der besänftigten Stimmung jenes Sonntag Nachmittags unmöglich, bei dem Anblick von Mrs. Hazeldean's offenem und freundlichem Gesichte sich nicht zu erinnern, wie oft sie in Krankheiten kräftige Suppe, kühlenden Saft und Wein, im Winter Brod und wärmende Decken gespendet, und wie sie bei jedem kleinen Unfall, der den Einen oder den Andern betroffen, ihn besucht und mit liebevollen Worten getröstet hatte. Auch mußte man daran gedenken, wie sie immer allerlei Vorwände zu Verbesserungen auf den Gütern und in den Gärten zu erfinden wußte (Verbesserungen, die kein Ende nehmen wollten, wie der Squire nicht mit Unrecht zu klagen pflegte), um irgend einen alten Großvater oder den rothbackigen kleinen Knirpsen in einer Familie, die sich »zu schnell vermehrte,« Gelegenheit zum Erwerb eines ehrlichen Pfennigs zu geben.

Selbst Frank, der in den weißesten Beinkleidern und der steifsten Halsbinde seinen Eltern folgte, in den hellbraunen Augen einen Blick unterdrückter Schelmerei, welcher einen scharfen Gegensatz zu der angenommenen ernsten Miene bildete, erhielt seinen Antheil an den stillen Segenswünschen. Nicht als ob er schon irgend etwas gethan hätte, um sie zu verdienen – desto mehr aber erwartete man von ihm für die Zukunft.

Was Miß Jemima betrifft, so entsprangen ihre kleinen Schwächen nur aus allzugroßer weiblicher Empfindsamkeit – aus einer epheuartigen Sehnsucht, sich an eine männliche Eiche anzuschmiegen und sie mit ihren zarten Ranken zu umschlingen; dabei war sie von Natur so liebevoll und selbstvergessend, daß sie schon manchem Bauernmädchen durch eine bestechende Mitgift aus ihrer eigenen Börse zu einem Manne verholfen hatte, obwohl sie das Hochzeitsgeschenk stets mit der Versicherung zu begleiten pflegte, »der Bräutigam werde es ohne Zweifel auch so machen wie alle übrigen Angehörigen dieses undankbaren Geschlechtes, weßhalb es ein Trost sei, denken zu können, daß bei dem nahen Untergang der Welt nicht viel drauf ankomme.«

Miß Jemima hatte daher ihre warmen Anhänger, besonders unter dem jungen Volk, während der schmächtige Kapitän, auf dessen Arm ihr Zeigfinger ruhte, wenigstens für einen höflichen Gentleman galt, der Niemand etwas zu Leide that und ohne Zweifel sehr viel Gutes stiften würde, wenn er zur Gemeinde gehörte.

Ja, sogar der wohlgenährte Bediente, der mit dem Familiengebetbuche hintendrein ging, empfing seinen gebührenden Antheil an dem allgemeinen Austausch nachbarlichen Wohlwollens zwischen Dorf und Halle. Befanden sich doch nur Wenige hier, mit denen er nicht auf gute Kameradschaft ein volles Glas geleert hatte; und zudem war er wie überhaupt zwei Dritttheile der Dienerschaft des Squire's (welche jetzt aus dem geräumigen Kirchstuhle unter der Emporkirche herausströmte), in Hazeldean geboren und erzogen.

Auch an dem Squire konnte man die Wahrnehmung machen, daß er gerührt und überdies ein wenig gedemüthigt aussah. Anstatt in aufrechter Haltung einherzugehen und Verbeugungen und Knixe als eine ihm gebührende Huldigung aufzunehmen, senkte er ein wenig den Kopf, und ein leichtes Erröthen überflog seine Wangen, als seine fast schüchternen Blicke all' den freundlichen Mienen begegneten. Es lag etwas Rührendes in der Herzlichkeit, womit er die Grüße erwiderte, und sein Auge sagte so deutlich als ein Auge es nur zu sagen vermochte: »Ich fürchte, liebe Nachbarn, daß ich diese Freundlichkeit nicht ganz verdiene; aber ich danke Euch aus vollem Herzen für Eure gute Meinung.« Und dieser Blick wurde so gut verstanden, daß ich glaube, wäre die Scene außerhalb und nicht im Innern der Kirche vorgegangen, so würden die Versammelten dem sich entfernenden Squire ein lautes Hurrah nachgerufen haben.

Kaum hatte jedoch Mr. Hazeldean den Kirchhof verlassen, als Mr. Stirn sich schon an seiner Seite befand. Während er ihm in's Ohr flüsterte, verlängerte sich das Gesicht des Squires und er wechselte die Farbe. Die Gemeinde, welche jetzt gleichfalls aus der Kirche herausströmte, tauschte bedeutsame Blicke unter sich aus – diese verhängnißvolle Unterredung zwischen Gutsherr und Aufseher zerstörte die ganze Wirkung, welche die Predigt des Pfarrers hervorgebracht hatte. Unmuthig stieß der Squire mit seinem Stock auf den Boden.

»Ich wollte lieber, Sie hätten mir gesagt, daß die schwarze Beß die Druse Engl. glanders: Rotz. habe. Ein junger Edelmann, der meinen Sohn besuchen wollte, in Hazeldean geschlagen und beschimpft; ein junger Edelmann – alle Wetter, Sir, der ein Verwandter von mir ist – seine Großmutter war eine Hazeldean. Ich glaube wahrhaftig, Jemima hat Recht, und der Untergang der Welt ist nicht mehr fern. Aber Leonhard Fairfield im Stock! Was wird der Pfarrer sagen? und nach einer solchen Predigt! ›Reicher Mann, achte den Armen!‹ und die gute Wittwe und der arme Mark, der fast in meinen Armen starb! Stirn, Ihr müßt ein Herz von Stein haben! Ihr verwünschter, gesetzwidriger Engl. lawless: »ungesetzlicher« heißt es glücklicher in Carl Kolbs Übersetzung (s.o.)., unbarmherziger Bösewicht! Wer zum Henker gab Euch das Recht, hier in meinem Gerichtssprengel von Hazeldean Mann oder Kind, ohne Untersuchung, ohne Urtheil, ohne Vollmacht einzusperren? Lauft hin und laßt den Knaben heraus, ehe ihn Jemand sieht! Rennt, oder ich werde –«

Der Squire erhob seinen Stock, und seine Augen sprühten Feuer, während Mr. Stirn zwar nicht anfing zu rennen, aber sich doch so schnell als er konnte von dannen begab. Mr. Hazeldean trat hierauf einige Schritte zurück und ergriff wieder den Arm seiner Gattin.

»Ich möchte den Pfarrer erwarten und inzwischen die Leute anreden. Es liegt mir daran, sie noch eine Zeitlang abzuhalten, in's Dorf zu gehen; aber wie dies anfangen?«

Frank, der die Worte gehört hatte, sagte schnell –

»Laß ihnen Bier geben, Vater!«

»Bier! am Sonntage! Schäme dich, Frank!« rief Mrs. Hazeldean entrüstet.

»Schweig, Harry! Ich danke dir, Frank!« sagte der Squire, dessen Sterne wieder so heiter wurde, wie der blaue Himmel über ihm. Und wohl schwerlich dürfte Riccabocca ihn mit derselben Leichtigkeit aus der Verlegenheit gezogen haben, als Frank dies gethan hatte.

»Haltet ein wenig, Ihr Leute – und auch Ihr, junges Volk, Bursche und Mädchen – haltet einen Augenblick! Hört Ihr's, Mrs. Fairfield, Ihr sollt da bleiben. Ich denke, der Herr Pfarrer hat uns heute eine vortreffliche Predigt gehalten. Geht Alle mit einander hinauf nach dem Hause und trinkt ein Glas auf seine Gesundheit. Frank, du begleitest die Leute und gibst Spruce den Befehl, eines der Fässer, die für die Mähder bestimmt waren, anzustechen. Harry,« flüsterte er sodann seiner Frau zu, »fange den Pfarrer ab und sage ihm, er solle sogleich zu mir kommen.«

»Mein lieber Hazeldean, was ist denn vorgefallen? Bist du von Sinnen?«

»Laß das Schwatzen und thue, was ich dir sage.«

»Aber wo soll dich der Pfarrer denn aufsuchen?«

»Wo? Donner und Wetter, Mrs. Hazeldean – wo anders, als bei dem Stocke?«


Elftes Kapitel.

Der Schall von Fußtritten weckte Doctor Riccabocca aus seiner Träumerei; indeß fühlte er noch immer so wenig das Unwürdige seiner Lage, daß er mit der ganzen Bosheit seines natürlichen Humors sich an der Ueberraschung und Bestürzung ergötzte, welche Stirn an den Tag legte, als er des außerordentlichen Stellvertreters ansichtig wurde, den Philosophie und Schicksal Lenny Fairfield zugeführt hatten. Statt des weinenden, zerknirschten, trostlosen Gefangenen, den er nur mit Widerstreben zu befreien gekommen war, erblickte er mit sprachlosem Entsetzen die seltsame, aber ruhige Gestalt des Doctors, der behaglich seine Pfeife rauchte, und mit einer wahrhaft grauenhaften und diabolischen Kaltblütigkeit unter dem Schatten seines Regenschirms saß. Hatte doch Stirn immer den Argwohn gehegt, der Papist habe bei jener schwarzen mitternächtlichen That, durch welche der Stock zerbrochen, besudelt und dem Verderben überliefert werden sollte, die Hand mit im Spiele gehabt; und rechnen wir ferner dazu, daß Riccabocca in dem schlimmen Rufe eines Schwarzkünstlers stand und Mr. Stirn in diesem Augenblick eine wahre Mephistophelesphysiognomie zeigte, so darf es uns nicht wundern, wenn die hocuspocusmäßige Art, wie der von ihm eingesperrte Lenny in den Doctor verwandelt worden war, die Brust des Gemeindetyrannen mit einem kalten Grausen des Aberglaubens erfüllte. Da überdieß Doctor Riccabocca seine ersten verwirrten Fragen und abgebrochenen Ausrufungen mit einer so tragischen Miene, mit solch unheimlichem Kopfschütteln und so geheimnißvollen, zweideutigen und gelehrten Sprüchen beantwortete, so gewann Stirn immer mehr die Ueberzeugung, der Knabe habe sich den Mächten der Finsterniß verkauft, und er selbst stehe vor der Zeit leibhaftig dem Erzfeinde gegenüber.

Mr. Stirn hatte noch immer seine Sinne, die (wir müssen ihm diese Gerechtigkeit widerfahren lassen) ihn sonst selten im Stiche ließen, nicht wieder vollständig gesammelt, als der Squire, dem der Pfarrer auf dem Fuße folgte, bei dem Stocke anlangte. Mrs. Hazeldean's dringende Bitte im Auftrag ihres Gatten, ihr verstörtes Wesen und die unerhörte Einladung an die Gemeindeglieder hatten den gewöhnlich langsamen und gemessenen Bewegungen Mr. Dale's Schwingen verliehen. Während der Squire, Stirn's Erstaunen theilend, ein Paar lange Füße aus den Stocklöchern hervorragen sah und hinter denselben das ernste Gesicht des Doctors unter dem majestätischen Schatten des Regenschirmes erblickte, aber keine Spur von dem einzigen Wesen, welches sein Geist sich als Inhaber des Stockes vorzustellen vermochte, faßte ihn der keuchende Pfarrer am Arme und rief mit einer Heftigkeit, wie man sie – außer am Whisttische – noch nie an ihm bemerkt hatte –

»Mr. Hazeldean! Mr. Hazeldean! Welch ein Aergerniß! Ich bin ganz entsetzt über Sie! Ich kann viel von Ihnen ertragen, wie es sich auch nicht anders für mich gehört; aber meine Gemeinde unmittelbar nach dem Gottesdienste einzuladen, in die Halle zu kommen, um dort Bier zu trinken und auf meine Gesundheit anzustoßen, als wäre die Predigt des Pfarrers eine Rede auf einem Viehmarkte gewesen! Ich schäme mich für Sie und das ganze Kirchspiel! Was in aller Welt hat Sie denn Alle angewandelt?«

»Das ist gerade die Frage, die ich, wollte es Gott, möchte beantworten können!« seufzte der Squire sanft und pathetisch. »Was in aller Welt hat uns Alle angewandelt? Fragen Sie Stirn!« Dann plötzlich ausfahrend – »Stirn, Ihr höllischer Schurke, hört Ihr nicht? Was hat uns Alle angewandelt?«

»Der Papist steckt hinter der ganzen Geschichte,« sagte Stirn, der endlich alle Fassung verlor. »Ich thue meine Pflicht, aber ich bin am Ende doch nur ein sterblicher Mensch!«

»Ja, ein sterblicher Simpel! Wo ist Lenny Fairfield, sage ich!«

»Er wird's am besten wissen,« versetzte Stirn, auf Doctor Riccabocca deutend, während er sich sicherheitshalber mechanisch hinter den Geistlichen zurückzog.

Der Squire und der Pfarrer hatten allerdings den Italiener erkannt, allein bloß geglaubt, er sitze zu seinem Vergnügen auf der Bank. Es war ihnen nicht entfernt in den Sinn gekommen, daß ein so achtbarer, würdevoller Mann gezwungen oder freiwillig ein Insaße des Stockes sein könnte. Und obgleich der Squire, wie schon gesagt, ein Paar lange Sohlen in den Stocköffnungen bemerkt und diesen verwirrenden Anblick mit Lenny's Figur und Gesicht nicht in Verbindung hatte bringen können, so waren ihm doch diese Sohlen mehr als eine optische Täuschung und als ein Blendwerk seiner Phantasie erschienen. Jetzt aber faßte er den Rentmeister beim Arme, während der Pfarrer ihn selbst festhielt, und stammelte:

»Nein, das geht doch über Alles! Der Mensch ist so toll, wie ein Märzhase, und hat Doctor Rickybocky für den kleinen Lenny genommen!«

»Vielleicht,« begann jetzt der Doctor, mit einem feinen Lächeln das Schweigen unterbrechend, indem er eine so höfliche Verbeugung zu machen versuchte, als seine Stellung es ihm erlaubte – »vielleicht haben Sie die Güte, mir aus dem Stocke zu helfen, ehe sie zu weitern Erklärungen schreiten.«

Ungeachtet seiner Verwirrung und seines Aergers konnte der Geistliche ein Lächeln nicht unterdrücken, als er sich seinem gelehrten Freunde näherte und sich niederbeugte, um ihn aus seiner Haft zu befreien.

»Gott behüte Euer Ehrwürden! Thun Sie es nicht!« rief Mr. Stirn. »Lassen Sie sich nicht in Versuchung führen – ihm ist es nur darum zu thun, Sie in seine Klauen zu bekommen. Ich möchte nicht in seine Nähe gehen um alle –«

Diese Rede wurde durch Doctor Riccabocca selbst unterbrochen, der nun, Dank der Hülfeleistung des Pfarrers, sich zu seiner vollen Höhe aufgerichtet hatte und, um einen halben Kopf über alle Anwesenden emporragend, sich mit einer huldvollen Handbewegung Mr. Stirn näherte. Dieser flüchtete sich rasch nach der Hecke, in dem dichten Gebüsche Schutz suchend.

»Ich merke wohl, für wen Sie mich halten, Mr. Stirn,« fügte der Italiener, indem er mit der ihm eigenen Höflichkeit den Hut lüpfte. »Es ist mir allerdings eine große Ehre; allein Sie werden sich eines Bessern überzeugen, wenn der fragliche Herr Sie eines Tages einer persönlichen Zusammenkunft würdigt in einer andern heißern Welt.«


Zwölften Kapitel.

» Aber wie in aller Welt sind Sie denn in meinen neuen Stock gerathen?« fragte der Squire, sich hinter dem Ohre kratzend.

»Mein theurer Sir, Plinius der Aeltere gerieth in den Krater des Aetna.«

»So – und warum?«

»Vermuthlich, um sich zu überzeugen, wie es darin aussehe,« entgegnete Riccabocca.

Der Squire brach in ein helles Lachen aus.

»Und so sind Sie wohl in den Stock gerathen, um zu versuchen, wie es sich darin sitzt. Nun, es wundert mich eigentlich nicht so sehr; denn es ist wirklich ein hübscher Stock,« fuhr der Squire fort, indem er den Gegenstand seines Lobes mit liebendem Blicke betrachtete. »Niemand braucht sich zu schämen, darin gesehen zu werden – ich selbst würde mir nichts daraus machen.«

»Lassen Sie uns lieber weiter gehen,« sagte der Pfarrer trocken; »sonst möchten wir nächstens die ganze Gemeinde hier haben, für welche es keine geringe Erbauung sein dürfte, ihren Gutsherrn in derselben Lage zu sehen, aus der wir so eben den Doctor befreit haben. Aber ich bitte, erklären Sie mir doch, was es mit Lenny Fairfield für eine Bewandtniß hat? Ich verstehe kein Wort von dem Vorgefallenen. Sie wollen doch nicht sagen, daß der brave Lenny, der, beiläufig bemerkt, nicht in der Kirche war, etwas gethan haben soll, wofür er Strafe verdiente?«

»Freilich hat er das!« rief der Squire. »Stirn! – he, Stirn!« Aber Stirn war durch die Hecke geschlüpft und verschwunden. Auf diese Weise blieb es Mr. Hazeldean überlassen, den Bericht über das Vorgefallene zu erstatten, und er schilderte nun in wenigen Worten den Angriff auf Randal Leslie, die rasche Züchtigung von Seiten Stirn's, seine eigene Entrüstung, als er die Beleidigung seines jungen Verwandten erfuhr, und seinen wohlgemeinten, barmherzigen Wunsch, dem Schuldigen eine Verschärfung der Strafe durch eine öffentliche Demüthigung zu ersparen.

Der Geistliche, der jetzt den unpassenden und übereilten Einfall der Bierspende in einem mildern Lichte betrachtete, ergriff die Hand des Squire's und sagte reuig:

»Ach, Mr. Hazeldean, vergeben Sie mir. Ich hätte wissen sollen, daß nur eine Aufwallung Ihres guten Herzens im Stande sein konnte, für einen Augenblick Ihr Schicklichkeitsgefühl zu ersticken Aber das ist eine traurige Geschichte – Lenny, der am heiligen Sabbath Zank und Streit anfängt! Es sieht ihm so gar nicht ähnlich – ich weiß in der That nicht, was ich davon denken soll.«

»Aehnlich oder nicht ähnlich,« versetzte der Squire, »jedenfalls war es eine grobe Beschimpfung des jungen Leslie; und sie gewinnt einen um so schlimmern Charakter, als Audley und ich nicht eben die besten Freunde sind. Ich kann mir nicht denken, wie es kömmt,« fuhr Mr. Hazeldean nachdenklich fort, »aber es scheint beinahe, als ob jede Berührung mit diesem meinem gezierten und gefeierten Halbbruder irgend einen Kampf zur Folge haben müsse. Bin ich, seiner eigenen Mutter Sohn, nicht seinetwegen beinahe durch die Lunge geschossen worden? Zum guten Glück blieb noch die Kugel in der Schulter stecken! Und jetzt kann der Verwandte seiner Frau – und der meinige nicht minder – Enkel einer Hazeldean – ein fleißiger und nüchterner Knabe, wie man sagt – nicht seinen Fuß in das ruhigste Kirchspiel der drei Königreiche setzen, ohne daß der sanfteste Junge, den man sich denken kann, auf ihn losstürzt, wie ein wüthender Stier. Es ist Verhängniß!« rief der Squire feierlich.

»Die alte Sage erzählt von ähnlichen Beispielen eines traurigen Verhängnisses, das über gewissen Familien waltete,« bemerkte Riccabocca. »Das Haus des Pelops – Polynices und Eteokles, die Söhne des Oedipus Der Fluch, den Pelops wegen einer Mordtat auf sich lädt, setzt sich bei den Atriden bis hin zu Orest fort, der die Ermordung seines Vaters Agamemnon durch die Mutter Klytaimnestra rächt. – Polyneikes und Eteokles töten sich nach der Sage gegenseitig wegen des Fluches, den Ödipus, der wiederum seinen eigenen Vater getötet und mit seiner Mutter Kinder gezeugt hatte, über sie verhängt hat. –«

»Pah!« sagte der Pfarrer. »Aber was ist jetzt zu thun?«

»Was zu thun ist?« entgegnen der Squire. »Dem jungen Leslie muß jedenfalls Genugthuung werden. Und obgleich ich dem kleinen Raufbold Lenny um Ihretwillen, Pfarrer Dale, und um seiner Mutter willen eine öffentliche Beschimpfung ersparen möchte, so glaube ich doch, eine gute Tracht Prügel unter vier Augen –«

»Halten Sie, Mr. Hazeldean,« sprach Riccabocca mild, »und hören Sie mich zuvor an.« Und nun vertheidigte der Italiener mit ebensoviel Gefühl, als Takt, die Sache seines armen Schützlings, indem er auseinandersetzte, daß Lenny's Vergehen nur einem mißverstandenen Eifer für den Dienst des Squire's entsprungen war und einfach in der Vollstreckung des von Mr. Stirn empfangenen Befehls bestanden habe.

»Das ändert freilich die Sache,« sagte der Squire besänftigt, »und so wird jetzt weiter nichts mehr nöthig sein, als daß er meinem Verwandten Abbitte thue.«

»Ja, das ist billig,« versetzte der Pfarrer. »Aber ich begreife noch immer nicht, wie er aus dem Stocke kam.«

Riccabocca nahm nun seine Erzählung wieder auf, und nachdem er seinen Antheil an Lenny's Befreiung gebeichtet hatte, entwarf er ein rührendes Bild von der Scham und dem ehrlichen Schmerze des Knaben. »Laßt uns gegen Philipp ziehen,« riefen die Athener, als sie Demosthenes gehört hatten Demosthenes (384-322 v.u.Z.) war einer der bedeutendsten griechischen Redner. Seine »Philippika« waren gegen das Hegelmonialstreben Philipps II. von Makedonien gerichtet, von Athen seine Selbständigkeit als Stadtstaat gefährdet sah.

»Lassen Sie uns sogleich hingehen, um das arme Kind zu trösten!« rief der Pfarrer, noch ehe Riccabocca geendigt hatte.

In dieser wohlwollenden Absicht beschleunigten alle Drei ihre Schritte und erreichten bald die Hütte der Wittwe. Allein Lenny hatte durch das Fenster ihre Annäherung bemerkt, und da er nicht zweifelte, der Pfarrer werde ihm ungeachtet der Fürsprache des Doctors Vorwürfe machen und der Squire ihn wieder in den Stock sperren wollen, so stürzte er zur Hinterthüre hinaus und flüchtete sich in den Wald, wo er den ganzen Abend verborgen blieb.

Es war schon dunkel, als seine Mutter – die Hände ringend in ihrer kleinen Küche saß und sich bemühte, auf den Zuspruch des Pfarrers und seiner Gattin zu hören, welche zuerst Boten nach dem Flüchtling ausgesandt hatten und nun die betrübte Wittwe zu trösten suchten – ein schüchternes Klopfen und ein ängstliches Tasten an der Thürschnalle vernahm. Mrs. Fairfield fuhr auf, um zu öffnen, und im nächsten Augenblicke warf sich Lenny an ihre Brust und verbarg daselbst laut schluchzend sein Angesicht.

»Sei unbesorgt, mein Junge,« sagte der Pfarrer herzlich. »Du hast nichts zu fürchten. Alles ist aufgeklärt und verziehen!«

Lenny blickte auf, und die Adern seiner Stirne waren stark angeschwollen.

»Sir,« sagte er mit fester Stimme, »ich bedarf keiner Verzeihung – ich habe nichts Unrechtes gethan. Ich bin beschimpft worden – und ich werde nie mehr in die Schule gehen – nie, nie mehr!«

»Still, Carry!« wandte sich der Pfarrer an seine Gattin, welche mit der Lebhaftigkeit ihres Temperaments Einsprache erheben wollte. »Gute Nacht, Mrs. Fairfield. Ich will morgen wieder kommen und mit dir reden, Lenny. Du wirst dich bis dorthin eines bessern besonnen haben.«

Der Pfarrer führte nun Mrs. Dale nach Hause und begab sich alsdann nach der Halle, um dem Squire, welcher des Knaben wegen sehr unruhig war und selbst an den Nachforschungen Theil genommen hatte, dessen Rückkehr zu melden. Als er hörte, daß Lenny in Sicherheit sei, sagte er:

»Nun wohl, morgen mit dem Frühesten mag er sich nach Nord Hall auf den Weg machen und Master Leslie um Verzeihung bitten, dann ist Alles wieder in Ordnung.«

»Der junge Schurke!« rief Frank, auf dessen Wangen eine Scharlachröthe glühte. »Einen jungen Edelmann zu schlagen, und noch dazu einen Etonianer, der mich besuchen wollte! Ich wundere mich nur, daß ihn Randal so leichten Kaufs entkommen ließ; jeder andere Schüler aus der sechsten Klasse würde ihn todtgeschlagen haben.«

»Frank,« nahm der Pfarrer mit Strenge das Wort, »wenn Jedem von Uns zu Theil würde, was er verdient, wie müßte es Demjenigen ergehen, der nicht nur die Sonne untergehen läßt über seinem Zorn, sondern auch bemüht ist, mit lieblosem Hauche bei Andern die erlösenden Funken des Hasses wieder anzufachen?«

Der Geistliche wandte sich hiemit von Frank ab, den sich auf die Lippe biß und beschämt zu sein schien. Selbst seine Mutter wagte kein Wort zu seiner Entschuldigung; denn wenn der Pfarrer in solch' ernstem Tone strafte, beugte sich die Majestät der Halle in Ehrfurcht vor dem Verweis der Kirche.

Als Mr. Dale Riccabocca's fragendem Blick begegnete, zog er den Philosophen bei Seite und flüsterte ihm seine Besorgniß zu, daß es schwer halten werde, Lenny zu vermögen, Randal Leslie um Verzeihung zu bitten; denn der stolze Magen des Musterknaben könne den Stock nicht mit der Leichtigkeit eines nach praktischer Weisheit trachtenden Philosophen verdauen.

Diese Besprechung wurde bald durch Miß Jemima unterbrochen, welche sich mit der Frage an den Doctor wandte, wie viele Jahre wohl noch vergehen dürften, bis die Welt, – abgesehen von irgend einem früheren, gewaltsameren Ereignisse – sich abgenützt hätte.

»Mein Fräulein,« erwiderte der Doctor, dem es nicht ungenehm war, eben jetzt abgerufen zu werden, um in einem prophetischen Schriftchen eine Stelle über diesen interessanten Gegenstand nachzulesen – »mein Fräulein, es ist grausam von Ihnen, Jemand an das Ende der Welt zu erinnern, während man in Ihrer Gegenwart sich versucht fühlt, zu vergessen, daß es überhaupt eine Welt gibt!«

Eine dunkle Röthe überflog Jemima's Antlitz. Gewiß rechtfertigte dieses falsche, herzlose Kompliment all' ihre Verachtung gegen das männliche Geschlecht, und doch – so groß ist die menschliche Blindheit – diente es nur dazu, das leichtgläubige, allzu vertrauensvolle Herz der Jungfrau mit der ganzen Menschheit zu versöhnen.

»Er ist im Begriff, mir einen Antrag zu machen,« seufzte Miß Jemima.

»Giacomo,« sagte Riccabocca, als er seine Nachtmütze über die Ohren zog und majestätisch das Himmelbett bestieg, »ich glaube, wir werden jetzt jenen Knaben für unsern Garten bekommen.«

So spornte Jedes sein Steckenpferd oder kutschirte seinen kleinen Wagen in dem Hazeldeaner Caroussel.


Dreizehntes Kapitel.

Welcher Erfolg Miß Jemima Hazeldean's Absichten auf Doctor Riccabocca auch schließlich bevorstehen mochte – jedenfalls feierte die macchiavellistische Schlauheit, mit welcher der Italiener darauf gerechnet hatte, sich Lenny Fairfields Dienste zu sichern, einen raschen Triumph. Selbst das freundlichste Zureden des Pfarrers vermochte nichts gegen die entschiedene Weigerung des Bauernknaben, den jungen Edelmann um Verzeihung zu bitten, dem er eine schmähliche Niederlage und schimpfliche Einsperrung verdankte – nur, weil er gethan, was man ihn geheißen hatte. Und zu Mrs. Dale's großem Verdruß stellte sich die Wittwe auf Seite des Knaben. Sie fühlte sich tief gekränkt durch die ungerechte Schmach, welche Lenny widerfahren, indem er in den Stock gesperrt worden; sie theilte seinen Stolz und billigte offen seine Gesinnung. Nicht ohne große Schwierigkeit ließ sich Lenny bewegen, die Schule noch ferner zu besuchen; ja, anfänglich wollte er nicht einmal mehr die Grenzen des mütterlichen Pachtgutes überschreiten. Doch gab er endlich mit finsterer Miene in Betreff der Schule nach, und der Geistliche hielt es für räthlicher, auf der andern Forderung, die dem Knaben so sehr widerstrebte, nicht zu bestehen.

Unglücklicher Weise gingen Lenny's Befürchtungen in Betreff der Spöttereien von Seiten der Dorfbewohner nur zu bald in Erfüllung. Zwar hielt Stirn anfänglich reinen Mund, allein der Kesselflicker plauderte die ganze Geschichte aus. Und überdies würden die Nachforschungen jenes unseligen Abends, als Lenny im Walde versteckt war, jeden Versuch, die Sache zu vertuschen, unmöglich gemacht haben. So erzählte nun Mr. Stirn den Vorfall auf die eine, der Kesselflicker auf die andere Weise; aber beide Berichte lauteten gleich ungünstig für den armen Lenny. Der Musterknabe hatte den Sabbath entheiligt, mit einem vornehmen jungen Gentleman gekämpft und dabei tüchtige Püffe davongetragen; der Dorfjunge hatte es mit Stirn und den Behörden gehalten, indem er sich dazu hergab, die Vergehungen von seines Gleichen auszuspüren. Kein Wunder, daß Leonhard Fairfield in seiner doppelten Eigenschaft als abgesetzter Musterknabe und entlarvter Spion nirgends Gnade fand – in der einen hatte er sich lächerlich, in der andern verhaßt gemacht.

In Gegenwart des Schulmeisters und unter den Augen des Pfarrers wagte es allerdings Niemand, seinen boshaften Gefühlen Luft zu machen; aber sobald dieser Zwang beseitigt war, begann die allgemeine Verfolgung.

Die Einen deuteten mit Fingern auf ihn und schnitten Gesichter dazu: Andere verwünschten ihn als einen Schleicher, und Alle mieden seine Gesellschaft. Wenn er Abends in der Dunkelheit durch das Dorf ging, hörte er Stimmen hinter den Hecken hervor: »Wer ist im Stock gesessen? – Pfui!« »Wer hat für Nick Stirn den Spion gemacht und eine blutige Nase geholt? – Pfui!« Einer solchen Angriffsweise Widerstand zu leisten, wäre selbst für einen weiseren Kopf und ein kühleres Blut, als unser Musterknabe sie besaß, vergebliche Mühe gewesen. Sein Entschluß war daher bald gefaßt und auch von Mrs. Fairfield genehmigt. Am zweiten oder dritten Tage nach Doctor Riccabocca's Rückkehr in das Casino erschien Lenny mit einem kleinen Bündel in der Hand auf der Terrasse desselben.

»Mit Vergunst, Sir,« sagte er zu dem Doctor, der mit übereinandergeschlagenen Beinen unter dem Schutze des rothseidenen Regenschirms auf der Balustrade saß – »mit Vergunst, Sir, wenn Sie jetzt so gut sein wollen, mich aufzunehmen und mir ein Winkelchen zum Schlafen zu geben, so will ich Tag und Nacht für Sie arbeiten. Und was den Lohn betrifft, so sagt die Mutter, Sie könnten es damit halten, wie Sie wollen.«

»Mein Kind,« versetzte der Doctor, indem er Lenny bei der Hand faßte und ihn mit dem durchdringenden Auge eines Weisen betrachtete, »ich wußte, daß du kommen würdest, und Giacomo hat bereits alles für dich hergerichtet. Ueber den Lohn werden wir seiner Zeit schon einig werden.«

Nachdem Lenny in dieser Weise versorgt war, betrachtete seine Mutter einige Abende den leeren Stuhl, auf welchem er so lange an der Stelle ihres vielgeliebten Mark gesessen hatte, und der leere Stuhl kam ihr so trostlos und verwaist vor, daß sie es nicht länger ertragen konnte.

Das Dorf war ihr in der That eben so zuwider geworden, wie ihrem Sohne – ja, vielleicht sogar noch mehr; und eines Morgens, als der Rentmeister auf seinem kurzbemähnten Roß an ihrer Thüre vorbeiritt, rief sie ihn an und bat ihn, dem Squire zu sagen, »es wäre ihr ein rechter Gefallen, wenn er ihr die sechs Monate Kündigungsfrist für das Gütchen erlassen wollte, da es ja Leute genug gebe, welche mit Freuden selbst gegen einen weit höheren Pachtzins für sie eintreten würden.«

»Ihr seid nicht recht gescheidt,« sagte der wohlmeinende Rentmeister, »und es ist nur gut, daß Ihr Euren thörichten Wunsch gegen mich und nicht gegen den garstigen Stirn geäußert habt. Es ist Euch hier ja so gut gegangen, und Ihr habt das Gütchen fast Umsonst.«

»Wohlfeil, was den Pachtzins betrifft, aber theuer für das Gefühl,« sagte die Wittwe. »Und da Lenny jetzt fort ist, um bei dem fremden Herrn zu arbeiten, so möchte ich in seiner Nähe wohnen.«

»Ja, ja – ich habe gehört, daß Lenny sich in's Casino verdingt hat – einfältig genug von ihm! Aber wo denkt Ihr hin? Eine halbe Stande ungefähr, das ist ja gar keine Entfernung. Kann er nicht jeden Abend nach der Arbeit zu Euch kommen?«

»Nein, Sir,« rief die Wittwe heftig; »er soll nicht hierher kommen, daß man ihn verhöhne und ihm Spottnamen nachrufe! Er, den mein seliger Mann so lieb hatte – auf den er so stolz war! Nein, Sir, wir armen Leute haben auch Gefühl, wie ich zu Mrs. Dale sagte, und wie ich dem Squire selbst in's Gesicht sagen will. Nicht als ob ich undankbar wäre für alles, was er an mir gethan hat; er ist ein sehr guter Herr, wenn ihm Niemand etwas einredet; aber er sagt, er wolle nicht in unsre Nähe kommen, bis Lenny hingegangen sei und um Verzeihung gebeten habe. Verzeihung! – Ich möchte wohl wissen, wofür? Das arme Lamm! Hätten Sie nur seine Nase gesehen, Herr Rentmeister! sie war so dick,wie Ihre zwei Fäuste. Um Verzeihung bitten! Ich möchte wissen, ob der Squire um Verzeihung bitten würde, wenn er eine solche Nase gehabt hätte! Aber ich lasse mich von der Leidenschaft hinreißen – entschuldigen Sie gütigst, Herr Rentmeister! Ich bin nicht gelehrt, wie der arme Mark es war, und wie Lenny es sicher geworden wäre, wenn uns der Herr nicht auf diese Weise heimgesucht hätte. Deßhalb sagen Sie dem Squire, er möchte mich je eher je lieber fortlassen. Und was das bischen Heu und den übrigen Ertrag des Feldes und Obstgartens betrifft, so wird der neue Pächter dies wohl in's Reine bringen.«

Da der Rentmeister sich überzeugte, daß all' seine Beredsamkeit außer Stande sei, den Entschluß der Wittwe zu ändern, so meldete er dem Squire ihr Anliegen. Mr. Hazeldean, der sich wirklich durch die hartnäckige Weigerung des Knaben, dem jungen Leslie eine ehrenhafte Genugthuung zu geben, beleidigt fühlte, stieß anfangs nur einige kräftige Flüche aus über die Undankbarkeit der Mutter sowohl, als des Sohnes. Allein bald mußten wohl mildere Gedanken in ihm aufgestiegen sein, denn an jenem Abende ging er zwar nicht selbst zu der Wittwe, sandte jedoch seine Harry zu ihr. Obgleich nun Harry zuweilen in ihrem eigenen Namen streng und brusque genug sein konnte, wenn es sich um Angelegenheiten handelte, die sie selbst mit den Dorfbewohnern aufzumachen hatte, so erschien sie doch als Abgesandte ihres Gemahls immer nur in der Eigenschaft eines Friedensboten und vermittelten Engels. Auch übernahm sie diese Mission mit Freuden, da, wie wir schon bemerkt haben, Mutter und Sohn sehr hoch in ihrer Gunst standen. Mit dem freundlichsten Blick ihrer klaren blauen Augen trat sie in das Häuschen und begrüßte die Wittwe in dem sanftesten Tone ihrer herzlichen, klangvollen Stimme. Allein sie richtete nicht mehr aus, als der Rentamtmann.

Ich glaube in der That, der hochmüthigste Herzog aller drei Königreiche ist nicht so stolz, wie ein einfacher englischer Bauer, noch halb so schwer zu begütigen und zu behandeln, wenn er sich in seiner Würde verletzt fühlt. Und viele meiner literarischen Genossen (so dünnhäutig wir auch sind) zeigen sich weit weniger empfindlich gegen die von Doctor Riccabocca so weislich verachtete öffentliche Meinung, als eben dieser Bauer. Allerdings kann er bisweilen von seinen Vorgesetzten ein gutes Theil Tadel und derber Vorwürfe ertragen (doch treffen ihn diese, dem Himmel sei Dank, nur selten ungerechter Weise) aber in seiner eigenen kleinen Welt von seines Gleichen über die Achsel angesehen und verspottet zu werden, das schneidet ihm in die Seele. Und wenn es je gelingt, diesen Stolz zu brechen, diese Empfindlichkeit zu ersticken, so ist er ein verlornes Geschöpf. Nie kann er seine Selbstachtung wieder gewinnen, und das stumpfe, träge, mißmuthige Opfer ist dadurch auf eine Bahn gestoßen, die es dem völligen Verderben im Gefängniß oder auf einem Verbrecherschiff entgegen führt.

Von diesem Stoffe war die Natur der Wittwe und ihres Sohnes. Wäre selbst Plato's Honigseim Mrs. Hazeldeans Lippen entströmt, er hätte nicht vermocht, die Bitterkeit des Herzens, worauf er sich ergoß, in Süßigkeit zu verwandeln. Allein Mrs. Hazeldean war bei all' ihrer Vortrefflichkeit eine sehr offene, etwas derbe Frau und konnte überdies nicht umhin, für den Sohn eines Edelmannes (zumal eines herabgekommenen Edelmannes), der nach Lenny's eigenem Bericht scheinbar ohne wirkliche Veranlassung angegriffen worden war, einige Theilnahme zu empfinden. Auch vermochte ihr gesunder Verstand die Wichtigkeit nicht zu begreifen, welche Mrs. Fairfield dem Gespötte einiger kleinen ungezogenen Schlingel beilegte, das, wie sie mit Recht behauptete, schon von selbst aufhören würde, sobald man nicht darauf achtete. Der Entschluß der Wittwe war unerschütterlich, und Mrs. Hazeldean mußte mit wirklichem Bedauern und einigem Aerger abziehen.

Mrs. Fairfield nahm indessen stillschweigend an, daß ihre Bitte gewährt sei, und eines Morgens früh fand man ihre Thüre verschlossen und den Schlüssel bei einem Nachbar niedergelegt, der ihn dem Rentmeister übergeben sollte. Weitere Nachforschungen ergaben sodann, daß ihr Hausgeräthe und sonstiges Eigenthum in der Stille der Nacht durch das Botenwägelchen fortgeschafft worden war. Lenny hatte nämlich unweit des Casino's an der Landstraße eine Hütte ausfindig gemacht, und dort erwartete er nun mit freudestrahlendem Antlitz seine Mutter, um sie mit einem Frühstück zu bewillkommnen und ihr zu zeigen, wie er die Nacht mit dem Einräumen ihrer Möbel zugebracht habe.

»Pfarrer!« rief der Squire, als man ihm diese Kunde mittheilte, während er Arm in Arm mit Mr. Dale einige in dem Armenhaus vorgenommene Verbesserungen besichtigte; »dies ist Ihre Schuld! Warum haben Sie mit dem eigensinnigen Schlingel und seiner albernen Mutter nicht geredet? Sie haben ja doch sonst ›Suada genug,‹ wie Frank in seiner neumodischen Schulsprache zu sagen pflegt.«

»Habe ich mich doch fast heiser gesprochen!« versetzte der Pfarrer im Tone vorwurfsvollen Staunens ob dieser Beschuldigung. »Aber es war alles vergebens! O gnädiger Herr, wenn Sie doch nur meinen Rath befolgt hätten in Betreff des Stockes – quieta non movere!‹

»Dummes Zeug!« sagte der Squire. »Ich soll wohl für einen Tyrannen, einen Nero, einen Richard den Dritten oder für den Großinquisitor gelten, blos weil ich alles hübsch und ordentlich haben will! Ja, ja, mein Stock! Ihr Freund Rickybocky versichert mich, er habe in seinem ganzen Leben nirgends ein angenehmeres Plätzchen gefunden, so behaglich sitze es sich darin. Und was Rickybocky's Würde nicht verletzte (der, wenn er will, ein ganz feiner Gentleman ist), davon braucht Master Leonhard Fairfield kein solches Aufhebens zu machen. Allein das Reden hilft jetzt nichts mehr! Was ist zu thun? Die Frau soll nicht Hungers sterben, und von dem Lohne, den Rickybocky ihrem Lenny gibt, kann sie unmöglich leben. Beiläufig gesagt, ich hoffe nicht, daß er ihn mit seinen und Jackeymo's Ueberresten füttern will; denn ich höre, sie nähren sich von nichts, als von Eidechsen und Stichlingen – pfui! Wissen Sie was, Pfarrer – mir fällt eben ein, daß hinter der Hütte, wo Mrs. Fairfield jetzt wohnt, einige sehr gute Grundstücke zu verpachten sind. Rickybocky möchte sie gern haben und hat mich, als er neulich bei uns war, über den Pachtschilling ausgeforscht. Ich habe ihm die Vorhand nur halb zugesagt. Davon soll er nun vier oder fünf Morgen des besten Landes rings um die Hütte her abtreten – gerade so viel, als sie bewirtschaften kann. Da mag sie eine Milcherei anfangen. Braucht sie Kapital, so leihe ich es ihr, aber unter Ihrem Namen, und daß nur Stirn nichts davon erfährt! Und was den Zins betrifft, so reden wir davon erst, wenn wir sehen, wie sie sich fortbringt, die starrköpfige, undankbare Alte! Sehen Sie,« setzte der Squire hinzu, als ob er sich wegen seiner Großmuth gegen Jemand, den er als so undankbar schilderte, entschuldigen zu müssen glaubte – »ihr Mann ist ein treuer Diener meines Hauses gewesen, und deßhalb – nun, warum stehen Sie denn so hin und starren mich an, daß ich ganz aus dem Concept komme? gehen Sie lieber gleich zu der Wittwe, sonst hat Stirn das Land an Rickybocky verpachtet, ehe wir uns dessen versehen. Und hören Sie, Dale, vielleicht könnten Sie es so einrichten, daß das hartnäckige Weib gar nicht erführe, daß das Land mir gehört, oder daß ich ihr eine Gunst erweisen will. Kurz, machen Sie Ihre Sache so gut Sie können!«

Allein auch diese Liebesabsicht mißlang. Die Wittwe wusste recht wohl, daß das Land dem Squire gehörte, und daß der Morgen mindestens drei Pfund werth war. Sie danke ihm unterthänig für diese, so wie für alle andern Vergünstigungen; aber sie habe nicht die Mittel, Kühe zu kaufen, und möchte Niemand ihren Lebensunterhalt verdanken. Lenny gehe es sehr gut bei Mr. Rickybocky, und er mache ausgezeichnete Fortschritte in der Gärtnerei; auch zweifle sie nicht, daß sie durch Waschen etwas verdienen könne; und jedenfalls werde ihr Heuvorrath ihr ein schönes Stück Geld einbringen – sie denke daher schon ordentlich auskommen zu können und danke der gnädigen Herrschaft für ihr gütiges Anerbieten.

So ließ sich also auf directem Wege nichts weiter für sie thun; allein ihre Bemerkung in Betreff des Waschens gab ein Mittel an die Hand, wodurch man sie indirekt unterstützen konnte. Als bald darauf die einzige Wäscherin der Umgegend mit Tod abging, genügte ein Wink des Squires, um die dem Casino gegenüber wohnende Wirthin zu veranlassen, ihre oft ziemlich beträchtliche Kundschaft der Wittwe zuzuwenden. Dieser Verdienst im Verein mit Lenny's Lohn (wie viel auch dieser geheimnißvolle Posten betragen mochte) setzte Mutter und Sohn in den Stand, sich fortzubringen. Ohne jene physischen Merkmale des Fastens und der Enthaltsamkeit zur Schau zu tragen, welche sich dem Erforscher der thierischen Anatomie an Doctor Riccabocca und seinem Diener aus den ersten Anblick darboten.


Vierzehntes Kapitel.

Unter allen Waaren und Bequemlichkeiten in Tausch und Handel, woraus vorzüglich die moderne Civilisation besteht, wird keine so sorgfältig gewogen, so genau abgemessen, so gründlich untersucht und geeicht, so fleißig zusammengescharrt, so sehr in minima vertheilt und so gewissenhaft verglichen, wie jener Hauptartikel des geselligen Verkehrs, den man »eine Entschuldigung« nennt.

Wenn die Chemiker nur halb so sorgfältig im Verkauf ihrer Gifte wären, so würde in der Durchschnittszahl der Unglücklichen, welche alljährlich dem Arsenik und der Oxalsäure zum Opfer fallen, eine beträchtliche Verminderung eintreten. Aber leider ist es in Sachen der Entschuldigung nicht das Uebermaß der Dosis, sondern die ängstliche, kärgliche, knauserige Art, womit sie ausgetheilt wird, was die arme Menschheit den stygischen Fluthen Adjektiv zu Styx, dem bekanntesten Fluss der Unterwelt. zuführt.

Wie oft hängt nicht ein Menschenleben von der genauen Beschaffenheit oder dem Umfang einer Entschuldigung ab? Ist sie nur ein Haarbreit zu kurz für den Riß, den du damit bedecken willst, so mache dein Testament – du bist ein todter Mann! Ein Leben sage ich? Eine Hekatombe von Leben! Wie viele Kriege wären vermieden worden, wie viele Throne und Dynastien stünden noch unerschüttert und blühend, wie viele Freistaaten würden sich noch lärmend um eine Rednerbühne drängen oder Schiffe für den Handel mit Korn und Baumwolle ausrüsten, wenn man einen oder zwei Zoll Entschuldigung der angebotenen Elle zugegeben hätte!

Aber die eifersüchtige, argwöhnische, giftige Ehre mit ihrem alten Essiggesicht und ihr ebenso filziger Associé, der Stolz, mit seiner Pfennigweisheit und Pfundnarrheit haben das Monopol in diesem Artikel. Und wie viel Zeit verlieren sie nicht, bis sie ihre Brillen aufsetzen und in dem betreffenden Fache die Waare gerade von der verlangten Qualität aussuchen; und dann – wenn die richtige Qualität gefunden ist – wie sie über das Quantum mäkeln und feilschen – ob es Civil oder Apothekergewicht, englische oder flämische Elle sein soll – und zuletzt der Lärm, den sie aufschlagen, wenn der Kunde mit der winzigen Kleinigkeit nicht zufrieden ist, die er für sein Geld bekömmt!

Ich für meinen Theil wundere mich nicht, wenn man Geduld und gute Laune darüber verliert und Stolz und Ehre und Entschuldigung – alles miteinander zum Teufel jagt. Aristophanes führt in seiner »Friedenskomödie« eine schöne Allegorie durch, indem er die Göttin des Friedens, obwohl sie seine Heldin ist, als stumm auftreten läßt. Der schlaue Grieche wußte wohl, daß sie aufhören würde, der Friede zu sein, wenn sie zu plaudern anfinge.

Darum, lieber Leser, wenn je einmal dein Tanzschuh unter den eisernen Absatz von eines andern Mannes Stiefel geräth, so gebe der Himmel, daß du deinen Mund haltest und die Sache nicht vollends unerträglich machest, indem du eine Entschuldigung forderst!


Fünfzehntes Kapitel.

Doch der Squire und sein Sohn Frank waren hochherzige, großmüthige Geschöpfe in dem Artikel der Entschuldigung sowohl, wie in allen übrigen Dingen. Als sie einsahen, daß Leonhard Fairfield sich nicht bewegen ließ, Randal Leslie ein Pflaster zu bieten, suchten sie durch ihre eigene Freigebigkeit seine Kargheit gut zu machen. Der Squire begleitete seinen Sohn nach Rood Hall, und da es Niemand von der Familie beliebte, zu Hause zu sein, so verfaßte und schrieb der Squire aus eigenem Kopf und mit eigener Hand eine Epistel, die vollständig dazu angethan war, alle Wunden zu heilen, welche die Würde der Familie Leslie je erhalten hatte.

Der Brief schloß mit der herzlichen Einladung, Randal möchte einige Tage in der Halle zubringen. Frank's Schreiben hatte denselben Zweck, nur war es weniger leserlich und mehr im etonianischen Style gehalten.

Es währte einige Tage, ehe Randal's Antwort auf diese Briefe eintraf. Sie war aus einem Dorfe in der Nähe von London datirt und enthielt die Nachricht, daß Randal sich unter Anleitung eines Hofmeisters für die Universität Oxford vorbereite und daher die an ihn ergangene Einladung ablehnen müsse.

Im Uebrigen drückte sich in Randal's Schreiben viel Verstand, aber nur wenig Edelmuth aus. Er entschuldigte seine Theilnahme an einer so gemeinen Rauferei mit einer kurzen, aber bittern Anspielung auf die Unwissenheit und Halsstarrigkeit des Bauernlümmels und dachte nicht entfernt daran – was du, mein freundlicher Leser, unter ähnlichen Umständen gewiß nicht versäumt haben würdest – ein Wort der Fürsprache für seinen tapfern, aber unglücklichen Gegner einzulegen. Die meisten Menschen gewinnen einen Feind lieber, nachdem sie mit ihm gekämpft haben – d. h. wenn sie Sieger geblieben sind; allein bei Randal Leslie war dies nicht der Fall. Dabei hatte nun die Sache, so weit sie den Etonianer betraf, ihr Bewenden. Und der Squire, den es verdroß, daß er dem jungen Edelmann für den erlittenen Schimpf nicht die volle Genugthuung bieten konnte, fühlte kein schmerzliches Bedauern mehr, wenn er an Mrs. Fairfield's verlassener Hütte vorbeiging.


Sechzehntes Kapitel.

Lenny Fairfield erwarb sich die volle Zufriedenheit seines neuen Herrn und zog manchen Vortheil aus der vertraulichen Güte, mit welcher man ihn behandelte. Riccabocca, der sich etwas auf seine Menschenkenntniß zu gute that, hatte von Anfang an bemerkt, daß in dem Geist und Gemüth des englischen Bauernknaben der Keim zu vielen nicht gewöhnlichen Eigenschaften lag, und nahm nun bei näherer Bekanntschaft unter der unschuldigen Einfalt des Kindes Regungen von Scharfsinn wahr, welche nur der Entwicklung und Anleitung bedurften. Er überzeugte sich bald davon, daß die Fortschritte, welche der Musterknabe in der Dorfschule gemacht, eine tiefere Grundlage gehabt hatten, als bloße mechanische Gelehrigkeit und schnelle Fassungskraft. Lenny besaß einen brennenden Durst nach Wissen, und bei allen Nachtheilen der Geburt und der äußern Verhältnisse waren doch die Anzeichen jenes natürlichen Genies unverkennbar, dem die Hindernisse selbst zum Sporn werden. Allein neben den guten Eigenschaften zeigten sich auch solche, welche – schwer von jenen zu trennen und noch schwerer zu zerstören – nicht selten die Fruchtbarkeit des Bodens beeinträchtigen. Mit einem auffallenden und edlen Stolze, dem der gute Name über alles ging, verband sich ein gewisser Starrsinn; und die zarte Empfänglichkeit für eine freundliche Behandlung paarte sich mit einem starken Widerwillen, einen erlittenen Schimpf zu verzeihen.

Diese seltsame Mischung in der Brust eines ungebildeten Bauernknaben interessirte Riccabocca, welcher sich zwar seit langer Zeit von dem Verkehr mit der Welt zurückgezogen hatte, dennoch aber den Menschen als das mannigfaltigste und unterhaltendste Buch betrachtete, das der philosophische Geist erforschen kann. Er gewöhnte den Knaben bald an den Ton einer feineren und anregenden Unterhaltung, wodurch Lenny's Ideen und Sprache unmerklich veredelt wurden und ihren bäurischen Anstrich verloren.

Dann wählte Riccabocca aus seiner kleinen Bibliothek einige elementarische Werke aus, welche weit gehaltreicher waren, als alle, die Lenny in Hazeldean hätte auftreiben können. Der Doctor kannte die englische Sprache sehr gut und war mit ihrem Geiste sowohl, wie mit ihrer Grammatik vertrauter, als mancher nicht ungebildete Engländer, denn er hatte sie mit derselben Genauigkeit studirt, mit welcher der Gelehrte eine todte Sprache zu erlernen pflegt, und unter seinen Büchern befanden sich noch viele, die ihm zu diesem Zwecke gedient hatten.

Dies waren die ersten Schriften, welche er Lenny in die Hand gab. Zu gleicher Zeit weihte Jackeymo den Knaben in manche Geheimnisse der Gärtnerei und der Landwirtschaft ein; denn zu jener Zeit war der Feldbau in England (einige besonders begünstigte Grafschaften und einzelne Güter ausgenommen) noch weit hinter der Pünktlichkeit zurück, womit derselbe seit undenklichen Zeiten im nördlichen Italien betrieben wird, wo man Stunden lang durch eine ununterbrochene Reihe von Gärten zu reisen glaubt.

In Anbetracht aller dieser Dinge nun schien Leonhard Fairfield keinen üblen Tausch gemacht zu haben, obwohl bei einem tiefern Einblick die Sache zweifelhaft werden konnte. Derselbe Grund, welcher den Knaben veranlaßt hatte, sein heimatliches Dorf zu fliehen, verhinderte ihn auch, die Kirche von Hazeldean ferner zu besuchen.

Der alte, trauliche Verkehr zwischen ihm und dem Pfarrer hörte dadurch natürlich auf oder beschränkte sich auf einen gelegentlichen freundlichen Besuch des Letzteren; und selbst diese Besuche wurden immer seltener und verloren an Herzlichkeit, als der Geistliche fand, daß sein ehemaliger Schüler seiner Dienste nicht bedurfte und taub blieb gegen alle seine milden Vorstellungen und Bitten, er möchte das Vergangene vergeben und vergessen und wenigstens seinen alten Platz in der Dorfkirche wieder einnehmen.

Zwar besuchte Lenny jeden Sonntag den Gottesdienst in einem ziemlich weit entfernten Kirchspiel; aber die Predigten machten nicht denselben guten Eindruck auf ihn, wie diejenigen Mr. Dale's, und der dortige Geistliche, der für seine eigene Heerde zu sorgen hatte, ließ sich nicht herab, wie Pfarrer Dale gethan haben würde, dem verirrten Lamme aus einem fremden Pferch im Privatgespräch manches Dunkle aufzuklären und das Nützliche zu Gemüth zu führen.

Nun ist es sehr die Frage, ob Doctor Riccabocca's kluge Grundsätze, obgleich in der Regel sehr moralisch und gewöhnlich sehr weise, nur halb so geeignet waren, die guten Eigenschaften des Bauerknaben zu entwickeln und die schlimmen zu verbessern, als die wenigen einfachen, nicht Macchiavell entlehnten Worte, welchen Leonhard einst ehrfurchtsvoll zu lauschen pflegte, wenn er neben dem Lehnstuhl seines Vaters stand, den für den Augenblick der gute Pfarrer Dale einnahm, der dieses Platzes wohl würdig war, indem er ein wahrhaft väterliches Herz für alle Verwaisten seiner Gemeinde besaß.

Auch wurde dieser Verlust traulicher, liebevoller, geistlicher Unterweisung nicht aufgewogen durch die größere Leichtigkeit, sich rein intellectuelle Belehrung anzueignen, wie unsere moderne Aufklärung uns gerne vorspiegeln möchte. Denn ohne den Vortheil des Wissens und geistigen Fortschritts im Allgemeinen in Abrede zu ziehen, müssen wir doch gestehen, daß an und für sich keine Zufriedenheit dadurch erzeugt wird. Es liegt in der Natur des Wissens, die Wünsche zu vermehren und Unzufriedenheit mit dem, was ist, zu erregen, um unser Streben nach dem, was sein könnte, anzuspornen. Und ach – wie viele Märtyrer sollen nicht unbemerkt diesem vielgepriesenen Fortschritt zum Opfer und bleiben getäuscht und zermalmt am Wege liegen! In wie Vielen werden nicht Begierden erweckt, die nie Befriedigung finden – Unzufriedenheit erregt mit einem Loose, über welches sie sich nie erheben werden!

Allons! Das heißt die dunkle Seite der Frage betrachten! Und daran ist allein jener verwünschte Riccabocca Schuld, der Leonhard Fairfield bereits so weit gebracht hat, daß er sich mißmuthig auf seinen Spaten stützt, umherschaut, und, da er Niemand in seiner Nähe gewahrt, in den klagenden Seufzer ausbricht:

»Bin ich nur dazu geboren, ein Kartoffelfeld umzugraben?«

Pardieu, Freund Lenny! wenn du siebzig Jahre alt würdest und in deiner eigenen Equipage fahren, aber nur mit Hülfe einer magenstärkenden Pille dein noch so mäßiges Diner verdauen könntest, so würdest du seufzend der köstlichen, in der Asche gebratenen Kartoffeln gedenken, welche du mit deinen eigenen kräftigen Händen aus der Erde gegraben! Grabe fort, Lenny Fairfield, grabe fort! Doctor Riccabocca wird dir sagen können, daß es dereinst einen berühmten Mann gegeben Kaiser Diocletian. [ Anm.d.Verf. – Diocletian, seit 284 römischer Kaiser, hatte 305 abgedankt und sich in der Nähe des heutigen Split niedergelassen; 308 forderte man ihn auf, wiederum das Kaiseramt zu übernehmen, worauf er geantwortet haben soll: »Kommt nur nach Salona und bestaunt den Kohl, den ich dort eigenhändig züchte, dann werdet ihr mich mit einem solchen Ansinnen verschonen.« (Nach Alexander Demandt: Die Spätantike. Neuauflage. München 2007. S. 73)], der sich in zwei sehr verschiedenen Berufsarten Erfahrungen sammelte – die eine war, ein Volk zu regieren, die andere, Kohl zu pflanzen; und er erklärte die letztere entschieden für die angenehmere!


Siebenzehntes Kapitel.

Doctor Riccabocca hatte sich die Dienste Lenny Fairfield's gesichert, und man kann daher sagen, daß er sein Steckenpferd auf dem großen Caroussel mit Glück und Geschicklichkeit geritten. Miß Jemima jedoch kutschirte noch immer in ihrem Wägelchen, handhabte die Zügel und schwang die Peitsche, ohne anscheinend der fliehenden Gestalt Doctor Riccabocca's auch nur um einen Zoll breit näher zu kommen.

In der That hatte dieses vortreffliche und nur allzuempfindsame Fräulein bei all ihrer Erfahrung von der Schlechtigkeit des männlichen Geschlechts dasselbe noch nie für so gänzlich verloren gehalten, als nachdem Doctor Riccabocca in der Halle Abschied genommen und sich wieder in der Einsamkeit des Casino's begraben hatte, ohne zuvor seinem verbrecherischen Cölibat abgesagt zu haben. Sie schloß sich einige Tage in ihr Zimmer ein und brütete mit einer ungewöhnlich düstern Befriedigung über der Gewißheit des herannahenden Weltuntergangs.

Manche Anzeichen dieses allgemeinen Unglücks, welche ihr während der Anwesenheit des Italieners ziemlich zweifelhaft geworden, schienen ihr jetzt auf einmal wieder sonnenklar. Ja, selbst die Zeitung, die während jener vertrauensvollen und glücklichen Periode eine halbe Spalte den Geburten und Heirathen gewidmet hatte, brachte jetzt eine ungewöhnlich lange Liste von Todesfällen, so daß es den Anschein gewann, als ob die ganze Bevölkerung den Muth verloren und keine Hoffnung habe, den Ausfall zu decken. Die Leitartikel sprachen mit der Dunkelheit einer Pythia von einer bevorstehenden Krisis. Ungeheure Rüben sproßten aus den Paragraphen hervor, welche den allgemeinen Neuigkeiten gewidmet waren; Kühe hatten Kälber mit zwei Köpfen gebracht; Wallfische waren in dem Humber gestrandet, und in der Hauptstraße von Cheltenham war ein Froschregen gefallen.

Alle diese Symptome von der Hinfälligkeit und dem Siechthum der Welt, welche an der Seite des bezaubernden Riccabocca einige Zweifel in Betreff ihres Grundes und Ursprungs zugelassen hatten, vereinigten sich nun mit der in erschreckender Weise zunehmenden Bosheit des männlichen Geschlechts und ließen Miß Jemima keinen andern Strahl von Hoffnung übrig, als den, welchen ihr die Betrachtung gewährte, daß sie ohne ein einziges Gefühl des Bedauerns der Auflösung der Materie entgegensehen konnte.

Mrs. Dale theilte übrigens keineswegs die Niedergeschlagenheit ihrer schönen Freundin, und nachdem sie sich Zutritt in Miß Jemima's Gemach verschafft hatte, gelang es endlich, obwohl nicht ohne Schwierigkeit, ihren freundlichen Bemühungen, den sinkenden Muth dieses weiblichen Misanthropen wieder aufzurichten. Auch war die Pfarrfrau in ihrem wohlwollenden Streben, Miß Jemima's Wägelchen in möglicher Schnelligkeit dem Ehestandsziele zuzutreiben, keineswegs so grausam gegen ihren Freund Doctor Riccabocca, als es ihrem Gatten schien. Denn Mrs. Dale, die, wie die meisten Frauen von lebhaftem Temperamente, sehr viel Scharfblick und Schlauheit besaß, wußte recht wohl, daß Miß Jemima zu jenen vortrefflichen jungen Damen gehörte, welche einen Gatten in demselben Verhältniß schätzen, als es sie Mühe gekostet, ihn zu erringen.

In der That müssen meine Leser beiderlei Geschlechts im Laufe ihrer Erfahrungen oft jener eigentümlichen Art weiblicher Charaktere begegnet sein, welche der Wärme des ehelichen Herdes bedürfen, um alle ihre angebornen guten Eigenschaften zu entwickeln; auch verdient eine solche Gemüthsart keinen zu scharfen Tadel, wenn sich dieselbe, dem unschuldigen Hange ihrer Natur folgend, der für ihr Wachsthum und ihre Entwicklung ersprießlichsten Atmosphäre zuwendet und dabei demselben Gesetze folgt, nach welchem die Sonnenblume der Sonne sich zukehrt, und die Weide über das Wasser sich niederbeugt.

Weibliche Wesen von solcher Beschaffenheit verfallen, wenn sie ihre Zärtlichkeit beständig zurückgewiesen sehen, allmälig in eine geistige Entkräftung, oder arten in jene regellosen Ueberspanntheiten aus, welche man unter der allgemeinen Benennung »Widerlichkeit« oder »Eigenheit« zu verstehen pflegt. Sind sie aber einmal auf den ihnen angemessenen Boden verpflanzt, so ist es wunderbar, welch' heilsame Veränderung mit ihnen vorgeht, wie das arme, aus Mangel an Nahrung zuvor verschmachtete und verkümmerte Herz kräftig seine Wurzeln ausbreitet und die schönsten Blüthen und Früchte treibt.

Von so mancher Schönen hielten sich die jungen Herrn ferne, nur weil sie in ihrem Dünkel glaubten, sie dürften blos ein Wort sprechen, um sie zu erlangen; und später, wenn sie sehen, welch' eine treue Gattin und liebevolle Mutter aus ihr geworden ist, staunen sie darüber, wie sie sie ehemals gering schätzen konnten, und seufzen über die Blindheit und Härte des eigenen Herzens.

Aller Wahrscheinlichkeit nach faßte Mrs. Dale die Sache von diesem Gesichtspunkt aus auf, vergaß aber sicherlich neben all' den bisher schlummernden Tugenden, die in Miß Jemima erwachen mußten, wenn sie einmal Mrs. Riccabocca war, den weltlichen Vortheil nicht, welchen eine solche Verbindung dem Verbannten unfehlbar bringen mußte. Eine so achtbare Verwandtschaft mit einer der ältesten, reichsten und beliebtesten Familien der Grafschaft konnte ihrem Freunde eine Stellung verschaffen, die für einen armen Fremdling in England wahrlich nicht zu verachten war; und wenn auch die Interessen von Miß Jemima's Mitgift, nach englischen Pfunden (nicht nach Mailändischen Liren) berechnet, eben keine sehr große Summe ausmachten, so waren sie doch jedenfalls hinreichend, den allmäligen Entkörperungsproceß aufzuhalten, welcher sich in Folge der fortgesetzten Schmerlen- und Stichlingsdiät an der schönen, aber immer schmächtiger werdenden Gestalt des Philosophen bereits deutlich zu erkennen gab.

Wie alle Menschen, welche von der Zweckmäßigkeit einer Sache überzeugt sind, glaubte Mrs. Dale, daß nichts fehle, den Erfolg zu sichern, als günstige Gelegenheit. Und um diese herbeizuführen, ließ sie nicht nur noch häufigere und dringendere Einladungen an Doctor Riccabocca ergehen, des Abends mit ihnen Thee zu trinken, sondern wußte auch den wunden Fleck des Squires, seine Gastfreundschaft betreffend, so schlau zu stacheln, daß der Doctor wenigstens einmal jede Woche allgelegentlich gebeten wurde, das Mittagessen in der Halle einzunehmen und dort zu übernachten.

Anfangs ächzte und seufzte der Italiener, sagte Cospetto, Per Bacco und Diavolo und suchte so vieler dargebotenen Höflichkeit auszuweichen. Aber wie alle unverheirateten Herrn stand er ein wenig unter dem tyrannischen Einflusse seines treuen Dieners, und wenn auch Jackeymo im Nothfall so gut wie sein Herr Hunger ertragen konnte, so hielt er es doch, wenn man ihm die Wahl ließ, lieber mit Rostbraten und Plumpudding. Außerdem hatte Jackeymo die eitle und unvorsichtige Mittheilung des Doctors nicht vergessen, daß ihm eine große Summe zur Verfügung stehe, ohne jegliche schlimmere Zugabe, als eine so liebenswürdige Dame, wie Miß Jemima, die überdies Jackeymo schon manche kleine zarte Aufmerksamkeit erwiesen hatte. Jene Mittheilung hatte die Habgier, welche in der italienischen Natur des Dieners lag, um so mehr gereizt, als er, seit langer Zeit der rechtmäßigen Sorge für seinen eigenen Nutzen sich entschlagend, nur auf den Vortheil seines Herrn bedacht war.

Auf solche Weise vom Feinde versucht und von seinem Diener verrathen, fiel der unglückliche Riccabocca endlich in die gastlichen Schlingen, welche seinem Cölibate gelegt worden. Er machte häufige Besuche im Pfarrhaus und in der Halle, und allmälig begannen die Annehmlichkeiten des geselligen häuslichen Lebens, die er so lange entbehrt hatte, ihren entnervenden Zauber auf den Stoicismus des armen Verbannten auszuüben.

Frank war wieder nach Eton zurückgekehrt, und eine unerwartete Einladung hatte Kapitän Higginbotham nach Bath gerufen, um daselbst einige Wochen mit einem entfernten Verwandten zuzubringen, der erst kürzlich aus Indien zurückgekehrt war. Derselbe hatte sich dort ein großes Vermögen erworben und fühlte sich nun in seinem Vaterlande so fremd und verlassen, daß der Kapitän zu seinem nicht geringen Erstaunen, als er sich ihm als ein Verwandter vorstellte, freundlich als solcher anerkannt wurde.

Außerdem hielt eine sehr verlängerte Parlamentsversammlung die gewöhnlichen Spätsommergäste des Squires in London fest, so daß bei der dadurch entstandenen Lücke in seinem geselligen Kreise Mr. Hazeldean die Abwechslung und Zerstreuung, welche ihm durch den Umgang mit dem Ausländer geboten wurde, mit aufrichtiger Herzlichkeit willkommen hieß.

So wurde denn zu allseitiger Befriedigung der Verkehr zwischen Halle und Casino immer lebhafter und erweckte in den beiden weiblichen Verschworenen immer größere Hoffnungen.

Nichtsdestoweniger entfiel Riccabocca niemals ein Wort, das einem Antrag nur entfernt ähnlich gewesen wäre. Ja, wenn ein solcher Gedanke je in ihm aufstieg, pflegte er denselben so entschieden mit einem »Diavolo« zurückzudrängen, daß vielleicht, wenn auch nicht das Ende der Welt, so doch Miß Jemima's letzte Stunde in derselben hätte kommen können, ohne die zarte Dame anders, denn als Jungfrau zu treffen, wenn nicht eines schönen Morgens ein gewisser Brief mit einem ausländischen Postzeichen für den Doctor eingelaufen wäre.


Achtzehntes Kapitel.

Jackeymo sah, daß etwas Unangenehmes vorgefallen sein mußte, weßhalb er unter dem Vorwande, die Orangenbäume begießen zu müssen, in der Nähe seines Gebieters verweilte und durch das sonnige Land nach Riccabocca's umwölkter Stirne hinschielte.

Der Doctor seufzte tief und vergaß sogar, zu seiner geliebten Trösterin, der Pfeife, seine Zuflucht zu nehmen, wie er sonst nach einem solchen Seufzer zu thun pflegte. Allein obschon der Tabaksbeutel neben ihm auf der Balustrade lag und die Pfeife zwischen seinen Knieen lehnte, einem Kinde gleich ihre Lippen der gewohnten Liebkosung darbietend, achtete er weder des einen, noch der andern, sondern legte den Brief schweigend vor sich hin und blickte traurig zu Boden.

»Das müssen in der That schlimme Nachrichten sein!« dachte Jackeymo, seine Arbeit unterbrechend. Dann näherte er sich seinem Gebieter, nahm Pfeife und Beutel, füllte langsam den Kopf der erstern, indeß er kein Auge von dem finstern, gedankenvollen Antlitz verwandte, dessen tiefe, abwärts laufende Linien, wenn sie nicht von dem Ausdruck geistiger Lebhaftigkeit oder dem lieblichen Lächeln italienischer Höflichkeit belebt waren, deutliche Spuren des Kummers trugen. Jackeymo wagte nicht, zu reden, fühlte sich jedoch durch das anhaltende Schweigen seines Herrn sehr beunruhigt. Er legte den bei den Rauchern gebräuchlichen Zunder auf den Stein und schlug Feuer – noch immer kein Wort, keine Bewegung der Hand, um die Pfeife entgegenzunehmen.

»So habe ich ihn noch nie gesehen,« dachte Jackeymo und brachte vorsichtig den Hals der Pfeife zwischen die erschlafften Finger, welche nachlässig auf den ruhigen Knieen lagen. Allein die Pfeife fiel zu Boden.

Jackeymo bekreuzte sich und begann seinen Schutzpatron mit großer Inbrunst anzurufen.

Der Doctor erhob sich langsam und ging, als ob es ihn große Anstrengung koste, einige Male auf der Terrasse auf und ab; dann blieb er plötzlich stehen und sagte:

»Freund!«

»Gesegnet seist du, Monsignore San Giacomo; ich wußte wohl, daß du mich erhören werdest!« rief der Diener und drückte die Hand seines Gebieters an seine Lippen; dann wandte er sich rasch ab, um sich eine Thräne auf dem Auge zu wischen.

»Freund,« wiederholte Riccabocca, diesmal mit einem zitternden Nachdruck und in dem sanftesten Ton einer Stimme, welche der süßen Musik des Südens nie ganz entbehrte – »ich möchte von meinem Kinde mit dir reden!«


Neunzehntes Kapitel.

» Der Brief bezieht sich also auf die Signorina. Sie ist doch wohl?«

»Ja, sie ist wohl. Sie ist in unserem Heimathland Italien!«

Jackeymo erhob seine Augen unwillkürlich zu den Orangebäumen, deren Blüthenduft ein leiser Morgenwind zu ihm herübertrug.

»Sie sind süß, sogar hier, wenn man sie gehörig pflegt,« sagte er, auf die Bäume deutend. »Ich glaube, ich habe dies früher schon gegen den Padrone bemerkt.«

Riccabocca's Blick haftete bereits wieder auf dem Briefe, und er achtete weder auf die Geberde, noch auf die Bemerkung seines Dieners.

»Meine Tante ist nicht mehr!« sagte er nach einer Pause.

»Wir wollen für ihre Seele beten!« antwortete Jackeymo feierlich. »Doch sie war alt und schon lange Zeit kränklich. Der Padrone muß sich nicht zu sehr darüber grämen; in diesem Alter und bei solchen Gebrechen erscheint der Tod als ein Freund.«

»Friede sei mit ihrer Asche!« versetzte der Italiener. »Wenn sie ihre Fehler hatte, so seien dieselben jetzt auf ewig der Vergessenheit übergeben. Sie hat in der Stunde der Gefahr und Noth mein Kind aufgenommen und beschützt! Dieser Schutz ist nun dahin. Ihr Beichtvater meldet mir ihren Heimgang. Du weißt, daß sie nichts ihr eigen nannte, was sie meinem Kinde hätte vermachen können, und ihr Besitzthum fällt an den männlichen Erben – meinen Feind!«

»Der Verräther!« murmelte Jackeymo, während seine Rechte nach der Waffe zu greifen schien, welche die niederen Klassen in Italien häufig offen im Gürtel zu tragen pflegen.

»Der Priester,« fuhr Riccabocca gelassen fort, »hat sehr recht gethan, mein Kind aus dem Hause zu entfernen, in welches mein Feind als Gebieter einzieht.«

»Wo ist aber jetzt die Signorina?«

»Bei eben jenem armen Priester. Sieh, Giacomo – hier, am Ende des Briefes – dies ist ihre Handschrift! Es sind die ersten Zeilen, die sie je all mich geschrieben!«

Jackeymo nahm den Hut ab und blickte ehrerbietig auf die großen Buchstaben einer Kinderhand. Allein so groß sie auch waren, schienen sie dennoch undeutlich – von den Thränen des Kindes verwischt; und da, wo das Papier nicht von denselben benetzt worden, befand sich ein runder, noch nasser Flecken – eine Zähre aus dem Auge des Vaters war darauf gefallen. »Der Priester empfiehlt ein Kloster,« nahm Riccabocca wieder auf.

»Zum Teufel mit dem Pfaffen!« rief der Diener, bekreuzte sich jedoch rasch und setzte dann hinzu: »Es war nicht so gemeint, Monsignore San Giacomo – vergieb mir! Aber Eure Excellenz Der Titel Excellenz bedeutet in Italien nicht nothwendig einen hohen Rang, sondern wird oft von den Dienern ihren Herrn ertheilt. [ Anm.d.Verf.] denkt doch nicht daran, aus Ihrem einzigen Kinde eine Nonne machen zu wollen?«

»Warum nicht?« versetzte Riccabocca traurig. »Was kann ich ihr in der Welt bieten? Ist das Land des Fremdlings eine bessere Zufluchtsstätte, als die Heimath des Friedens in ihrem Vaterlande?«

»Das Herz ihres Vaters schlägt in dem Lande des Fremdlings!«

»Und wenn dieses zu schlagen aufhörte – was dann? Das Leben ist übel daran, dem ein einziger Todesfall alles rauben kann. In einem Kloster ist sie wenigstens bis zum Grabe vor Versuchung und Mangel geschützt.«

»Mangel! Bedenken Sie doch, wie reich wir sein werden, wenn wir an Michaelis diese Felder bekommen.«

» Pazzie!« (Unsinn) erwiderte Riccabocca mißmuthig. »Ist die Sonne hier heiterer oder der Boden ergiebiger als bei uns? und doch sagt in unserer Heimath das Sprüchwort: ›Wer das Land besäet, erntet mehr Sorge als Korn.‹ Es wäre etwas Anderes,« fuhr der Vater nach einer Pause in nachlässigerem Tone fort, »wenn ich wenigstens auf ein kleines, unabhängiges Vermögen rechnen könnte, und wenn unter der ganzen Schaar meiner feinen Verwandten nur ein einziges weibliches Wesen wäre, das Violante an den Heerd des Verbannten begleiten möchte! Ismael hatte seine Hagar. Aber wie können wir zwei rauhbärtige Männer für all' die unnennbaren Bedürfnisse eines schwachen Kindes Sorge tragen? Zudem ist sie so zart erzogen – das junge Mädchen bedarf der pflegenden Hand und des liebenden Auges einer Frau.«

»Der Padrone,« versetzte Jackeymo mit Entschlossenheit, »hat es in seiner Hand, seinem Kinde alles zu verschaffen, was er braucht, um es vor dem Grabe eines Klosters zu bewahren; und noch ehe das Herbstlaub fällt, könnte er es auf seinen Knieen wiegen. Padrone, glauben Sie nicht, daß Sie mir die Wahrheit verbergen können – ich weiß, daß Ihr Kind Ihnen über alles in der Welt geht – jetzt, da die Patria so todt für Sie ist, wie die Asche Ihrer Väter. Gewiß, Ihr Herz würde brechen, wollten Sie sich von dem Kinde losreißen, um es in ein Kloster zu begraben. Padrone, nie wieder ihre Stimme hören – ihr Angesicht nie mehr sehen! Nie mehr den Druck der kleinen Arme fühlen, die sich in jener dunkeln Nacht so fest um Ihren Hals schlangen, als wir fliehen mußten, um Leben und Freiheit zu retten! Damals sagten Sie zu mir, als Sie das Kind an Ihr Herz drückten: ›Freund, noch ist nicht alles verloren!‹«

»Giacomo!« rief Riccabocca vorwurfsvoll aus, und seine Stimme schien ihm zu versagen. Dann wandte er sich ab und ging mit langen, unregelmäßigen Schritten auf der Terrasse hin und her, bis er endlich mit wilder Geberde seine Arme erhob und vor sich hin murmelte: »Ja, der Himmel ist mein Zeuge, daß ich Unglück und Verbannung ohne Murren ertragen haben würde, hätte ich mir den Trost gegönnt, mein Kind an meinen Leiden Theil nehmen zu lassen. Der Himmel ist mein Zeuge, daß, wenn ich auch jetzt noch zögere, es nur geschieht, weil ich meinem selbstsüchtigen Herzen nicht folgen will! Und doch – sie nie, nie wieder zu sehen! meine Tochter, die ich nur als ein kleines, schwaches Kind gekannt habe! O Freund – Freund –« Riccabocca ließ sein Haupt in einem Ausbruch nicht zu bewältigenden Schmerzes auf die Schulter seines Dieners sinken. »Du weißt, was ich in meinem Vaterlande, an meinem Heerde geduldet und gelitten habe; das Unrecht, die Treulosigkeit, die die –«

Abermals versagte ihm die Stimme und seine ganze Gestalt zitterte, während er sich an seines Dieners Brust anklammerte.

»Aber Ihr unschuldiges Kind! Denken Sie jetzt nur an dieses!« stotterte Giacomo, der selbst sein Schluchzen kaum zu unterdrücken vermochte.

»Du hast Recht, nur an sie!« versetzte der Verbannte, sein Antlitz wieder erhebend – »nur an sie! Setze alle Rücksicht auf mich bei Seite, Freund, und rathe mir! Wenn ich Violante kommen ließe und sie in diesem rauhen Klima dahinwelkte und stürbe – der Priester schreibt, sie bedürfe sehr sorgsamer Pflege! Oder wenn ich selbst von dieser Welt abgerufen würde und sie hier allein, freundlos, heimathlos, vielleicht brodlos zurücklassen müßte in einem Alter, in welchem ihr Geschlecht den meisten Versuchungen ausgesetzt ist – würde sie da nicht ihr ganzes Leben lang den traurigen Egoismus beklagen, der ihrer kindlichen Unschuld die Pforten des Gotteshauses verschloß?«

Giacomo erschrak als er diese Sprache vernahm, denn noch niemals hatte sein Gebieter mit solcher Ehrfurcht von dem Kloster geredet. In den Stunden philosophischer Muße pflegte er über Mönche und Nonnen, über Pfaffenthum und Aberglauben zu spotten. Aber jetzt, in diesem Augenblick tiefer Erregung, machte die alte Religion ihre Rechte geltend, und der skeptische, weltkluge Mann sprach und fühlte bei dem Gedanken an sein Kind mit der gläubigen Einfalt eines Kindes.


Zwanzigstes Kapitel.

» Ich muß noch einmal darauf zurückkommen,« murmelte Jackeymo kaum hörbar nach einer langen Pause, »wenn der Padrone sich entschließen könnte – zu heirathen!«

Er hatte erwartet, sein Gebieter werde bei dieser Zumuthung mit gewohnter Entrüstung auffahren – ja es wäre dem treuen Diener sogar nicht unlieb gewesen, auf diese Weise den Gefühlen seines Herrn eine andere Richtung zu geben; allein der arme Italiener krümmte sich nur ein wenig, entwand sich sanft dem stützenden Arme seines Dieners und begann auf's Neue, doch diesmal mit ruhigen, gelassenen Schritten, die Terrasse zu messen. So verging wohl eine Viertelstunde.

»Gib mir die Pfeife,« sagte der Doctor endlich und trat in das Belvedere.

Jackeymo schlug abermals Feuer, und wunderbar getröstet, als er seinen Herrn zu seinem gewöhnlichen Berather zurückkehren sah, flehte er im Stillen zu seinem Schutzheiligen, er möchte den wohlthätigen Einflüssen des Krautes eine doppelte Portion beruhigender Weisheit verleihen.


Einundzwanzigstes Kapitel.

Doctor Riccabocca hatte sich einige Zeit im Belvedere aufgehalten, als Lenny Fairfield, der nichts von der Anwesenheit seines Herrn wußte, eintrat, um ein Buch, welches ihm der Doctor geborgt hatte, wieder an der bezeichneten Stelle niederzulegen. Riccabocca blickte auf, als er den Tritt des Bauernknaben vernahm.

»Ich bitte Euer Gnaden um Verzeihung – ich wußte nicht –«

»Hat nichts zu sagen. Lege das Buch nur dorthin. Ich habe mit dir zu sprechen. Du siehst gut aus, mein Kind; die Luft hier bekommt dir wohl ebenso gut wie die von Hazeldean?«

»O ja, Sir!«

»Der Platz liegt jedoch höher und ist dem Winde mehr ausgesetzt.«

»Das ist kaum möglich, Sir,« erwiderte Lenny, »denn es blühen hier viele Pflanzen, welche auf dem Gute des Squire's nicht fortkommen. Jener Hügel dort hält den Ostwind ab, und der Platz hat einen südlichen Stand.«

»Eine südliche Lage, nicht Stand, Lenny. Von welchen Beschwerden hört man hauptsächlich in dieser Gegend?«

»Wie meinen Sie?«

»Ich wollte sagen, welche Unpäßlichkeiten oder Krankheiten kommen hier am häufigsten vor?«

»Ich habe nie von etwas Anderem gehört als von Rheumatismus.«

»Keine Nervenfieber? Keine Auszehrung Der damals populäre Name für Tuberkolose.

»Ich habe nie davon gehört.«

Riccabocca holte tief Athem, als sei ihm eine Last vom Herzen genommen.

»Die Familie in der Halle scheint sehr gütig zu sein.«

»Ich will nichts gegen sie sagen,« versetzte Lenny finster. »Man ist ungerecht gegen mich gewesen. Aber wie es in diesem Buche heißt, – ›Nicht Jeder kommt mit einem silbernen Löffel im Munde zur Welt.‹« Die Redewendung »It is not every one who comes into the world with a silver spoon in his mouth« kommt variiert in der damaligen Literatur immer wieder vor.

Der Doctor ahnte nicht, daß seine weisen Sprüche bittere Betrachtungen zur Folge haben könnten. Und er war im gegenwärtigen Augenblick zu sehr mit dem beschäftigt, was ihm selbst vor allem am Herzen lag, um auf das zu achten, was in Lenny's Innerem vorging.

»Ja, eine sehr freundliche Familie, in welcher ächt englische Häuslichkeit herrscht. Hast du Miß Hazeldean oft gesehen?«

»Nicht so oft wie die gnädige Frau!«

»Glaubst du, daß sie im Dorfe beliebt ist?«

»Miß Jemima? Ja wohl! Sie hat nie Jemand etwas zu Leide gethan. Und als ihr Hündchen mich einmal gebissen, verlangte sie nicht von mir, ich solle es um Verzeihung bitten, sondern sie bat mich um die meinige! Sie ist eine sehr artige junge Dame und auch recht leutselig, wie die Mädchen sagen; und,« setzte Lenny lächelnd hinzu, »wenn sie in der Halle ist, gibt es immer mehr Hochzeiten als zu andern Zeiten.«

»So!« sagte Riccabocca und fuhr nach einem langen Zug aus seiner Pfeife in seinem Verhöre weiter fort: »Hast du sie zuweilen mit kleinen Kindern spielen sehen? Glaubst du, daß sie die Kinder lieb hat?«

»Ei, Sir, Sie errathen doch Alles! Nichts macht ihr mehr Freude, als wenn sie sich mit kleinen Kindern abgeben kann.«

»Herr!« brummte Riccabocca. »Mit kleinen Kindern – nun ja, das ist ächt weiblich. Ich meine aber nicht gerade Wickelkinder, sondern etwas größere – kleine Mädchen zum Beispiel.«

»O ja, Sir, ich glaube wohl,« sagte Lenny etwas geziert; »aber ich habe mich bis jetzt nicht mit kleinen Mädchen abgegeben.«

»Ganz recht, Lenny; bleibe nur immer so klug. Mrs. Dale ist sehr vertraut mit Miß Hazeldean – mehr als mit der Frau des Squire's. Woher meinst du, daß dies wohl kommen mag?«

»Nun, Sir,« versetzte Lenny schlau, »Mrs. Dale hat ihre kleinen Launen, obgleich sie eine sehr gute Dame ist, und Mrs. Hazeldean ist etwas stolz und hochfahrend. Miß Jemima hingegen ist so sanft, daß Jedermann mit ihr auskommen kann, wie Joe und die ganze Dienerschaft in der Halle versichert.«

»Wirklich! Hole mir doch meinen Hut aus dem Wohnzimmer und bringe mir auch eine Kleiderbürste, Lenny. Es ist ein schöner, sonniger Tag zum Spazierengehen.«

Nach dieser höchst ungalanten und unehrenhaften Erkundigung über Miß Hazeldean's Charakter und Ruf schien Signor Riccabocca in so heiterer und gehobener Stimmung, als ob er die edelste That von der Welt vollbracht hätte, und er schlug den Weg nach der Halle mit viel leichteren und lebhafteren Schritten ein als diejenigen gewesen, mit welchen er vorhin die Terrasse gemessen hatte.

»Monsignore San Giacomo, durch deine und der Pfeife Hülfe wird der Padrone wieder mit seinem Kinde vereinigt werden!« murmelte der Diener, als er seinem Herrn vom Garten aus nachschaute.


Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Doctor Riccabocca übereilte sich jedoch nicht. Wer sein Hochzeitkleid passend haben will, muß dem Schneider Zeit lassen, genau das Maß zu nehmen. Allein von jenem Tage an trat in dem Benehmen des Italieners gegen Miß Hazeldean eine auffallende Veränderung ein. Er unterließ hinfort jenen Schwall von Komplimenten, unter welchen er bisher mit Sicherheit jede ernstliche Absicht versteckt hatte; denn ihm schienen Komplimente eines unverheiratheten Herrn keine andere Bedeutung und keinen andern Zweck zu haben als jene schwarze Flüssigkeit, womit der Dintenfisch das Wasser trübt, um ungesehen seinem Feinde zu entkommen. Auch vermied er nicht mehr, wie früher, jede längere Unterredung mit der jungen Dame, noch suchte er jeder Gelegenheit auszuweichen, die ihn auf Spaziergängen mit ihr zusammen führen konnte. Im Gegentheil suchte er jetzt ihre Gesellschaft so viel als möglich, und anstatt der Sprache der Galanterie nahm er nunmehr den ernsten Ton der Freundschaft an. Sein Geist ließ sich herab, den ihrigen zu erforschen und zu prüfen. Der Leser wolle verzeihen, wenn ich mich eines ziemlich trivialen Bildes bediene; er blies den Schaum weg, welcher sich auf der Oberfläche jeder bloßen Bekanntschaft, zumal mit dem andern Geschlecht, bildet und, so lange er vorhanden ist, kaum gestattet, Dünnbier von Doppelbier zu unterscheiden.

Doctor Riccabocca war augenscheinlich mit dem Resultat seiner Untersuchung zufrieden – jedenfalls zeigte sich unter diesem Schaume kein bitterer Geschmack. Was die kleinen Launen und Schwächen betraf, die (wie der Italiener wohl einsah) selbst bei ihrem Fortbestand harmlos genug gewesen wären, so konnte ihre Beseitigung einer liebevollen Hand wahrscheinlich sehr leicht gelingen, und im Uebrigen besaß Miß Jemima zwar vielleicht keinen hervorragenden Verstand, jedenfalls aber genug, um die einfachen Pflichten des ehelichen Lebens zu begreifen, der Grundsätze einer guten englischen Familienerziehung und des Instinktes eines liebend würdigen und liebevollen Gemüthes gar nicht zu gedenken, welches hinreichenden Ersatz für jeden Mangel an hohen Geistes- und Verstandeskräften zu bieten vermocht haben würde.

Ich weiß nicht, wie es kommt, allein sehr gescheidten Männern scheint weit weniger an großem Verstand bei ihren Lebensgefährtinnen zu liegen, als den weniger begabten Sterblichen. Gelehrte, Dichter und Staatsmänner findet man weit öfter als nicht Diesen Anglizismus (often than not) hat Winterfeld von seiner offensichtlichen Vorlage, der Übersetzung Carl Kolbs, übernommen. Die richtige Übersetzung müsste an dieser Stelle lauten: »findet man ziemlich oft …«., mit sehr gewöhnlichen, hausbackenen Frauen verbunden, die sie um ihrer Mängel willen nur um so mehr zu lieben scheinen. Wie glücklich lebte nicht Racine mit seiner Frau; welchen Engel glaubte er in ihr zu besitzen, und doch hatte sie nie eines seiner Trauerspiele gelesen. Sicher behelligte Göthe die Dame, welche ihn »Herr geheimer Rath« anredete, weder mit Grillen über »Monaden« noch mit Spekulationen über die »Farben,«‹noch auch mit jenen steifen, metaphysischen Problemen, über welchen man im zweiten Theile des Faust die Beine bricht. Wohl möglich, daß solche große Geister, wenn sie bedenken, welch' geringer Unterschied – im Vergleich mit ihnen selbst – zwischen der geistreichsten und der hausbackensten Frau besteht, alle kleineren Verschiedenheiten übersehen, jeden Versuch, Theilnahme an ihren hohen geistigen Bestrebungen zu finden, als erfolglos ausgeben und sich mit demjenigen Bande begnügen, das doch zuletzt am besten aushält – ich meine das feste, häusliche Band, welches ein Menschenherz mit dem andern verknüpft.

Jedenfalls vermuthe ich, daß Doctor Riccabocca zu diesem Vernunftschluß gekommen war, als er eines Morgens nach einem langen Spaziergang mit Miß Hazeldean vor sich hin murmelte:

              » Duro con duro
Non face mal buon muro

was sich ungefähr mit den Worten umschreiben läßt: »Ziegel ohne Mörtel geben eine sehr schlechte Mauer.« Es lag vollkommen genug in Miß Jemima's Gemüthsart, um dieselbe zu einem vortrefflichen Mörtel zu machen, und für die Ziegel wollte der Doctor schon selbst sorgen.

Nachdem unser Philosoph mit seiner Prüfung zum Schlusse gekommen, legte er das Resultat, zu dem er gelangt war, durch eine sehr einfache symbolische Handlung an den Tag – eine Handlung jedoch, welche dich, mein lieber Leser, sicherlich verwirrt hätte, bis dir nach reiflicher Erwägung die volle Bedeutung derselben klar geworden wäre. Doctor Riccabocca nahm seine Brille ab! Er putzte sie sorgfältig, steckte sie in das Lederfutteral, verschloß dasselbe in seinem Schreibtisch und – gab das Brillentragen auf!

Man wird einsehen, welch' wundervolle Tiefe in der Bedeutung dieses kritischen Symptoms lag, mag man es nun als ein äußerliches, positives und bestimmtes oder als ein metaphysisches, mystisches und esoterisches Zeichen betrachten. In letzterer Hinsicht deutete es an, daß die Aufgabe der Brille erfüllt sei – daß, wenn ein Philosoph sich zum Heirathen entschließt, er besser daran thue, hinfort kurzsichtig, ja sogar etwas blind zu sein, als beständig das häusliche Glück, dem er sich hinzugeben beabsichtigt, durch ein paar kalter, täuschungsloser Brillengläser zu zergliedern, und was die Dinge außerhalb des Herdes betrifft, so steht er ja im Begriff, wenn er selbst auch nicht ohne Brille sehen kann, für sein eigenes, schwaches Gesicht ein Paar gute, scharfe Augen als Verbündete zu gewinnen, die, wo es sich um seine Interessen handelt, so wachsam sind, als er selbst es nur immer sein könnte. Andrerseits, als äußerliches, positives und bestimmtes Zeichen betrachtet, deutete Doctor Riccabocca durch das Ablegen der Brille an, daß er nun auf dem Punkte stehe, seine Bewerbung zu beginnen, und daß es ihm dabei, wie jedem Manne, und wäre er noch so sehr Philosoph, darum zu thun sei, so jung und hübsch auszusehen, als Alter und Natur es gestatteten.

Vergeblich bemüht man sich, der sanften Sprache der Augen durch das Medium dieser gläsernen Dolmetscher Nachdruck zu geben. So erinnere ich mich noch ganz wohl, wie ich bei einem Besuch in Adelaide in großer Gefahr stand, mich zu verlieben – und noch dazu in eine junge Dame, welche über ein sehr schönes Vermögen zu verfügen hatte; allein plötzlich zog sie aus ihrem Strickbeutel eine sehr niedliche gefaßte Brille von Nr. 4 hervor, heftete deren Gorgonenblick auf mich und verwandelte den erstaunten Cupido in Stein!

Ich halte es für einen großen Beweis von Riccabocca's Klugheit und Menschenkenntniß, daß er sich nicht über die Berücksichtigung dessen erhaben däuchte, was unsere Pseudoweisen als alberne und lächerliche Kleinigkeit betrachten würden. Jedenfalls war es eine günstige Vorbedeutung für jenes Glück, das unseres Daseins Zweck und Ziel ist, daß er, als er sich herabließ, den Liebhaber zu spielen, die unziemlichen Versteinerer unter Schloß und Riegel brachte.

Und gewiß konnte nun, nachdem er die Brille abgelegt hatte, Niemand mehr läugnen, daß der Italiener auffallend schöne Augen besaß. Sogar durch die Gläser, oder wenn er ein wenig über dieselben hinwegschaute, waren sie immer glänzend und ausdrucksvoll; aber ohne diese Gehülfen schien ihr Glanz sanfter und weicher – velouté, sammetartig, wie die Franzosen sagen – und Doctor Riccabocca sah in der That um zehn Jahre jünger aus als zuvor.

Wenn unser also verjüngter Ulysses nicht fest entschlossen ist, Miß Jemima zu seiner Penelope zu machen, so kann ich nur sagen, daß er schlimmer ist als Polyphemus, der nur ein Anthropophag war. Er wählt das schwächere Geschlecht zu seiner Beute und ist ein Gynophag Auf seinen Irrfahrten hat Odysseus eines seiner Abenteuer mit dem einäugigen Zyklopen Polyphem, der ein Menschenfresser ist (Anthropophag; Gynophag: Frauenfresser). Penelope ist Odysseus' Gattin. – Im Original steht statt »Gynophag« fälschlich Gynopophag..


Dreiundzwanzigstes Kapitel.

» Und Sie geben mir also den Auftrag, mit unserer lieben Jemima zu sprechen?« sagte Mrs. Dale freudig.

Doctor Riccabocca. – »Nicht doch; ehe wir uns an Miß Hazeldean wenden, möchte es angemessen sein, sich zu erkundigen, in wie weit die Familie mit meiner Bewerbung einverstanden sein dürfte.«

Mrs. Dale. – »Ah!«

Doctor Riccabocca. – »Der Squire ist natürlich das Haupt der Familie.«

Mrs. Dale (zerstreut). – »Der Squire – ja freilich – ganz richtig.« (Dann aufschauend und mit Naivetät) – »Können Sie wohl glauben, daß ich an den Squire noch gar nicht gedacht habe? Er ist ein sehr eigener Mann und hat so viele englische Vorurtheile, daß ich in der That – nein, wie ärgerlich, daß es mir nie einfiel, Mr. Hazeldean habe auch ein Wort in der Sache zu sprechen! Allerdings ist die Verwandtschaft sehr entfernt – es ist nicht, wie wenn er ihr Vater wäre; und Jemima ist mündig und kann thun, was ihr beliebt; und – doch, wie Sie sagen, es ist ganz in der Ordnung, daß er, als das Haupt der Familie, befragt werde.«

Doctor Riccabocca. – »Und Sie glauben, der Squire könnte meinen Antrag verwerfen? das heißt, ich meine, er könnte ganz vernünftige Einwendungen gegen die Heirath seiner Cousine mit einem Ausländer erheben, von dem er nichts weiß, als daß ein Makel auf ihm haftet, der in keinem Lande empfiehlt, in England aber für ein wirkliches Verbrechen gilt – die Armuth.«

Mrs. Dale (freundlich). – »Sie beurtheilen uns arme Engländer falsch und thun dem Squire, den der Himmel segnen möge, großes Unrecht; denn wir waren gewiß arm genug, als er unter hundert andern Geistlichen meinen Gatten erwählte und ihn zum Pfarrer seines Kirchspiels, zu seinem Nachbar und Freund machte! Ich will ohne Scheu mit ihm reden –«

Doctor Riccabocca. – »Und mit vollkommener Offenheit! Und deßhalb lassen Sie mich nun in meinem Bekenntnisse fortfahren, das Ihre freundliche Bereitwilligkeit ein wenig unterbrochen hat. Ich sagte vorhin, meine schöne Freundin, daß, wenn ich mich erkühnen dürfte, zu glauben, meine Bewerbung könne bei Miß Hazeldean und ihrer Familie günstige Aufnahme finden, ich zu sehr die liebenswürdigen Eigenschaften der Ersteren erkenne, um nicht – um nicht –«

Mrs. Dale (mit Schalkhaftigkeit). – »Um nicht der glücklichste Sterbliche zu sein – so lautet bei uns die gewöhnliche Phrase, Doctor.«

Riccabocca (galant). – »Es könnte keine bessere geben. Aber,« fuhr er ernsthaft fort, »ich muß jedenfalls vorher bemerken, daß ich schon einmal verheirathet war.«

Mrs. Dale (erstaunt). – »Schon einmal verheiratet?«

Riccabocca. – »Und daß ich ein Kind habe – ein einziges Kind, welches mir unaussprechlich theuer ist. Dieses Kind, eine Tochter, hat bisher in der Ferne gelebt; allein die Umstände machen es wünschenswerth, daß sie fortan bei mir ihre Heimath habe. Und ich gestehe aufrichtig, nichts hat mir eine solche Zuneigung für Miß Hazeldean eingeflößt und eine Verbindung mit ihr so wünschenswerth erscheinen lassen, als die Ueberzeugung, ihr gutes Herz und sanftes Gemüth werde sie zu einer liebevollen Mutter für meine Kleine machen.«

Mrs. Dale (mit Gefühl und Wärme). – »Sie beurtheilen Jemima in der That ganz richtig.«

Riccabocca. – »Was nun die pecuniären Angelegenheiten betrifft, so habe ich, wie Sie schon aus meiner Lebensweise entnehmen können, Miß Hazeldean nichts zu bieten, das ihrem Vermögen, wie groß oder klein es auch sein mag, entspräche.«

Mrs. Dale. – »Diese Schwierigkeit läßt sich leicht dadurch beseitigen, daß das Vermögen ihr zugeschrieben bleibt, wie dies in solchen Fällen gebräuchlich ist.«

Doctor Riccabocca's Gesicht verlängerte sich. »Und mein Kind?« sagte er mit Gefühl. Es lag etwas in diesem Ausruf, das jeder niedrigen und blos selbstsüchtigen Absicht so fremd war, daß Mrs. Dale nicht das Herz gehabt hätte, die höchst natürliche und vernunftgemäße Einwendung zu machen, es sei ja nicht Jemima's Kind und diese könne wohl eigene Kinder bekommen.

Mrs. Dale war gerührt und erwiderte zögernd: »Aber von dem, was Sie und Jemima gemeinschaftlich besitzen, können Sie ja jährlich etwas ersparen – auch können Sie zu Gunsten der Kleinen Ihr Leben versichern. Wir thaten dies, als unser Kind, das wir verloren haben, geboren wurde,« (Mrs. Dale's Augen füllten sich mit Thränen) »und ich fürchte, Charles bezahlt noch immer um meinetwillen in die Versicherungsbank, obgleich der Himmel weiß, daß – daß –«

Sie brach nun förmlich in Thränen aus. Das kleine Herz, so Ungestüm und heftig es auch bisweilen war, hatte keine Faser von dem elastischen Muskelgewebe, womit die gütige Vorsehung die Herzen der prädestinirten Wittwen begabt. Doctor Riccabocca konnte das Thema der Lebensversicherten nicht weiter verfolgen. Aber der Gedanke, der dem Fremden zuvor nie in den Sinn gekommen war, während er dem Engländer, der außer seinem jährlichen Einkommen keine Mittel besitzt, geläufig genug ist, gefiel ihm ungemein. Ja, ich muß ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, zu sagen, daß er viel mehr nach seinem Sinne war, als derjenige, sich oder seinem Kinde einen Theil von Miß Hazeldean's Vermögen zuzueignen.

Bald darauf verabschiedete sich Riccabocca, und Mrs. Dale säumte nicht, ihren Gatten in seinem Studirzimmer aufzusuchen, um ihm den Erfolg ihres Heirathsplanes mitzutheilen und ihn über die Wahrscheinlichkeit der Zustimmung des Squire's zu befragen.

»Dem Squire wäre es vielleicht schon recht,« sagte sie zögernd, »Jemima mit einem Engländer verheirathet zu sehen, aber wenn er mich fragt, wer und was dieser Doctor Riccabocca ist, was soll ich ihm antworten?«

»Das hättest du vorher bedenken sollen,« versetzte Mr. Dale mit ungewohnter Schärfe; »und wenn ich je gedacht hätte, es könne bei einem Plane, der mir so ungereimt erschien, etwas Ernstes herauskommen, so würde ich dich schon längst gebeten haben, dich nicht in solche Angelegenheiten zu mischen. Gütiger Himmel!« fuhr der Pfarrer fort, indem er die Farbe wechselte, »wenn wir gleichsam heimlich mitgeholfen hätten, in die Familie eines Mannes, dem wir so viel verdanken, Jemand einzuschmuggeln, der ihm unangenehm wäre! Wie undankbar, wie schlecht wäre dies von uns!«

Die arme Mrs. Dale erschrak nicht wenig über diese Sprache, und noch mehr über die Bestürzung und Unzufriedenheit ihres Eheherrn. Denn zu ihrem Lobe müssen wir sagen, daß, sobald ihr sanfter Gatte wirklich bekümmert oder gekränkt war, alle ihre kleinen Launen verschwanden und sie so sanft wurde wie ein Lamm. Sobald sie sich jedoch von ihrer ersten Bestürzung erholt hatte, beeilte sie sich, die Befürchtungen des Pfarrers zu zerstreuen, indem sie ihn versicherte, der Italiener würde, wenn der Squire diese Verbindung je mißbilligen sollte, von seiner Bewerbung sogleich abstehen und Miß Jemima gar nichts von seinem beabsichtigten Antrage erfahren. Es wäre daher im schlimmsten Falle noch kein Unheil angerichtet.

Diese Versicherung, welche mit des Pfarrers Ueberzeugung von der strengen Ehrenhaftigkeit des Doctors im Einklang stand, trug viel dazu bei, den guten Mann zu beruhigen. Und wenn er sich nicht, wie meine schönen Leserinnen vielleicht von ihm erwartet hätten, der Besorgniß hingab, Miß Jemima's Neigung könnte unwiderruflich gefesselt sein und durch eine abschlägige Antwort ihr ganzes Lebensglück vernichtet werden, so rührte dies nicht von einem theilnahmlosen kalten Herzen, sondern von seiner unzureichenden Kenntniß des weiblichen Charakters her, in Folge deren er Miß Jemima, freilich sehr irrtümlicher Weise, nicht für eines jener Wesen hielt, auf welches eine derartige zerstörte Hoffnung einen bleibenden Eindruck machen würde. Nach einer Pause des Nachdenkens sagte er daher freundlich:

»Nun, mache dir weiter keine Sorgen – ich verdiene im Grunde ebenso viel Tadel wie du. Aber wahrlich, eher hätte ich gedacht, der Squire werde eine seiner hohen Cedern in seinen Küchengarten verpflanzen, als daß es dir gelingen würde, Doctor Riccabocca in Ehestandspläne zu verstricken. Freilich jedoch ist ein Mann, der sich zu seinem Vergnügen in den Gemeindestock sperren kann, zu allem fähig! Doch halte ich es für besser, ich rede selbst, anstatt deiner, mit dem Squire, und ich will mich daher unverzüglich auf den Weg machen.«


Vierundzwanzigstes Kapitel.

Der Geistliche setzte seinen dreieckigen Hut auf, welcher – in Verbindung mit andern besonders clericalen Anzugsartikeln, die schon damals bei den Dienern der Kirche aus der Mode zu kommen anfingen – vorzugsweise dazu beigetragen hatte, ihm den würdevollen, aber veralteten Titel und die Benennung »Pfarrer« zu verleihen, und schlug die Richtung nach den Wirthschaftsgebäuden ein, wo er den Squire sicher zu finden hoffte. Allein kaum hatte er den Dorfrasen erreicht, als er auch schon Mr. Hazeldean erblickte, welcher, beide Hände auf sein Rohr gestützt, in das Anschauen des Gemeindestocks versunken schien.

Nun muß ich leider bekennen, daß seit der Hegyra Die Hidschra bzw. Hedschra bezeichnet den Auszug Mohammeds von Mekka nach Medina (622) und markiert den Beginn der islamischen Zeitrechnung. Lenny's und seiner Mutter der stockfeindliche und revolutionäre Geist, welchen die denkwürdige Rede unseres Pfarrers auf einige Zeit beschwichtigt hatte, auf's Neue wieder in Hazeldean ausgebrochen war. Denn obgleich man Lenny, so lange man ihn noch verspotten und verhöhnen konnte, durchaus kein Mitleid zollte, so war er doch kaum von dem Schauplatz seiner Leiden abgetreten, als mit einem Male die allgemeine Teilnahme wegen der barbarischen Behandlung, die ihm widerfahren, eine »Reaction der öffentlichen Meinung« hervorbrachte. Zwar bereuten die Spötter ihre schlechten Witze nicht im mindesten und dachten auch nicht entfernt daran, sich selbst die Schuld seiner Auswanderung beizumessen. Nein, sie sowohl als die übrigen Dorfbewohner, schoben alle Schuld auf den Stock. Man konnte nicht erwarten, daß ein Knabe von so musterhafter Aufführung sich in diesen Ort der Schande werde stecken lassen, ohne die Schmach tief zu empfinden. Und wer im Dorfe konnte noch sicher sein, wenn solche Dinge stillschweigend und auf Kosten des besten und ruhigsten Knaben, den je das Dorf besessen, geduldet wurden?

So geschah es denn, daß wenige Tage nach dem Abzug der Wittwe der Stock abermals der Gegenstand einer mitternächtlichen Entweihung wurde. Man hatte ihn mit Koth besudelt und zerkratzt, mit Aexten und Beilen bearbeitet und überall Bemerkungen angeschrieben, welche theils Mitleid mit Lenny, theils lakonische Verwünschungen über die Tyrannen ausdrückten. Mit jeder Nacht erschienen neue Inschriften, die den sarkastischen Witz und die feindselige Gesinnung des Kirchspiels bekundeten. Und höchst wahrscheinlich blieb der Stock vor der gänzlichen Zerstörung durch Axt oder Feuer nur deßhalb bewahrt, weil er der Bosheit der Mißvergnügten eine so gute Gelegenheit darbot, ihren Haß daran auszulassen: er wurde der Pasquin Schmähschrift. von Hazeldean.

Da Mißliebigkeit naturgemäß eine entsprechende Strenge von Seiten der Obrigkeit hervorruft, so war auch zu Hazeldean in letzter Zeit die Polizei weit schärfer gehandhabt worden, als dies sonst unter dem sanften Regiment des Squire's und seiner Vorfahren üblich gewesen. Mr. Stirn hatte ein wachsames Auge auf verdächtige Leute, über welche er alsdann nicht verfehlte, seinem Herrn zu berichten, und dieser, entweder zu stolz oder zu sehr gekränkt, um ihnen offen ihren Undank vorzuhalten, begnügte sich anfangs, auf seinen Spaziergängen mit einem stummen, kalten Kopfnicken an ihnen vorbeizugehen. Allmälig aber brachten es des Rentmeisters Auch hier ist Winterfeld nicht dem Original – dort heißt es »Stirn« – gefolgt, sondern Carl Kolb, der an dieser Stelle »des Vogts« schreibt, was Winterfeld zu »Rentmeister« überträgt. Dieser ist jedoch nicht identisch mit Stirn. giftige Einflüsterungen dahin, daß der Squire zu brummen anfing, »er sehe nicht ein, warum er sich immer bemühen solle, Leuten Dienste und Wohlthaten zu erweisen, die ihn mit so schnödem Undank lohnten. Man müsse einen Unterschied machen zwischen Guten und Bösen.«

Durch dieses Zugeständniß ermuthigt, verfuhr Stirn gegen die Verdächtigen und ihre ganze Sippschaft mit der ehernen Faust der Gerechtigkeit, die seinem Charakter eigentümlich war. Den Einen wurden die gewohnten Spenden all Milch und Gemüse aus der Milcherei und dem Küchengarten auf rauhe Weise entzogen; Andern wurde vorgehalten, daß ihre Schweine sich beständig, trotz des Verbotes, in die Wälder verliefen, um Eicheln zu suchen, oder daß sie durch das Halten von Dachshunden die Jagdgesetze übertraten. Einem viel besuchten Bierhause in der Nachbarschaft, das neuerdings der Versammlungsort der Mißvergnügten geworden war (kein Wunder, da sie die Mehrzahl bildeten), wurde gedroht, daß man den Magistrat um Entziehung der Wirthschaftsgerechtigkeit angehen wolle. Einigen alten Weibern, deren Enkel im Rufe standen, eifrige Gegner des Stockes zu sein, wurde unter dem Vorwande, daß sie grüne Zweige von den Bäumen rissen, verboten, in den Alleen dürres Reis zu sammeln.

Was jedoch die jüngern Gemeindeglieder mehr als alle andern Vergeltungsmaßregeln ärgerte, war, daß drei Kastanien, ein Nuß- und zwei Kirschbäume, welche am Ende des Parkes standen und seit undenklichen Zeiten von der Hazeldeaner Jugend geleert werden durften, fortan feierlich als »Privateigenthum« unter den Schutz des Gesetzes gestellt wurden, indem der Ausrufer verkündigte, daß in Zukunft jede Plünderung der Obstbäume in Copse Hollow mit der äußersten Strenge des Gesetzes bestraft werden solle.

Freilich hatte Stirn noch weit strengere Maßregeln anempfohlen als die vorerwähnten, um, wie er sagte, das Kirchspiel zur Besinnung zu bringen. So trug er z. B. darauf an, die vielen kleinen, nutzlosen Arbeiten einstellen zu lassen, welche so viele müssige Hände des Dorfes beschäftigten. Da jedoch dies in den Bereich und unter den mildern Einfluß seiner Harry fiel, so zeigte sich der Squire zu einem Eingehen auf derartige Ansinnen nicht hinreichend verhärtet. So oft die absolute Quantität der Laibe in Frage gestellt wurde, welche von den undankbaren, auf seine Kosten zehrenden Mäulern versorgt werden sollten, brach stets die Milch des menschlichen Wohlwollens – wovon der Squire ein besonders reichliches Maß empfangen – hervor und schwemmte alle Entrüstung des härteren Adam hinweg.

Selten ist jedoch die Politik der halben Maßregeln, welche ihre Opfer reizt, ohne sie zu erdrücken, und ein aufgestörtes Wespennest mit einem seidenen Taschentuche fächelt, anstatt es mit Pulver und Schwefelfaden in die Luft zu sprengen, von gutem Erfolge, und nachdem drei oder vier andere Opfer, die weit schuldiger waren als Lenny, in dem Stocke gesessen hatten, war das Kirchspiel zu jeder Unthat reif. Giftige, jacobinische Tractätchen, in den Schmutzwinkeln der Fabrikstädte ersonnen und verfaßt, fanden ihren Weg in das wohlbekannte Bierhaus – der Himmel weiß, auf welche Weise, obgleich der Kesselflicker bei Jedermann im Verdacht stand, der Verbreiter derselben zu sein – Stirn ausgenommen, der noch immer seinen Argwohn auf die Papisten warf.

Zuletzt erschien unter andern graphischen Verzierungen, die dem armen Stock zu Theil geworden, der rohe Umriß eines Gentleman in einem Hut mit breitem Rande und Stulpenstiefeln, der an einem Galgen hing. Darunter standen die schlecht und beinahe unleserlich geschriebenen Worte: »Eine Warnung für alle Tyrannen – nehmt Eure Köpfe in Acht – unterzeichnet Kapitän Stroh.«

Dieses bedeutungsvolle sinnbildliche Portrait war es, welches der Squire betrachtete, als der Pfarrer zu ihm trat.

»Nun, Pfarrer,« sagte Mr. Hazeldean mit einem Lächeln, das leicht und heiter sein sollte, in der That aber recht bitter und grimmig war, »ich gratulire Ihnen zu Ihrer Heerde! Sie sehen, man hat mich da in effigie aufgehängt.«

Der Pfarrer blickte erstaunt und entsetzt auf den Stock; doch unterdrückte er seine Aufregung und suchte mit Schlangenklugheit und Taubeneinfalt nach einem andern Original für das Bildniß.

»Das ist allerdings arg,« sagte er; »aber doch nicht so schlimm als Sie meinen, Squire. Dies ist nicht die Form Ihres Hutes. Das Bild soll offenbar Stirn vorstellen.«

»Glauben Sie?« fragte der Squire besänftigt. »Allein die Stulpenstiefel – Stirn trägt nie Stulpenstiefel.«

»Und Sie ebenso wenig, ausgenommen auf der Jagd. Aber – dies sind gar keine Stulpen, sondern Gamaschen – und Stirn trägt Gamaschen. Und jener Schnörkel, der eine Nase vorstellen soll, ist ein Hacken, der Stirn's Nase auf ein Haar ähnlich sieht, während die Ihrige, obgleich nicht gerade eine Stumpfnase, doch ein wenig aufwärts steht, wie die des Apollo in Riccabocca's Wohnzimmer.«

»Der arme Stirn!« sagte der Squire in einem Tone des Mitleids, jedoch nicht ohne einige Selbstgefälligkeit. »Das hat Einer davon, wenn er ein treuer Diener ist und eifrig seine Pflicht gegen die Herrschaft erfüllt. Sie sehen, wie weit es gekommen ist, und es fragt sich nun, was geschehen soll. Bisher haben die Bösewichter aller Wachsamkeit Trotz geboten, und Stirn räth, des Nachts einen regelmäßigen Wächter mit einem Prügel und einer Laterne aufzustellen.«

»Das wäre allerdings ein Schutz für den Stock; allein würden dadurch auch die abscheulichen Tractate von dem Bierhause ferngehalten werden?«

»Bei den nächsten Sitzungen trage ich auf Schließung des Bierhauses an.«

»Dann werden die Schmähschriften an einem andern Platze auftauchen. Die Verstimmung liegt im Blute!«

»Ich hätte gute Lust, nach Brighton oder Leamington überzusiedeln – gutes Jagdrevier in Leamington – auf ein Jahr wenigstens, nur damit die Schurken sehen, wie es ihnen ohne mich ergehen wird!«

Die Lippe des Squire's zitterte.

»Mein lieber Mr. Hazeldean,« sagte der Pfarrer, indem er die Hand seines Freundes ergriff, »ich will gewiß nicht meine überlegene Weisheit zur Schau tragen; aber hätten Sie doch nur meinen Rath befolgt – quieta non movere. Gab es je ein friedlicheres Kirchspiel als dieses, oder einen Gutsherrn, der beliebter gewesen wäre, wie Sie es waren, ehe Sie auf den unglücklichen Einfall kamen, etwas zu unternehmen, was schon Könige gestürzt und Staaten in's Verderben geführt hat – ich meine ein willkürliches Zurückgreifen nach dem Altertümlichen – sei es nun in der Absicht, unnöthige Reparaturen vorzunehmen oder veraltete Gebräuche wieder einzuführen.«

Bei diesem Verweise gab der Squire kein Zeichen seiner gewohnten Heftigkeit zu erkennen; vielmehr antwortete er beinahe demüthig: »Wenn ich wieder in den Fall käme, so wollte ich, meiner Treu, das Kirchspiel im Genusse des schäbigsten Stockes belassen, der je einem Dorfe zur Schande gereichte. Ich hatte wahrhaftig die beste Absicht – der Stock sollte eine Zierde des Dorfrasens sein. Und nun er einmal neu hergestellt ist, muß er auch beschützt werden. Will Hazeldean ist nicht der Mann, der vor einer Bande undankbarer Schurken die Flagge streicht.«

»Ich denke,« entgegnete der Pfarrer, »Sie werden mir zugeben, daß das Haus Tudor, was auch seine Fehler sein mochten, eine geistreiche, hochherzige und entschlossene Dynastie gewesen. Ein Tudor wäre nie in die Calamitäten gerathen, in welche sich der arme Stuart verstrickte!«

»Was zum Henker hat das Haus Tudor mit meinem Stocke zu schaffen?«

»Sehr viel. Heinrich VIII. fand gewisse Subsidien Unterstützungsleistungen. so unpopulär, daß er sie aufgab. Und dafür erlaubte ihm das Volk, so viele Köpfe abschlagen zu lassen als ihm beliebte – außer denen in seiner eigenen Familie. Die gute Königin Beß, die, wie ich weiß, Ihr Abgott in der Geschichte ist –«

»Allerdings! Sie ertheilte meinem Ahnherrn bei Tilbury Fort den Ritterschlag.«

»Die gute Königin Beß gab sich alle Mühe, ein gewisses Monopol aufrecht zu erhalten; als sie aber einsah, daß es nicht gehen wollte, verzichtete sie darauf mit jener offenen Herzlichkeit, die einem Herrscher ziemt und die Verzichtleistung als einen Act der Gnade erscheinen läßt.«

»Aha! Sie meinen, daß ich den Stock aufgeben soll?«

»Es wäre mir weit lieber, wenn Sie ihn gelassen hätten, wie er vorher war; aber wie die Sachen nun einmal stehen – wenn Sie einen guten Vorwand hätten – und es bietet sich gerade ein vortrefflicher dar – so ließe sich wohl noch ein Ausweg finden. Die strengsten Könige öffnen die Gefängnisse und theilen Gnadenbezeugungen aus bei besonders erfreulichen Anlässen. Nun ist eine Vermählung in der königlichen Familie stets ein sehr frohes Ereigniß – und so sollte es auch in derjenigen des Königs von Hazeldean sein.«

Wer bewundert nicht diese schlaue Wendung in der Beredtsamkeit des Pfarrers? Sie war eines Riccabocca würdig. Mr. Dale hatte in der That durch den Umgang mit diesem macchiavellistischen Geiste viel gelernt.

»Eine Vermählung – ja! Aber Frank hat ja kaum erst die Kinderschuhe ausgetreten!«

»Ich sprach nicht von Frank, sondern von Ihrer Cousine Jemima!«


Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Der Squire schwankte als ob ihm der Athem ausgehe, und setzte sich in Ermanglung eines bessern Sitzes in den Stock.

Alle Weiberköpfe der benachbarten Hütten schauten hinter den Gardinen durch die Fenster. Was konnte der Squire im Sinne haben? Welch' neues Unheil mochte er wohl im Schilde führen? Der alte Gevatter Salomons, der eine unbestimmte Vorstellung von der rechtmäßigen Gewalt der Gutsherrschaft hatte und seit zehn Minuten unter seiner Hausthüre Wache stand, schüttelte den Kopf und sagte: »Die da den gehängten Mann hingemalt haben, die haben es dem Squire in den Kopf gesetzt!«

»Was in den Kopf gesetzt?« fragte seine Enkelin.

»Den Galgen!« antwortete Salomons. »Er wird jetzt gleich den großen Ulmenbaum dazu gebrauchen wollen. Und der Pfarrer, der gute Mann, sucht es ihm mit Schriftstellen auszureden. Sieh, Jenny, er zieht seine Handschuhe aus und faltet die Hände, wie er thut, wenn er für einen Kranken betet.«

Diese Schilderung von der Miene und den Geberden des Pfarrers, welche Gevatter Salomons mit seiner gewöhnlichen scharfen Beobachtungsgabe entworfen hatte, kann dem Leser einen Begriff von dem Ernste geben, womit der Pfarrer der Sache, die er zu vertreten sich vorgenommen, das Wort redete. Er verweilte besonders bei dem Schicklichkeitsgefühl, welches der Doctor an den Tag legte, indem er verlangte, der Squire solle vor allem befragt und dann erst der Cousine ein förmlicher Antrag gemacht werden. Auch wiederholte er Mrs. Dale's Versicherung, daß Riccabocca's hohe Begriffe von Ehre und von der Unverletzlichkeit des Gastrechts ihn unverzüglich bestimmen würden, von seinen Wünschen abzustehen, sobald der Squire seine Einwilligung verweigerte.

In Anbetracht nun, daß Miß Hazeldean, zum mindesten gesagt, in die Jahre der Selbständigkeit eingetreten war, und der Squire ihr schon längst ihr Vermögen zu freier Verfügung gestellt hatte, konnte Mr. Hazeldean die Nebenbemerkung des Pfarrers, »daß ein solches Zartgefühl nicht von jedem englischen Bewerber um die Hand des Fräuleins zu erwarten sei,« nicht in Abrede ziehen.

Nachdem er den Boden so weit zubereitet hatte, gab der Pfarrer mit seinem Takte zu verstehen, daß es, da Miß Jemima sich doch früher oder später verheirathen würde (was der Squire gewiß nicht zu hindern wünsche), für alle Theile besser sein möchte, wenn sie einen Gatten wähle, der, obgleich ein Fremder, doch in der Nachbarschaft wohne, und von dessen Charakter man nur Günstiges wisse, als daß sie Gefahr laufe, an einem der Badeorte, die sie alljährlich besuche, um ihres Geldes willen die Beute eines Abenteurers oder eines irländischen Glücksjägers zu werden.

Hierauf berührte er nur leicht die angenehmen, geselligen Eigenschaften Riccabocca's und schloß mit einer gewandten Anspielung auf die günstige Gelegenheit, welche die Vermählung darbieten würde, Halle und Kirchspiel durch ein aus dem Stocke gemachtes freiwilliges Brandopfer zu versöhnen.

Bei diesem Schlusse klärte sich die Stirne des Squires, welche zuvor gedankenvoll, wenn auch nicht finster gewesen, wohlwollend auf. Die Wahrheit zu gestehen, der Squire wäre für sein Leben gern den Stock los geworden, sofern es mit guter Manier und mit Anstand geschehen konnte; und wenn alle Sterne im astrologischen Horoscop sich vereinigt hätten, um Miß Jemima »eines Gatten zu versichern,« so hätten sie ihr bei dem Squire lange nicht so viel genützt als jene Beziehung zwischen Altar und Stock, welche der Pfarrer so geschickt einzuleiten verstanden hatte!

Nachdem Mr. Dale geendet, erwiderte daher der Squire mit großer Ruhe und Einsicht, Mr. Rickybocky habe sich ganz wie ein Edelmann benommen, wofür er ihm sehr verbunden sei; er (der Squire) habe kein Recht, sich anders, als berathend, in der Sache zu verhalten; Jemima sei alt genug, um selbst zu wählen, und allerdings könne sie – wie der Pfarrer mit Recht gesagt – weit schlimmer ankommen – ja, immer schlimmer, je länger sie warte.

»Ich für meinen Theil gestehe,« fuhr der Squire fort, »daß ich nie gedacht hätte, Jemima werde sich in sein langes Gesicht verlieben, obschon ich Rickybocky recht wohl leiden mag; allein der Geschmack ist bekanntlich sehr verschieden! Meine Harry war freilich scharfsichtiger und gab mir manchen Wink; allein ich lachte sie darüber aus. Doch hätte ich allerdings etwas merken sollen, als der Monsieur sich auf einmal maskirte, indem er seine Brille wegließ. Ha – ha! Ich bin nur neugierig, was Harry dazu sagen wird. Lassen Sie uns zu ihr gehen und die Sache mit ihr besprechen.«

Erfreut, die Angelegenheit so gut aufgenommen zu sehen, schlang der Pfarrer seinen Arm in den des Squire's, und so wanderten Beide freundschaftlich der Halle zu. Schon im Garten trafen sie Mrs. Hazeldean, welche eben beschäftigt war, die abgestorbenen Blätter und verwelkten Blüthen von ihren Rosenbäumchen abzuschneiden. Leise schlich sich der Squire in ihre Nähe, umschlang sie dann plötzlich und erschreckte sie durch einen herzhaften Kuß auf ihre Sammetwange – beiläufig bemerkt, eine eheliche Freiheit, die er sich gewöhnlich zu erlauben pflegte, wenn im Dorfe eine Hochzeit im Werke war.

»Pfui, William!« sagte Mrs. Hazeldean verschämt erröthend, als sie den Pfarrer gewahrte. »Wer soll sich denn jetzt verheirathen?«

»Nein, hat man je eine solche Frau gesehen? Sie hat es wahrhaftig errathen!« rief der Squire mit großer Bewunderung.

»Erzählen Sie ihr die ganze Geschichte, Pfarrer.«

Der Pfarrer gehorchte.

Mrs. Hazeldean legte, wie sich der Leser denken kann, weit weniger Ueberraschung an den Tag, als ihr Gatte. Allein auch sie nahm die Mittheilung gnädig auf und gab ungefähr dieselbe Antwort, wie der Squire, nur mit etwas mehr Beschränkung und Behutsamkeit.

»Signor Riccabocca habe sich sehr schön benommen, und obwohl eine Tochter der Hazeldeans von Hazeldean, vom weltlichen Gesichtspunkt aus betrachtet, auf eine weit bessere Partie Anspruch machen könnte, so würde es, da das besagte Fräulein so lange gezögert habe, eine Wahl zu treffen, ebenso vergeblich als unbescheiden sein, irgend welche Einwendungen zu machen, wenn sie sich wirklich entschließen sollte, Doctor Riccabocca's Antrag anzunehmen. Was das Vermögen betreffe, so sei dies eine Sache, welche allein die beiden Betheiligten in Erwägung zu ziehen hätten. Doch sollte man gleichwohl Miß Jemima zu bedenken geben, daß die Interessen ihres Kapitals nur ein sehr kleines Einkommen abwürfen. Daß Doctor Riccabocca ein Wittwer sei, verdiene gleichfalls Beachtung, zumal er bisher über alles, was sein früheres Leben betreffe, so zurückhaltend gewesen. Allerdings spreche sein Benehmen zu seinen Gunsten, und so lange er nichts weiter als ein bloßer Bekannter und Miethsmann gewesen, habe Niemand ein Recht gehabt, nach seinen Privatangelegenheiten zu fragen; nun er sich aber um eine Hazeldean von Hazeldean bewerbe, zieme es dem Squire, sich etwas näher zu erkundigen, wer und was er eigentlich sei. Warum hatte er sein Vaterland verlassen? Engländer pflegten auf den Continent zu gehen, um zu sparen; aber kein Ausländer komme in dieser Absicht nach England. Sie denke sich unter einem ausländischen Doctor nichts besonders Großes; vermuthlich habe er auf irgend einer italienischen Universität eine Professorstelle bekleidet. Jedenfalls solle der Squire, wenn er sich überhaupt in die Sache mischen wolle, über diese Punkte Auskunft erlangen.«

»Sie haben in allem, was Sie sagen, vollkommen Recht, gnädige Frau,« erwiderte der Pfarrer. »Allein, was die Ursachen betrifft, die unsern Freund bewogen haben mögen, sein Vaterland zu verlassen, so brauchen wir sie wohl nicht sehr weit zu suchen. Er ist offenbar einer der vielen italienischen Flüchtlinge, welche politische Wirren nach unserm Lande getrieben, dessen Ruhm es ist, alle Verbannten, zu welcher Partei sie gehören mögen, gastlich aufzunehmen. Ueber die Achtbarkeit seiner Geburt und Familie sollte er allerdings einen Gewährsmann beibringen. Wenn dies jedoch die einzige Bedingung ist, so hoffe ich, wir dürfen in kürzester Zeit Miß Hazeldean zu ihrer Verbindung mit einem Manne Glück wünschen, der, obgleich arm, alle Entbehrungen ohne Murren ertragen gelernt hat – der lieber Mangel litt als Schulden machte – dessen edler Stolz es verschmähte, sie zu einer heimlichen Heirath zu überreden – kurz, der in jeder Beziehung einen so offenen und ehrenhaften Charakter an den Tag gelegt hat, daß ich hoffe, mein lieber Mr. Hazeldean werde ihm verzeihen, wenn er nur ein Doctor – wahrscheinlich der Rechte – ist und nicht, was die meisten Fremden zu sein vorgeben – ein Marquis oder zum wenigsten ein Baron.

»Was das betrifft,« rief der Squire, »so gefällt mir nichts besser an Rickybocky, als daß er es nicht versucht, uns solchen ausländischen Unsinn aufzubinden. Dem Himmel sei Dank, die Hazeldeans von Hazeldean waren nie Ordensjäger und Titelnarren; und ich, der ich nie einem englischen Lord nachlief, würde mich zu Tode schämen, wenn ich einen Schwager oder Vetter, Marquis oder Graf nennen müßte. Ich würde ihn jedenfalls für einen Courir oder für einen entlaufenen Valet de Chambre Kammerdiener. halten. Was, die Nase rümpfen über einen Doctor, Harry? Pah, es ist ein guter, englischer Titel, Doctor. Meine Tante heirathete einen Doctor der Theologie – ein vortrefflicher Mann! Er trug eine Perücke und wurde Decan. So lange Rickybocky nicht Doctor der Medicin ist, kümmere ich mich keinen Knopf darum. Wenn er aber das wäre, so könnte es freilich verdächtig sein; denn Ihr wißt, diese fremden Doctoren der Arzneikunde sind alle Quacksalber und Wahrsager, die mit einem Hanswurst auf den Märkten herumziehen.«

»Mein Himmel, Hazeldean, wo in aller Welt hast du diese Idee aufgelesen?« sagte Harry lachend.

»Aufgelesen? Ei, ich habe voriges Jahr auf dem Viehmarkt, als ich die Kühe mit den kurzen Hörnern kaufte, einen solchen Kerl gesehen – in einer rothen Weste und mit einem Dreispitz auf dem Kopfe, fast wie der des Pfarrers. Er nannte sich Doctor Phoscophornio, trug eine weiße Perücke und verkaufte Pillen. Der Hanswurst war ein gar drolliger Kauz in lachsfarbenen Gamaschen; er schlug Purzelbäume und sagte, er komme gerade von Timbuctu. Ja, ja – wenn Rickybocky ein Arzneidoctor ist, so werden wir Jemima noch in einem rosa Florkleid, mit Flittergold besetzt, durch's Land ziehen sehen.«

Ueber diesen Gedanken lachten der Squire und seine Gattin so herzlich, daß der Pfarrer die Sache für abgemacht hielt und sich hinwegschlich, um Riccabocca Bericht zu erstatten.


Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Der gewohnte anmuthige und vornehme Gleichmuth des Italieners wurde einigermaßen erschüttert, als er die Nachricht empfing, daß weder insularische Vorurtheile, noch weltliche Bedenken von Seiten der Familie seiner Bewerbung im Wege stünden. Nicht als ob er so niedrig denkend und feig gewesen wäre, vor der nahen und ungetrübten Aussicht auf ein Glück zurückzuschrecken, welches mit nacktem, furchtlosem Auge zu betrachten er seine Brille abgelegt hatte. Nein, sein Entschluß stand hierin fest genug; aber er hatte in seinem Leben noch wenig Wohlwollen erfahren und war daher gerührt von der Theilnahme, die ihm ein ketzerischer Priester bewies, und von der Großmuth, womit eine reiche und vornehme Familie trotz seiner offenkundigen Armuth und fremden Abkunft ihn aufnahm.

Bereitwillig gab er die Berechtigung des einzigen Verlangens zu, welches ihm der Pfarrer mit dem ganzen Zartgefühl eines Mannes mittheilte, der von Berufs wegen gewohnt ist, mit den empfindlicheren Seiten der Menschen in Berührung zu kommen – daß nämlich unter Riccabocca's Freunden oder Verwandten Jemand genannt werden möchte, dessen Bericht geeignet wäre, die Ueberzeugung, welche man in der Gegend von der Achtbarkeit des Doctors hege, zu bekräftigen; – er fand, sage ich, dieses Ansinnen ganz in der Ordnung, unterwarf sich demselben jedoch nicht mit dem Eifer und Frohsinn, den man hätte erwarten können. Seine Stirne umwölkte sich.

Der Pfarrer zögerte nicht, ihm die Versicherung zu geben, daß der Squire kein Mann sei, qui stupet in titulis (in Titel vernarrt), und daß er von seinem künftigen Verwandten in Bezug auf Rang und Abkunft keine Stellung erwarte, noch verlange, die sich über jene anständige Mittelstufe erhebe, welcher Doctor Riccabocca vermöge seiner Bildung und Kenntnisse augenscheinlich angehöre, und auf welche er auch sicher seine Ansprüche leicht werde nachweisen können.

»Und,« setzte Mr. Dale lächelnd hinzu, »obgleich der Squire in seinem eigenen Lande ein warmer Politiker ist und seine leibliche Schwester wohl nie mehr ansehen würde, wenn sie sich einfallen ließe, einen überwiesenen Feind unserer glücklichen Staatsverfassung zu heirathen, so kümmert er sich doch keinen Strohhalm um auswärtige Politik. Wenn daher Ihr Exil, wie ich vermuthe, seinen Grund hat in irgend einer Mißhelligkeit mit Ihrer Regierung, die er, da sie ausländisch ist, natürlich für unerträglich hält, so werden Sie von ihm nicht anders angesehen werden, als etwa ein Sachse, der der eisernen Hand Wilhelms des Eroberers entfloh, oder ein Lancastrier, der in unsern Kriegen zwischen den beiden Rosen Rosenkriege: die mit Unterbrechungen von 1455 bis 1485 geführten Kämpfe zwischen den beiden rivalisierenden englischen Adelshäusern York und Lancaster. von den Anhängern York's vertrieben wurde.«

Der Italiener lächelte. »Mr. Hazeldean soll befriedigt werden,« sagte er einfach. »Ich sehe aus den Zeitungen des Squires, daß ein englischer Edelmann, der mich in meinem Vaterlande kannte, vor kurzem in London angekommen ist. Ihn will ich um ein Zeugniß wenigstens über meine Rechtschaffenheit und meinen Charakter ersuchen. Ohne Zweifel kennen Sie ihn dem Namen nach, denn er hat sich im letzten Kriege als Offizier ausgezeichnet. Ich spreche von Lord L'Estrange.«

Der Pfarrer stutzte.

»Sie kennen Lord L'Estrange? Ein böser, lasterhafter Mensch, wie ich fürchte.«

»Lasterhaft! Böse!« rief Riccabocca aus. »In der That, so verleumderisch die Welt auch ist, hätte ich doch nie geglaubt, daß man solche Eigenschaften einem Manne beilegen könnte, welcher mich zuerst den englischen Namen ehren und lieben lehrte und sich durch einen Dienst, den er mir einstmals erwiesen, Ansprüche auf meine unauslöschliche Dankbarkeit erworben hat.«

»Er mag sich geändert haben, seit –« der Pfarrer hielt inne.

»Seit wann?« fragte Riccabocca mit sichtbarer Neugierde.

Mr. Dale schien verlegen.

»Entschuldigen Sie mich,« sagte er; »es sind schon viele Jahre seitdem verflossen, und die Ansicht, die ich mir über den fraglichen Herrn gebildet, beruht auf Umständen, die ich nicht mittheilen kann.«

Der Italiener verbeugte sich stillschweigend, allein es war nicht zu verkennen, daß er gerne weiter geforscht hätte.

Nach einer Pause sagte er: »Welche Ansicht von Lord L'Estrange Sie auch haben mögen, so hoffe ich doch, daß Sie keinen Zweifel in seine Ehre setzen und sein Zeugniß zu meinen Gunsten nicht verwerfen werden.«

»Wenn man den Sittlichkeitsmaßstab der großen Welt anlegt,« versetzte der Pfarrer mit Entschiedenheit und einiger Förmlichkeit, »so habe ich keinen Grund, zu glauben, Lord L'Estrange werde in diesem Falle nicht die Wahrheit sagen. Auch unterliegt sein bedeutender Ruf als ausgezeichneter Offizier und seine hohe Stellung in der Welt keinem Zweifel.«

Mit diesen Worten verabschiedete sich der Pfarrer, und wenige Tage darauf übersandte Doctor Riccabocca dem Squire einen Brief, den er von Harley L'Estrange empfangen hatte. Das Schreiben war augenscheinlich darauf berechnet, Mr. Hazeldean mitgetheilt zu werden und dem Italiener als eine Beglaubigung seiner Achtbarkeit zu dienen; allein dieser Zweck wurde nicht in der rohen Form eines unmittelbaren Zeugnisses erfüllt, sondern mit einem Takt und Zartgefühl, welches mehr als die bloße seine Bildung anzudeuten schien, die sich von einem Manne in Lord L'Estrange's Stellung erwarten ließ. Man erkannte darin die ausgesuchteste, aus dem Herzen kommende Höflichkeit. Ein Ton warmer Hochachtung (welchen selbst der nicht sehr feine Geist des Squires instinktmäßig fühlte, und der weit mehr zu Riccabocca's Gunsten sprach, als das ausführlichste, glänzendste Zeugniß gethan haben würde) waltete in dem ganzen Schreiben und würde an sich schon hingereicht haben, einen weit mißtrauischeren und anspruchsvolleren Sinn, als Mr. Hazeldeans, zu beruhigen.

Aber siehe! Nun stieß plötzlich der Pfarrer selbst auf ein Hinderniß, an das er allerdings schon lange hätte denken sollen – nämlich die papistische Religion des Italieners. Doctor Riccabocca bekannte sich zum Katholicismus, hatte jedoch diese Thatsache so wenig aufgedrungen, vielmehr den Bemerkungen gegen Aberglauben und Pfaffenthum, welche nach protestantischer Vorstellung die wesentlichen Grundzüge des katholischen Gemeinwesens bilden, so häufig beigepflichtet, daß Hymen's Fackel Hymenaios war in der griechischen Mythologie der Gott der Hochzeit. In bildlichen Darstellungen wird er als geflügelter Jüngling mit einer Hochzeitsfackel gezeigt., die alle Fehler an den Tag bringt, den Altar zuvor erhellen mußte, ehe das Gewissen des Pfarrers dieses so wichtigen Punktes sich erinnerte.

Der erste Gedanke, der ihm dabei in den Sinn kam, war ein ganz natürlicher, berufsmäßiger – Doctor Riccabocca's Bekehrung. Er eilte in sein Studirzimmer, holte aus dem Bücherschranke lange vernachlässigte Schriften über kirchliche Streitfragen hervor, bewaffnete sich mit einem ganzen Arsenal von Autoritäten, Beweisen und Schriftstellen, ergriff seinen Hut und begab sich nach dem Casino.


Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Einer Lawine gleich stürzte der Pfarrer über den Philosophen her! So erfüllt war er von seinem Gegenstand, daß er ihn nicht in vorsichtigen Tröpfchen entströmen lassen konnte. Nein, in einem Nu überfiel er den erstaunten Riccabocca –

» Tremendo
Jupiter ipse mens tumultu.
« Horaz, Oden I, 16, 11f.: »… noch ob furchtbar Jupiter selbst in Tumult herabkracht.« (Nach der Übersetzung von Johann Heinrich Voß, 1802.)

Der Doctor, welcher sich tiefer in seinen Lehnstuhl hinein drückte und seinen Schlafrock fester um sich zog, ließ den Pfarrer drei Viertelstunden lang fortreden, bis er seine Ansicht vollständig dargelegt hatte und, wie Brutus, »schweigend einer Antwort harrte« Shakespeare, Julius Caesar, Akt 3, Szene 2..

Alsdann erwiderte Riccabocca mild: »Vielem, was Sie mir so plötzlich und so geschickt auseinandergesetzt haben, bin ich sehr geneigt, beizustimmen. Allein derjenige Mann würde einen niedrigen Sinn verrathen, der den Glauben, den er von seinen Vätern ererbt und von seiner Wiege bis in's reifere Alter bekannt hat, abschwören wollte, wenn der Wechsel in der Form einer Bestechung sich ihm darbietet; wenn er – denn so ist einmal die menschliche Natur – die Forderung der Vernunft kaum von der Lockung seines Vortheils unterscheiden oder loswirren kann; – hier ein Text und dort eine Mitgift! hier Protestantismus und dort Jemima! Gestehen Sie, mein Freund, daß selbst der nüchternste Casuist doppelt sehen würde unter der betäubenden Wirkung eines solchen polemischen Mischtrankes. Mein guter Mr. Dale, appelliren Sie von dem trunkenen Philipp an den nüchternen Die Redewendung beruht auf einer Anekdote, die von dem römischen Historiker Valerius Maximus mitgeteilt wird; dabei geht es um ein ungerechtes, im Zustand der Trunkenheit von König Philipp von Makedonien gefälltes Urteil; die von ihm verurteilte Frau erklärte, dass sie wieder an ihn appellieren werde, wenn er wieder nüchtern sei. Am nächsten Tag entschied Philipp im Zustand der Nüchternheit zu ihren Gunsten. – von dem Riccabocca, der noch berauscht ist von der Versicherung Ihrer vortrefflichen Gattin, daß er im Begriffe sei, der glücklichste Sterbliche zu werden, an den seines Glückes schon etwas gewohnten Riccabocca, der dasselbe mit dem gereiftern Gleichmuth eines Mannes zu ertragen weiß, den solche Reizmittel nicht mehr aufregen können – mit Einem Wort von Riccabocca, dem Freier, an Riccabocca, den Gatten. Ich kann bekehrungsfähig sein; allein die Bekehrung sollte langsam, das Werben rasch von Statten gehen – fragen Sie nur Miß Jemima! Finalemente, trauen Sie mich zuerst, und bekehren Sie mich hernach!«

»Sie nehmen diese Sache zu scherzhaft,« begann der Pfarrer; »und ich kann nicht begreifen, wie Ihrem klaren Verstande solche einfache Wahrheiten nicht sogleich einleuchten sollen.«

»Wahrheiten,« unterbrach ihn Riccabocca, »sind diejenigen Pflanzen, die auf der ganzen Welt am langsamsten wachsen. Es waren 1500 Jahre vom Beginn der christlichen Zeitrechnung an nöthig, um einen Luther hervorzubringen, und nachdem er mit seinem Tintenfaß nach dem Satan geworfen (ich sah selbst die Tintenspuren an der Wand seines Gefängnisses in Deutschland), entführte er eine Nonne, was heutzutage kein protestantischer Geistlicher für recht und schicklich halten würde.«

Dann setzte Riccabocca ernst hinzu:

»Sehen Sie, lieber Pfarrer, ich könnte mich selbst nicht mehr achten, wollte ich Ihnen jetzt auch nur mit der gebührenden Aufmerksamkeit zuhören – jetzt, sage ich, nachdem Sie mir zu verstehen gegeben haben, daß der Glaube, zu dem ich mich bekenne, meinem Vortheil im Wege sein könnte. Wäre dies wirklich der Fall, so müßte ich den Glauben behalten und auf den Vortheil verzichten. Wenn Sie aber, wie ich hoffe – nicht allein als Christ, sondern als Mann von Ehre – die Erörterung aufschieben, so verspreche ich, Ihnen später Gehör zu schenken, und wiewohl ich, die Wahrheit zu gestehen, an einen Erfolg Ihrer Bekehrungsversuche nicht glaube, so gelobe ich Ihnen feierlich, daß meine Gattin in Ausübung ihrer Religion niemals beirrt werden soll.«

»Und wenn Ihnen Kinder geboren würden?«

»Kinder!« rief Doctor Riccabocca zurückfahrend; »es ist Ihnen nicht genug, mir Ihre Taschenpistole gerade in's Gesicht abzufeuern, Sie müssen mich auch noch über und über mit Schrot pfeffern. Kinder! Nun wohl, wenn es Mädchen sind, so mögen sie dem Glauben der Mutter folgen; sind es Knaben, so sollen sie in Kindheit lernen, Christen zu sein, und, wenn sie Männer geworden, selbst die Formen wählen, welche ihnen für die Ausübung der erhabenen Grundsätze, die allen Secten gemeinsam sind, als die beste erscheint.«

»Aber,« fing Mr. Dale von Neuem an und zog dabei ein großes Buch aus seiner Tasche –

Doctor Riccabocca riß das Fenster auf und sprang hinaus.

Es war die schnellste und memmenhafteste Flucht, die man sich nur denken kann; allein der Pfarrer erkannte darin ein großes Kompliment für die Kraft seiner Beweisführung. Nichtsdestoweniger hielt er es für räthlich, sowohl mit dem Squire, als mit Miß Jemima über den Gegenstand, um dessen willen sein beabsichtigter Convertit so schmählich entflohen war, eine lange Besprechung zu halten.

Der Squire, obgleich vom Standpunkte der Politik auf ein entschiedener Feind des Pabstthums, hegte einen eben so großen Haß gegen alle Ueberläufer und Apostaten. Er würde Riccabocca aus tiefster Seele verachtet haben, wenn dieser seine Religion eben so leicht abgelegt hätte, wie seine Brille. Daher sagte er einfach:

»Freilich ist es sehr Schade, daß Rickybocky nicht zur englischen Kirche gehört; allein dies ließe sich wohl vernünftiger Weise nicht von einem Manne erwarten, der unter der Nase der Inquisition geboren und erzogen wurde.« (Der Squire war nämlich fest überzeugt, die Inquisition mit Peitsche, Folter und Daumenschrauben stehe noch in voller Kraft in allen italienischen Staaten; und er hatte in der That seine Kenntniß von Italien hauptsächlich aus einem in früher Jugend gelesenen Buche, » Der einhändige MönchManfroné; or, The One-Handed Monk (1809) von Mary Anne Radcliffe (1764-1823), einer der erfolgreichsten AutorInnen des Genres Gothic Novel. geschöpft.) »Was er übrigens in Betreff seiner Gattin und seiner Kinder sagt, finde ich ganz schön. Und jedenfalls ist die Sache jetzt schon zu weit gediehen, als daß man noch zurücktreten könnte. Die Schuld liegt an Ihnen – warum haben Sie nicht früher daran gedacht! Auch ist jetzt mein Plan gefaßt – ich weiß nun, wie ich es mit dem verwünschten Stocke halten will!«

Was Miß Jemima betrifft, so verließ sie der Pfarrer mit einem frommen Dankgebet, daß Riccabocca wenigstens ein Christ, und nicht ein Heide, Muhamedaner oder Jude sei!


Achtundzwanzigstes Kapitel.

Es liegt etwas in einer Heirath, was allgemeine Theilnahme einflößt. Kein anderes Ereigniß im Leben der Höhergestellten erregt gleiches Aufsehen unter den niedern Klassen.

Von dem Augenblick an, als sich die Nachricht von Miß Jemima's Verlobung im Dorfe verbreitete, brach die alte Zuneigung zu dem Squire und seinem Hause nach der zeitweiligen Entfremdung um so lebhafter wieder hervor. Wer konnte auch in einer solchen Zeit an den Stock denken? Er war ganz aus der Mode gekommen und so vollständig aus der Erinnerung verwischt, wie die Repealfrage Repeal ist in England jenes parlamentarische Verfahren, das bei der Aufhebung eines Gesetzes angewendet wird. In Bezug auf Irland ist dies eine Anspielung auf die Repeal Association, eine irische Massenbewegung, die von Daniel O'Connell 1830 ins Leben gerufen worden war, um eine Kampagne für die Aufhebung des Act of Union von 1800 zwischen Großbritannien und Irland durchzuführen. oder der Gedanke an Rebellion aus den warmen Herzen der Irländer, als das junge, blühende Antlitz der königlichen Frau Victoria (1819-1901) übernahm 1837, also mit 18 Jahren, das Amt der Königin des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland, das sie bis 1901 innehatte. auf der Schwesterinsel strahlte.

Mit freundlichen Knixen begrüßten wieder die Weiber den Squire, wenn er auf seinem Wege nach der Hausmeierei an ihren Hütten vorbeikam; wieder entblößten die Männer ihre sonnverbrannten Häupter mit fröhlicher Herzlichkeit, statt mit mürrischer Förmlichkeit. Ja selbst die Kinder begannen ihren alten Sammelplatz bei dem Stocke wieder aufzusuchen, als ob sie sich entweder an das Phänomen gewöhnt, oder die Ueberzeugung gewonnen hätten, daß es unter dem Einfluß der allgemeinen Freude seine Macht, Böses zu thun, verloren habe.

Der Squire kostete abermals die Süßigkeiten der einzigen Popularität, deren Besitz wirklichen Werth hat, und deren Verlust ein weiser Mann mit Recht beklagt – nämlich diejenige Popularität, welche aus der Ueberzeugung von unserer Güte und aus der Abneigung, unserer Mängel zu gedenken, entspringt. Der Squire erfreute sich seiner wiedergewonnenen Beliebtheit, als ob ihm ein neues Dasein geschenkt sei, wie ja jeder Genuß um so köstlicher ist, wenn man ihn eine Zeit lang entbehren mußte. Sein braves Herz schlug kräftiger; sein fester Tritt war elastischer; sein angenehmes englisches Gesicht sah angenehmer und englischer aus, als je, und wer sein herzliches Lachen hörte, war sicherlich für eine ganze Woche aufgeheitert.

Wahre Dankbarkeit fühlte Mr. Hazeldean für Jemima und Riccabocca als die besondern Werkzeuge der Vorsehung bei dieser allgemeinen integratio amoris Nach Terenz' Schauspiel »Andria«, V. 555: Amantium irae amoris integratio (Der Streit der Liebenden erneuert ihre Liebe).. Wenn man ihn ansah, hätte man glauben sollen, er selbst sei der Bräutigam und werde zum zweitenmale mit seiner Harry getraut!

Man kann sich wohl denken, daß dies kein günstiger Moment für Pfarrer Dale's theologische Skrupel gewesen wäre. Die Heirath rückgängig machen – den über das ganze Dorf ergossenen Sonnenschein auslöschen – sich wieder von finstern, mürrischen Gesichtern umgeben sehen – ich glaube wahrhaftig, obgleich es nie einen bessern Freund von Kirche und Staat gegeben haben mochte, als Mr. Hazeldean, er würde, ehe er einen so traurigen Umschwung der Dinge zugegeben hätte, jesuitische Ausflüchte zu Gunsten der Heirath gefunden haben –und wäre Riccabocca der Pabst selbst in Verkleidung gewesen! Kurz, die Trauung wurde vollzogen – zuerst im Stillen nach dem Ritus der katholischen Kirche von einem in der nächsten Stadt wohnenden Priester des Glaubens und dann öffentlich in der Dorfkirche zu Hazeldean.

Und welch' ein herzliches ländliches Hochzeitfest war es nicht! Mädchen auf dem Dorfe streuten Blumen auf den Weg; an dem reizendsten Platze des Parks, am Rande eines Sees, war ein einfacher Pavillon errichtet worden, in welchem am Abend getanzt werden sollte; zur Bewirthung der Gäste wurde ein ganzer Ochse gebraten. Selbst Mr. Stirn – nein, Mr. Stirn war nicht zugegen; solche Fröhlichkeit wäre sein Tod gewesen! Und dann der Papist, welcher Lenny aus dem Stocke herausbeschworen – ja, der sich selbst in den Stock gesetzt hatte, nur um denselben in Verachtung zu bringen – der Papist! Nach Mr. Stirn's Ansicht hätte Miß Jemima ebenso gut den Teufel heirathen mögen! In der That kam es in seinen Augen ganz auf das Gleiche heraus. Mr. Stirn hatte daher Urlaub verlangt, um seinen kranken Onkel, den Pfandverleiher, zu besuchen, der sich einer schmerzlichen Steinoperation unterziehen wollte.

Frank hatte man zu dem Feste von Eton herbeschieden; er war seit den letzten Ferien um volle zwei Zoll gewachsen – wovon einer auf Rechnung der gütigen Natur, der andere auf die eines neuen Paars glänzender Wellingtonstiefel George Hoby war ein Schumacher mit Sitz in der renommierten St. James Street, von dem sich z.B. der Herzog von Wellington, der Sieger in der Schlacht von Waterloo, seine Stiefel fertigen ließ, mit denen er einen Trend setzte. – Die »Wellingtonstiefel« finden auch in »Die Caxtons« mehrfach Erwähnung. zu setzen war. Allein der Knabe bezeugte keine so lebhafte Freude über diese Vermählung, wie die Uebrigen. Miß Jemima war kein Gegenstand seiner besondern Zuneigung gewesen, wie sich dies nicht anders erwarten ließ, da sie immer sanft und gütig war und von ihren Badereisen stets hübsche Geschenke mitbrachte. Frank wußte, daß sie ihm sehr fehlen werde, und fand ihre Wahl höchst seltsam.

Auch an Kapitän Higginbotham war eine Einladung ergangen; allein Miß Jemima erstaunte nicht wenig, als er dieselbe mit einem an sie gerichteten und mit den Worten » privat und vertraulich« bezeichneten Schreiben beantwortete. »Sie müsse längst seine unwichtige Zuneigung zu ihr bemerkt haben,« sagte der Brief. »Nur Beweggründe des Zartgefühls und seine edle Denkungsart hätten ihn um seines beschränkten Einkommens willen bisher von einem förmlichen Antrage abgehalten. Allein jetzt, da er erfahren habe (kaum könne er seinen Sinnen trauen und seine Entrüstung bemeistern), daß ihre Verwandten sie zu einer barbarischen Heirath mit einem Ausländer von höchst abschreckendem Aeußern und in den erbärmlichsten Verhältnissen zwingen wollten, säume er keinen Augenblick länger, ihr seine Hand und sein Vermögen zu Füßen zu legen. Er thue dies um so vertrauensvoller, als ihm Miß Jemima's geheime Gefühle für ihn nicht entgangen seien, während es ihn mit Stolz erfülle, und er sich glücklich schätze, sagen zu können, daß sein lieber und vortrefflicher Vetter, Mr. Sharpe Currie, ihn mit einer Liebe und Achtung behandle, welche zu den glänzendsten Erwartungen berechtigten, die sich wahrscheinlich bald erfüllen dürften, da sich sein hochgeehrter Verwandter im Dienste des Vaterlandes ein sehr gefährliches Leberleiden zugezogen habe und wohl nicht mehr lange leben werde!«

Sonderbarer Weise hatte Miß Jemima während ihrer vieljährigen Bekanntschaft mit dem Kapitän bei demselben nie andere, als brüderliche Gefühle gegen sie vermuthet. Doch hätte sie keine Dame sein müssen, wenn ihr die Entdeckung dieses Irrthums nicht schmeichelhaft gewesen wäre. In der That mußte ihr der Gedanke, durch ein sofortiges Ablehnen dieses glänzenderen Antrags ihrem theuern Riccabocca einen Beweis ihrer uneigennützigen Liebe geben zu können, einen süßen Triumph bereiten. Sie verfaßte zwar ihre abschlägige Antwort in den mildesten, besänftigendsten Ausdrücken; allein der Kapitän hielt sich offenbar für beleidigt, ließ ihren Brief unbeantwortet und erschien nicht bei der Hochzeit.

Um jedoch unsere Leser in ein Geheimniß einzuweihen, welches Miß Jemima nie erfuhr, müssen wir bemerken, daß sich Kapitän Higginbotham bei seiner Bewerbung um die Hand des Fräuleins weit weniger von Cupido, als von Plutus hatte leiten lassen. Der Kapitän gehörte nämlich zu jener Klasse von Gentlemen, die ihre Rechnungen stets bei dem Scheine jener Leichenlichter oder Irrlichter lesen, die man »Aussichten« zu nennen pflegt. Seitdem ihm – als er noch im Flügelkleide war – der Großvater des Squires ein Legat von fünfhundert Pfunden hinterlassen, hatte der Kapitän die Zukunft mit seinen Aussichten bevölkert. Er sprach von denselben, wie man von seinen Actien an einer Rentenanstalt spricht; sie mochten wohl ein wenig schwanken, steigen oder sinken; aber es war ihm eine moralische Gewißheit, daß er, wenn er am Leben blieb, einst noch Millionär werden müsse. Obgleich nun Miß Jemima gute fünfzehn Jähre jünger war, als er, stand sie doch für eine hübsche runde Summe in den gespenstischen Büchern des Kapitäns. Sie galt ihm als eine Aussicht in dem vollen Betrag ihrer viertausend Pfund, denn Frank war ja das einzige Kind und somit der einzige Erbe seines Vaters, und es hieße daher Wasser in's Meer tragen, wenn sie demselben etwas vermachen wollte.

Ehe er sich eine so beträchtliche Ziffer aus seinem geträumten Hauptbuche streichen lassen wollte, ehe er zugab, daß eine solche Summe aus der Familie verschwand, hatte Kapitän Higginbotham diesen, wie er glaubte, zwar verzweifelten, aber sichern Schritt zur Erhaltung seines Eigenthums gethan. Wenn das goldne Horn nicht ohne die Kuh zu bekommen war, so mußte er diese eben mit in den Kauf nehmen. Freilich hatte er nicht daran gedacht, daß eine so sanfte Kuh stoßen und ihn niederwerfen könnte. Der Schlag war betäubend. Allein Niemand hat Mitleid mit dem Unglück der Habsüchtigen, obschon vielleicht Wenige bemitleidenswerther sind.

Wir überlassen es daher dem armen Kapitän Higginbotham, so gut er es vermag, sein eingebildetes Vermögen mit den Aussichten zu vergrößern, welche die Gestalt des Mr. Sharpe Currie umgeben – des übellaunigsten alten Tyrannen, den man sich vorstellen kann, auf dessen Tisch kein Gericht erscheinen darf, das nicht mit Reis gemischt wäre – und kehren zu der Hochzeit in Hazeldean zurück, wo wir eben noch zu rechter Zeit anlangen, um Zeuge zu sein, wie der Bräutigam, der sich bei dieser Gelegenheit außerordentlich gut ausnimmt, seine Braut (die mit ihren sonnigen Thränen und ihrem liebevollen Lächeln in der That eine recht interessante und sogar hübsche Brant ist) in einen Wagen hebt, den ihnen der Squire zum Geschenk gemacht hat, und mit ihr unter den Segenswünschen der versammelten Menge die unerläßliche Hochzeitsreise antritt.

Es mag vielleicht einem oder dem andern meiner Leser seltsam scheinen, daß diese ländlichen Zuschauer der Verbindung einer Hazeldean von Hazeldean mit einem armen, ausländischen, langhaarigen Fremden Beifall zollten und Segenswünsche nachriefen; allein abgesehen davon, daß ja Riccabocca in der Gegend angesiedelt war und bei Alten und Jungen als ein sehr höflicher Mann galt, ist es eine allgemeine bekannte Thatsache, daß bei Hochzeiten die Braut das Interesse, die Bewunderung und die Neugierde so ausschließlich in Anspruch nimmt, daß für den Bräutigam wenig oder nichts übrig bleibt. Letzterer ist blos passive Mittelsperson – der unbeachtete Urheber der allgemeinen Befriedigung. Die Segenswünsche und der Beifall galten nicht Riccabocca, sondern dem Herrn in der weißen Weste, welcher aus Miß Jemima – Mrs. Rickybocky gemacht hatte!

Auf den Arm seiner Gattin gelehnt (denn der Squire pflegte sich, wenn er besonders vergnügt war, viel häufiger auf seiner Harry Arm zu stützen, als sie sich auf den seinigen, und es lag in der That etwas Rührendes in dem Anblick dieser kräftigen Gestalt, welche in Stunden des Glückes unbewußt bei dem schwachen Arm des Weibes eine Stütze suchte) – auf den Arm seiner Gattin gelehnt, wandelte der Squire gegen Sonnenuntergang nach dem Pavillon am See.

Das ganze Kirchspiel – Jung und Alt, Männer, Weiber und Kinder – war hier versammelt, und das gemeinsame Gefühl, welches Alle beseelte, als sie in das offene, väterlich lächelnde Antlitz des Squires blickten, schien sich auf allen Gesichtern, gleichsam wie in einem Familienzuge auszudrücken. Squire Hazeldean stand an dem obern Ende der langen Tafel und füllte sich ein Horn mit Ale aus dem schäumenden Kruge, der sich neben ihm befand. Dann schaute er umher, winkte mit der Hand, um zum Stillschweigen aufzufordern, und stieg auf einen Stuhl, damit er von Allen gesehen werden konnte. Jeder fühlte, daß der Squire im Begriff war, eine Rede zu halten, und der Ernst der Aufmerksamkeit stand im Verhältniß zu der Seltenheit des Vorfalls; denn, obgleich nicht ungeübt in der Rhetorik der Wahltribüne, hatte der Squire doch erst dreimal vor seinen Bauern in Hazeldean eine eigentliche Rede gehalten – das erste Mal bei einer ähnlichen festlichen Gelegenheit, wie die heutige, als er ihnen nämlich seine Braut vorstellte – denn bei einer zweifelhaften Wahl für die Grafschaft, die für ihn mehr, als gewöhnliches Interesse gehabt hatte, und wobei er nicht ganz so nüchtern gewesen war, wie er hätte sein sollen – und endlich zu einer Zeit großer Noth unter dem Bauernstande, als sich die Pächter ungeachtet der Ermäßigung ihrer Pachtzinsen gezwungen sahen, eine große Anzahl ihrer gewöhnlichen Tagelöhner zu entlassen. Damals hatte der Squire gesagt: »Ich habe meine Meute aufgegeben, weil ich einen schönen Wasserspiegel in meinem Park haben und alles tiefliegende Land in der Umgegend entwässern möchte. Jeder, der um Arbeit verlegen ist, komme daher zu mir!« und in jenem traurigen Jahre betrug die Armensteuer in Hazeldean keinen Pfennig mehr, als sonst.

Und jetzt erhob sich der Squire zum viertenmal, um eine Rede zu halten. Zu seiner Rechten stand Harry, zu seiner Linken Frank. Am Ende der Tafel befand sich Pfarrer Dale, als Vicepräsident, und hinter ihm, halb versteckt, seine Gattin. Sie weinte sehr leicht und hielt bereits ihr Taschentuch vor die Augen.


Neunundzwanzigstes Kapitel.

Die Rede des Squires.

» Freunde und Nachbarn! – Ich danke Euch herzlich, daß Ihr auch heute um mich versammelt und mir und den Meinigen so viele Theilnahme bewiesen habt! Meine Muhme ist zwar nicht unter Euch geboren, wie ich, allein Ihr habt sie schon gekannt, als sie noch ein Kind war. Ihr werdet ihr liebes, freundliches Gesicht, das nie zürnen konnte, oft an den Thüren Eurer Hütten vermissen, wie es mir und den Meinigen noch lange in der alten Halle fehlen wird –«

Hier begannen einige der Weiber zu schluchzen, und von Mrs. Dale war nichts mehr sichtbar, als ihr weißes Taschentuch. Der Squire selbst hielt inne und wischte sich mit dem Rücken seiner Hand eine Thräne ab. Dann begann er von Neuem mit einem plötzlichen Wechsel der Stimme, der elektrisch wirkte. –

»Denn Niemand weiß ein Gut nach Gebühr zu schätzen, als bis er es verloren hat! Nun, Freunde und Nachbarn – vor Kurzem hatte es den Anschein, als habe sich ein Geist des Grolls in das Dorf eingeschlichen – des Grolls zwischen Euch und mir, Nachbarn! Ei – das sieht meinen Hazeldeanern nicht gleich!«

Die Versammlung ließ die Köpfe hängen! Noch nie hatte man Leute gesehen, die sich so gründlich vor sich selbst schämten. Der Squire fuhr fort –

»Ich will nicht sagen, daß es Eure Schuld allein war. Vielleicht lag der Fehler auch an mir.«

»Nein – nein – nein!« erscholl es im allgemeinen Chorus.

»Nun, Freunde,« fuhr der Squire demüthig und in einem jener anschaulichen Aphorismen fort, welche, weniger fein, als diejenigen Doctor Riccabocca's, mehr in dem Bereich der Fassungsgabe seiner Zuhörerschaft lagen; »nun, wir sind Alle Menschen, und jeder Mensch hat sein Steckenpferd: zuweilen bändigt er dasselbe, zuweilen aber wird es auch Meister über den Menschen. Das Rößlein des Einen hat die üble Gewohnheit, immer am Wirthshause halten zu wollen! (Gelächter.) Dasjenige eines Andern ist nicht nagelsbreit von der Thüre wegzubringen, wo eine schmucke Dirne ihm die Woche vorher den Hals gestreichelt hat – ein Steckenpferd, das ich selbst oft geritten habe, als ich meiner lieben Frau da den Hof machte! (Viel Gelächter und Beifallklatschen.) Manche haben ein faules Pferd, das nicht von der Stelle will, Andere wieder Ausreißer von Thieren, die man nicht zum Stehen bringen kann. Doch um mich kurz zu fassen – mein Lieblingsrößlein trabt, wie Ihr wohl wißt, überall hin auf meinen Gütern, wo es mir scheint, daß das Auge und die Hand des Herrn von Nöthen sind. Ich kann es nicht leiden,« rief der Squire, warm werdend, »wenn Dinge vernachlässigt werden und in Folge dessen in Verfall gerathen und zu Grunde gehen. Das Land, worauf wir leben, ist uns eine gute Mutter, für die wir nicht zu viel thun können. Es ist wahr, ich verdanke ihr eine hübsche Anzahl Morgen und habe daher wohl Ursache, gut von ihr zu reden. Aber was ist es dann? Ich lebe unter Euch, und was ich mit der einen Hand als Pachtzins von Euch nehme, das theile ich mit der andern wieder unter Euch aus. (Leises, aber zustimmendes Gemurmel.) Je mehr ich nun mein Besitzthum verbessere, desto mehr Mäuler ernährt es. Mein Urgroßvater hielt ein Feldbuch, in welches nicht nur die Namen aller Pächter und der Umfang des Landes, das sie bewirtschafteten, sondern auch die Durchschnittszahl der darauf beschäftigten Arbeiter verzeichnet war. Mein Großvater sowohl, als mein Vater folgten seinem Beispiel, und ich habe dasselbe gethan. Nun finde ich, daß unser Pachtzins sich verdoppelt hat seit der Zeit, als mein Urgroßvater das Buch anlegte. Aber, Nachbarn, merkt wohl, es werden jetzt auch mehr, als viermal so viel Arbeiter auf dem Gute beschäftigt, die noch dazu viel höhern Lohn beziehen! Seht Ihr nun, Ihr Leute, wie wichtig es ist, daß man sein Eigenthum zu verbessern sucht und nichts zu Schanden gehen läßt? (Beifall.) Und deßhalb, Nachbarn, müßt Ihr mir mein Steckenpferd zu gute halten, da es ja nur Korn auf Eure Mühle trägt. (Wiederholter Beifall.) Aber Ihr werdet sagen, ›Worauf hat es denn der Squire abgesehen?‹ Einfach darauf, meine Freunde: Es gab ein einziges vernachlässigtes, zerfallenes Ding im Kirchspiel von Hazeldean, und das war mir ein Dorn im Auge. Darum sattelte ich mein Steckenpferd und ritt darauf los. Aha! Ihr merkt schon, was ich meine! Ja, aber Ihr hättet Euch die Sache nicht so zu Herzen nehmen sollen, Nachbarn! Das war ein schlechter Streich von Einem unter Euch, mich in effigie, wie man es nennt, aufzuhängen.«

»Sie sind es nicht gewesen, sondern Nick Stirn!« rief eine Stimme aus der Menge.

Der Squire erkannte die Stimme des Kesselflickers; allein wenn er auch den Rädelsführer nun errieth, so war er doch zu klug und zu großmüthig, um an diesem Tage allgemeiner Amnestie zu sagen: »Tritt hervor, Sprott! Du bist der Mann!« Gleichwohl vertrug es sich nicht mit seinem Rechtlichkeitsgefühl, diese Ehrenerklärung auf Kosten seines Dieners anzunehmen.

»Wenn Ihr Nick Stirn gemeint habt, so ist es nur eine um so größere Schande für Euch,« sagte er mit großem Ernst. »Es zeigte noch einigen Muth, den Herrn zu hängen; den armen Diener jedoch, der nur seine Pflicht zu erfüllen trachtete, unbekümmert, welchen Haß er sich dadurch zuzog – diesen zu hängen, das war ein Schurkenstreich, der meinen Hazeldeanern so wenig gleich steht, daß nach meiner Ansicht der Mann, der sie dazu verführte, gar nicht in unserm Kirchspiel geboren sein kann. Doch lassen wir das Vergangene beruhen! Eines ist klar, Ihr habt an meinem neuen Stock keine Freude! Er ist ein Stein des Anstoßes und Aergernisses geworden, und ich kann nicht läugnen, daß wir ohne denselben sehr gut mit einander auskamen; doch darf ich auch sagen, daß wir uns trotz desselben neuerdings wieder zusammengefunden haben. Ihr glaubt nicht, wie wohl es mir that, Eure Kinder wieder auf dem Dorfrasen spielen und Eure ehrlichen Gesichter trotz des Stockes und jener teuflischen Tractate bei dem Gedanken an das freudige Ereigniß in der Halle sich wieder aufheitern zu sehen. Wißt Ihr was, Nachbarn? Ihr erinnert mich an eine alte Geschichte, die sich neben ihrer Anwendung auf das Kirchspiel Jeder merken kann, der schon verheiratet ist, oder sich zu verheirathen gedenkt. Hans und Hanne, ein wackeres Paar, hatten manches lange Jahr glücklich mit einander gelebt, bis sie auf den unseligen Einfall kamen, ein neues Polster zu kaufen. Hans behauptete, das Polster sei zu weich, Hanne dagegen, es sei zu hart, und so fingen sie an, zu streiten. Nachdem sie den ganzen Tag mit einander geschmollt hatten, kamen sie überein, des Nachts das Kissen zwischen sich zu legen.« (Schallendes Gelächter unter den Männern, während die Weiber nicht wußten, wohin sie schauen sollten, außer Mrs. Hazeldean, welche, obwohl noch rosiger, als gewöhnlich, ihr unschuldiges, gemüthliches Lächeln beibehielt, als ob sie sagen wollte: »Der Squire macht keine schlimmen Spässe!«) Der Redner fuhr fort: »Nachdem sie eine Weile so gelegen, schweigend und mürrisch, wandelte Hans ein Niesen an. ›Helf' dir Gott!‹ ruft Hanne über das Polster hinüber. ›Hast du ›helf' dir Gott' zu mir gesagt?‹ entgegnete Hans. ›Dann fort mit dem Polster!‹«

Lang anhaltendes Gelächter und stürmischer Beifall.

»Freunde und Nachbarn,« begann, nachdem die Ruhe hergestellt war, der Squire wieder, indem er das Trinkhorn erhob, »ich mache mir die Freude, Euch anzukündigen, daß ich befohlen habe, den Stock abzubrechen und eine Bank für den Kaminwinkel unseres alten Freundes, Gevatter Solomons, daraus zu machen. Aber wohlgemerkt, Ihr Jungen, wenn Ihr je dem Kirchspiel Anlaß gebt, den Verlust seines Stockes zu beklagen – wenn die Aufseher mit langen Gesichtern zu mir kommen, und sagen, ›der Stock muß wieder gebaut werden,‹ dann –« Die ganze Dorfjugend erhob hier ein solches Geschrei der Verwahrung, daß der Squire ein sehr stümperhafter Redner gewesen wäre, wenn er noch ein Wort über den Gegenstand hinzugesetzt hätte. Er schwenkte daher das Trinkhorn über seinem Haupte und rief: »Nun, das ist mein altes Hazeldean wieder! Gesundheit und langes Leben Euch Allen!«

Der Kesselflicker hatte sich leise fortgeschlichen und ließ sich die nächsten sechs Monate nicht mehr im Dorfe blicken. Und von den giftigen Tractaten mit ihren verlockenden Aufschriften, wie, »Des armen Mannes Freund,« oder »Die Rechte der Arbeit,« konnte man kein einziges mehr in den Küchenkästen von Hazeldean versteckt finden, so wenig, als der tödtliche Nachtschatten auf dem Blumentisch im Besuchzimmer der Halle zu sehen war. Auch das revolutionäre Bierhaus brauchte nicht durch den Magistrat geschlossen zu werden; es schloß sich von salbst, noch ehe die Woche zu Ende gegangen.

O junges Haupt des mächtigen Hauses Habsburg, welch' ein Hazeldean hättest du aus Ungarn machen können! Welch' ein › Moriamur pro rege nostro!‹ Als die österreichische Kaiserin Maria Theresia sich 1741, inmitten des ersten Schlesischen Krieges, in Wien nicht mehr sich glaubte, trat sie, jungen Joseph im Arm haltend, wandte sie sich an die Ungarn und sagte: »Verlassen von meinen Freunden, verfolgt von meinen Feinden, von meinen nächsten Anverwandten angefallen, bleibt mir nichts als eure Treue, eure Muth und meine Standhaftigkeit übrig. In eure Hände gebe ich die Tochter und den Sohn eurer Könige.« Von Enthusiasmus ergriffen, zogen die braven Ungarn ihre Säbel und riefen einstimmig aus: »Wir wollen für unsre Königin Maria Theresia sterben!« würde dein junges Regiment begrüßt haben – wenn du eine Rede gleich derjenigen unseres Squires gehalten hättest!



 << zurück weiter >>