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welches zeigt, wie ich dazu kam,
meine Novelle zu schreiben.
Der Schauplatz ist die Halle in Onkel Rolands Thurm. Es ist Winterszeit und Nacht.
Mr. Caxton sitzt vor einem großen Erdglobus, welchen er gemächlich und »zu seiner eigenen Unterhaltung« dreht, wie nach Sir Thomas Browne's Englischer Philosoph und Dichter (1605–1682) Behauptung ein Philosoph den Erdball drehen würde, den der Globus darzustellen bestimmt ist.
Meine Mutter hat soeben ein ganz kleines Kleidchen mit einer zierlichen Litze besetzt und hält es auf Armslänge vor sich hin, um die Wirkung desto besser bewundern zu können.
Blanche, obgleich mit beiden Händen sich auf der Mutter Schulter lehnend, betrachtet nicht das Kleidchen, sondern blickt nach Pisistratus hin, welcher, in seinem Stuhle zurückgelehnt, am Feuer sitzt, den Kopf hängen läßt und in sehr schlechter Laune zu sein scheint.
Onkel Roland, der ein großer Liebhaber von Romanen geworden ist, hat sich in die Geheimnisse eines höchst interessanten dritten Bandes vertieft. Mr. Squills hat zu seinem Nutzen und Vergnügen die »Times« mitgebracht und runzelt eben die Stirne über »den Stand des Geldmarktes«; er ist sehr im Zweifel, ob die Eisenbahnactien wohl noch tiefer fallen werden; denn der glückliche Mr. Squills hat sich etwas Beträchtliches erspart und weiß nicht, was er mit seinem Gelde anfangen soll, oder – um uns seiner eigenen Worte zu bedienen – »wie er am wohlfeilsten einkaufen kann, um am theuersten wieder loszuschlagen.«
Mr. Caxton (nachsinnend). – »Es muß eine ungeheuer lange Reise gewesen sein. Hier herum müssen sie sich, denke ich, getheilt haben.«
Meine Mutter, um Austin zu zeigen, daß sie die Artigkeit gehabt habe, seine Bemerkung ihrer Aufmerksamkeit zu würdigen, frägt mechanisch: »Wer hat sich getheilt, mein Lieber?«
»Meiner Treu, Kitty,« versetzte mein Vater in großer Bewunderung, »du wirfst da gerade die Frage auf, welche am schwersten zu beantworten ist. Ein scharfsinniger Forscher über die Racen behauptet, daß die Dänen, deren Nachkommen den Haupttheil unserer nordischen Bevölkerung bilden (und in der That, wenn seine Vermuthung richtig wäre, müßten wir sie auch auf alle ältern Anbeter Odin's Anbeter Odins (bzw. Wotans): die germanischen Völker. anwenden) denselben Ursprung haben, wie die Etrusker. Und warum Kitty, ich frage dich nur; warum?«
Meine Mutter schüttelte nachdenklich das Haupt und hielt das Kleidchen nach der andern Seite des Lichts.
»Ganz gewiß,« rief mein Vater energisch, »weil die Etrusker ihre Götter die ›Aesar‹ und die Skandinavier die ihrigen die ›Aesir oder Asen‹ genannt haben. Und wohin glaubst du, daß dieser abenteuerliche Gelehrte ihre Wiege versetzt?«
»Ihre Wiege?« sagte meine Mutter träumerisch, »vermuthlich in die Kinderstube.«
Mr. Caxton. – »Ganz richtig, in die Kinderstube des Menschengeschlechts – gerade hierher,« und mein Vater deutete auf den Globus. »Diese Gegend wird, wie du siehst, von dem Flusse Halys Der antike Fluss Halys liegt in der heutigen Türkei und heißt Kizilirmak. begrenzt und hat ihren Namen von Aes oder As (ein Wort, welches Licht oder Feuer bedeutet), woraus seit undenklichen Zeiten der Name Asten entstanden ist. Nun siehst du, Kitty, von Aes oder As will unser ethnologischer Forscher nicht nur das Land Asien, sondern auch seine Ureinwohner, die Aesar oder Asen ableiten. Hieraus folgert er den Ursprung der Etrusker und Skandinavier. Wenn wir ihm aber so viel zugeben, müssen wir auch noch weiter gehen und von demselben Ursprung das Es der Celten, das Ised der Perser und – was dem armen Manne wohl von größerem Nutzen wäre, als alles Uebrige zusammen genommen – das Aes der Römer ableiten, diesen Gott des Kupfergeldes, einen äußerst mächtigen Penaten, selbst noch heutzutage!«
Meine Mutter schaute nachdenklich auf ihr Kleidchen, als ob sie meines Vaters Behauptung in ernsthafte Erwägung zöge.
»So kamen vielleicht,« nahm mein Vater wieder das Wort, »ganz in Uebereinstimmung mit den heiligen Schriften, von dieser einen großen elterlichen Horde alle jene verschiedenen Stämme her, die den Namen ihres geliebten Asiens mitnahmen und – sie mochten nun nach Norden oder Westen oder Süden wandern – den emphatischen Namen ›Kinder des Lichtlandes‹, den sie trugen, zu dem Titel ihrer Götter erhoben. Und wenn man bedenkt« (fügte Mr. Caxton pathetisch hinzu, indem er den Punkt auf dem Globus betrachtete, worauf sein Zeigefinger ruhte) »wenn man bedenkt, wie wenig sie ihre Lage verbesserten, als sie an den Don gelangten oder mit ihren Flößen zwischen die Eisberge des baltischen Meeres geriethen, während es ihnen hier so wohl erging, wenn sie nur hätten dableiben können!«
»Und warum, zum Henker, konnten sie es denn nicht?« fragte Mr. Squills.
»Vermuthlich wegen allzugroßer Uebervölkerung und Mangel an Lebensmitteln,« antwortete mein Vater.
Pisistratus (mürrisch). – »Noch wahrscheinlicher, weil sie die Korngesetze abgeschafft hatten.«
» Papae!« Lateinischer Ausruf des Erstaunens. rief mein Vater; »das wirft ein neues Licht auf diesen Gegenstand.«
Pisistratus (der sich, nur mit seinem Verdruß beschäftigt, keinen Strohhalm um die Abkunft der Skandinavier bekümmert). – »So viel ist wenigstens gewiß, daß, wenn wir jährlich fünfhundert Pfund an einem ganz schuldenfreien Gute verlieren sollen, welches, nach dem Urtheile aller Sachverständigen für die ganze Grafschaft als Musterwirthschaft gilt, so ist es die höchste Zeit für uns, Aesar oder Asen, oder wie man sie nennen mag, zu werden, und auf dem Gebiete anderer Nationen eine Niederlassung zu gründen, da sonst höchst wahrscheinlich das Armenhaus unsre letzte Zuflucht werden dürfte.«
Mr. Squills (der, wie man nicht vergessen darf, ein enthusiastischer Vertheidiger des Freihandels ist). – »Sie brauchen nur mehr Kapital in das Land zu stecken.«
Pisistratus. – »Wohlan, Mr. Squills, wenn Sie dies für eine so vortheilhafte Gelegenheit halten, Geld anzulegen, so stecken Sie das Ihrige hinein! Ich verspreche Ihnen, daß Sie den Profit bis auf den letzten Schilling erhalten sollen.«
Mr. Squills (sich hastig hinter die »Times« flüchtend). – »Ich kann nicht glauben, daß die Great Western-Actien noch tiefer fallen sollen; allein es ist doch sehr gewagt – ich will daher nur einige Hunderte auf's Spiel setzen.«
Pisistratus. – »Auf unser Land, Squills? Ich danke Ihnen!«
Mr. Squills. – »Nein, nein – behüte der Himmel! Auf die Great Western!«
Pisistratus versinkt wieder in sein voriges Brüten. Blanche schleicht sich schmeichelnd zu ihm heran und wird zur Belohnung für ihre Mühe hart angefahren.
Nach einer Pause beginnt Mr. Caxton: »Es gibt zwei goldene Lebensregeln; die eine bezieht sich auf den Geist, die andere auf den Geldbeutel. Die erste heißt: Wenn unsere Gedanken in einen gedrückten, aufgeregten oder fieberischen Zustand gerathen, so sollen wir sie eine Luftveränderung gebrauchen lassen. Die zweite ist in dem Sprichwort enthalten: Es ist gut, wenn man zwei Stränge für seinen Bogen hat. Deßhalb rathe ich dir, Pisistratus – schreibe ein Buch!«
Pisistratus. – »Ein Buch schreiben? – Gegen die Aufhebung der Getreidezölle? Was hilft's, Vater? Das Unheil ist geschehen. Es gehörte eine weit geübtere Feder, als die meinige dazu, eine Parlamentsacte todt zu schreiben.«
Mr. Caxton. – »Ich habe nur gesagt – schreibe ein Buch. Alles Uebrige ist ein Zusatz deiner erhitzten Einbildungskraft.«
Pisistratus (vor dem die Erinnerung an das große Buch Siehe Mr. Caxtons vielbändige »Geschichte des menschlichen Irrtums« in Bulwers Roman »Die Caxtons« (1849); die Wirren um die Edition des gelehrten Werkes bringt die Familie finanziell fast an den Abgrund. auftaucht). – »Wahrhaftig, Vater, ich sollte denken, das könnte uns vollends den Rest geben!«
Mr. Caxton (der die Unterbrechung nicht zu beachten scheint). – »Ein Buch, das Käufer findet. Ein Buch, welches für das Sinken der Preise Ersatz leistet. Ein Buch, das dich zerstreut und dir die trüben Besorgnisse verscheucht, das die Liebe zu deinem Geschlechte und die Hoffnung auf den endlichen Triumph gesunder Grundsätze neu belebt – durch den Anblick eines hübschen Ueberschusses beim Abschluß der Jahresrechnung. Es ist erstaunlich, welchen Unterschied dieser kleine Umstand in unserer Lebensanschauung hervorbringt. So erinnere ich mich, daß Squills in einem merkwürdig gesunden Jahre, als die Bank, in welcher er unvorsichtiger Weise tausend Pfund angelegt hatte, fallirte, gewaltigen Lärm schlug und behauptete, das Land befinde sich am Rande des Verderbens, während er jetzt, da er, Dank einer langen Folge von ungesunden Jahren, ein überschüssiges Kapital hat, um es bei der Great-Western auf's Spiel zu setzen, fest überzeugt ist, daß England noch nie in einer glücklicheren und blühenderen Lage gewesen sei.«
Mr. Squills (etwas verdrießlich). – »Pah, pah!«
Mr. Caxton. – »Schreibe ein Buch, mein Sohn – schreibe ein Buch! Brauche ich dir noch zu sagen, daß nach Hyginus Römischer Gelehrter der augusteischen Zeit. Geld oder Moneta die Mutter der Musen war? Schreibe ein Buch!«
Blanche und meine Mutter (in vollem Chor). – »O ja, Sisty, ein Buch, ein Buch! Du mußt ein Buch schreiben!«
»Ich bin überzeugt,« nahm Onkel Roland das Wort, indem er den Band zuschlug, den er soeben ausgelesen hatte, »er könnte ein Buch schreiben, das verteufelt besser ausfiele, als dieses hier. Und wie ich dazu komme, einen Abend nach dem andern so dummes Zeug zu lesen, das ist eine Frage, die ich wohl schwerlich vor einem einsichtsvollen Schwurgerichte zu beantworten vermöchte, selbst wenn mein eigener Anwalt mich auf die mildeste Weise verhörte.«
Mr. Caxton. – »Siehst du, Roland hat dir soeben angegeben, was für ein Buch es sein soll.«
Pisistratus. – »Dummes Zeug, Vater.«
Mr. Caxton. – »Nein, das nicht gerade; aber ein Buch dieser Art, das man sich nicht enthalten kann, zu lesen, es mag nun dummes Zeug sein oder nicht. Novellen sind ein Bedürfniß unserer Zeit geworden, darum solltest du eine Novelle Der Begriff wird hier, wie im Titel, in der englischen Bedeutung gebraucht: Roman. schreiben.«
Pisistratus (geschmeichelt, aber mit einigem Zweifel). – »Eine Novelle! Aber alle Gegenstände, worüber man Novellen schreiben kann, sind schon erschöpft. Es gibt Novellen aus dem Volksleben, aus der vornehmen Welt, militärische Novellen, philosophische, religiöse und geschichtliche Novellen, Novellen über Indien, die Colonien, das alte Rom und die egyptischen Pyramiden. Welcher Vogel, sei es ein wilder Adler oder ein zahmer Scheunensperling, kann mir
›Nur eine ungebrauchte Feder liefern,
Die meiner Phantasie als Schwinge diene?
‹«Angelehnt an eine Passage aus dem Prolog zu »Comedy of Fashionable Friends« (1802)
Mr. Caxton (nach kurzem Besinnen). – »Du erinnerst dich wohl der Geschichte, welche Trevanion (um Verzeihung Lord Ulswater wollt' ich sagen) uns neulich Abends erzählt hat. Sie gibt dir etwas von der Romantik des wirklichen Lebens für deinen Entwurf, versetzt dich auf einen dir wohlbekannten Schauplatz und liefert dir Charaktere, welche seit Fieldings Henry Fielding (1707-1754), bedeutender englischer Romanautor (»Tom Jones«). Siehe auch Zweites Buch, Einleitungskapitel. Zeiten nur selten beschrieben worden sind. Du kannst uns den Landedelmann schildern, wie er noch aus deiner Jugendzeit in deiner Erinnerung lebt; er ist ein Exemplar eines Geschlechtes, dessen Andenken wohl erhalten zu werden verdiente und dessen alte Eigenthümlichkeiten rasch dahinsterben, seitdem die Eisenbahnen Yorkshire und Norfolk in den Bereich der Londoner Sitten bringen. Du kannst uns den altmodischen Pfarrer darstellen, wie er in allen wesentlichen Eigenschaften noch jetzt bei uns zu finden ist; und was das Uebrige betrifft, so denke ich wirklich, es dürfte, während dem Vernehmen nach viele beliebte Schriftsteller in Frankreich und sogar auch in England sich die größte Mühe geben, die verschiedenen Klassen gegen einander zu hetzen, und den nächsten besten Stein aus der Gosse aufheben, um ihn nach jedem vornehmen Manne zu schleudern, der noch einen guten Rock auf dem Leibe hat – es dürfte, sage ich, unter solchen Umständen ein nützliches Werk sein, in einigen humoristischen Skizzen jene unschuldigen Missethäter zu zeichnen, die ein wenig besser dran sind, als ihre Nachbarn, und die wir, so sehr sie uns auch mißfallen mögen, doch sicher in einer oder der andern Gestalt ertragen müssen, so lange es noch eine civilisirte Welt gibt. Ja, sie scheinen in ihrer gegenwärtigen Gestalt so gut, als wir sie je bekommen können, wir mögen den Würfelbecher der Gesellschaft schütteln, so viel wir immer wollen.«
» Pisistratus. – »Wohl gesprochen, Vater! Aber dieses einfache Leben des Landedelmannes ist nicht so neu, als du meinst. Washington Irving Amerikanischer Schriftsteller (1783-1859). …«
Mr. Caxton. – »Reizend! Allein er schildert mehr die Sitten des vorigen Jahrhunderts, als die des unsrigen. Du könntest ebensowohl Addison und Sir Roger de Coverley anführen.«
Pisistratus. – »Tremaine und de Vere.« Joseph Addison (1672-1719), einflussreicher englischer Dichter, Politiker und Journalist in der Frühzeit der Aufklärung; Mitbegründer von »The Spectator«. Sir Roger de Coverley ist eine fiktionale Figur dieses Autors. – Tremaine: Or, The Man of Refinement ist ein 1825 anonym erschienener Roman von Robert Plumer Ward. – Edward de Vere (1550-1604), englischer Dichter.
Mr. Caxton. – »Es kann nichts Anmuthigeres geben, aber auch gleich nichts, das dem, was ich meine, unähnlicher wäre. Die Terminusbilder m Original: Pales and Terminus. Es handelt sich dabei um zwei Figuren der antiken Mythologie; Pales oder Pares war eine weibliche Hirten- und Fruchtbarkeitsgottheit, während Terminus als Gott der Grenze auch in Bezug auf die Felder in den Zusammenhang der Agrarkultur gehört., die du auf den Feldern errichten sollst, sind bekannte Gestalten, die du aus einem Eichstamme schnitzen kannst, nicht aber prachtvolle Marmorstatuen auf zwanzig Fuß hohen Porphyr-Piedestalen.«
Pisistratus. – »Miß Austen Jane Austen (1875-1818), bedeutende englische Romanautorin (»Emma«, »Stolz und Vorurteil«), deren Werke auch in der Gegenwart erfolgreich verfilmt werden. – Mrs. Gore in ihrem Meisterwerk ›Mrs. Armytage‹ Catherine Gore (1798-1861), profilierte englische Schriftstellerin mit umfangreichem Romanschaffen; Mrs. Armytage, or Female Domination erschien 1836.; dann Mrs. Marsh Anne Marsh-Caldwell (1791-1874), englische Romanautorin. und für die schottischen Sitten Miß Ferrier Susan Edmonstone Ferrier (1782-1854), schottische Romanautorin.!«
Mr. Caxton (böse werdend). – »O wenn du kein Hirtengedicht schreiben kannst, ohne daß du Virgil oder einen Andern schreien hörst: ›Packt den Dieb!‹, so verdienst du, von einer deiner eigenen Musterkühe gespießt und in die Luft geschleudert zu werden. (Noch verächtlicher.) Ich begreife übrigens nicht, wozu wir so viel Geld ausgeben, um unsre Söhne zur Schule zu schicken, damit sie Latein lernen, wenn dein Anachronismus, Mr. Caxton, nicht einmal anderthalb Zeilen aus dem Phädrus Römischer Fabeldichter des 1. Jh. u.Z. construiren kann. Phädrus, Mrs. Caxton – ein Buch, das im Lateinischen ist, was Haus Däumling in unserer Muttersprache.«
Mrs. Caxton (besorgt und entrüstet). – »Pfui, Austin! Ich bin überzeugt, du kannst Phädrus construiren, lieber Sisty!«
Pisistratus (beobachtet ein klägliches Stillschweigen).
Mr. Caxton – »Ich will ihn auf die Probe stellen.
›
Sua cuique quum sit animi cogitatio
Colorque proprius.‹
Aus Phädrus' Fabeln, Buch 5, XXV, V. 7f: Poeta ad particulonem: Es hat jeder seine Gedanken für sich, jeder weiß seiner Sache seine Farbe zu geben.
Was heißt das?«
Pisistratus (lächelnd). – »Daß Jeder seinen eigenen Färbestoff in sich trägt, um damit seine eigene Färbung auf …«
»Seine eigene Novelle überzutragen,« fiel mir mein Vater in's Wort. » Contentus peragis Du hast zufriedenstellend abgeschnitten!!«
Während des letzten Theiles dieser Unterredung hatte Blanche drei Buch vom besten Postpapier zusammengeheftet und legte sie jetzt sammt ihrem eigenen Tintenzeug und ihrer Stahlfeder vor mich auf mein Tischchen.
Meine Mutter drückte den Finger auf ihren Mund und sagte: »Pst!« Mein Vater kehrte zu der Wiege der Aesar zurück; Kapitän Roland stützte seinen Kopf auf die Hand und schaute zerstreut in das Feuer; Mr. Squills verfiel in einen sanften Schlummer, und nach drei Seufzern, die ein Kieselherz hätten erweichen sollen, stürzte ich mich auf – Meine Novelle.
» So lange ich in dieser Gemeinde bin, ist es nie nothwendig gewesen, Gebrauch davon zu machen,« sagte Pfarrer Dale.
»Was beweist dies?« fragte der Squire mit scharfem Tone und blickte dabei dem Pfarrer fest in's Gesicht.
»Was es beweist?« wiederholte Mr. Dale mit einem Lächeln voll gutmüthiger, aber etwas selbstbewußter Ueberlegenheit. »Was beweist die Erfahrung?«
»Daß Ihre Vorfahren große Dummköpfe waren, und daß ihr Nachkömmling um kein Haar weiser ist.«
»Squire,« versetzte der Pfarrer, »wiewohl dies ein trauriger Schluß ist, so erlaubt mir doch meine Aufrichtigkeit als Denker und meine Demuth als Sterblicher nicht, die Wahrheit desselben zu bestreiten, wenn Sie ihn nämlich allgemein und nicht bloß auf die Familie Dale anwenden wollen.«
»Ei, wirklich!« rief der Squire triumphirend. »Doch um bei der Sache zu bleiben (was keine leichte Aufgabe ist, wenn man mit einem Pfarrer spricht), so möchte ich Sie nur bitten, dort hinüber zu blicken und mir auf Ihr Gewissen – nicht als Geistlicher, sondern nur als Gemeindeglied – zu sagen, ob Sie je ein respektwidrigeres Schauspiel gesehen haben?«
Während er so sprach, streckte der Squire, schwer auf die linke Schulter des Pfarrers gelehnt, seinen Spazierstock in paralleler Richtung mit dem rechten Auge des streitlustigen Geistlichen aus, um dessen Sehorgan nach dem Gegenstande hinzuleiten, den er so wenig schmeichelhaft beschrieben hatte.
»Ich gestehe,« sagte der Pfarrer, »daß dies für das sinnliche Auge ein Ding ist, welches in seinen besten Tagen wenig Anspruch auf Schönheit machte und jetzt in seinem vernachlässigten, verfallenen Zustande nicht einmal pittoresk genannt zu werden verdient. Aber mit dem Auge des innern Menschen, des ländlichen Philosophen und Gesetzgebers betrachtet, behaupte ich, daß es eben durch diese Vernachlässigung, diesen Verfall einen angenehmen Zug bildet in dem, was ich die moralische Topographie eines Kirchspiels nennen möchte.«
Der Squire sah den Pfarrer so grimmig an, als ob er ihn hätte durchprügeln mögen; und in der That bot der fragliche Gegenstand nicht bloß für das Auge des äußern Menschen, sondern auch für das Auge der Ordnung und des Gesetzes, für das Auge eines Landedelmannes und Friedensrichters einen schmählich respektswidrigen Anblick dar. Der Gegenstand war wurmstichig, mit Moos überwachsen, gerade in der Mitte geborsten; durch seine vier hohlen, mit Nesseln umgebenen Augen wucherten Disteln, ein wahrer Wald von Disteln! – und um die Entwürdigung des Ganzen zu vollenden, hatten diese Disteln den Esel eines herumziehenden Kesselflickers herbeigelockt, und dieses unehrerbietige Thier war eben im Begriffe, sich sein Frühstück herauszuholen aus den Augen und dem Rachen des – Kirchspielstockes Beim Kirchspiel- oder Gemeindestock (siehe das Bild im Anhang, das Frontispiz aus der vorliegenden Übersetzung) handelt es sich um eine meist hölzerne Fessel, mit der in früheren Zeiten (vor allem im Mittelalter) Gefangene an der Flucht gehindert und sie zugleich, wie beim Pranger, öffentlich zur Schau gestellt wurden. Die Anwendung betraf in der Regel die Fußgelenke..
Der Squire machte ein Gesicht, als ob er nicht übel Lust hätte, den Pfarrer mit seinem eigenen Stocke zu bearbeiten. Da es ihm aber nicht ganz an Herrschaft über seinen Zorn fehlte, auch glücklicherweise ein Ableitungsgegenstand in der Nähe war, so verschluckte er seinen Groll und sprang – auf den Esel los!
Dem Meister Langohr waren aber seine Vorderfüße mit einem Stricke, an dessen Ende sich ein Holzklotz befand, gefesselt, so daß es ihm nicht leicht möglich war, dem Angriffe zu entfliehen, den sein gotteslästerliches Frühstück heraufbeschworen hatte. Als aber der Esel bei dem elften Stockstreiche sich mit ungewohnter Schnelligkeit umwendete, verwickelte sich der Squire mit dem Fuße in den Strick und fiel kopfüber in die Disteln. Der Esel bückte sich mit großem Ernste und beschnüffelte dreimal seinen zu Boden geworfenen Feind; dann, nachdem er sich überzeugt hatte, daß er für den Augenblick nichts mehr von ihm zu fürchten habe – und um die gewonnene Frist auf's Beste zu benützen, der poetischen Ermahnung eingedenk: »Pflücke die Rose, eh' sie verblüht« Die erste Zeile des Gedichts »To the Virgins, to Make Much of Time« des englischen Dichters Robert Herrick (1591-1674). – rupfte er ganz nahe bei dem Ohre des Squire eine herrlich aufgeblühte Distel ab, so nahe in der That, daß der Pfarrer glaubte, das Ohr sei gleichfalls mitgegangen. Dieser Gedanke gewann um so mehr Wahrscheinlichkeit, als der Squire, sobald er den warmen Athem des Thieres an seinem Gesichte fühlte, mit der vollen Kraft seiner an den Jagdruf gewöhnten Lungen zu schreien anfing.
»Gütiger Himmel, ist es ab?« rief der Pfarrer, seine Person zwischen den Esel und den Squire drängend.
»Hölle und Teufel!« rief der Squire sich reibend, während er auf seine Füße sprang.
»Bst,« sagte der Pfarrer sanft. »Welch ein schrecklicher Fluch!«
»Schrecklicher Fluch!« wiederholte der Squire, sich noch immer reibend. »Wenn Sie doch mit meinen Nankings Nanking: ein chinesisches glattes, festes Baumwollgewebe, dessen sehr echte rötlichgelbe Farbe der dazu verwendeten Baumwolle eigentümlich ist. Hier ist die Hose gemeint. in ein Disteldickicht gefallen wären und die Eselszähne kaum einen Zoll von Ihrem Ohre gefühlt hätten!«
»Es ist also nicht ab?« unterbrach ihn der Pfarrer.
»Nein – das heißt, ich glaube nicht,« sagte der Squire, mit der Hand das gefährdete Organ untersuchend. »Nein, es ist nicht ab!«
»Dem Himmel sei Dank!« versetzte der gute Pfarrer in liebreichem Tone.
»Hm,« brummte der Squire, sich auf's Neue reibend. »Da ist viel zu danken, wenn ich so voll Dornen bin, wie ein Stachelschwein! Wozu es nur auch Disteln auf der Welt geben mag?«
»Zur Nahrung für Esel, wenn man sie ihnen gönnt,« antwortete Mr. Dale.
»Verwünschte Bestie!« rief Mr. Hazeldean Sprechende Namen gebraucht Bulwer gern. Hazeldean, wörtlich etwa »der Vorstand aus dem Haselnussgebüsch«, will sagen: Wald- und Wiesenkönig., dessen ganzer Grimm neu erwachte, sei es in Folge der Erwähnung des Eselgeschlechtes, oder weil er dem Pfarrer nichts Gescheutes zu erwidern wußte, oder aber, weil er plötzlich einen Stich fühlte, der zu schmerzlich war für die schwache Menschlichkeit – besonders Menschlichkeit in Nankings – um ruhig ertragen zu werden. »Verwünschte Bestie!« rief er und holte mit seinem Stocke weit aus, um dem Esel einen Schlag zu versetzen; dieser war bei der Dazwischenkunft des Pfarrers ehrerbietig einige Schritte zurückgewichen, schlug jetzt mit seinem dünnen Schwanze um sich und versuchte vergebens, einen seiner Hinterfüße aufzuheben, indem die Mücken ihn sehr belästigten.
»Armes Geschöpf!« sagte der Geistliche mitleidig. »Sehen Sie nur, es hat eine wunde Stelle auf der Schulter und die Fliegen haben sich gerade darauf gesetzt«.
»So, das freut mich außerordentlich,« versetzte der Squire schadenfroh.
»Pfui, pfui!‹
»Sie haben gut pfui, pfui, sagen; Sie sind nicht in die Disteln gefallen! – Nun, was hat denn der Mann jetzt vor?«
Der Pfarrer war nach einem Kastanienbaume hingegangen, der auf dem Gemeindeanger stand, hatte einen Zweig abgebrochen und kehrte jetzt zu dem Esel zurück, dem er die Fliegen verjagte.
Dann legte er sanft die breiten Blätter auf die Wunde, um sie vor dem Ungeziefer zu schützen. Der Esel wandte den Kopf um und sah ihn mit dankbarer Verwunderung an.
»Ich wollte einen Schilling wetten,« sagte der Pfarrer, »daß dies seit langer Zeit der erste Liebesdienst ist, der dir erwiesen wurde. Und der Himmel weiß, er ist geringfügig genug!«
Bei diesen Worten griff der Prediger in seine Tasche und zog einen Apfel heraus. Es war ein großer, schöner, rothbackiger Apfel, der noch von dem Vorrathe des vergangenen Winters übrig und seiner Zeit von dem berühmten Baume im Pfarrgarten gepflückt worden war. Mr. Dale hatte ihn einem Knaben im Dorfe, der sich in der Sonntagsschule rühmlich ausgezeichnet, zum Geschenke überbringen wollen.
»Von Rechtswegen sollte Lenny Fairfield den Vorzug haben,« murmelte der Pfarrer. Der Esel stützte eines seiner Ohren und streckte schüchtern den Kopf vor. »Aber Lenny würde an einem Zweipencestücke eben so große Freude haben, und was könnte ein solches dir nützen?«
Jetzt berührte der Esel den Apfel mit seinen Nüstern.
»So nimm ihn im Namen der Barmherzigkeit!« sagte der Prediger; »die Gerechtigkeit ist es gewöhnt, zuletzt bedient zu werden.« Und der Esel nahm den Apfel.
»Wie konnten Sie es über das Herz bringen?« begann der Geistliche wieder, auf des Edelmanns Stock deutend.
Der Esel hielt im Kauen inne und schaute den Gutsherrn von der Seite an.
»Pah! friß nur; er wird dich jetzt nicht mehr schlagen!«
»Nein,« versetzte der Squire in entschuldigendem Tone. »Es ist aber kein Esel auf dem Kirchspiele; es ist ein Landstreicher, der in den Pfandstall Obrigkeitlicher Stall, in welchem das gepfändete Vieh so lange aufbehalten wird, bis der Eigenthümer den dadurch verursachten Schaden vergütet hat (nach Adelungs Wörterbuch, 2.Aufl., 1793-1801). gehört. Aber Ihren neumodischen Lehren haben wir's zu danken, daß der Pfandstall sich in ebenso schlechtem Zustande befindet, wie der Stock.«
»Neumodische Lehren!« rief der Pfarrer fast mit Entrüstung aus, denn er hatte große Verachtung vor neuen Moden. »Sie sind so alt, wie das Christenthum, ja sogar so alt, wie das Paradies, welches, wie ich zu beachten bitte, von einem griechischen oder vielmehr persischen Worte abgeleitet wird, das etwas mehr als Garten bedeutet,« fuhr der Geistliche ziemlich pedantisch fort. »Es entspricht dem lateinischen vivarium, d. h. ein Park oder Wald voll unschuldiger, stummer Geschöpfe. Verlassen Sie sich drauf, die Esel durften dort überall Disteln fressen.«
»Wohl möglich,« erwiderte der Squire trocken. »Aber Hazeldean ist nur ein sehr hübsches Dorf und kein Paradies. Morgen soll der Stock ausgebessert werden und der Pfandstall ebenfalls – und der erste Esel, der wieder auf verbotenem Wege gefunden wird, soll mir hinein, so wahr ich Hazeldean heiße!«
»Dann,« versetzte der Geistliche ernst, »will ich nur hoffen, daß das nächste Kirchspiel nicht Ihrem Beispiele folge – und daß Sie und ich nie auf unrechtem Pfade betroffen werden!«
Pfarrer Dale und Squire Hazeldean trennten sich nun; Letzterer, um seine Schafe zu besichtigen; Ersterer, um einige seiner Beichtkinder zu besuchen, worunter sich auch Lenny Fairfield befand, den der Esel um seinen Apfel gebracht hatte.
Lenny Fairfield war sicher um den Weg; denn seine Mutter hatte ein Paar Morgen Wiesenland von dem Squire in Pacht, und es war eben jetzt die Zeit der Heuernte. Leonhard, den man kurzweg Lenny zu nennen pflegte, war der einzige Sohn einer Wittwe. Ihre Hütte stand vereinzelt und etwas abgelegen in einem der vielen Winkel der langen, grünen Dorfgasse. Es war eine echt englische Hütte, wenigstens drei Jahrhunderte alt, mit Mauern von Geröllsteinen, welche in eichenes Fachwerk eingefügt waren und pflichtmäßig alle Jahre weiß getüncht wurden, einem Strohdache, Fenstern mit kleinen Scheiben und einer alten Thüre, die um zwei Stufen höher war, als der Boden. Diese kleine Wohnung war von all dem einfachen, ländlichen Schmucke umgeben, den ein Bauerhäuschen aufzuweisen vermag. Die Thüre war mit Geisblattranken umzogen; auf dem Fensterbrett standen einige Blumentöpfe; der kleine Gartenfleck vor dem Hause war nicht nur höchst sauber gehalten, sondern auch mit Geschmack angelegt. Einige große, unbehauene Steine zu beiden Seiten des Weges bildeten eine Art Felsenportal, das mit Schlingpflanzen bedeckt war, die eben jetzt in voller Blüthe standen; und das Kartoffelfeld war durch eine Einfassung von wohlriechenden Wicken und Lupinen den Blicken entzogen. Freilich nur ein höchst einfacher Schmuck; allein wie sehr gereicht es zur Ehre des Landmannes, sowie des Gutsherrn, wenn man sieht, daß der Pächter sein Haus liebt und daß ihm noch Zeit und Muße übrig bleibt, um für die Verschönerung desselben zu sorgen. Ein solcher Bauer ist gewiß ein schlechter Kunde für das Wirthshaus und ein ungefährlicher Nachbar für den Wildpark des Gutsherrn.
Ein solcher Anblick war für den Geistlichen so angenehm, wie die schönsten Landschaften Italiens für den Kunstkenner nur immer sein können. Er blieb einen Augenblick vor dem Pförtchen stehen, um sich umzuschauen, und sog mit Wollust den Duft der Wicken, vermischt mit dem des frischgemähten Heues, den ein leises Lüftchen von den Feldern zu ihm herübertrug, in ferne Nase. Dann ging er weiter, kratzte sorgfältig seine schon vorher reinen, blankgewichsten Stiefel an dem Eisen vor der Thüre ab – denn Mr. Dale war in seiner Weise eine Art von élégant – und trat in das Häuschen.
Der Künstler betrachtet mit Entzücken die auf eine etrurische Vase gemalte Gestalt einer Nymphe, welche den Saft der Rebe aus ihrer classischen Urne gießt. Eine ebenso harmlose, wenngleich nicht so künstlerische Freude fühlte der Geistliche, als er die Wittwe Fairfield gewahrte, wie sie eine blinkende Kanne zur Erquickung der durstigen Mähder mit schäumendem Tranke füllte.
Mrs. Fairfield war eine nette, reinliche Frau, mittleren Alters, von jener rüstigen Genauigkeit der Bewegungen, die aus einem thätigen, wohl geregelten Geiste zu entspringen pflegt. Als sie nun bei dem Geräusche der nahenden Fußtritte den Kopf nach dem Geistlichen umwandte, zeigte sie ein einnehmendes, wenn gleich nicht eben schönes Gesicht, auf dem das freundliche Lächeln, das jetzt ihre Züge erhellte, einige Falten verwischte, die bei ruhigem Ernste von überstandenem Kummer zeugten, wie denn auch ihre Wangen viel blässer waren, als dies selbst bei dem zarteren Geschlechte der Fall zu sein pflegt, wenn dasselbe in Mitte einer ländlichen Bevölkerung geboren und erzogen wird. Aus diesem Umstande konnte man leicht den Schluß ziehen, daß die Wittwe den frühern Theil ihres Lebens in der dumpfen Luft und unter den Stubenbeschäftigungen einer Stadt zugebracht hatte.
»Lassen Sie sich nicht stören,« sagte der Pfarrer, als Mrs. Fairfield rasch ihren Knix machte und ihre Schürze glatt strich; »wenn Sie auf die Wiese hinausgehen, werde ich Sie begleiten, denn ich habe Lenny etwas mitzutheilen; er ist ein wackerer Junge!«
Wittwe. – »Sie sind sehr gütig, dies zu sagen, Herr Pfarrer; aber er ist es auch.«
Pfarrer. – »Er liest ungemein gut, schreibt recht ordentlich und ist der Beste in der ganzen Schule im Katechismus und der biblischen Geschichte. Ich versichere Sie, wenn ich in der Kirche sein andächtiges Gesicht sehe, so ist es mir, als ob meine Predigt weit besser ausfallen müsse, um eines solchen Zuhörers Willen.«
Wittwe (die Augen mit dem Zipfel ihrer Schürze trocknend). – »Gewiß, Herr Pfarrer, als mein armer Mark starb, hätte ich nicht gedacht, daß ich so fortleben könnte, wie es der Fall war. Aber der Junge ist so lieb und gut, und wenn ich ihn dort in meines seligen Mark's Lehnstuhl sitzen sehe und daran denke, wie lieb er das Kind hatte und was er über ihn sagte, dann ist mir gerade, als ob mein seliger Mann mir zulächle, und ich wünsche dann nicht mehr, schon jetzt mit ihm wieder vereinigt zu werden, sondern zu leben, bis der Junge erwachsen ist und meiner nicht mehr bedarf.«
Pfarrer (der sich abgewendet hat, nach einer Pause). – »Hören Sie denn gar nichts mehr von den alten Leuten in Lansmere?«
»Nein, Herr Pfarrer, seit meines armen Mark's Tod haben sie sich weder um mich, noch den Knaben bekümmert; aber,« fügte die Wittwe mit dem gewöhnlichen Stolze der Landleute hinzu, »'s ist nicht, daß ich ihr Geld nöthig hätte, allein 's ist doch hart, wenn die leiblichen Eltern einem fremd geworden sind.«
Pfarrer. – »Sie müssen es ihnen vergeben. Ihr Vater, Mr. Avenel, war seit dem traurigen Vorfalle nicht mehr derselbe, der … Doch Sie weinen, liebe Frau! Verzeihen Sie! Ihre Mutter ist ein wenig stolz und das sind Sie auch, nur in anderer Weise.«
Wittwe. – »Ich stolz! Gott behüte, Herr Pfarrer! Ich habe nicht ein Fünkchen Stolz in mir! Und dies ist eben der Grund, warum sie immer auf mich herabsahen.«
Pfarrer. – »Ihre Eltern müssen sehr wohlhabend sein und in ein Paar Jahren werde ich mich für Lenny an sie wenden; denn sie haben versprochen, wenn er herangewachsen sein werde, für ihn zu sorgen, wie es ihre Pflicht ist.«
Wittwe (mit funkelnden Augen). – »Das werden Sie hoffentlich bleiben lassen, Herr Pfarrer! Ich möchte nicht, daß Lenny denen verpachtet würde, die ihm, seit er auf der Welt ist, kein freundliches Wort gegönnt haben.«
Der Pfarrer lächelte und schüttelte dann bedenklich den Kopf über den Beweis, den Mrs. Fairfield soeben in Betreff ihres gänzlichen Mangels an Stolz geliefert hatte; allein er sah wohl, daß jetzt nicht der geeignete Moment war, Frieden zu stiften in der Feindschaft, die von allen die unversöhnlichste ist – die Feindschaft zwischen den nächsten Verwandten. Er ließ daher diesen Gegenstand fallen und sagte: »Nun, es ist noch lange Zeit, an Lenny's Zukunft zu denken und wir vergessen darüber die Mähder. Kommen Sie!« –
Die Wittwe schloß ein Hinterthürchen auf, welches durch einen kleinen Obstgarten nach der Wiese führte.
Pfarrer. – »Sie haben hier ein recht angenehmes Plätzchen und ich sehe wohl, daß es meinem Freunde Lenny nicht an Aepfeln fehlen wird. Ich hatte einen für ihn mitgebracht, habe ihn aber unterwegs weggegeben.«
Wittwe. – »O Herr Pfarrer, es ist nicht sowohl die That, als der gute Wille. Gerade so dachte ich, als mir der Gutsherr – Gott segne ihn! – mit dem Pachtzins um zwei Pfund abschlug, in dem Jahre, als er – das heißt, als Mark starb.«
Pfarrer. – »Wenn Lenny so fortfährt, sich nützlich zu machen, so wird es wohl nicht lange währen, bis der Squire Ihnen wieder um die zwei Pfund aufschlägt.«
»Ja, Herr Pfarrer,« versetzte die Wittwe in ihrer Einfalt, »das hoffe ich.«
»Thörichtes Weib!« murmelte der Geistliche. »Die Schulmeisterin würde anders gesprochen haben. Sie können weder lesen, noch schreiben, Mrs. Fairfield, und doch wissen Sie sich sehr wohl aufzudrücken.«
»Mark war, wie Sie sich noch erinnern werden, sehr gelehrt; ebenso wie meine arme, selige Schwester; und obgleich ich vor meiner Verheirathung ein arg einfältiges Ding war, so gab ich mir doch, als wir zusammen kamen, alle Mühe, mich nach ihm zu bilden.«
Sie waren jetzt auf der Wiese angelangt und ein Knabe von ungefähr sechzehn Jahren, der aber, wie die meisten Bauernkinder, viel jünger aussah, als er war, schaute mit lebhaften blauen Augen, die unter einer Fülle brauner Locken hervorblitzten, von der Arbeit auf.
Leonhard Fairfield war in der That ein sehr hübscher Knabe; zwar nicht so stämmig und rothwangig, als man sich das Ideal eines Dorfjungen denkt, noch von so zartem Gliederbau und ausdrucksvollen Zügen, als man bei den Stadtkindern zu finden pflegt, bei welchen der Geist auf Kosten des Körpers ausgebildet wird; aber die Gesundheit der Landluft spiegelte sich auf seinen Wangen und seine gedrungene Gestalt und leichten Bewegungen entbehrten keineswegs der städtischen Grazie. Das Gepräge der Unschuld und Einfalt gab seinen Zügen einen ganz eigentümlichen Reiz.
Man sah es ihm an, daß er von einer Frau erzogen worden und von dem vertrauten Umgang mit andern Kindern fern gehalten war. Der in ihm entwickelte Verstand war nicht durch die Scherze und Püffe seiner Altersgenossen gereift, sondern durch verständige Reden älterer Leute genährt und durch nützliche Kinderbücher mit guten Grundsätzen ausgestattet worden.
Pfarrer. – »Komm her, Lenny. Ich sehe, du erkennst die Wohlthat der Schule; sie kann dich nichts Besseres lehren, als die Stütze deiner Mutter zu sein.«
Lenny (blöde zu Boden schauend, während eine höhere Gluth sein Gesicht überzieht). – »Mit Verlaub, Herr Pfarrer, das kann wohl noch kommen!«
Pfarrer. – »Recht so, Lenny! Laß sehen! Du wirst bald ein Mann sein. Wie alt bist du jetzt?«
Lenny schaut seine Mutter fragend an.
Pfarrer. – »Das solltest du doch wissen, Lenny! Sag' es mir selbst. Schweigen Sie still, Mrs. Fairfield!«
Lenny (in großer Verlegenheit seinen Hut in den Händen drehend). – »Nun, wir haben den Flop, Nachbar Dutton's großen Schäferhund. Der ist jetzt sehr alt.«
Pfarrer. – »Ich frage nicht nach Flop's Alter, sondern nach dem deinigen.«
Lenny. – »Drum hat man mir gesagt, Flop und ich seien zu derselben Zeit auf die Welt gekommen. Das heißt, ich – ich –«
Lenny hält inne, denn der Pfarrer lacht, ebenso Mrs. Fairfield, und die Mähder, welche stillgestanden sind, um zu lauschen, lachen gleichfalls. Der arme Lenny hat ganz den Kopf verloren, und das Weinen steht ihm nahe.
Pfarrer (streichelt ihm die Locken und spricht ermuthigend). – »Gar keine so üble Antwort. Nun wie alt ist denn Flop?«
Lenny. – »Er muß wohl fünfzehn Jahre und darüber sein.«
Pfarrer. – »Wie alt bist du also?«
Lenny (mit einem von Verständniß strahlenden Blick). – »Fünfzehn Jahre und darüber.«
Die Wittwe seufzt und nickt bejahend.
»Das heißt man eine mathematische Folgerung,« sagte der Geistliche. »Oder mit andern Worten,« und hier erhob er seine Augen majestätisch zu den Mähdern, »Lenny, der einfache Lenny, hat, Dank sei es seiner Liebe zu seinem Buche, gezeigt, daß er einer inductiven Ratiocination Eine vom Einzelnen ausgehende und zutreffend verallgemeinernde Schlussfolgerung. fähig ist.«
Bei diesen Worten, deren er sich entledigte, ore rotundo Wörtlich: mit rundem Mund, d.h. mit vollklingender Stimme, beredt (nach Horaz, Ars poetica V. 323f.), hörten die Mähder auf, zu lachen; denn selbst in weltlichen Dingen hielten sie den Pfarrer für ein Orakel, und solche fremdartige, lange Wörter mußten notwendig eine tiefe Bedeutung haben.
Lenny richtete stolz den Kopf in die Höhe.
»Du hast den Flop wohl sehr lieb?«
»Ja gewiß,« versetzte die Wittwe, »wie überhaupt alle armen, unvernünftigen Geschöpfe.«
»Das ist Recht. Nun setze den Fall, mein Junge, du habest einen schönen Apfel, und du begegnest einem Freunde, der ihn noch nöthiger hätte, als du, was würdest du damit thun?«
»Mit Verlaub, Herr Pfarrer, ich würde ihm die Hälfte davon geben.«
Der Geistliche verzog das Gesicht. – »Nicht den ganzen, Lenny?«
Lenny bedachte sich. »Wenn er mein Freund wäre, so würde er den ganzen gar nicht haben wollen.«
»Auf mein Wort, Master Leonhard, du sprichst so gut, daß ich dir schon die Wahrheit sagen muß. Ich hatte einen Apfel für dich mitgebracht als Belohnung für dein gutes Betragen in der Schule; unterwegs jedoch traf ich einen armen Esel, den Jemand schlug, weil er eine Distel gefressen hatte, und um ihn zu entschädigen, gab ich ihm den Apfel. Hätte ich ihm nur die Hälfte geben sollen?«
Lenny's unschuldiges Gesicht überflog ein Lächeln. Mit großem Interesse fragte er: »Hat der Apfel dem Esel gut geschmeckt?«
»Vortrefflich,« erwiderte der Geistliche, in seiner Tasche suchend. Da er aber Leonard Alter und Verstand in Erwägung zog und überdies im Stolz seines Herzens bedachte, wie viele Zeugen er für seine That hatte, hielt er ein Zweipencestück nicht für genügend und brachte daher großmüthig ein silbernes Sechspencestück zum Vorschein.
»Hier, junger Mann, dies ist für den halben Apfel, den du für dich behalten hättest.«
Der Pfarrer streichelte wieder den Lockenkopf, richtete noch einige freundliche Worte an die Mähder und schlug nach einem herzlichen »guten Tag« gegen Mrs. Fairfield den Weg nach seiner eigenen Wohnung ein.
Eben war er durch die Zaunöffnung gekommen, als er hastige, aber schüchterne Tritte hinter sich hörte. Er schaute zurück und gewahrte seinen Freund Lenny.
Lenny (halbweinend ihm das Geldstück hinhaltend). – »Wirklich, Herr Pfarrer, ich möchte es lieber nicht. Ich würde dem Grauchen doch den ganzen gegeben haben.«
Pfarrer. – »Ei, junger Mann, dann hast du ja noch ein größeres Recht darauf.«
Lenny. – »Nein, Herr Pfarrer, weil Sie mir das Geld blos gegeben hatten, um mich für den halben Apfel zu entschädigen. Wenn ich nun, wie ich hätte sollen, den ganzen hergegeben hätte, so würde ich kein Recht auf das Sechspencestück gehabt haben. Bitte, Herr Pfarrer, sein Sie mir nicht böse, aber nehmen Sie es zurück. Wollen Sie so gut sein?«
Der Geistliche zögerte, und der Knabe steckte ihm das Geldstück in die Hand, wie der Esel seine Nase hineingesteckt hatte, um den Apfel zu suchen.
»Ich sehe wohl,« sagte Mr. Dale bei sich selbst, »wenn man der Gerechtigkeit nicht den ersten Platz am Tische einräumt, so essen die andern Tugenden ihren ganzen Antheil auf.«
Der Fall war in der That verwirrend. Die Barmherzigkeit, die sich als eitle vorlaute, unverschämte Dirne einem überall in den Weg drängt und andrer Leute Aepfel wegnimmt, um sich selbst ihren kleinen Kuchen daraus zu bereiten, hatte Lenny um seinen Antheil betrogen, und jetzt suchte die Empfindlichkeit, die einer schüchternen, linkischen, erröthenden Tugend im Flügelkleide ähnlich sieht, aber nichts destoweniger darauf ausgeht, die Taschen ihrer Schwestern zu berauben, Lenny um seinen rechtmäßigen Lohn zu bringen. Der Fall war in der That schwierig; denn der Pfarrer hielt die Empfindlichkeit sehr in Ehren, trotz ihrer heuchlerischen Streiche, und mochte ihr nicht gerne in's Gesicht schlagen aus Furcht, sie auf immer zu verscheuchen. Mr. Dale blieb daher unschlüssig stehen und schaute bald auf das Sechspencestück, bald auf Lenny.
» Buon giorno – guten Tag, mein Herr!« sagte eine Stimme hinter ihm mit einem etwas fremdartigen Accent, und eine seltsame Gestalt wurde an dem Drehkreuze sichtbar.
Man stelle sich einen langen, hagern Mann in einem rostig schwarzen Anzuge vor; die Beinkleider an den Waden und Knöcheln knapp anliegend und über den dicken, hohen Schnallenschuhen eine lose Gamasche bildend. Ein alter, roth gefütterter Mantel hing ihm ungeachtet der drückenden Hitze über die eine Schulter; unter dem Arme trug er, obgleich weit und breit kein Wölkchen zu sehen war, einen seltsamen, ausländisch aussehenden rothseidenen Regenschirm mit einem ciselirten Messinggriff. Zu den Seiten des breitkrämpigen Strohhutes quoll eine Fülle rabenschwarzer Locken hervor, die an Weichheit mit der Seide wetteiferten und im Einklang mit der bleichen, dunkeln Gesichtsfarbe standen, während die Züge, wenn gleich nicht ohne beträchtliche Schönheit für das Auge des Künstlers, doch sehr verschieden waren von dem, was bei dem blonden, wohlgenährten, glattgesichtigen Engländer für hübsch gilt; ja es lag für diesen eher etwas Abschreckendes, Satanisches in der langen gebogenen Nase, den eingefallenen Wangen und den schwarzen Augen, deren stechender Glanz durch die großen Brillengläser hindurch etwas Zauberhaftes und Mystisches erhielt. Ein Mund, um welchen ein ironisches Lächeln spielte, und in dem ein Physiognom ungemeine Schlauheit und etwas Genauigkeit erkannt haben würde, vollendete das Bild. Denke man sich diese seltsame, abenteuerliche Gestalt, die in den Augen eines Bauern sicherlich etwas Diabolisches hatte; setze man sie auf das Drehkreuz einer Zaunöffnung mitten in jene grünen englischen Auen, deren Hintergrund das einfache englische Dörflein bildet; lasse man sie da sitzen, die langen, ausgespreizten Beine herunterhängend; eine kurze kölnische Pfeife Im Original: a short German pipe. Die dünnen, weißen Tonpfeifen wurden im 19. Jh. holländische oder kölnische Pfeifen genannt. (Nach Johann Heinrich Moritz von Poppe: Die Geschichte der Erfindungen. Stuttgart 1837. S. 104.) zwischen den Zähnen, während einer Ecke der sardonischen Lippen von Zeit zu Zeit Rauchwolken entströmen; denke man sich endlich die schwarzen, stechenden Augen hinter der Brille in gerader Richtung auf den Geistlichen und zugleich schräg auf Lenny Fairfield geheftet – und man wird es vielleicht begreiflich finden, daß des Letzteren Züge nicht geringe Furcht ausdrückten.
»Auf mein Wort, Doctor Riccabocca »Üppiger Mund«.,« sagte Mr. Dale lächelnd, »Sie kommen eben zu rechter Zeit, um eine sehr spitzfindige, casuistische Frage zu lösen –« und nun setzte der Pfarrer den Fall aus einander und schloß mit den Worten: »Soll nun Lenny das Sechspencestück behalten oder nicht?«
» Cospetto Cospetto bedeutet eigentlich »Gegenwart«. Bei der Verwendung als Ausruf ist »Gottes« mit zu denken; also etwa: »Bei Gott!«, »Herrjeh!«,« sagte der Doctor; »wenn die Henne nicht gackerte, wüßte Niemand, daß sie ein Ei gelegt hat.«
» Zugegeben,« sagte der Pfarrer; »aber was folgt daraus? Das Sprüchwort ist gut; allein ich sehe nicht ein, wie es hier anzuwenden wäre.«
»Ich bitte tausend Mal um Verzeihung,« versetzte Doctor Riccabocca mit der ganzen Höflichkeit des Italieners; »aber mich däucht, wenn Sie das Sechspencestück dem fanciullo – das heißt dem guten, kleinen Knaben – gegeben hätten, ohne ihm die Geschichte von dem Esel zu erzählen, so hätten Sie sich und ihm dieses finale Dilemma erspart.«
»Aber mein lieber Doctor,« flüsterte diesem der Geistliche sanft in's Ohr, »dann hätte ich ja die Gelegenheit versäumt, eine moralische Lehre einzuschärfen.«
Doctor Riccabocca zuckte die Achseln, steckte die Pfeife wieder in seinen Mund und that einen langen Zug. Es war ein beredter, obgleich cynischer Zug – ein dem philosophischen Raucher eigenthümlicher Zug – ein Zug, welcher auf die ruhigste Weise den vollständigsten Unglauben an die Wirksamkeit der moralischen Lehre des Geistlichen ausdrückte.
»Sie haben uns Ihre Entscheidung noch immer nicht mitgetheilt,« sagte Mr. Dale nach einer Pause.
Der Doctor nahm die Pfeife wieder auf dem Munde. » Cospetto,« erwiderte er; »wer einem Esel den Kopf wäscht, vergeudet seine Seife.«
»Wenn Sie mir den meinigen fünfzig Mal wüschen mit Ihren räthselhaften Sprüchwörtern,« sagte der Geistliche verletzt, »so würden Sie mich damit um nichts weiser machen.«
»Mein bester Sir,« sagte der Doctor, sich von seinem Sitze auf dem Drehkreuz herab tief verneigend, »ich habe nie zu verstehen geben wollen, daß mehr als ein Esel in der Geschichte vorkam; allein ich konnte meine Ansicht nicht besser ausdrücken. Ich wollte blos sagen, daß Sie dem Esel den Kopf gewaschen haben und daher Ihre Seife opfern müssen. Der fanciullo muß sein Sechspencestück bekommen, und das ist freilich eine große Summe für einen kleinen Knaben, der sie ganz nach Belieben verwenden darf.«
»Hörst du das, Lenny?« sagte der Geistliche, ihm das Geldstück hinhaltend. Allein Lenny zog sich zurück und warf auf den Schiedsrichter einen Blick des Abscheus und der Furcht.
»Um Vergebung, Mr. Dale,« sagte er eigensinnig, »ich möchte lieber nicht.«
»Sie sehen, es ist Gefühlssache,« bemerkte der Pfarrer, sich an den Schiedsrichter wendend; »und ich glaube, der Junge hat Recht.«
»Wenn es Gefühlssache ist, erwiderte Doctor Riccabocca, »so läßt sich weiter nichts darüber sagen. Wenn das Gefühl zu der einen Thür hereinkommt, so kann die Vernunft nichts anders thun, als zum Fenster hinaus springen.«
»Geh', mein lieber Junge,« sagte der Pfarrer, sein Geld einsteckend; »doch halt! Gib mir zuvor deine Hand! So, wir verstehen uns. Adieu!«
Lenny's Augen strahlten, als der Pfarrer ihm die Hand schüttelte. Da er sich aber nicht zu sprechen getraute, ging er mit festen Schritten von dannen. Der Geistliche trocknete sich die Stirne und nahm ebenfalls auf dem Drehkreuz neben dem Italiener Platz. Die Aussicht vor ihnen war reizend und Beide freuten sich derselben – wiewohl nicht in gleicher Weise – für einige Augenblicke in stummer Betrachtung. Auf der einen Seite des Weges, zwischen den alten Eichen und Kastanienbäumen, welche die bemooste Einfriedigung von Hazeldean-Park überhingen, zeigten sich sanfte, grüne Anhöhen, auf denen Schafe und Rudel von Hirschen grasten. Weithin nach links erstreckte sich eine stattliche Allee, die wenige Schritte von einer Plattform endigte, welche den Park von einem höher gelegenen, mit Ziersträuchen und Blumenbeeten besetzten Rasenplatze trennte, der durch den Schatten zweier mächtigen Cedern eine liebliche Abwechslung erhielt. Auf dieser Anhöhe, nur zum Theil sichtbar, stand das altmodische Haus des Squire, ein rothes Backsteingebäude, mit steinernen Fensterkreuzen, Giebeln und zierlichen Schornsteinen. Auf der andern Seite des Weges, den beiden Herrn gegenüber, tauchte aus den Krümmungen des Gehäges in blendendem Weiß Hütte um Hütte auf, während jenseits das sich sinkende Land eine weite Aussicht auf Wälder, Kirchthürme, Kornfelder und Meierhöfe gewährte. Aus einem Gürtel von spanischem Flieder und Immergrün sah man das Pfarrhaus hervorragen, welchem eine Waldlandschaft zum Hintergrund diente, während vorne ein geräuschvolles Bächlein dahin rieselte.
Die Vögel in den Hecken schwiegen, nur hin und wieder erscholl, wie aus der Tiefe der entferntesten Wälder, die gedämpfte Stimme des Kukuks.
»Wahrlich,« sagte Mr. Dale sanft, »das Loos ist mir gefallen auf ein liebliches Erbe!« Angelehnt an Psalm 16, 6.
Der Italiener zupfte an seinem Mantel und seufzte leise. Vielleicht dachte er an sein eigenes, sonniges Vaterland und fühlte, daß mitten in dem frischen Grün des Nordens kein Erbe für den Fremdling zu finden sei.
Ehe jedoch der Geistliche den Seufzer wahrnehmen oder vermuthen konnte, was ihn hervorgerufen, nahmen Doctor Riccabocca's dünne Lippen einen fast boshaften Ausdruck an.
» Per bacco,« Wörtlich: für Bacchus. Als Ausruf: »Zum Donnerwetter!« rief er; »daß doch die Raben in jedem Lande sich die schönsten Bäume auswählen, um darauf zu nisten. Sicherlich hat Noah, als er auf dem Ararat landete, an dem lieblichsten Theile des Gebirgs schon einen solchen Schwarzrock angetroffen, der auf den Zehnten wartete von allem Vieh, das aus der Arche kam.«
Der Pfarrer heftete seinen sanften Blick auf den Philosophen, und in seinem Auge lag eher ein bittender, als ein vorwurfsvoller Ausdruck, so daß der Doctor sich abwandte und seine Pfeife auf's Neue stopfte. Doctor Riccabocca war ein Pfaffenfeind; und obgleich Mr. Dale mit ganzer Seele Geistlicher war, so glich er doch so wenig dem Bilde, welches der Italiener sich unter einem Priester vorstellte, daß sein Gewissen ihm Vorwürfe machte wegen seines unehrerbietigen Scherzes über das geistliche Gewand. Glücklicherweise wurde das übelbegonnene Gespräch in diesem Augenblick durch das Erscheinen eines Geschöpfes unterbrochen, das nichts Geringeres war, als – der Esel, der den Apfel verspeist hatte.
Der Kesselflicker war ein stämmiger, sonngebräunter Kerl, lustig und musikalisch dazu; denn er trällerte ein Liedchen, während er seinen Stock schwang, und ließ denselben am Schlusse eines jeden Verses tactgemäß auf den Rücken des armen Thieres niederfallen. Der Kesselflicker marschirte hinten und sang, der Esel ging voraus und wurde geprügelt.
»In Ihrem Lande geht's drollig her,« sagte Doctor Riccabocca, »bei uns bekommt nicht der erste Esel in der Procession die Schläge.«
Der Pfarrer sprang von dem Drehkreuz herab und schaute über die Hecke, welche das Feld von der Landstraße trennte.
»Sachte, sachte,« rief er; »der Schall Eures Steckens verdirbt den Gesang! O Mr. Sprott, Mr. Sprott! Der Gerechte erbarmt sich seines Viehes!«
Der Esel schien die Stimme seines Freundes zu erkennen, denn er hielt stille, stützte aufmerksam das eine Ohr und schaute auf.
Der Kesselflicker griff an den Hut und sah ebenfalls in die Höhe.
»Gott segne Euer Ehrwürden! Er macht sich nichts daraus, er hat es sogar gerne. Gelt, Grauchen, ich möchte dir nichts zu Leide thun?«
Der Esel schüttelte zuerst den Kopf und dann seine Haut. Wahrscheinlich hatte sich eine Mücke auf die wunde Stelle gesetzt, die jetzt nicht mehr durch die Kastanienblätter geschützt war.
»Ich bin überzeugt, daß Ihr ihm nicht weh thun wolltet, Sprott,« sagte der Pfarrer, wie ich fürchte, mit mehr Höflichkeit als Aufrichtigkeit, denn selbst in der kleinen Welt einer Dorfgemeinde hatte er genug gesehen von jenem trotzigen Dinge, welches das menschliche Herz heißt, um zu wissen, daß es einer geschickten Behandlung und vielen Schmeichelns bedarf, um mit Erfolg zwischen einem Manne und seinem Esel den Vermittler zu machen.
»Ich bin überzeugt, Ihr hattet nicht die Absicht, ihm weh zu thun; aber seht, das arme Geschöpf hat schon eine Wunde, so groß wie meine Hand, auf seiner Schulter.«
»Alle Wetter, ja! das hat er durch sein Tollen an der Krippe gefangen, als ich ihm neulich Hafer zu fressen gab.«
Doctor Riccabocca rückte seine Brille zurecht und betrachtete den Esel. Der Esel spitzte auch das andere Ohr und betrachtete den Doctor. Bei dieser gegenseitigen Musterung physischer Qualificationen, nach dem Durchschnittsebenmaß der betreffenden Klassen beurtheilt, mochte es zweifelhaft sein, ob der Philosoph im Vorzug erschien.
Der Pfarrer, welcher in allen Dingen, die sich nicht auf die Kirche bezogen, eine hohe Meinung von der Weisheit seines Freundes hatte, flüsterte ihm zu:
»Legen Sie ein gutes Wort für den Esel ein!«
»Sir,« wandte sich der Doctor mit einem achtungsvollen Gruße an Mr. Sprott; »ich habe einen großen Kessel zu Hause – in dem Casino – welcher gelöthet werden sollte; könnt Ihr mir einen guten Kesselflicker empfehlen?«
»Ei, das schlägt ja in mein Fach ein, und ohne mich rühmen zu wollen, kann ich sagen, es gibt in der ganzen Gegend keinen Kesselflicker, den ich so gut empfehlen könnte, wie mich selbst.«
»Ihr scherzt, mein Freund,« versetzte der Doctor mit einem angenehmen Lächeln. »Ein Mann, der nicht einmal an seinem eigenen Esel ein Loch zuflicken mag, wird sicher sich nicht herablassen, meinen großen Kessel aufzubessern.«
»Der Tausend!« sagte der Kesselflicker schalkhaft; »wenn ich gewußt hätte, daß Grauchen zwei solche Freunde am Hofe hat, so wär mir's wohl nicht entgangen, daß er ein Edelmann ist, und ich würde ihn auch als einen solchen behandelt haben.«
» Corpo di Bacco! Euphemismus für corpo di Christo (da für den Gläubigen in Flüchen Gottesnamen eigentlich nicht vorkommen dürfen): »Donnerwetter!«« rief der Doctor. »Der Witz ist zwar nicht neu; aber der Kesselflicker hat sich geschickt heraus gezogen.«
»Wohl wahr,« versetzte der Pfarrer; »aber der Esel! – Ich habe gute Lust, ihn zu kaufen.«
»Erlauben Sie mir, Ihnen eine hierauf bezügliche Anekdote zu erzählen.«
»Lassen Sie hören,« erwiderte der Pfarrer erwartungsvoll.
»Als einst der Kaiser Hadrian die öffentlichen Bäder besuchte,« begann der Doctor, »sah er, wie ein alter Soldat, welcher unter ihm gedient hatte, seinen Rücken an der Marmorwand rieb. Der Kaiser, ein weiser und darum neugieriger, fragelustiger Mann, ließ den Soldaten kommen und fragte ihn, warum er zu dieser Art von Reibung seine Zuflucht nehme? ›Weil ich zu arm bin,‹ versetzte der Veteran, ›um mir Sklaven zu halten, die mir diesen Dienst leisten könnten.‹ Der Kaiser war gerührt und schenkte ihm Sklaven und Geld. Als Hadrian den nächsten Tag wieder die Bäder besuchte, rieben alle alten Männer der Stadt ihre Rücken mit aller Macht gegen den Marmor. Der Kaiser ließ sie zu sich rufen und that an sie dieselbe Frage, welche die alten listigen Schelme natürlich auf dieselbe Weise beantworteten. ›Freunde,‹ sagte nun der Kaiser, ›da eurer so viele sind, so könnt ihr euch ja gegenseitig reiben!‹ Wenn Sie nicht wünschen, daß alle Esel in der Umgegend mit Wunden auf dem Rücken herumlaufen sollen, so kaufen Sie dem Kesselflicker den seinigen nicht ab.«
»Ach, wie schwer ist es doch in der Welt, auch nur das geringste Gute zu thun!« stöhnte der Pfarrer, während er unmuthig einen Zweig von der Hecke brach, ihn zusammendrückte und die Trümmer auf den Weg warf, wobei ein Stück den Esel auf die Nase traf. Hätte der Esel Latein sprechen können, so würde er ohne Zweifel gesagt haben: » Et tu Brute!« »Auch du, Brutus?« – Die letzten Worte Julius Caesars an seinen Attentäter. So aber ließ er die Ohren hängen und ging weiter.
»Hü!« rief der Kesselflicker und folgte seinem Thiere. Dann blieb er stehen, schaute über seine Schulter zurück und rief freundlich dem Pfarrer zu, der noch immer traurig seinem Schützling nachsah: »Euer Hochwürden darf unbesorgt sein; ich will ihn nicht quälen!«
» Vier Uhr,« rief der Pfarrer, auf seine Uhr sehend; »schon eine halbe Stunde über die Essenszeit, und meine Frau hat mich ausdrücklich ersucht, pünktlich zu sein wegen der schönen Forelle, die uns der Squire geschickt hat. Wollen Sie versuchen, Doctor, was wir im gemeinen Leben ›Topfglück‹ zu nennen pflegen?«
Nun war aber Riccabocca, wie die meisten weisen Leute, namentlich wenn sie Italiener sind, keineswegs geneigt, in die menschliche Natur großes Vertrauen zu setzen. Ja, er war sogar gewohnt, in den einfachsten Handlungen seiner Mitmenschen Eigennutz zu wittern. Als ihn nun der Geistliche zu seinem ›Topfglück‹ einlud, lächelte er mit einer Art stolzer Gefälligkeit; denn Mrs. Dale stand bei ihren Freunden in dem Rufe, daß sie »ihre Launen« habe. Da nun gebildete Damen in Gegenwart eines Fremden, der nicht zur Familie gehört, selten »ihren Launen« freien Lauf lassen, so zog Doctor Riccabocca augenblicklich den Schluß, daß er nur eingeladen worden sei, um für den Topf das Glück zu sichern. Nichtsdestoweniger, da er ein Freund von Forellen und ein viel gutmüthigerer Mann war, als sich mit seinen Grundsätzen vertrug, nahm er die Einladung an; aber mit einem so schlauen Blick über die Brillengläser hinweg, daß dem schuldbewußten Pfarrer das Blut in die Wangen stieg. Doctor Riccabocca hatte diesmal in seiner Schätzung menschlicher Beweggründe das Rechte getroffen.
Die Beiden gingen weiter und gelangten vermittelst einer kleinen Brücke über den Bach nach dem Pfarrhause. Zwei Hunde, welche auf ihren Herrn gewartet zu haben scheinen, sprangen ihm bellend entgegen. Dieser Lärm weckte Mrs. Dale's Aufmerksamkeit, und sie trat nun, mit dem Sonnenschirm in der Hand, durch die Glasthüre, welche auf den Platz vor dem Hause führte. O Leser! ich weiß, daß du im Grunde deines Herzens lächelst über die Unbekanntschaft mit den heiligen Geheimnissen des häuslichen Herdes, die der Autor zu verrathen scheint. Du sagst zu dir selbst: »Eine schöne Art, die böse Laune zu vertreiben, wenn man zu dem Verbrechen, den Fisch zu verderben, noch das größere hinzufügt, einen unerwarteten Freund mitzubringen, der ihn essen helfen soll! Ein rechtes Topfglück, wenn der Topf schon eine halbe Stunde zu lange gekocht hat!«
Aber zu deiner völligen Beschämung und Verwirrung erfahre, o Leser, daß sowohl der Autor, als der Pfarrer Dale gar wohl wußten, was sie thaten.
Doctor Riccabocca stand in besonderer Gunst bei Mrs. Dale und war die einzige Person in der ganzen Grafschaft, deren Besuch ihr nie ungelegen kam. Der Doctor hatte, so seltsam es auch auf den ersten Blick scheinen mag, jenes geheimnißvolle Etwas an sich, das wir Männer so wenig zu begreifen vermögen, das aber das andere Geschlecht stets gewinnt. Er verdankte dies eines Theils seiner großen, obschon heuchlerischen Höflichkeit, denn er betrachtete das Weib als den natürlichen Feind des Mannes, vor dem man beständig auf der Hut sein und den man durch jede Art von schmeichelnder Dienstwilligkeit und kriechender Gefälligkeit entwaffnen müsse. Andern Theils verdankte er es aber auch der mitleidigen und himmlischen Natur der Engel, welche er in seinen Gedanken so schnöde verleumdete; denn Frauen sind sehr leicht eingenommen für eine Person, die sie bemitleiden können, ohne dieselbe verachten zu müssen.
Es lag etwas in Signor Riccabocca's Armuth, in seiner Einsamkeit, seiner freiwilligen oder unfreiwilligen Verbannung, was das Mitleid erregte; während er trotz seines fadenscheinigen Rocks, seines rothen Schirmes und seiner wilden Haare dennoch besonders in seinem Benehmen gegen Damen ganz das Wesen eines vornehmen Mannes hatte, das jedem gebildeten Italiener, von welchem Stande er auch sein möge, angeboren ist, vielleicht in noch höherem Grade, als man es bei der höchsten Aristokratie irgend eines andern europäischen Landes findet. Denn obgleich ich zugebe, daß nichts die Höflichkeit eines französischen Marquis vom alten Regime Ancien Régime , das absolutistische Frankreich vor der Französischen Revolution 1789. übertrifft, nichts anmuthiger und offener ist, als der herzliche Verkehr eines gebildeten englischen Gentleman, nichts einnehmender, als die natürliche Gutmütigkeit eines patriarchalischen Deutschen, der sich in dem Vergnügen, Jemand einen Gefallen zu erzeigen, herabläßt, seine sechzehn Ahnen zu vergessen, so sind diese Proben von Leutseligkeit unter den verschiedenen Nationen doch immer nur selten, während Liebenswürdigkeit und feine Sitte zu den gewöhnlichen Eigenschaften des Italieners gehören. Es scheint, daß er dieselben seit undenklichen Zeiten von seinen Vorfahren ererbt hat, welche in Höflichkeit mit Cäsar wetteiferten und durch die Anmuth des Horaz verfeinert wurden.
»Doctor Riccabocca hat zugesagt, mit uns zu speisen,« rief der Pfarrer hastig.
»Wenn Sie es erlauben, verehrteste Frau,« sagte der Italiener, sich über die dargebotene Hand beugend, die er jedoch nicht ergriff, weil er bemerkte, daß sich bereits die Uhr darin befand.
»Ich bedaure nur, daß die Forelle ganz verdorben sein muß,« begann Mrs. Dale in kläglichem Tone.
»O, an die Forelle denkt man nicht, wenn man das Vergnügen hat, mit Mrs. Dale zu speisen,« sagte der schamlose Heuchler.
»Da kommt eben James, um zu melden, daß das Essen aufgetragen ist,« bemerkte der Pfarrer.
»Das hat er schon vor drei Viertelstunden gethan, Theuerster!« entgegnete Mrs. Dale, indem sie Doctor Riccabocca's Arm nahm.
Während der Pfarrer und seine Gattin ihren Gast bewirthen, erlaube ich mir, den Leser mit einer kleinen Abhandlung über den »Theuersten«, den Mrs. Dale ihrer Ehehälfte zumurmelte, zu unterhalten – eine Abhandlung, ausdrücklich zu Nutz und Frommen des häuslichen Kreises geschrieben.
Es ist ein alter Witz, daß es in der Sprache kein Wort gibt, das so wenig Zärtlichkeit ausdrücke, als der Superlativ von theuer. Allein, wenn auch das Sprichwort, wie die meisten Wahrheiten, abgedroschen und verbraucht ist, so kann doch der Forscher noch ungemein viel Neues in den Varietäten feindseligen Inhalts finden, die in diesem boshaften Wörtchen liegen. So möchte ich zum Beispiel den Erfahrenen darüber hören, ob nicht der Grad der Gehässigkeit aus der Stellung sich ermessen läßt, die das Wort in einem Satze einnimmt. Gleitet es unbehindert durch bis zu dem Schlusse des Satzes, wie in Mrs. Dale's oben erwähnter Anrede, so hat es unterwegs schon so viel von seiner ursprünglichen Bitterkeit verloren, daß es sich zuletzt noch in ein Lächeln kleidet, » amara lento temperet risu.« Horaz, Carm. II, 16, V. 26f.: »… die Bitterkeit sei mit einem ruhigen Lächeln gemäßigt.« Dieses Lächeln ist zuweilen klagend, zuweilen schalkhaft. Zum Beispiel:
(Klagend.)
»Ich weiß wohl, daß ich nichts recht machen kann, Theuerster!«
»Es freut mich in der That, daß du dich ohne mich so gut unterhalten konntest, Theuerster!«
»Nur nicht so laut! Wenn du mein Kopfweh hättest, Theuerster!« u. s. w.
(Schalkhaft.)
»Wenn du nur deine Tinte anderswo verspritzen könntest, als auf unserem besten Tischtuche, Theuerster!«
»Aber obgleich es immer nach deinem Sinne gehen muß, so bist du selbst doch nicht ganz fehlerlos, Theuerster!«
In dieser Stellung kommen viele sowohl altertümliche, als ehliche »Theuerste« vor.
»Halte den Kopf aufrecht und mache kein so mürrisches Gesicht, Theuerster!«
»Sei doch nur ein einzigesmal in deinem Leben ein guter Knabe – Theuerster!«
Wenn der Feind in der Mitte des Satzes inne hält, ist natürlich das Gift noch weniger erschöpft. Zum Beispiel:
»Ich muß in der That sagen, Theuerster, daß du der Unruhigste Mensch von der Welt bist.«
»Und wenn die Haushaltungsrechnungen in der vorigen Woche so viel ausmachten, Theuerster, so möchte ich wissen, wer Schuld daran ist; weiter sage ich nicht.«
»Meinst du, Theuerster, daß du deine Stiefel nirgends sonst abreiben kannst, als an dem hellen Sophaüberzug?«
»Doch du weißt, Theuerster, daß du dich um mich und die Kinder nicht mehr bekümmerst, als um –« u. s. w.
Erschallt aber das unheilverkündende Wort in seiner ursprünglichen Frische am Anfang des Satzes, dann beuge dein Haupt vor dem Sturme. Es legt sich dann die Majestät des »mein« bei und ist meistens nicht blos ein einfacher Verweis, sondern der Vorläufer einer langen Predigt. Die Aufrichtigkeit zwingt mich, zu gestehen, daß dies die Art ist, in welcher der männliche Theil des einen Fleisches dieses hassenswürdige Wort gern anzuwenden pflegt; es hat dann etwas an sich von der widerlichen Anmaßung des Petruchianischen Petruchio ist die männliche Hauptfigur in Shakespeares »Der Widerspenstigen Zähmung«. pater familias – des Familienhauptes – und deutet vielleicht nicht auf »Frieden, Liebe und ein ruhiges Leben«, sicherlich aber auf »strenges Regiment und einschüchternde Obergewalt.« Zum Beispiel:
»Meine theuerste Jane – ich wollte, du legtest einmal diese ewige Häkelarbeit weg und schenktest mir einige Augenblicke Gehör,« u. s. w.
»Meine theuerste Jane – ich wünschte, du möchtest mich einmal recht verstehen – glaube nicht, daß ich zornig bin – nein, aber ich bin gekränkt. Du mußt bedenken,« u. s. w.
»Meine theuerste Jane – ich weiß nicht, ob du die Absicht hast, mich zu Grunde zu richten; aber das kann ich erwarten, daß du thust, wie alle andern Frauen, die sich noch einen Strohhalm um das Eigenthum ihrer Männer bekümmern,« u. s. w.
»Meine theuerste Jane – glaube mir, daß ich zu nichts in der Welt weniger geneigt bin, als zur Eifersucht; aber ich will verdammt sein, wenn jener Lasse, der Kapitän Prettym« u. s. w.
Wenn diese »Theuersten« ganz und gar ausgejätet und ausgerottet werden könnten auf dem Ehstandsgarten, so glaube ich, daß die übrigen Nesseln nicht mehr viel zu bedeuten hätten. Doch auch so würde der gute Pfarrer Dale seinen Garten höher geschätzt haben, als alle von Spenser und Tasso Edmund Spenser (1552-1599), englischer Dichter der Renaissance; sein wichtigster Beitrag zur englischen Dichtung ist The Faerie Queene (»Die Feenkönigin«). – Torquato Tasso (1544-1595), italienischer Dichter, am bekanntesten durch das Versepos La Gerusalemme liberata (Das befreite Jerusalem). so musikalisch besungenen Feenlauben, selbst in dem Falle, daß Mrs. Dale alle Arten von »Theuersten« ohne Ausnahme in der ganzen Blumenzucht des Ehestandes zur schönsten Vollkommenheit gebracht hätte. Dies konnte man ihr jedoch glücklicher Weise nicht nachsagen, denn Mrs. Dale's »Theuerste« waren im Grunde nur wilde Blumen!
In der Kühle des Abends wanderte Doctor Riccabocca durch die Felder nach Hause. Mr. und Mrs. Dale hatten ihn halbwegs begleitet, und als sie nun wieder nach dem Pfarrhause zurückkehrten, schauten sie sich noch einmal nach der langen Gestalt des Fremden um, der langsam zwischen dem grünen, wallenden Korne weiter schritt.
»Der arme Mann!« sagte Mrs. Dale gefühlvoll. »Das Knöpfchen an seiner Manschette war abgesprungen. Wie Schade, daß er Niemand hat, der für ihn sorgt! Er scheint sehr häuslich zu sein. Meinst du nicht, Karl, daß es ein großer Segen für ihn wäre, wenn wir ihm eine brave Frau verschaffen könnten?«
»Hm,« entgegnete der Pfarrer; »ich zweifle, ob er den Ehestand so zu schätzen weiß, wie er sollte.«
»Wie meinst du das, Karl? Ich habe in meinem Leben keinen Mann gesehen, der höflicher gegen die Damen gewesen wäre.«
»Ja, aber –«.
»Was aber? Du thust immer so geheimnißvoll, Theuerster!«
»Geheimnißvoll? Nein, Carry; aber wenn du hören könntest, wie der Doctor zuweilen über die Frauen spricht.«
»Ja, wenn ihr Männer allein beisammen seid. Ich weiß, was das zu bedeuten hat – da sprecht ihr schöne Dinge über uns. Aber ihr seid einander alle gleich; gesteh' es nur, mein Lieber!«
»Ich habe freilich alle Ursache, von deinem Geschlechte Gutes zu reden, wenn ich an dich und an meine Mutter denke.«
Mrs. Dale, die trotz ihrer »Launen« eine vortreffliche Frau war und ihren Gatten mit der ganzen Fülle ihres lebhaften kleinen Herzens liebte, war gerührt. Sie drückte ihm die Hand und nannte ihn auf dem ganzen Heimwege nicht ein einziges Mal mehr »Theuerster«.
Indessen schritt der Italiener durch die Felder und gelangte zwei Meilen von Hazeldean auf die Landstraße. Auf der einen Seite stand ein altmodisches, einsames Wirthshaus, wie die englischen Wirthshäuser zu sein pflegten, ehe sie Eisenbahnhotels wurden – im Quadrat gebaut, dauerhaft, altmodisch, von einladendem, gastlichem Aussehen. Vorne hing ein großer Schild von einer Ulme herunter, hinten, ein wenig weiter zurück, befanden sich lange Reihen von Ställen, ein oder zwei Wagen standen im Hofe, und der heitere Wirth unterhielt sich mit einem stämmigen Pächter, der sein rauhhaariges Ponny an der wohlbekannten Thüre halten ließ, über die Ernte. Dem Gasthause gegenüber, auf der andern Seite des Weges, stand Doctor Riccabocca's Wohnung.
Einige Jahre vor dem Zeitpunkt dieser Annalen machte die Postkutsche auf ihrem Wege von einer Hafenstadt nach London auf eine gute Stunde vor diesem Wirthshause Halt, damit die Reisenden, wie es christlichen Engländern geziemte, ordentlich speisen konnten und nicht, wie die ewig heidnischen Yankees, beim Schall des verwünschten Pfeifens der Eisenbahn, das wie der böse Feind in die Ohren gellt, eine Schüssel glühend heißer Suppe hinunterstürzen mußten. Hier fand man den besten Tisch auf dem ganzen Wege, denn die Forellen des benachbarten Baches waren weit und breit berühmt, gleich wie das Hammelfleisch, welches von Hazeldean-Park kam.
Von dem Außensitze der erwähnten Postkutsche waren zwei Reisende abgestiegen, welche, allein unempfänglich für die Anziehungskräfte der Forellen und des Hammelbratens, das Mittagessen verschmähten, zwei melancholisch blickende Freunde, von denen der eine, Signor Riccabocca, damals schon ziemlich so aussah, wie er dem Leser kürzlich erst beschrieben worden, nur daß der schwarze Anzug weniger fadenscheinig, die hohe Gestalt weniger mager erschien, und er noch keine Brille trug; der andere war sein Diener. Sie wollten sich etwas in der Gegend umsehen, so lange der Wagen hielt. Nun hatte ein baufälliges, aber hübsch gelegenes Haus aus der andern Seite der Straße das Auge des Italieners auf sich gezogen. Dasselbe stand am Abhange eines grünen Hügels, die Vorderseite dem Süden zugekehrt; unfern ein kleiner Wasserfall, über künstlich angelegte Felsen herabstürzend; vorne die mit einem Geländer versehene Terrasse und einige zerbrochene Urnen und Statuen vor dem jonischen Porticus. An dem Wege war ein Brett angebracht, worauf in fast verwischter Schrift zu lesen stand, daß dieses Haus »unmöblirt, mit oder ohne Land, zu vermieden sei.«
Diese trübselige und augenscheinlich lang verwahrloste Wohnstätte gehörte dem Squire Hazeldean. Sein Großvater mütterlicher Seite – ein Landedelmann, der selbst in Italien gewesen war (ein Ruhm, auf den man sich damals wohl etwas einbilden durfte), hatte sie nach seiner Rückkehr gebaut und versucht, eine italienische Villa im Kleinen nachzubilden. Seine einzige Tochter und Erbin heirathete Squire Hazeldean's Vater, und von dieser Zeit an blieb das Haus, da die Eigentümerin nach dem Schlosse von Hazeldean übersiedelte, unbewohnt und vernachlässigt. Zwar waren von mehreren Seiten Miethanträge gemacht worden, aber ein Gutsherr kann sich so leicht nicht entschließen, auf seinem eigenen Grund und Boden einen rivalisirenden Nachbar zuzulassen. Einige verlangten das Jagdrecht. »Davon,« erklärten die Herren von Hazeldean, die selbst eifrige Jäger waren und ihren Wildpark sorgsam hüteten, »könne gar nicht die Rede sein.« Andere waren reiche Leute von London. »Londoner Dienstboten,« sagten die moralischen und vorsichtigen Besitzer von Hazeldean, »würden ihr eigenes Gesinde verderben und Londoner Presse mitbringen.« Wieder andere waren Fabrikanten, die sich von den Geschäften zurückgezogen hatten, und über welche die Hazeldeans ihre landwirtschaftlichen Nasen rümpften. Kurz, die Einen waren zu vornehm, die Andern zu gemein. Einige wurden abgewiesen, weil man sie zu wohl kannte; »Freunde sind am angenehmsten in einiger Entfernung,« sagten die Hazeldeans; Andere, weil man gar nichts von ihnen wußte, und die Hazeldeans behaupteten, daß »den Fremden nicht zu trauen sei.« Zuletzt, als das Haus mehr und mehr in Verfall gerieth, wollte es Niemand mehr miethen, wenn es nicht vorher gehörig in Stand gesetzt werde. »Als ob man das Geld aus dem Aermel schütteln könnte,« murmelten die Hazeldeans. Und so blieb das Haus unbewohnt und verfallen. Auf der einsamen Terrasse standen jetzt die beiden verlassenen Italiener und lächelten einander zu, indem sie das Anwesen betrachteten, in dessen verfallenen Pilastern und zerbrochenen Statuen, mit Unkraut überwachsener Terrasse und kärglichen Ueberresten einer Orangerie sie zum ersten Male, seit sie den Fuß auf englischen Boden gesetzt, etwas fanden, das sie an ihr fernes Vaterland erinnerte.
Nach dem Gasthause zurückgekehrt, benützte Doctor Riccabocca die Gelegenheit, bei dem Wirthe (welcher selbst Pächter des Squire war,) Erkundigungen einzuziehen, und wenige Tage darauf erhielt Mr. Hazeldean von einem angesehenen Londoner Anwalt einen Brief, worin derselbe ihm anzeigte, daß ein höchst achtbarer Ausländer von Stand ihm den Auftrag ertheilt habe, mit dem Squire wegen Clump-Lodge, auch »Casino« genannt, zu unterhandeln. Er versicherte, daß der besagte Gentleman kein Jagdliebhaber sei, in großer Zurückgezogenheit lebe und, da er keine Familie habe, nur die nötigsten Reparaturen verlange, um die Bewohner vor den Unbilden des Wetters zu schützen, vorausgesetzt, daß die Verzichtleistung auf kostspielige Ausbesserungen bei Berechnung der Miethe in Anschlag käme, indem die Mittel des Fremden beschränkt seien.
Das Anerbieten kam gerade in einem günstigen Moment – als nämlich der Verwalter soeben dem Squire vorgestellt hatte, daß etwas für das Casino geschehen müsse, wenn es nicht ganz in Trümmer fallen solle, worauf der Squire das Geschick verwünschte, welches ihm die Villa als Fideicommiß Einrichtung des Erb- und Sachenrechts, wonach durch Stiftung das Vermögen einer Familie, meist Grundbesitz, auf ewig geschlossen erhalten werden sollte und immer nur ein Familienmitglied allein, der Fideikommissbesitzer, das Nießbrauchsrecht innehatte. zugewiesen, so daß er sie nicht niederreißen und das Baumaterial zu andern Zwecken verwenden durfte. Mr. Hazeldean griff daher nach diesem Anerbieten, wie eine Schöne, welche die besten Partien des Königreichs abgewiesen hat und zuletzt an einem verwitterten alten Halbsold-Capitän froh ist. Er antwortete, daß es ihm auf den Miethzins nicht sonderlich ankomme, wenn nur der Client des Anwalts ein ruhiger, achtungswerther Mann sei. Der fremde Herr solle das erste Jahr ganz frei sitzen unter der einzigen Bedingung, daß er die Steuern zahle und den Platz ein wenig in Ordnung bringe; gefielen sich die Contrahenten, so könnten sie ja dann später einen Vertrag schließen.
Zehn Tage nach dieser gnädigen Antwort traf Signor Riccabocca mit seinem Bedienten ein, und ehe das Jahr zu Ende ging, war Squire mit seinem Miethsmanne so wohl zufrieden, daß er demselben einen Pachtvertrag auf sieben, vierzehn oder einundzwanzig Jahre zu einem bloß nominellen Miethpreis antrug, mit der Bedingung, daß Doctor Riccabocca das Gut gehörig im Stande halte, Dach und Umzäunung ausgenommen, welche der Squire großmüthig auf eigene Kosten herstellen ließ.
Es war erstaunlich, welch' hübsche Wohnung der Italiener nach und nach daraus gemacht, und noch erstaunlicher, wie wenig sie ihn gekostet hatte. Freilich hatte er eigenhändig die Wände der Halle, das Treppenhaus und die für ihn eingerichteten Zimmer gemalt, während sein Diener den größten Theil der Tapezierarbeit besorgt hatte. Den Garten brachten beide zusammen in Ordnung. Die Italiener schienen eine gemeinsame Vorliebe für diesen ihren Aufenthaltsort gefaßt zu haben und ihn aufzuschmücken, als ob er eine Lieblingskapelle ihrer Madonna wäre.
Es brauchte lange, ehe die Einheimischen sich an die wunderliche Weise der fremden Ansiedler gewöhnen konnten; das Anstößigste jedoch war für sie der ungemein geringe Verbrauch in der Haushaltung. Drei Tage in der Woche lebten Herr und Diener von nichts, als den Erzeugnissen des Gartens und den Fischen aus dem benachbarten Bache; und wenn keine Forellen zu haben waren, so begnügten sie sich mit Gründlingen (und selbst in den besten Flüssen sind Gründlinge häufiger, als Forellen).
Was die Nachbarn und vorzüglich den weiblichen Theil derselben nicht minder verdroß, war der Umstand, daß die zwei fremden Männer dem Geschlechte, das sich zur Besorgung des Hauswesens für unentbehrlich hält, so wenig zu thun gaben. Anfangs hatten sie gar keine weibliche Bedienung; allein dies erregte solches Entsetzen, daß Pfarrer Dale es wagte, dem Doctor einen freundschaftlichen Wink hierüber zu geben, den derselbe nicht ungünstig aufnahm und sofort nach einigem Feilschen eine alte Frau dingte, welche für drei Schillinge die Woche so viel waschen und scheuern konnte, als ihr beliebte, Abends aber zum Schlafen in ihre eigene Hütte zurückkehrte. Alles Uebrige besorgte der Bediente, der in der ganzen Umgegend unter dem Namen Jackeymo bekannt war. Er ordnete die Zimmer, stäubte die Papiere seines Herrn ab, bereitete dessen Kaffee, kochte das Mittagessen, klopfte seine Kleider aus und reinigte seine Tabakspfeifen, deren Riccabocca eine große Menge besaß.
Allein wie verschlossen der Charakter eines Mannes auch sein mag, so gibt er sich doch gelegentlich in kleinen Zügen zu erkennen, und der Italiener hatte sich bei vielen unbedeutenden Anlässen wohlwollend und in einigen seltenen Fällen sogar großmüthig gezeigt, wodurch seine Verläumder zum Schweigen gebracht worden waren, und er sich den Ruf eines höchst achtbaren Mannes erworben hatte. Freilich stand er noch immer in dem Verdacht, der schwarzen Kunst ergeben und von der seltsamen Liebhaberei besessen zu sein, sich selbst und Jackeymo auszuhungern, im Uebrigen hielt man ihn aber für harmlos genug.
Wie wir gesehen haben, war Signor Riccabocca mit dem Pfarrhause sehr vertraut geworden. Nicht so verhielt es sich mit der Halle Engl. hall in der Bedeutung »Gutshaus, Herrenhaus«.. Obgleich der Squire gerne mit allen Nachbarn auf freundschaftlichem Fuße lebte, so war er doch, wie die meisten Landedelleute, leicht verletzt. Riccabocca hatte früher, zwar mit der größten Höflichkeit, aber doch entschieden Mr. Hazeldean's Einladungen zum Mittagessen abgelehnt; und als der Squire fand, daß der Italiener sich selten weigerte, bei dem Pfarrer zu speisen, fühlte er sich auf seiner schwachen Seite angegriffen, nämlich in seiner Sorge um die Ehre der Gastlichkeit von Hazeldean Hall, und er unterließ daher alle ferneren Einladungen, welche doch nur spröde zurückgewiesen worden wären. Nichtsdestoweniger war es dem Squire, wenn er sich auch beleidigt fühlte, unmöglich, Groll im Herzen zu tragen, weßhalb er den Doctor gelegentlich an sein Dasein erinnerte, indem er ihm Stücke von seiner Jagdbeute zum Geschenk machte. Auch würde er ihn öfters besucht haben, wenn ihn nicht Riccabocca stets mit einer so ausgesuchten Höflichkeit empfangen hätte, daß der derbe Landedelmann dadurch ganz eingeschüchtert wurde und zu sagen pflegte, »ein Besuch bei Riccabocca sei eben so schlimm, wie eine Aufwartung bei Hof.«
Doch wir haben Riccabocca auf der Landstraße verlassen. Er ist inzwischen einen schmalen Pfad hinangestiegen, der sich an dem Wasserfalle hinzieht und an einem mit Weinreben bedeckten Gitterwerk vorbeiführt, aus welchen es Jackeymo wirklich gelungen ist, sogenannten Wein zu bereiten – d. h. eine Flüssigkeit, die, wenn die Cholera in jenen Tagen bekannt gewesen wäre, das mildeste Mitglied des Sanitätskollegiums in Harnisch gebracht haben würde. Selbst Squire Hazeldean, der doch ein robuster Mann war und täglich ungestraft seine Flasche Portwein vertilgte, konnte sich, als er eines Tages von dem Getränke gekostet hatte, nicht eher wieder erholen, als bis seine Apothekerrechnung auf Armslänge angewachsen war. An diesem Rebengelände vorbei gelangte Riccabocca auf die Terrasse, deren Steinpflaster so glatt und hübsch war, als Hände es zu machen vermochten. Hier standen auf niedlichen Gestellen in schönster Ordnung die Lieblingspflanzen des Doctors, nebst vier Orangenbäumen in voller Blüthe; daneben befand sich eine Art Sommerhaus oder Belvedere, von Jackeymo und dem Doctor selbst gebaute woselbst sich Riccabocca vom Mai bis October jeden Morgen einige Stunden aufzuhalten pflegte. Von diesem Belvedere genoß man eine so herrliche Aussicht, als habe Englands gastfreundliche Natur auf diesem grünen Teppich Alles ausgebreitet, was sie dem Verbannten zur Erquickung darzubieten vermochte.
Ein Mann in Hemdärmeln, der seinen Rock über das Geländer geworfen hatte, war damit beschäftigt, die Blumen zu begießen. Die Bewegungen dieses Menschen waren so mechanisch, die Züge seines braunen Gesichts so voll starren Ernstes, daß er einem Automaten aus Mahagoni ähnlich sah.
»Giacomo,« sagte Doctor Riccabocca in sanftem Tone.
Der Automat hielt in seiner Verrichtung inne und wandte den Kopf.
»Stelle die Gießkanne bei Seite und komm hierher,« fuhr Riccabocca in italienischer Sprache fort, indem er auf das Geländer zuging und sich darüber lehnte. Der Historiker Mitford William Mitford (1744-1827), engl. Historiker (The History of Greece, 1784-1810). – Mit »Jean Jacques« ist Rousseau (1712-78) gemeint, der bedeutende Philosoph der Aufklärung. nennt Jean Jaques »John James«, und diesem berühmten Beispiele folgend, wollen wir Giacomo in Zukunft Jackeymo nennen. Jackeymo trat gleichfalls an die Ballustrade und blieb ein wenig hinter seinem Gebieter stehen.
»Freund,« sagte Riccabocca, »wir sind bei unsern Unternehmungen nicht immer sonderlich glücklich gewesen. Meinst du nicht, daß wir nur unsern bösen Stern herausfordern, wenn wir diese Felder von dem Squire pachten?«
Jackeymo bekreuzte sich und machte eine seltsame Bewegung mit einem korallenen Amulet, das er in einem Ringe am Finger trug.
»Wenn die Madonna uns Glück senden wollte, und wir einen Burschen wohlfeil dingen könnten,« ›sagte er zweifelnd.
» Più vale un presente che dui futuri,« versetzte Riccabocca. »Ein Vogel in der Hand ist besser, als zwei im Busche.«
» Chi non fa quando può, non può fare quando vuole,« – (»Wer nicht will, so lang er kann, wenn er will, soll es nicht ha'n«) – antwortete Jackeymo eben so sententiös, wie sein Herr.
»Und der Padrone sollte in Zeiten daran denken, daß er etwas bei Seite legen muß zur Mitgift für die arme Signorina –« (das junge Fräulein).
Riccabocca seufzte und erwiderte nichts.
»Sie muß jetzt so groß sein,« sagte Jackeymo, mit der Hand eine eingebildete Linie etwas über dem Geländer bezeichnend. Riccabocca's Augen folgten über der Brille weg der Hand des Dieners.
»Wenn der Padrone sie nur hier sehen könnte!«
»Mir war's, als sähe ich sie,« murmelte der Doctor.
»Er würde sie nicht mehr von seiner Seite lassen, bis ein Gatte sie wegführte,« fuhr Jackeymo fort.
»Aber dieses Klima! Sie könnte es nicht ertragen,« sagte Riccabocca, sich fester in seinen Mantel hüllend, da ein Nordwind ihm in den Rücken blies.
»Sorgfältig gepflegt blühen selbst die Orangenbäume hier,« versetzte Jackeymo, der sich umwandte, um auf der Nordseite hinter den Bäumen ein Zelttuch herabzulassen. »Sehen Sie!« fügte er hinzu, als er mit einem Zweig in voller Blüthe zu seinem Herrn zurückkehrte.
Doctor Riccabocca beugte sich über die Blüthe und steckte sie dann in den Busen.
»Da sollte die Andere auch sein,« sagte Jackeymo.
»Um zu sterben, wie diese bereits thut,« antwortete Riccabocca. »Sprich mir nicht mehr davon.«
Giacomo zuckte die Achseln, blickte auf seinen Herrn und fuhr dann mit der Hand über die Augen.
Es folgte eine Pause, welche Jackeymo zuerst unterbrach.
»Nun, hier oder dort – Schönheit ohne Geld ist der Orangenbaum ohne Schutz. Wenn man einen Burschen wohlfeil bekommen könnte, würde ich das Land pachten und mit der Ernte mich auf die Madonna verlassen.«
»Ich denke, ich kenne einen solchen Burschen,« sagte der Doctor sich sammelnd, und ein spöttisches Lächeln spielte von Neuem um seine Mundwinkel – »einen Burschen, der wie für uns gemacht ist.«
» Diavolo!«
»Nein, nicht der Diavolo! Freund, ich habe heute einen Jungen gesehen, der ein Sechspencestück abgeschlagen hat!«
» Cosa stupenda!« (Erstaunlich!) rief Giacomo, die Augen aufreißend, während die Gießkanne seinen Händen entfiel.
»Es ist wirklich so, mein Freund.«
»Nehmen Sie ihn, Padrone, um's Himmels willen, und die Felder werden Gold tragen.«
»Ich will mir's überlegen; denn es wird Geschicklichkeit erfordern, einen solchen Burschen zu fangen,« sagte Riccabocca. »Mittlerweile zünde im Wohnzimmer Licht an und bringe mir aus meinem Schlafzimmer – den großen Folioband des Machiavelli.«
In meinem nächsten Kapitel werde ich Squire Hazeldean in patriarchalischem Staate vorführen – nicht gerade unter dem Feigenbaum, den er gepflanzt, wohl aber vor dem Stock, den er hat erneuern lassen. Squire Hazeldean und seine Familie auf dem Rasen des Dorfes! Die Leinwand ist bereit für den Maler.
Allein in diesem Kapitel muß ich den Leser einen Blick in die Vergangenheit werfen lassen, damit er Kunde erhalte von einem Gliede der Familie, welches er, wenn überhaupt jemals, doch sicherlich jetzt nicht auf dem Dorfrasen von Hazeldean treffen wird.
Unser Squire hatte schon in seinem dritten Jahre den Vater verloren. Seine Mutter war sehr schön und ihr Leibgedinge nicht minder. Nach Verlauf der Trauerzeit vermählte sie sich wieder, und der Gegenstand ihrer zweiten Wahl war Oberst Egerton Engl. eager: eifrig, begierig..
In jeder englischen Generation (wenigstens seit der lustigen Regierung Karls II. Der letzte absolutistisch regierende englische König von England (1660 bis 1685, nach der Restauration der Monarchie); mit »lustig« spielt Bulwer auf die ausufernde Mätressenwirtschaft dieser Epoche an.) gibt es einige bevorzugte Leute, die irgend ein eleganter Genius von der Milch der Menschheit abschöpft und zum Rahm der Gesellschaft bestimmt. Oberst Egerton war einer dieser terque, quaterque beati Dieser dreimal, viermal Glücklichen (nach Virgil, Aeneis, I, 94). und schwamm oben in jener feinen Porcellanschüssel, die nicht zur gemeinen Buttermilch benutzt, und von Personen nach der Mode die große Welt genannt wird. Wie lebhaft war nicht die Verwunderung zu Pall Mall, wie aufrichtig das Bedauern zu Park Lane, als diese ausgezeichnete Persönlichkeit so weit herabstieg, sich zu dem Stande eines Ehemanns zu erniedrigen. Allein Oberst Egerton war nicht ein bloßer bunter Schmetterling; er besaß auch den vorsorglichen Instinkt, welchen man der Biene zuschreibt. Seine Jugend war dahin und hatte in ihrem Fluge viel solides Eigenthum mit fortgenommen. Er sah eine Zeit mit Riesenschritten heranrücken, in welcher eine Heimath mit einer Genossin, die zur Unterhaltung derselben beitragen konnte, für seine Gemächlichkeit sehr ersprießlich, und ein gelegentlicher ruhiger Abend am eigenen Herde für seine Gesundheit sehr wohlthätig sein würde. Mitten in einer Saison zu Brighton, wohin er den Prinzen von Wales begleitet hatte, sah er eine Wittwe, welche, obgleich in tiefer Trauerkleidung, doch nicht untröstlich schien. Ihr Aeußeres befriedigte seinen Geschmack, die Berichte über ihr Leibgedinge Im Original jointure: Mitgiftgüter (hier aus ihrem Wittum). seinen Verstand; er wußte sich bei ihr einzuführen und brachte eine kurze Bewerbung zu einem glücklichen Abschlusse.
Der verstorbene Mr. Hazeldean mochte wohl die Wahrscheinlichkeit einer zweiten Verbindung vorausgesehen haben und hatte für diesen Fall in seinem Testamente angeordnet, daß die Vormundschaft seines noch im Kindesalter stehenden Erben von der Mutter auf zwei von ihm zu seinen Testamentsvollstreckern ernannte Edelleute übergehen sollte. Dieser Umstand, sowie die neuen Fesseln entfremdeten die Mutter einigermaßen dem Pfande ihrer ersten Neigung, und als sie vollends Oberst Egerton einen Sohn geboren hatte, wurde dieses Kind allmählig der Mittelpunkt all ihrer mütterlichen Zärtlichkeit.
William Hazeldean wurde von seinen Vormündern nach einem großen Provinzial-Gymnasium geschickt, wo seit undenklichen Zeiten alle seine Vorväter ihre Bildung erhalten hatten. Anfänglich verbrachte er seine Ferien bei Mrs. Egerton; da sie aber nun meistens in London wohnte oder ihren Gatten nach Brighton begleitete, um an den Belustigungen der vornehmen Welt Theil zu nehmen, bat William, der ein großer Freund des Landlebens war, um die Erlaubniß, seine freie Zeit bei seinen Vormündern oder in der alten Halle zubringen zu dürfen, und Mrs. Egerton, die sich ungemein verfeinert hatte und sich der plumpen Manieren und ländlichen Erziehung ihres Sohnes aus erster Ehe schämte, gab höchst bereitwillig ihre Zustimmung. Spät erst trat der junge Mann zu Cambridge in ein kleines College ein, das im fünfzehnten Jahrhundert von einem Hazeldean mit einem Stipendium bedacht worden war, und verließ dasselbe wieder, als er volljährig geworden, ohne einen Grad genommen zu haben. Wenige Jahre darauf heirathete er eine junge Dame, die, wie er selbst, auf dem Lande geboren und erzogen worden war.
Mittlerweile hatte sein Halbbruder, Audley Egerton, noch ehe er die Kinderschuhe ausgezogen, bereits seinen Anfang in der großen Welt gemacht. Er war von Herzoginnen auf dem Schooße gehätschelt worden und hatte auf den Stöcken von Fürsten und Gesandten im Zimmer herumgaloppiren dürfen. Denn Oberst Egerton besaß nicht nur sehr vornehme Verbindungen – er war nicht nur einer der Dii majores Die zwölf Hauptgottheiten der antiken Mythologie. der Mode – sondern er genoß auch das weit seltenere Glück, bei allen, die ihn kannten, ungemein beliebt zu sein, so beliebt, daß selbst die Schönen, deren Anbeter er früher gewesen, ihm seine Heirath »außer der Kaste« verziehen und fortfuhren, sich eben so freundschaftlich gegen ihn zu beweisen, als ob er gar nicht vermählt wäre. Personen, welche sonst allgemein für herzlos galten, wurden nicht müde, der Familie Egerton Gefälligkeiten zu erweisen.
Als für Audley die Zeit herankam, die Vorbereitungsschule, wo seine Kindheit unter den stolzesten kleinen Lilien des Feldes geknospt hatte, zu verlassen, um Eton zu beziehen, war schon die Hälfte der fünften und sechsten Klasse gewonnen, dem jungen Egerton ungewöhnliche Höflichkeit zu erzeigen. Auch bewies der Knabe sehr bald, daß er das Talent seines Vaters, sich allgemein beliebt zu machen, geerbt habe und diese Popularität wohl zu benutzen verstehe. Ohne auf der Schule besondere Auszeichnung zu erringen, gelang es ihm doch, zu Eton sich den wünschenswerthesten Ruf zu erwerben, den ein Knabe erzielen kann – nämlich unter seinen Altersgenossen für einen Knaben zu gelten, der als Mann sicherlich einmal »etwas Tüchtiges« leisten werde. Zu Oxford fuhr er als Student zweiter Klasse von Christ Church fort, diese hohe Erwartung aufrecht zu erhalten, obgleich er keinen Preis gewann und nur einen ganz gewöhnlichen Platz einnahm. Allein hier wurde das künftige »Etwas« schon bestimmter, und man war überzeugt, daß der junge Mann einmal »im Staatsdienst« etwas Tüchtiges leisten werde.
Er befand sich noch auf der Universität, als seine beiden Eltern in einem Zeitraum von wenigen Monaten dahinstarben. Als Audley volljährig wurde, trat er in den Besitz seines väterlichen Vermögens, das für sehr bedeutend galt und es auch in der That einmal gewesen war. Allein Oberst Egerton war zu verschwenderisch gewesen, um seinen Erben zu bereichern, und ein jährliches Einkommen von fünfzehnhundert Pfund war Alles, was Verwerthungen und Pfandschulden von einem Vermögen übrig ließen, das eine Rente von beinahe zehntausend Pfund getragen hatte.
Gleichwohl galt Audley noch immer für reich, und er hütete sich wohl, diese günstige Meinung durch unvorsichtige Kundgebung von Sparsamkeit zu zerstreuen.
Bei seinem Eintritte in die Londoner Welt öffneten sich alle Clubs, ihn zu empfangen, und er fand sich eines Morgens bei seinem Erwachen nicht gerade berühmt – aber doch »in der Mode«. Dieser Mode gab er dadurch sofort einen gewissen Werth und Bedeutung, daß er so viel wie möglich mit Staatsmännern und politisirenden Damen verkehrte, wodurch er nicht verfehlte, die Meinung zu bestätigen, »daß er bestimmt sei, den Staat zu lenken oder zu Grunde zu richten.«
Sein bester und vertrautester Freund war der junge Lord L'Estrange Mischung aus frz. étrange und engl. strange: seltsam, merkwürdig., von dem er schon zu Eton unzertrennlich gewesen war, und der nun, während Audley Egerton in London bloß in der Mode war, dort wahres Furore machte.
Harley, Lord L'Estrange, war der einzige Sohn des Grafen von Lansmere »Nichts als Land«., eines Edelmannes von großem Vermögen, der durch Zwischenheirathen mit den ersten und mächtigsten Familien Englands in Verbindung stand. Gleichwohl war Lord Lansmere in den Londoner Kreisen nur wenig bekannt. Er lebte hauptsächlich aus seinen Gütern, den mannigfaltigen Pflichten eines großen Grundbesitzers obliegend, und besuchte nur selten die Hauptstadt, weßhalb er denn auch in der Lage war, seinem Sohne ein sehr reichliches Jahrgeld verwilligen zu können, als dieser in einem Alter von sechszehn Jahren Eton, wo er schon die sechste Klasse erreicht hatte, verließ, um in einem Garderegiment Dienste zu nehmen.
Nur wenige wußten, was sie aus Harley L'Estrange machen sollten, und dies mochte vielleicht der Grund sein, warum man sich so viel mit ihm beschäftigte. Zu Eton war er bei weitem der ausgezeichnetste Knabe gewesen, nicht nur der Stolz der Kameraden auf dem Ballspielplatze, sondern auch das Wunder im Schulzimmer; allein er steckte so voller Grillen und Sonderbarkeiten, und schien alle seine Triumphe mit so wenig Beihülfe beharrlichen Fleißes zu erringen, daß er nicht dieselben Erwartungen gediegener Ueberlegenheit zurückließ, welche sein älterer Freund, Audley Egerton, erregt hatte. Seine Ueberspanntheiten, seine seltsamen Reden und ungewöhnlichen Handlungen wurden in der großen Welt ebenso viel besprochen, wie dies in der kleinen Welt der Schule der Fall gewesen.
Daß er sehr klug war, unterlag keinem Zweifel, und welch' hoher Art sein Verstand sein mußte, ließ sich aus der Originalität und Unabhängigkeit seines Charakters vermuthen. Er blendete die Welt, ohne daß er sich weder um ihr Lob, noch um ihren Tadel zu kümmern schien – blendete sie, so zu sagen, weil er eben seiner Natur nach glänzen mußte. Er hegte einige seltsame Ansichten politischer oder socialer Natur, die seinen Vater etwas beunruhigten. Nach Southey Robert Southey (1774-1843), englischer Dichter, Geschichtsschreiber und Kritiker. braucht sich ein Mann so wenig des Umstandes zu schämen, ein Republikaner gewesen zu sein, als er nöthig hat, sich seiner Jugend zu schämen. Jugend und überspannte Meinungen gehen natürlich Hand in Hand. Ich weiß nicht, ob Harley L'Estrange in einem Alter von achtzehn Jahren ein Republikaner war; aber kein junger Mann in London schien sich weniger daraus zu machen, der Erbe eines erlauchten Namens und einer Jahresrente von einigen vierzig oder fünfzigtausend Pfund zu sein. Es gehörte zu jener Zeit zum herrschenden Ton, sich sehr ausschließlich Im Original play the exclusive; »exclusiv zu thun«, übersetzt Carl Kolb hier entschieden glücklicher (Meine Novelle. Erster bis dritter Theil. Metzler, Stuttgart, 1863, S. 59). zu zeigen und Leute, welche ein schlechtes Halstuch und einen gewöhnlichen Namen, wie Smith oder Johnson, tragen, verächtlich zu behandeln. Lord L'Estrange dagegen behandelte Niemand verächtlich, und es genügte, einen würdigen Mann wegen seines Halstuches oder seiner Geburt gering zu schätzen, um demselben die ausgesuchtesten Höflichkeiten dieses excentrischen Nachkommen der Dorimonte und Wildaire zu sichern.
Es war der Wunsch des Grafen, daß Harley, sobald er volljährig geworden, die Vertretung des Wahlbezirks Lansmere übernehmen möchte; denn die Wahlen daselbst waren die einzige Plage des gnädigen Herren. Doch dieser Wunsch sollte nie in Erfüllung gehen. Dem jungen Abgott von London fehlten noch zwei oder drei Jahre zu seiner Mündigkeit, als plötzlich eine neue Grille sich seiner bemächtigt zu haben schien. Er zog sich ganz aus der Gesellschaft zurück, ließ die dringenden Einladungs- und Erkundigungs-Billette, womit jemals der Tisch eines jungen Gardeoffiziers bedeckt gewesen, unbeantwortet liegen, suchte seine früheren Tummelplätze nur selten mehr auf, und wenn er sich je einmal dort blicken ließ, so war es allein oder in Gesellschaft seines Freundes Egerton. Sein früherer Lebensmuth war dahin; eine tiefe Schwermuth malte sich in seinen Zügen, athmete in dem verdrossenen Ton seiner Stimme.
Um diese Zeit erwarben sich die englischen Garden in Spanien ihren unverwelklichen Ruhm; allein das Bataillon, zu welchem Harley gehörte, hatte zurückbleiben müssen. Ob nun den jungen Lord seine Unthätigkeit verdroß, oder ob ihn die Ruhmbegierde anspornte – er trat plötzlich in ein Cavallerieregiment über, das kürzlich in einem denkwürdigen Gefecht die Hälfte seiner Offiziere eingebüßt hatte. Unmittelbar vor seiner Abreise nach seinem neuen Posten war die Repräsentation von Lansmere erledigt worden, und Harley bat seinen Vater dringend, den ganzen Familieneinfluß zu Gunsten seines Freundes Egerton aufzubieten. Auch begab er sich selbst nach dem väterlichen Landsitze, um sich von seinen Eltern zu verabschieden, und Egerton folgte ihm dahin, in der Absicht, sich den Wählern vorstellen zu lassen.
Dieser Besuch bildete eine denkwürdige Epoche in der Geschichte vieler Personen, welche in meiner Erzählung auftreten; ich muß mich jedoch vorläufig mit der Bemerkung begnügen, daß Umstände eintraten, durch welche sich – gerade in dem Augenblicke, als die neue Wahl beginnen sollte – sowohl L'Estrange, als Audley, veranlaßt sahen, den Schauplatz der Handlung zu verlassen, und daß Letzterer brieflich Lord Lansmere seine Absicht mittheilte, auf die Bewerbung um den erledigten Posten zu verzichten.
Zum Glück für Audley Egerton's parlamentarische Laufbahn betrachtete Lord Lansmere die Wahl nicht blos als eine Sache von öffentlicher Wichtigkeit, sondern auch als eine solche, bei welcher seine persönlichen Gefühle betheiligt waren. Er beschloß, selbst in Abwesenheit des Candidaten und auf eigene Kosten die Schlacht auszufechten. Bisher war der Kampf um diesen ausgezeichneten Bezirk, um uns eines Ausdrucks Lord Lansmere's zu bedienen, »im Geiste von Edelleuten« geführt worden; das heißt, die einzigen Gegner des Lansmerer Interesses fanden sich in zwei rivalisirenden Familien derselben Grafschaft; und da Lord Lansmere ein gastfreundlicher, höflicher Mann und von dem benachbarten Adel sehr geliebt und geachtet war, hatte der feindliche Candidat stets seine Reden verschwenderisch mit Komplimenten über den Edelmuth seiner Herrlichkeit und mit höflichen Aeußerungen über dessen Candidaten gespickt. In Folge der vielen Wahlen war aber eine der beiden Familien zu Grunde gerichtet worden und ihr gegenwärtiges Haupt residirte jetzt innerhalb des Schuldgefängnisses. Das Haupt der andere Familie war bereits sitzendes Mitglied und blieb vermöge einer freundschaftlichen Uebereinkunft mit dem Lansmere'schen Anhang so neutral, als dies einem Parlamentsmitglied in Mitte der Leidenschaften eines unlenksamen Comite's nur möglich war. Man hatte daher gehofft, daß Egerton ohne Opposition durchdringen werde; an dem Tage seiner plötzlichen Abreise jedoch kündigten gedruckte Zettel in einer sehr feurigen Sprache an, daß »Haverill Dashmore ›Haverill‹ ist eigentlich ein unbedeutender Ort in Suffolk; der Nachname: »der noch mehr rast und zerschmettert«., königlicher Flottenkapitän, Bakerstreet, Portman Square,« die Absicht habe, den Bezirk von der unconstitutionellen Herrschaft einer oligarchischen Partei zu befreien, wobei ihn keineswegs der Wunsch seines eigenen politischen Emporkommens leite, da im Gegentheil das Mandat für ihn von großen persönlichen Nachtheilen begleitet sei, sondern ausschließlich der Abscheu vor der Tyrannei und patriotischer Eifer für die Reinheit des Wahlrechts.
Dieser Ankündigung folgte zwei Stunden später Kapitän Dashmore selbst in einer vierspännigen, mit gelben Schleifen verzierten Kutsche, innen und außen mit geschäftig aussehenden Freunden besetzt, die mitgekommen waren, um ihm bei der Werbung der Wahlstimmen beizustehen und an dem Spaß Theil zu nehmen.
Kapitän Dashmore war ein echter Seemann, hatte aber einen plötzlichen Widerwillen gegen seinen Beruf gefaßt, als der Neffe des Kriegsministers das Kommando eines Schiffes erhielt, auf welches der Kapitän ein unbestreitbares Recht zu haben meinte. Die Gerechtigkeit gegen den Minister verpflichtet uns, hinzuzufügen, daß Kapitän Dashmore ebenso wenig Rücksicht auf aus der Ferne kommende Befehle nahm, wie der unsterbliche Nelson selbst, nur mit dem Unterschied, daß sein Ungehorsam nicht von demselben versöhnenden Erfolg begleitet wurde, wie bei Nelson, und daß daher der Kapitän sich hätte glücklich schätzen sollen, statt gestraft, einfach nur bei der Beförderung übergangen zu werden.
Aber Niemand weiß, wenn es ihm gut geht. Da nun zufälliger Weise um dieselbe Zeit ein entfernter Verwandter Kapitän Dashmore vierzig oder fünfzigtausend Pfund hinterlassen hatte, so nahm er seinen Abschied und wurde von dem rachsüchtigen Wunsche beseelt, in's Parlament zu kommen und dort der Administration eine oratorische Züchtigung zu ertheilen.
Wenige Stunden reichten hin, um zu beweisen, daß der Seekapitän die Wahlumtriebe in einen kleinen, nicht besonders erleuchteten Bezirk vortrefflich zu leiten verstand. Freilich schwatzte er den kläglichsten Unsinn, den man je von einem offenen Fenster herunter vernommen hatte; aber seine Scherze waren so derb, sein Benehmen so treuherzig und seine Stimme so kräftig, daß er in jenen finstern Zeiten, ehe noch der Schulmeister auf Reisen ging, sowohl den philosophischen Radicalen, als den moralisirenden Demokraten auf dem Felde geschlagen haben würde. Ueberdies küßte er alle Frauen, mochten sie alt oder jung sein, mit dem Feuer eines Matrosen, welcher weiß, was es heißt, drei Jahre zur See zu sein, ohne einer bartlosen Lippe ansichtig zu werden, besuchte alle Wirthshäuser, lud jeden Tag eine zahlreiche Versammlung zu Tische und erklärte, seinen Beutel in die Höhe werfend, »er wolle bei seinem Geschütz ausharren, so lange noch eine Kugel im Munitionskasten sei.« Bisher hatte nur ein geringer politischer Unterschied zwischen dem Kandidaten des Lansmere'schen Anhangs und demjenigen der gegenüberstehenden Parteien stattgefunden, denn die Landedelleute der damaligen Zeit bekannten sich so ziemlich zu der nämlichen Denkweise, und die Frage war in Wirklichkeit blos eine lokale, ob nämlich der Einfluß Lord Lansmere's den Sieg über den der beiden adeligen Familien, welche bisher allein eine Opposition zu bilden gewagt hatten, davon tragen werde oder nicht.
Obgleich Kapitän Dashmore übrigens ein sehr loyaler Mann und viel zu lange im Seedienst gewesen war, um der Ansicht zu sein, daß der Staat (welcher so oft mit einem Schiffe verglichen wird) dem gemeinen Mann Zutritt auf das Halbdeck gestatten sollte, so hatte doch unter dem Deklamiren gegen Lords und Aristokratie, Aemtervergebung und Mißbräuche, wobei er zu den gedachten anstößigen Hauptwörtern aus einem nicht sehr gebildeten Wörtervorrathe die kräftigsten Eigenschaftswörter zusammensuchte, seine Galle die Oberhand über den Verstand gewonnen, und er wurde, so zu sagen, von seiner eigenen Beredtsamkeit berauscht. Obwohl also in Betreff jakobinischer Anschläge ebenso unschuldig, als er unfähig war, die Themse in Brand zu stecken, hätte man ihn nach seinen Reden für einen der verwegensten Brandstifter halten können, die nur je eine Lunte an den Brennstoff einer strittigen Wahl gelegt haben. Da er außerdem nicht im Mindesten gewöhnt war, seinen Gegnern Achtung zu erweisen, so behandelte er den Grafen mit der größten Rücksichtslosigkeit. Gewöhnlich bezeichnete er diesen achtungswerthen Edelmann mit dem Titel »alte Hochnase«, während zwei andere Würdenträger – der Bürgermeister, welcher sich außer dem Hause nie anders als in Stulpenstiefeln zeigte, und der Advokat, ein Mann von starkem Gliederbau – von ihm den unehrerbietigen vereinten Spottnamen »Stulp- und Wasserstiefel« erhielten.
So war die Wahl, wie schon bemerkt, für den Grafen und für die Häupter des Lansmere'schen Anhangs ein Gegenstand persönlichen Interesses geworden; Ersterem schien in der That seine Grafenkrone dabei auf dem Spiele zu stehen. Der Mann aus der Bäckerstraße, mit seiner übernatürlichen Kühnheit, war in seinen Augen ein unheimliches, verhängnißvolles Wesen, das nicht sowohl mit Groll, als mit abergläubischer Furcht betrachtet werden mußte. Er theilte die Gefühle des würdevollen Montezuma, als ihm jener ruchlose Cortez mit seiner Handvoll spanischer Spitzbuben in seiner eigenen Hauptstadt Trotz bot. »Die Götter wären bedroht, wenn Menschen so unverschämt sein könnten.« Deßgleichen sagte Mylord in bebendem Tone: »Die Constitution ist verloren, wenn der Mann aus der Bäckerstraße für Lansmere in's Parlament kömmt.«
Die Abwesenheit Audley Egerton's gab dem Wahlgeschäft ein überaus häßliches Aussehen, und Kapitän Dashmore gewann mit jeder Stunde mehr Boden, bis sich der Advokat von Lansmere glücklicher Weise auf einen angesehenen Stellvertreter für den abwesenden Candidaten besann. Audley zu Ehren hatte der Graf den Squire von Hazeldean mit seiner jungen Gemahlin zu sich eingeladen, und in diesem nun erblickte der Advokat den einzigen Sterblichen, der sich mit dem Seekapitän messen konnte – einen Mann mit ebenso kräftiger Stimme und kecker Stirne – einen Mann, der, wenn es ihm Mrs. Hazeldean für diesen Zweck erlaubte, die Frauen nicht minder feurig küssen konnte als der Kapitän, und dabei noch obendrein viel größer, schöner und jünger war als jener. Und um sich persönlich um Stimmen zu bewerben und vom Fenster herunter Reden zu halten, war Squire Hazeldean sogar eine weit geeignetere Persönlichkeit als der feine Audley Egerton mit seinem Londoner Anstrich.
Der Squire, von allen Seiten überredet und gedrängt, erwiderte anfangs in seiner derben Weise: »er wolle gern Alles thun, was die Vernunft billige, um seinem Bruder zu dienen; ihm für seinen Theil jedoch gefalle die ganze Sache gar nicht. Und wenn er für seinen Bruder einstehen solle, so müsse er in dessen Namen versprechen und geloben, dem Grund und Boden, von dem sie lebten, treu und wahr zu sein; wie könne er nun aber dafür gut sagen, daß Audley, wenn er einmal in's Parlament komme, nicht die Interessen des Landes vergesse und ihn, William Hazeldean, als Lügner und Abtrünnigen erscheinen lasse!«
Diese Bedenken wurden jedoch durch die Gegengründe der Herren und die Bitten der Damen überwunden; denn diese Letzteren nahmen jenes warme Interesse an der Wahl, welches alle Gegenstände des Kampfes und Streites diesen zarten Wesen einzuflößen pflegen. So willigte denn der Squire endlich ein, dem Manne aus der Bäckerstraße gegenüber zu treten, und ging mit ganzem Herzen und echtem altenglischen Geiste auf die Sache ein, wie er stets zu thun gewohnt war, wenn er einmal einen Entschluß gefaßt hatte.
Die Befähigung des Squire's für die Umtriebe einer Volkswahl entsprach vollkommen den Erwartungen, die man von derselben gehegt hatte. Er schwatzte gerade so viel Unsinn, wie Kapitän Dashmore, wenn nicht von den Interessen des Landbaues die Rede war; in diesem Gegenstand jedoch war er groß, denn er kannte ihn durch und durch – kannte ihn in Folge jenes Instinkts, der mit der Uebung kommt und gegen den die glänzendsten Theorieen nur wie Mondschein und Spinngewebe erscheinen.
Die zur Gegenpartei gehörigen Landwirthe, kleinere Freisaßen Engl. yeomen: im Mittelalter »Freibauern« (Freisassen) bedeutend, d.h. Bauern, die nicht von einem Grundherrn abhängig sind, bezeichnet der Begriff zur Spielzeit des Romans Pächter und kleine Grundbesitzer., die bis dahin, stolz auf ihre Unabhängigkeit, gegen den Grafen gestimmt hatten, konnten nichts mehr gegen einen Mann einwenden, der mit Leib und Seele ein Freund der Farmer war. Sie begannen daher, sich mit dem Anhang des Grafen gegen den Mann aus der Bäckerstraße zu vereinigen, und bald sah man stämmige Gestalten mit ungeheuren Peitschen in die Läden treten, »um die Wähler zu schrecken,« wie Kapitän Dashmore sich mit Entrüstung ausdrückte.
Diese neuen Hilfstruppen vergrößerten die Liste der Lansmere'schen Streitkräfte um ein Bedeutendes, und als der Tag der Wahl herankam, stand der Ausgang so auf der Wage, daß man mit gleicher Wahrscheinlichkeit für und wider wetten konnte. In der letzten Stunde stach Audley Egerton den Kapitän nach einem hartnäckigen Kampfe mit einem Mehr von zwei Stimmen aus. Die Namen der Wähler, welche diesen Ausschlag gaben, waren: John Avenel, ein ansässiger Bauer und sein Schwiegersohn, Mark Fairfield, der, obgleich ein Lansmerer Freisaße, sich in Hazeldean niedergelassen hatte, wo ihm der Posten eines gutsherrlichen Oberzimmermanns übertragen worden war.
Diese Stimmen kamen unerwartet; denn, wiewohl Mark Fairfield mit dem Vorsatze nach Lansmere gekommen war, den Bruder des Squire's zu unterstützen, und die Avenels stets treue Anhänger der Lansmere'schen blauen Partei gewesen waren, so hatten doch beide Männer in Folge eines schweren Leides, das ihre Familie betroffen (dessen Natur ich aber aus Rücksicht für meine Leser verschweige, um nicht meine Erzählung gleich mit einem traurigen Ereigniß einzuleiten), die Stadt an demselben Tage verlassen, an welchem Lord L'Estrange und Audley Egerton von Lansmere's Park abgereist waren.
Wie sehr nun auch der Squire – als Wahlwerber und Bruder – Ursache hatte, sich über Mr. Egerton's Triumph zu freuen, so wurde doch diese Freude nicht wenig gedämpft, als er von dem Festessen, das zu Ehren des Sieges in dem Lansmerewappen abgehalten worden war, zurückkehrte und eben mit etwas unsicherem Tritt seinen Wagen besteigen wollte. In diesem Augenblick steckte ihm nämlich einer der Herren, welche Kapitän Dashmore auf den Wahlplatz begleitet hatten, einen Brief in die Hand, dessen Inhalt, verbunden mit einigen Worten, die der Ueberbringer ihm zuflüsterte, M. Hazeldean weit nüchterner nach Hause kommen ließ, als seine Gemahlin zu hoffen gewagt hatte.
Die Sache verhielt sich folgendermaßen: Am Wahltage hatte es dem Kapitän gefallen, den Squire mit allerlei poetischen und bildlichen Bezeichnungen, als da sind: »Preisochse,« »Toni Knopf Im Original »Tony Lumpkin«, eine äußerst populäre Figur aus Oliver Goldsmiths Schauspiel She Stoops to Conquer (1773), die für den drolligen Tunichtgut steht.,« »blutsaugender Vampyr,« »brüderliche Wärmepfanne Die »Wärmpfanne« ist ein zeitgenössischer Bettwärmer. Die englischen Leser dachten damals an den sog. warming-pan scandal: König James' II. von England zweite Frau war im Jahr 1688 Opfer eines Medienskandals geworden. Nach einer Reihe von Fehlgeburten wurde ihre erneute Schwangerschaft angezweifelt; ihr Sohn Prinz James Francis Edward, so behaupteten Skandalblätter, sei irgendwie in einer Wärmepfanne ins königliche Wochenbett geschmuggelt worden.,« u. s. w. zu beehren, welche Artigkeiten der Squire mit einem Witz auf den »Salzwasserhans« zurückgab. Da nun der Kapitän, wie alle Satyriker, außerordentlich empfindlich und dünnhäutig war, so konnte er es nicht ertragen, von einem »Preisochsen« und blutsaugenden »Vampyr« »Salzwasserhans« genannt zu werden.
Der Brief also, welcher Mr. Hazeldean von einem Edelmann übergeben wurde, der wegen seiner Abstammung von dem Schwesterlande für besonders geeignet angesehen wurde, an der ehrenhaften Vernichtung eines Mitsterblichen Theil zu nehmen, enthielt nichts mehr und nichts weniger, als eine Herausforderung zu einem Einzelkampfe, und der Ueberbringer derselben deutete mit all' der einnehmenden Höflichkeit, welche die Etiquette bei solchen gebildeten Mordangelegenheiten vorschreibt, auf die Zweckmäßigkeit hin, den Ort der Zusammenkunft in die Nähe von London zu verlegen, um eine etwaige Einmischung der argwöhnischen Behörden von Lansmere zu verhindern.
Die Angehörigen mancher Länder, – vornämlich die kriegslustigen Franzosen – machen sich wenig aus der formgerechten Operation, Duell genannt. Ja, sie scheint ihnen eher angenehm, als zuwider zu sein. Dagegen gibt es nichts, was ein ächter und gerechter Engländer – ein Hazeldean von Hazeldean z. B. – mit mehr Widerwillen und Abscheu betrachtet, als diese nämliche kaltblütige Ceremonie, welche ganz und gar außer dem Bereiche seiner Denkweise liegt. Er zieht es vor, zu dem weit zerstörenderen gerichtlichen Verfahren seine Zuflucht zu nehmen. Wenn aber ein Engländer einmal fechten muß – nun, dann thut er es natürlich auch. Er sagt: »Es ist sehr thöricht.« – »Es ist sehr unchristlich« – er ist vollkommen einverstanden mit Allem, was Philosophen, Prediger und die Presse über diesen Gegenstand schon ausgesprochen haben; allein er macht sein Testament, spricht sein Gebet und zieht aus, wie ein Heide!
Es fiel daher dem Squire nicht im Entferntesten ein, bei dieser unangenehmen Gelegenheit Mangel an Muth zu zeigen. Am nächsten Tage gab er vor, er wolle dem Verkauf eines Jagdpferdes in Tattersall beiwohnen, und trat, nachdem er besonders zärtlichen Abschied von seiner Gattin genommen hatte, schweren Herzens die Reise nach London an; denn er war überzeugt, er werde nicht anders, als in einem Sarge zurückkehren.
»Es ist ganz natürlich,« sagte er bei sich selbst, »daß ein Mann, den die Regierung für das Erschießen der Leute bezahlt, seitdem er als Knabe in der Midschipmansjacke herumlief, das Geschäft aus dem Grunde verstehen muß. Ich wollte mir nicht so viel daraus machen, wenn's mit doppelläufigen Mantons und Schroten geschehen könnte; aber Pistolen und Kugeln – das ist weder menschlich, noch waidmännisch!«
Nachdem übrigens der Squire seine weltlichen Angelegenheiten geordnet und einen alten Schulkameraden aufgetrieben hatte, der sich dazu verstand, ihm als Secundant zu dienen, verfügte er sich nach einer abgelegenen Stelle der Wimbledoner Heide und stellte sich nicht seitwärts auf, wie dies bei solchen Begegnungen üblich ist (denn eine solche Stellung war seiner Ansicht nach ein unmännliches Ausweichen), sondern gerade der Pistolenmündung seines Feindes gegenüber. Diese muthige Haltung flößte dem Kapitän, der ein trefflicher Schütze, im Grunde aber der gutmüthigste Mensch von der Welt war, solche Bewunderung ein, daß er sich damit begnügte, seinem tapfern Gegner eine Kugel in den fleischigen Theil der Schulter zu jagen. Hierauf erklärte er sich für vollkommen befriedigt; die Kämpfer schüttelten sich die Hände, Entschuldigungen wurden gewechselt, und der Squire, den es nicht wenig Wunder nahm, sich noch am Leben zu finden, wurde nach Limmer's Hotel gebracht, wo man ihm nach vielen Aengsten und Schmerzen die Kugel auszog und die Wunde heilte. Nachdem Alles glücklich überstanden war, fühlte sich der Squire sehr in seiner eigenen guten Meinung gehoben, und wenn er später besonders in's Feuer kam, pflegte er gern auf dieses gefährliche Ereigniß anzuspielen.
Außerdem war er der festen Ueberzeugung, sein Bruder habe nun die dauerndsten Verpflichtungen gegen ihn, und da er Audley in's Parlament gebracht und mit Gefährdung seines eigenen Lebens dessen Interessen vertheidigt habe, so stehe es ihm nun auch zu, demselben vorzuschreiben, wie er abstimmen müsse – wenigstens in allen Dingen, die mit dem Grundbesitz in irgend welchem Zusammenhang stünden. Als aber Audley, kurz nachdem er seinen Sitz im Parlament eingenommen (was erst mehrere Monate nach den obenerwähnten Ereignissen geschah), für gut fand, in einer Weise zu sprechen und abzustimmen, die alle vom Squire in seinem Namen gemachten Zusagen Lügen strafte, schrieb ihm Mr. Hazeldean einen so derben Brief, daß nothwendig eine unversöhnliche Antwort darauf erfolgen mußte.
Kurze Zeit darauf erreichte der Zorn des Squire's seinen Höhepunkt. Als er nämlich an einem Markttage durch Lansmere kam, wurde er von denselben Pächtern ausgezischt, die er vermocht hatte, für seinen Bruder zu stimmen. Da er nun mit Recht Audley als die Ursache dieser Beschimpfung betrachtete, so konnte er nie mehr den Namen dieses Verräthers an der Sache der Grundbesitzer hören, ohne daß ihm das Blut in's Gesicht schoß und ein Wort der Entrüstung entfuhr. Monsieur de Ruqueville, der größte Witzling seiner Zeit, hatte, wie der Squire, einen Halbbruder, mit dem er nicht immer auf dem besten Fuße lebte und von dem er nie anders als von seinem »frère de loin« sprach. Die Anekdote wird erzählt im achten Band von Les Historiettes de Tallemant des Réaux (2. Aufl. Paris 1840. S. 83). So war auch Audley Egerton des Squires »entfernter Bruder«! Doch genug von diesen erklärenden Einleitungsbemerkungen – kehren wir zu dem Stock zurück.
Die Zimmerleute des Squires mußten ihre Arbeit an der Umzäunung des Parkes unterbrechen, um den Stock des Dorfes herzustellen. Dann kam der Maler und gab dem Holz eine schöne, dunkelblaue Farbe mit weißem Saum und einem weißen Rand um die Fußlöcher, zwischen denen noch ein verzierender Schnörkel angebracht wurde. Es war das bunteste öffentliche Gebäude im ganzen Dorfe, obgleich dieses nicht weniger als drei andere Denkmäler dem architectonischen Genius der Hazeldeans verdankte, nämlich das Armenhaus, die Schule und den Dorfbrunnen.
Ein zierlicherer, verlockenderer, coquetterer Stock hatte noch nie das Auge eines Friedensrichters erfreut.
Und Squire Hazeldean's Auge war erfreut. In dem Stolz seines Herzens führte er die ganze Familie herunter, um den Stock zu betrachten. Die Familie des Squires bestand (wenn wir den frére de loin übergehen) erstlich aus Mrs. Hazeldean, seiner Gattin, zweitens aus Miß Jemima Hazeldean, seiner Cousine, drittens aus Master Francis Hazeldean, seinem einzigen Sohne, und viertens aus Kapitän Barnabas Higginbotham, einem entfernten Verwandten, der eigentlich, streng genommen, gar nicht zur Familie gehörte, aber zehn Monate im Jahr bei ihr zu Gaste war.
An Mrs. Hazeldean war jeder Zoll die gnädige Frau – die gnädige Frau des Dorfes. In ihrem hübschen, blühenden, etwas sonnverbrannten Gesichte lag zugleich ein Ausdruck von Majestät und Wohlwollen. Ihr blaues Auge flößte Liebe, ihre Adlernase Ehrfurcht ein. Mrs. Hazeldean war keine Freundin der Ziererei; sie wollte weder größer, noch schöner, noch klüger sein, als sie wirklich war. Sie kannte sich selbst und ihre Stellung und dankte Gott dafür. Es war in ihrer Sprache und in ihrem Wesen etwas von jener Kürze und Derbheit, welche man oft bei Personen von königlichem Geblüt bemerkt, und wenn die gnädige Frau eines Dorfes nicht in ihrem Kreise eine Königin ist, so liegt die Schuld sicher nicht an der Gemeinde.
Mrs. Hazeldean spielte ihre Rolle vortrefflich. Sie trug Gewänder von Seidenstoffen so dick, so dauerhaft und imponirend, daß sie Familienerbstücke zu sein schienen, und über diese, wenn sie sich auf ihrem eigenen Besitzthum befand, die weißeste aller Schürzen; ferner keinen Schnickschnack von châtelaine mit breloques Chatelaine: Dekorativer Anhänger, mit dessen Hilfe Uhren und andere kleine Gegenstände an der Kleidung befestigt werden. – Breloque: (Armband)anhänger und anderm Kram, sondern eine gute, ehrliche goldne Uhr, um die Zeit zu wissen, und eine Scheere, um das welke Laub von den Blumen abzuschneiden, denn sie war eine große Blumenfreundin.
Wenn die Gelegenheit es erheischte, konnte übrigens Mrs. Hazeldean ihre reichen, königlichen Gewänder gegen ein derbes Reitkleid von blauem sächsischem Tuche vertauschen, um neben ihrem Gatten einherzusprengen, wenn er die Jagdhunde losließ. Ja, an den Tagen, an welchen Mr. Hazeldean mit seinem berühmten, schnelltrabenden Hengst nach der nächsten Marktstadt fuhr, geschah es nur selten, daß man nicht zur Linken des Squire seine Gattin in dem Gig Einspänniger, zweirädriger offener Wagen mit Gabeldeichsel für ein Pferd, zum Selbstfahren, daher meist mit kleinem Bedientensitz hinter dem Hauptsitz. sitzen sah. Sie kümmerte sich so wenig als ihr Eheherr um Wind und Wetter, und selbst im stärksten Regenschauer konnte man ihr liebliches Gesicht aus Kragen und Kaputze ihres wasserdichten Regenmantels hervorblicken sehen, lächelnd und blühend, wie eine frische Rose, die eben ihre Blätter erschließt und sich des kühlenden Thaues freut.
Man sah es dem würdigen Paare an, daß es »aus Liebe« geheirathet hatte; darum trennten sich auch die Beiden so selten, als nur möglich. Noch immer zog Mrs. Hazeldean am ersten September, wenn sich gerade keine Gäste im Hause befanden, die ihre Sorgfalt in Anspruch nahmen, an der Seite ihres Gatten über die Stoppelfelder so leichten Trittes und heitern Auges, wie in dem ersten Jahre ihrer Ehe, da sie den Squire durch ihre herzliche Theilnahme an seiner Waidlust bezaubert hatte.
Hier steht nun Harriet Hazeldean, die eine Hand auf die breite Schulter des Squires gestützt, die andre in ihre Schürze gesteckt, und bemüht sich, den Enthusiasmus ihres Gatten für den patriotischen Gemeinsinn, welchen er durch Wiederherstellung des Gemeindestocks an den Tag gelegt hat, zu theilen.
Ein wenig hinter ihnen, mit zwei Fingern auf den magern Arm des Kapitän Barnabas gelehnt, steht Miß Jemima, die verwaiste Tochter eines Onkels des Squires, welcher so unbesonnen gewesen war, eine junge Dame zu entführen und zu heirathen, deren Familie seit der Regierung Karls I. Karl I. aus dem Haus Stuart war von 1625 bis 1649 König. Sein Versuch, in England den Absolutismus zu errichten, führt zum Bürgerkrieg und seiner Enthauptung. mit den Hazeldeans wegen eines Wegerechts nach einem kleinen Gehölz in Fehde lag, zu welchem man über einen Strich Heideland gelangte, der für jährliche zwölf Schillinge an einen Ziegelbrenner verpachtet war.
Das Wäldchen gehörte den Hazeldeans, das Heideland den Sticktorights, Stick to rights: die an ihren Rechten festhalten. einer sehr alten sächsischen Familie. Alle zwölf Jahre, wenn das Holz gefällt wurde, brach der Streit von Neuem los; denn die Sticktorights wollten den Hazeldeans nicht gestatten, ihre Baumstämme und Reisigwellen auf dem einzigen Wege fortzuschaffen, der mit einem Holzwagen befahren werden konnte. Wir müssen den Hazeldeans die Gerechtigkeit widerfahren lassen, zu sagen, daß sie sich erboten, das Land zu kaufen und den zehnfachen Werth dafür zu bezahlen. Allein die Sticktorights erklärten mit derselben Hochherzigkeit, daß sie das Familieneigenthum nicht schmälern wollten, und wäre es für den besten Squire, den es je gegeben habe. So fand denn mit jedem zwölften Jahre ein großer Friedensbruch zwischen den Hazeldeans und Sticktorights Statt. Der Streit wurde von ihren betreffenden Vasallen mannhaft ausgefochten, und darauf folgten in der Regel verschiedene Anklagen wegen thätlicher Beleidigungen und Eingriffe in fremdes Eigenthum.
Da die Rechtsfrage äußerst dunkel war, so wurde sie auch nie ordentlich entschieden; ja, keine der beiden Parteien wünschte eigentlich eine Entscheidung, da jede im Grunde ihres Herzens einige Zweifel hegte, ob sie auch wirklich das Recht für sich habe. Mit gleicher Entrüstung betrachteten beide Familien den Vorschlag, durch eine Verbindung zwischen einem jüngern Sohne der Hazeldeans und einer jüngern Tochter der Sticktorights den Streit zu schlichten, und die Folge davon war, daß sich das erwähnte entlaufene Pärchen ohne Vergebung und elterlichen Segen durch's Leben schleppen mußte, so gut es ging, und zu seinem Unterhalte nichts besaß, als den spärlichen Sold des Gatten (der Offizier war) und die Interessen aus tausend Pfund, dem unabhängigen Vermögen der Frau. Sie starben und hinterließen eine einzige Tochter, auf welche die tausend Pfund ungefähr um dieselbe Zeit übergingen, als der Squire volljährig wurde und den Besitz seiner Güter antrat. Obgleich er nun den ganzen Familienhaß gegen die Sticktorights geerbt hatte, so lag es doch nicht in seiner Natur, unfreundlich gegen eine arme Waise zu sein, die doch immerhin das Kind eines Hazeldean war. Er erzog daher Jemima mit so viel Sorgfalt, als ob sie seine Schwester gewesen wäre, legte ihr mütterliches Vermögen auf Zinsen und verwendete von dem baaren Gelde, das sich während seiner Minderjährigkeit angesammelt hatte, so viel dazu, als nöthig war, um ihr Vermögen sammt Zinseszinsen auf viertausend Pfund zu bringen, was die gewöhnliche Mitgift einer Tochter aus dem Hause Hazeldean ausmachte.
Als Miß Jemima volljährig wurde, übergab er ihr diese Summe zu freier Verfügung, damit sie sich unabhängig fühlen und ein wenig mehr von der Welt sehen könnte, als dies in Hazeldean möglich war, sowie, damit sie unter etwaigen Freiern zu wählen hätte, wenn sie sich verheirathen wollte, oder hinreichende Mittel besäße, wenn sie es vorzog, unverheiratet zu bleiben. Miß Jemima hatte sich diese Freiheit einigermaßen zu Nutzen gemacht, indem sie gelegentlich Cheltenham oder ähnliche Badeorte besuchte. Allein ihre dankbare Anhänglichkeit an den Squire war so groß, daß sie niemals lange von der Halle entfernt bleiben konnte. Und dies machte ihrem Herzen um so mehr Ehre, als ihr der Gedanke, eine alte Jungfer zu werden, nichts weniger, als angenehm war und es in der Umgegend von Hazeldean so wenig heiratsfähige Männer gab, daß sich ihren Augen keine andere Aussicht darbot, so oft sie zu den Fenstern der Halle hinaus schaute.
Miß Jemima war in der That eines der freundlichsten, liebevollsten weiblichen Wesen, und wenn ihr der Gedanke an das Glück der Jungfräulichkeit nicht zusagte, so entsprang dies aus der unschuldigen, ihrem Geschlechte angeborenen Vorliebe für die stillen Freuden der Heimath und des eigenen Herdes, ohne welche eine Frau, wie schätzbar sie auch sonst sein möge, nicht viel besser ist, als eine Minerva von Bronze. Doch ungeachtet ihres annehmbaren Vermögens und ihres zwar nicht eigentlich schönen, aber angenehmen Gesichtes, welkes noch viel hübscher gewesen wäre, wenn sie öfter gelacht hätte, alsdann zeigten sich drei reizende Grübchen, die nicht sichtbar waren, wenn sie sie ernst blieb – ich weiß nicht, lag die Schuld an der Unempfindlichkeit des männlichen Geschlechtes oder an ihrem eigenen allzuwählerischen Geschmacke – genug, Miß Jemima näherte sich bereits den verhängnißvollen Dreißigen und war noch immer Miß Jemima. Kein Wunder also, daß jenes verschönernde Lachen nur noch selten von ihr gehört und daß sie immer mehr in zwei Ansichten bestärkt wurde, welche durchaus nicht geeignet waren, die Lachlust zu reizen – nämlich die Ueberzeugung von einer allgemeinen und fortschreitenden Verderbniß des männlichen Geschlechtes und der entschiedene, traurige Glaube an das nahe Ende der Welt.
Miß Jemima's Begleiter war ein kleines Lieblingshündchen, ein echter Blenheim King-Charles-Spaniel, eine kleine Spaniel-Rasse.mit einer Stulpnase. Das Thier war ziemlich betagt und etwas fett. Es saß auf seinen Hinterfüßen und ließ die Zunge heraushängen, wenn es nicht nach Fliegen schnappte.
Zwischen Miß Jemima und Kapitän Barnabas Higginbotham bestand eine warme, platonische Freundschaft; er war ebenfalls unverheirathet und hegte dieselbe ungünstige Meinung von deinem Geschlechte, meine werthe Leserin, wie Miß Jemima von dem unserigen. Der Kapitän war ein Mann von schmächtiger, aber zierlicher Gestalt; je weniger man von seinem Gesichte sagte, desto besser, was er selbst sehr wohl wußte, denn man hörte ihn oft die Ansicht aussprechen, »daß es bei einem Manne vorzüglich auf eine schlanke, vornehme Gestalt und Haltung ankomme.« Kapitän Barnabas stellte zwar nicht entschieden in Abrede, daß das Ende der Welt herankomme, glaubte aber doch, daß er es nicht mehr erleben werde.
Entfernt von den Uebrigen und mit der nachlässigen Miene eines jugendlichen Stutzers blickte Frank Hazeldean über eine jener hohen, steifen Halsbinden hinweg, welche damals Mode waren. Er war ein hübscher Knabe, soeben von Eton angekommen, um die Sommerferien zu Hause zuzubringen, stand jedoch gerade in dem ungünstigen Alter, da man der Knabenspiele überdrüssig ist, ohne an den Vergnügungen her Erwachsenen Theil nehmen zu können.
»Es würde mir lieb sein, Frank,« sagte der Squire, der sich plötzlich gegen seinen Sohn umwandte, »wenn du ein wenig mehr Interesse für diejenigen Pflichten zeigtest, welche du mit der Zeit einmal zu erfüllen haben wirst. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß die Güter einst in die Hände eines feinen Herrn fallen sollen, der Alles zu Grunde gehen läßt, anstatt, wie ich, sie hübsch im Stande zu erhalten.«
Dabei deutete der Squire auf den Stock. Master Frank's Auge folgte der Richtung des Rohres, so gut seine Halsbinde es gestattete, und versetzte trocken:
»Ja, Vater; aber wie kam es, daß der Stock so lang im Verfall blieb?«
»Weil man nicht Alles zugleich thun kann,« entgegnete der Squire scharf. »Wenn ein Grundbesitzer achttausend Morgen Land zu übersehen hat, so muß er Eines nach dem Andern vornehmen.«
»Ja wohl,« sagte Kapitän Barnabas. »Ich weiß das aus Erfahrung.«
»Was zum Henker! Sie Erfahrung über achttausend Morgen!« rief der Squire derb.
»Nein – ich sprach von meinen Zimmern in dem Albany Hotel Nr. 3 A. Ich bewohne sie schon seit zehn Jahren, und doch habe ich erst letzte Weihnachten meine japanesische Katze gekauft.«
»Der Tausend,« sagte Miß Jemima, »eine japanesische Katze! Die muß seltsam aussehen. Was ist denn das für ein Geschöpf?«
»Wissen Sie das nicht? Es ist ein Ding mit drei Füßen, in das man die Brodschnitten thut, um sie zu rösten. Im Original: »holds toasts«. Es handelt sich bei der japan cat um ein kleines Gestell, um getoastete Brotscheiben abzulegen. Ich versichere Sie, daß ich nie daran gedacht hatte, bis mein Freund Cosey Engl. cosy: gemütlich, behaglich., als er eines Morgens bei mir frühstückte, zu mir sagte: ›Higginbotham, wie kommt es, daß du, der gerne Alles so bequem, als möglich hat, keine Katze besitzest?‹ ›Meiner Treu,‹ sagte ich, ›man kann nicht an Alles zugleich denken.‹ Gerade wie Sie, Squire!«
»Pah!« versetzte Mr. Hazeldean mürrisch. »Ganz und gar nicht, wie ich. Und Sie würden mich sehr verbinden, Vetter Higginbotham, wenn Sie mich ein andermal nicht wieder bei Besprechung wichtiger Gegenstände unterbrechen wollten, um Ihre Katze in meinen Stock zu stecken. Nun sieht er doch etwas gleich, nicht wahr, Harry? In der That, mir kömmt es vor, das ganze Dorf gewinne ein anständigeres Aussehen. Es ist erstaunlich, wie viel eine solche kleine Verbesserung beiträgt zu dem – zu dem –«.
»Reiz einer Landschaft,« ergänzte Miß Jemima mit Sentimentalität.
Der Squire, der diesen Schluß seines Satzes weder annahm, noch verwarf, unterbrach sich plötzlich, ohne die angefangene Rede zu vollenden, indem er sagte:
»Und wenn ich dem Pfarrer Dale Gehör gegeben hätte –«.
»So würden Sie sehr weise gehandelt haben,« ließ sich eine Stimme vernehmen, während der Pfarrer selbst sich im Hintergrund zeigte.
»Weise! In der That, Mr. Dale,« rief Mrs. Hazeldean mit Lebhaftigkeit aus, denn sie ahndete den geringsten Widerspruch gegen ihren Herrn und Meister, vielleicht als einen Eingriff in die ihr allein gebührenden Vorrechte – »in der That, wenn man Stöcke braucht, so ist es auch wohl nöthig, sie auszubessern!«
»Recht so! Drauf los, Harry!« rief der Squire kichernd und sich die Hände reibend, als hätte er seinen Dachshund auf den Pfarrer gehetzt; »Nur zu! – Fass' ihn! – Nun, Mr. Dale, was sagen Sie dazu?«
»Gnädige Frau,« versetzte der Pfarrer, welcher es vorzog, seine Erwiderung an die Dame zu richten, »es gibt viele Einrichtungen im Landen welche sehr alt sind, verfallen aussehen und von geringem Nutzen zu sein scheinen, die ich aber deßhalb doch nicht niederreißen möchte.«
»Sie würden dieselben wahrscheinlich reformiren,« versetzte Mrs. Hazeldean zweifelnd und mit einem Blick auf ihren Gatten, als wollte sie sagen: »Er kommt jetzt auf die Politik – das ist deine Sache!«
»Nein, gnädige Frau, das würde ich auch nicht thun,« versetzte der Pfarrer mit Nachdruck.
»Nun, was um's Himmelswillen würden Sie denn sonst thun?« fragte der Squire.
»Ich würde sie bloß in Ruhe lassen,« erwiderte der Geistliche, »Master Frank, es gibt einen lateinischen Grundsatz, den Sir Robert Walpole Staatsmann (1676-1745), leitete die englische Politik von 1721 bis 1742. im Munde zu führen pflegte und den man in die ›Etoner Grammatik aufnehmen sollte: › Quieta non movere.‹ Wenn etwas ruhig ist, so lasse man es in Ruhe! Ich würde die Stöcke nicht zerstören, weil der Uebelgesinnte daraus den Schluß ziehen könnte, daß er sich ungestraft Vergehungen erlauben dürfe; aber eben so wenig würde ich sie ausbessern, weil es dadurch den Leuten einfallen möchte, hinein zu kommen.«
Der Squire war ein scharfer Politiker der alten Schule, und der Gedanke, daß er mit Ausbessern des Stocks vielleicht revolutionären Grundsätzen Vorschub geleistet habe, war ihm höchst unangenehm.
»Dieses beständige Streben nach Neuerung,« sagte Miß Jemima, plötzlich das düsterste ihrer beiden Steckenpferde besteigend, »ist eines der deutlichsten Anzeichen des herannahenden Untergangs. Wir wollen immer ändern, verbessern und erneuern, während doch in längstens zwanzig Jahren die Welt zerstört sein wird.« Die schöne Sprecherin hielt inne.
»Zwanzig Jahre!« wiederholte Kapitän Barnabas nachdenklich. »Die Versicherungsgesellschaften berechnen das beste Leben selten höher als zu vierzehn.« Er schlug bei diesen Worten mit der Hand auf den Stock und fügte dann seinen gewöhnlichen, trostreichen Schluß hinzu: »Jedenfalls werden wir's nicht mehr erleben, Squire!«
»Vater,« sagte Master Frank mit jenem geheimen Neckgeiste, den er sich in Eton unter andern seinen Talenten angeeignet hatte; »Vater, es hilft jetzt nichts mehr, zu überlegen, ob es wohl gethan war, den Stock erneuern zu lassen, oder nicht; die Frage ist jetzt nur die, wen du wirft hineinstecken können.«
»Ganz richtig,« erwiderte der Squire mit großem Ernste.
»Das ist es eben!« rief der Geistliche traurig aus. »Wenn Sie sich nur das › non quieta movere‹ merken wollten.«
»Werfen Sie mir nicht immer Ihr Latein in's Gesicht, Pfarrer!« rief der Squire zornig; »ich kann Ihnen ebenfalls damit aufwarten.
›
Propria quae maribus tribuuntur mascula dicas. –
As in praesenti, perfectum format in avi.‹
Es handelt sich hier nicht um ein literarisches Zitat, sondern um eingetrichterte Zeilen aus einem damals gängigen Grammatikbuch, die Merksätze für den Gebrauch des Genus und der Tempora wiedergeben.
So,« fuhr der Squire fort, indem er sich triumphirend an seine Harry wandte, welche mit der größten Bewunderung diesem beispiellosen Gelehrsamkeitserguß zugehört hatte; »Andere können dieses Spiel auch! Und nun wir Alle den Stock in Augenschein genommen haben, können wir wieder nach Hause gehen und Thee trinken. Wollen Sie uns nicht begleiten und eine Parthie Whist spielen, Dale? Nicht? Zum Henker, Mann, ich habe Sie doch nicht beleidigt? Sie kennen ja meine Weise!«
»Ja wohl, und sie gehört auch zu den Dingen, die ich nicht geändert sehen möchte,« rief der Pfarrer, ihm freudig die Hand hinhaltend. Der Squire schüttelte sie kräftig, und Mrs. Hazeldean beeilte sich, dasselbe zu thun.
»Ach ja, kommen Sie doch,« bat die gnädige Frau. »Ich fürchte, wir sind recht unartig gewesen – in unserer derben Weise. Kommen Sie, lieber, guter Herr Pfarrer, und bringen Sie die arme Mrs. Dale natürlich mit.« Mrs. Hazeldean's Lieblingsbeiwort für die Frau Pfarrerin war arm, und zwar aus Gründen, die später erklärt werden sollen.
»Ich fürchte, meine Frau hat wieder ihre bösen Kopfschmerzen; allein ich will Ihre freundliche Einladung ausrichten, und jedenfalls können Sie auf mich zählen.«
»Das ist Recht,« rief der Squire, »in einer halben Stunde also! – Wie geht's dir, kleiner Mann?« setzte er hinzu, indem er Lenny Fairfield's ansichtig wurde, der eben von einer Bestellung im Dorfe zurückkam und sich respektvoll bei Seite stellte, während er mit beiden Händen seinen Hut abzog. »Halt! Siehst du diesen Stock – eh? Sage allen bösen kleinen Jungen im Orte, sie sollen sich in Acht nehmen, daß sie nicht hineinkommen. Es ist eine arge Schande. Du wirst hoffentlich nie in eine solche Verlegenheit gerathen.«
»Dafür wenigstens will ich stehen,« sagte der Geistliche.
»Und ich auch,« setzte Mrs. Hazeldean hinzu, den Lockenkopf des Knaben streichelnd. »Sag' deiner Mutter, ich werde sie morgen Abend besuchen, um ein wenig mit ihr zu plaudern.«
Die Gesellschaft entfernte sich nun, indeß Lenny stehen blieb und den Stock anstarrte, der ihn seinerseits aus seinen vier großen Augen wieder anstarrte.
Doch Lenny sollte nicht lange allein bleiben. Sobald die Gutsherrschaft fort war, drangen die Leute aus den benachbarten Hütten schüchtern hervor und näherten sich mit Neugierde, Furcht und Verwunderung der Stelle, wo der Stock aufgeschlagen war.
In der That hatte das erneute Auftauchen dieses Ungeheuers – à propos de bottes, Wörtlich: à propos ›Stiefel‹; Redewendung, die in Wahrheit keinen Bezug ausdrückt, sondern dem bloßen Themenwechsel dient. wie man sagen möchte – bereits unter der Bevölkerung von Hazeldean beträchtliches Aufsehen erregt. Gleich wie die kleinen Vögel alle aus Baum und Busch herbeifliegen und sich um ihren unheimlichen Feind schaaren, wenn eine Eule sich unerwartet bei hellem Tageslicht blicken läßt, so versammelten sich jetzt die aufgeregten Dorfbewohner um die anstößige, unheilverkündende Erscheinung.
»Wißt Ihr, warum der Squire das Ding hat machen lassen, Gevatter Solomons?« fragte eine mit Kindern reich gesegnete Matrone, die einen Säugling auf ihrem Arme trug, während ein dreijähriges Bürschchen sich an ihrem Rocke festhielt, und ihre mütterliche Hand einen unternehmenden sechsjährigen Knaben zurückhielt, der ein großes Verlangen bezeigte, seinen Kopf in eine der unheimlichen Stocköffnungen zu vertiefen.
Aller Augen waren auf einen alten Mann geheftet, der für das Orakel des Dorfes galt und nun, mit den Händen auf seine Krücke sich stützend, bedeutungsvoll den Kopf schüttelte.
»Mag sein,« sagte Gevatter Solomons, »daß einer oder der andere der Jungens die Obstgärten bestohlen hat.«
»Obstgärten« – rief ein großer Bursche, der die Beschuldigung auf sich persönlich zu beziehen schien – »die Blüthe ist ja kaum erst vorüber!«
»Ja, das ist wahr,« versetzte die kinderreiche Frau und athmete freier auf.
»Mag sein,« sagte Gevatter Solomons wieder, »daß Einer von euch Fallen gelegt hat.«
»Wozu?« versetzte ein stämmiger, mürrisch aussehender Junge, den sein Gewissen wahrscheinlich zu einer Erwiderung spornte. »Wozu, da doch jetzt nicht die Jahreszeit ist? und wenn auch ein armer Mann während der Heuernte mit einem Hasen in der Tasche gefunden würde, so möchte ich wohl wissen, ob irgend ein Squire in der Welt ihn dafür in den Stock spannen wollte – eh?«
Diese letzte Frage schien entscheidend, und Gevatter Solomons' Weisheit fiel um fünfzig Procent in der öffentlichen Meinung von Hazeldean.
»Mag auch sein,« sagte Solomons diesmal mit einem durchgreifenden Eindruck, der seinen Ruf wieder herstellte – »mag auch sein, daß sich Einige von euch betrunken und wie das liebe Vieh aufgeführt haben.«
Hier trat eine tiefe Stille ein, denn diese Vermuthung fand eine zu allgemeine Anwendung, als daß eine einzelne Erwiderung darauf zu erwarten gewesen wäre. Endlich sagte eine der Weiber mit einem bedeutungsvollen Blick auf ihren Mann: »Gott segne den Squire; wenn es das ist, so wird er manche von uns zu glücklichen Weibern machen!«
Hierauf erhob sich unter dem weiblichen Theile der Versammlung ein fast einstimmiges Beifallsgemurmel, während die Männer das Phänomen mit Blicken betrachteten, als sei für Jeden schon der Strick zugerichtet.
»Oder mag sein,« nahm Gevatter Solomons wieder das Wort, zu dieser vierten Vermuthung durch den Erfolg der vorigen ermuthigt – »mag sein, daß einige von den Weibern einen Spektakel gemacht und ihre Männer ausgeschimpft haben. Ich habe mir sagen lassen, zu meines Großvaters Zeiten sei der Stock zuerst für die Weiber gemacht worden, und zwar aus Mitleid, weil die alte Mutter Bang von dem Tauchschemel Ein Stuhl, auf welchen man zänkische Weiber band, um sie unterzutauchen. [ Anm.d.Verf.] fast den Tod davongetragen hätte. Und Jedermann weiß, daß der Squire ein gutherziger Mann ist. Gott segne ihn!«
»Gott segne ihn!« riefen die Männer aus voller Brust und schaarten sich andächtig um den Wunderbau, wie die Heiden der Vorzeit um den Tempel eines Schutzgottes. Allein jetzt erhob sich ein durchdringendes Geschrei unter den Weibern, während sie sich unwillkürlich nach dem Rande des Rasens zurückzogen. Von da aus betrachteten sie Solomons und den Stock mit so funkelnden Augen und deuteten mit so drohenden Geberden auf Beide, daß der Himmel allein weiß, ob von dem Gerüste und dem Manne auch nur noch ein Atom übrig geblieben wäre, um die Augen der mit Recht entrüsteten Hazeldeaner Frauen zu beleidigen, wenn nicht zum Glück in diesem kritischen Moment Master Stirn, die rechte Hand des Squires, sich auf dem Platze gezeigt hätte.
Master Stirn war eine sehr gefürchtete Persönlichkeit – gefürchteter als der Squire selbst. wie denn in der Regel die rechte Hand eines Gutsherrn gefürchteter zu sein pflegt, als sein Kopf. Er flößte um so größere Scheu ein, als er wie der Stock, zu dessen Hüter er bestellt war, eine unbestimmte dunkle Macht besaß und keine eigentliche Stelle auf den Gütern inne hatte. Er war weder Rentmeister, obwohl er Vieles besorgte was zu dessen Functionen gehörte, noch Amtmann, denn der Squire nannte sich selbst seinen eigenen Amtmann. Gleichwohl säte und pflügte, sammelte und erntete, kaufte und verkaufte Mr. Hazeldean meist so ziemlich, wie Mr. Stirn ihm zu rathen sich herabließ. Er war auch nicht Parkwächter, indem er niemals das Wild erlegte, noch das Jagdrevier beaufsichtigte, und doch war er es immer, der jeden zerbrochenen Zaunpfahl jedes in der Schlinge gefangene Kaninchen ausfindig machte. Mit einem Worte in Folge von Gewohnheit oder freier Wahl fielen Mr. Stirn alle schwereren Obliegenheiten eines Gutsbesitzers zu. Sollte ein Arbeiter entlassen, ein rückständiger Pachtzins eingetrieben werden, wobei der Squire zum Voraus wußte, daß er sich beschwatzen lassen und der Rentmeister ebenso weichherzig sein würde, als er selbst, so konnte man sicher sein, daß Mr. Stirn das Amt des rächenden ??ãåëïò oder Boten übernahm, welcher die Schicksalsworte verkündigte, weßhalb er denn auch den Bewohnern von Hazeldean wie die Saeva Necessitas Horaz, Oden I, 35, 17: grausame Notwendigkeit. des Dichters erschien – eine unbestimmte Verkörperung einer unbarmherzigen, mit Peitsche, Nägeln und Keilen bewaffneten Gewalt. Sogar die unvernünftige Schöpfung fürchtete sich vor Mr. Stirn. Die Kälber wussten, daß er diejenigen unter ihnen bezeichnete, welche man an den Fleischer verkaufen sollte, und drängten sich mit Herzklopfen in einem Winkel zusammen, wenn sein grimmiger Fußtritt sich hören ließ; die Schweine grunzten, die Enten quackten, die Hennen sträubten ihre Federn und lockten ihre Jungen, wenn Mr. Stirn nahte. Die Natur hatte ihm ihren Stempel aufgedrückt. Es mochte in der That eine Frage sein, ob selbst der große Mr. de Chambray, mit dem Zunamen der Tapfere Die bereits genannten »historiettes de Tallemant« (siehe Anm. 54) erwähnen ihn im fünften Band, S. 187., ein so furchterregendes Aussehen hatte, wie Mr. Stirn, obgleich das Antlitz des Helden so schrecklich war, daß ein früherer Diener desselben am ganzen Leibe zu zittern begann, als er zwanzig Jahre nach dem Tode seines Herrn dessen Portrait zu Gesicht bekam.
»Donner und Wetter, was treibt ihr denn Alle hier?« rief Mr. Stirn, indem er eine große Fuhrmannspeitsche, die er in der Hand hielt, knallen ließ. »Macht ihr nicht einen Hallo, ihr Weiber, daß der Squire nächstens herausschicken wird, um fragen zu lassen, ob etwa das Dorf in Brand stehe! Macht, daß ihr nach Hause kommt! Ja, es war hohe Zeit, den Stock in Stand zu setzen, wenn ihr sogar unter der Nase eines Friedensrichters lärmt und conspirirt, gerade wie es die französischen Rebellen machten, ehe sie ihrem König den Kopf abschlugen. Mir stehen die Haare zu Berge, wenn ich euch ansehe.«
Aber noch ehe er mit dieser Rede zur Hälfte fertig war, hatte die Menge sich schon nach allen Richtungen hin zerstreut; die Weiber hielten noch immer zusammen, während die Männer nach dem Wirthshause schlichen. Dies waren die wohltätigen Wirkungen des verhängnißvollen Stocks an dem ersten Tage seiner Auferstehung.
Indeß muß immer Einer der Letzte sein, wenn ein Volkshaufe sich verläuft, und dieses Loos traf diesmal unsern Freund Lenny Fairfield. Er hatte sich mechanisch dem Stocke genähert, um Gevatter Salomons' orakelhafte Aussprüche besser zu vernehmen, und war nicht minder mechanisch bei Mr. Stirn's plötzlichem Erscheinen hinter den Stamm der Ulme gekrochen, welche theilweise den Stock beschattete, in der Hoffnung, daß er dort unbemerkt bleiben werde. Wie festgebannt blieb er niedergekauert, da er es nicht wagte, sich Mr. Stirn's Blicken und dem unmittelbaren Bereich seiner Peitsche auszusetzen, als plötzlich das rasche Auge der rechten Hand des Gutsherrn seinen Schlupfwinkel entdeckte.
»Heda, Bursche! Was zum Henker legst du eine Mine, um den Stock in die Luft zu sprengen? Wahrhaftig, gerade wie Guy Fawks und die Pulververschwörung Guy Fawkes (1570-1606) war ein katholischer Offizier des Königreichs England, der am 5. November 1605 in London ein Sprengstoff-Attentat auf König Jakob I. und das englische Parlament versuchte. Im Gedenken an das Scheitern des sogenannten Gunpowder Plot (der Pulververschwörung) wird alljährlich vielerorts in England (v. a. von Anglikanern) die Bonfire Night mit traditionellen Feuerwerken und Fackelzügen veranstaltet, wobei eine Guy-Fawkes-Puppe verbrannt wird.! Was hast du da in deiner spitzbübischen kleinen Faust?«
»Nichts, Sir,« versetzte Lenny, indem er die Hand öffnete.
»Nichts – hm!« brummte Mr. Stirn ärgerlich, und als er nun den Gegenstand seines Mißvergnügens näher betrachtete, erkannte er in ihm den Musterjungen des Dorfes, und eine noch dunklere Wolke als gewöhnlich lagerte sich über seinen Augenbrauen. Denn Mr. Stirn, der sich nicht wenig auf seine Gelehrsamkeit zu gute that, und der ebensowohl seinen Kenntnissen, als seinem Verstande seine gegenwärtige hohe Stellung in der Welt verdankte, wünschte sehnlich, sein einziger Sohn möchte gleichfalls ein Gelehrter werden; allein diesen Wunsch
»Zerstreuten die Götter in leere Luft«.
Master Stirn erwies sich als der ärgste Dummkopf in der Dorfschule, während Lenny der Ruhm und Stolz derselben war, und der Vater des Erstern hegte daher einen sehr natürlichen, fast zu rechtfertigenden Groll gegen den Knaben, der sich das Lob zueignete, welches Mr. Stirn seinem Sohne zugedacht hatte.
»Hm!« brummte die rechte Hand, Lenny einen boshaften Blick zuwerfend; »du bist der Musterjunge des Dorfes, nicht wahr? Nun wohl, Bürschlein! So will ich den Stock hier unter deine Aufsicht stellen; du sollst die andern Jungen abhalten, sich drauf zu setzen, den Anstrich abzukratzen, Grübchen zu spielen, oder sonst etwas daran zu verderben. So, nun kennst du deine Verantwortlichkeit, kleiner Knabe! Es ist noch dazu eine große Ehre für deinesgleichen. Wenn irgend etwas Unrechtes geschieht, so werde ich mich an dich halten; verstehst du mich? Nun siehst du, was es heißt, ein Musterjunge zu sein, Master Lenny!«
Bei diesen Worten ließ Mr. Stirn gleichsam als militärische Ehrenbezeugung seine Peitsche über dem Haupte des von ihm zum Viceaufseher ernannten Burschen knallen und schritt dann von binnen, um ein Paar junge, nichts Schlimmes ahnende Hunde zu besuchen, deren Besitzer er gnädigst versprochen hatte, ihnen noch an demselben Abend Ohren und Schwänze abzuschneiden.
Obschon nur wenige Aemter anstößiger sein konnten, als dasjenige eines Unterstatthalters oder chargé d'affaire extraordinaire Beauftragter für außerordentliche Angelegenheiten. bei dem Kirchspielstock, und obgleich nichts Lenny Fairfield bei seinen Altersgenossen verhaßter machen konnte, als seine Ernennung zu demselben, so hätte er doch nicht unempfindlich sein sollen gegen den Vortheil seiner Stellung, im Vergleich mit der Lage der beiden armen Geschöpfe, deren Ohren und Schwänze Mr. Stirn keinen besondern Anlaß zur Rache gegeben hatten. Jedem Uebel kann man ein noch größeres entgegenhalten – und es ist ein Glück für kleine Knaben, wie für erwachsene Männer, welchen die Mächtigen der Erde übelwollende Blicke zuwerfen, daß die Majestät des Gesetzes ihre Ohren beschützt, und die gnädige Vorsorge der Natur ihren ersten Voreltern das Recht versagt hat, Schwänze auf sie zu vererben. Wäre dem anders gewesen – wie gerne hätten sich ohne Zweifel Vorgesetzte und Bedrücker der Schwänze als einer bequemen Handhabe bedient; wie viele Fallen würde der Neid ihnen gestellt, wie oft würden die Dornen des Lebens sie zerkratzt und verstümmelt haben; wie viele Vorwände wären erfunden worden, sie zu stutzen und abzuhauen – bis zuletzt, wie ich fürchte, nur die Schooßhunde des Glückes mit heilem Schwanze das Grab erreicht haben würden!
Der Spieltisch im Salon zu Hazeldean Hall stand längst bereit, obgleich die kleine Gesellschaft noch immer in der tiefen Nische eines mächtigen Erkerfensters verweilte, welche im Umfang einem mittelmäßigen Londoner Wohnzimmer gleich kam und den großen runden Theetisch mit allem Zubehör in sich faßte. Der schöne Sommermond goß eben seinen Silberglanz auf den grünen Rasen, die Bäume warfen so ruhige Schatten und die Blumen sowohl, als das frisch gemähte Heu, verbreiteten einen so köstlichen Duft, daß es ein Mißbrauch der Prosa des Lebens gewesen wäre, die Fenster zu schließen, die Gardinen herabzulassen und andere Beleuchtung zu verlangen als die Lichter des Himmels – ein Mißbrauch, den selbst Kapitän Barnabas (welcher das Whistspiel als die Arbeit des Stadtlebens und die Erholung des Landlebens betrachtete) vorzuschlagen sich scheute.
Die Landschaft draußen zeigte im hellen Mondlichte jene Schönheit, die den Gärten altmodischer Landsitze eigentümlich ist und die dieselben, wenn auch etwas modernisirt, doch immer beibehalten: den sammtgleichen, mit großen Blumenbeeten bestreuten Rasen, zur Linken von spanischem Flieder, Goldregen und Jasmin beschattet und mit Wohlgerüchen erfüllt; rechts über kurzgeschnittene Eibenbäume Ausblicke auf eine grüne Kegelbahn und die weißen Säulen eines unter der Regierung Wilhelms III. Wilhelm von Oranien-Nassau (1650-1702), nach der Glorious Revolution 1688/1689 in Personalunion König von England, Schottland und Irland. in holländischem Geschmack erbauten Sommerhauses: dem Beschauer gegenüber eine Gruppe stiller Cedern, welche den Uebergang bilden in den wellenförmigen, schön bewaldeten Park.
Im Innern zeigte die Scene, von dem ruhigen Schimmer des Mondes beleuchtet, den charakteristischen Wohnplatz eines Geschlechtes, welches in andern Ländern nicht seines Gleichen hat und leider auch auf dem heimischen Boden mehr und mehr von seiner Eigenthümlichkeit verliert; ich meine das Geschlecht des derben Landedelmannes – nicht des verfeinerten, auf dem Lande lebenden Gutsbesitzers, sondern des Landedelmannes, der allerdings vermöge seiner Bildung über dem bloßen Jäger und Farmer steht, demungeachtet aber noch immer seine ländliche Einfachheit bewahrt. Den Aufenthalt in der alten Halle hat er zwar mit demjenigen im Gesellschaftszimmer vertauscht, und auf dem Tische sieht man statt Foxens Märtyrern und Baker's Chronik John Foxe, The Actes and Monuments (später bekannt als Foxe's Book of Martyrs) erschien 1563. – Richard Baker veröffentlichte seine Chronicle of the Kings of England from the Time of the Romans' Government unto the Death of King James 1643. Bücher, die nicht über drei Monate alt sind; aber dennoch treffen wir noch manches alte Vorurtheil, das, gleich den Knorren an der heimischen Eiche, eher dazu dient, der Maser des Baumes Zierde zu verleihen, als seine Kraft zu beeinträchtigen.
Dem Fenster gegenüber erhob sich das hohe Kamin bis zu dem schwerfälligen Kranz der Decke. Die breiten, etwas plumpen Zitzsophas Zitz oder Chintz: farbig bedruckter, leinwandbindiger Dekorationsstoff aus Baumwolle. und Kanapees aus der Zeit Georgs III. Georg III., aus dem Haus Hannover (1738-1820), englischer König ab 1760. wechselten mit den hochlehnigen Stühlen einer weit früheren Periode ab, wo die Damen in Reifröcken und die Herrn in Pluderhosen es sich niemals in einer horizontalen Lage bequem gemacht zu haben scheinen. Die Wände von glänzendem Getäfel waren fast ganz mit Familienbildern bedeckt und nur hin und wieder von einer niederländischen Jahrmarktscene oder einem Schlachtstück unterbrochen, welches bewies, daß ein früherer Besitzer in seiner Vorliebe für die Kunst weniger ausschließlich gewesen war. In der Nähe des Kamins befand sich ein offenes Klavier, und ein langer, niedriger Bücherschrank lächelte nüchtern in's Zimmer hinein. Dieser Schrank enthielt die sogenannte »Damen-Bibliothek«, eine Sammlung, welche schon von der Großmutter des Squire's, frommen Angedenkens, begonnen und von seiner Mutter, die mehr Geschmack für leichtere Lectüre gehabt hatte, vervollständigt worden war. Der gegenwärtigen Mrs. Hazeldean verdankte die Bibliothek nur geringen Zuwachs; da sie keine große Freundin vom Lesen war, so begnügte sie sich damit, bei dem Lesezirkel zu abonniren. In diesem weiblichen Bodleianum Anspielung auf die Bodleian Library in Oxford. standen die Predigten, welche Mrs. Hazeldean, die Großmutter, gesammelt, einträchtig neben den Romanen, die Mrs. Hazeldean, die Mutter, angeschafft hatte.
» Mixta ridenti fundet colocasia acantho!« Virgil, Ecl. IV, 20: »(Dir aber … wird die Erde …) Kolokasien zusammen mit lachendem Akanthus quellen lassen.«
Freilich waren die Romane, trotz ihrer gefährlich lautenden Titel, wie z. B. »Die unheilbringende Empfindsamkeit« und »Verirrungen des Herzens«, doch so harmloser Natur, daß ich zweifle, ob die Predigten gegen ihre nächsten Nachbarn viel einzuwenden gehabt hätten – und das ist Alles, was man von den Besten unter uns erwarten kann.
Ein Papagei, der auf seiner Stange schlummerte – einige Goldfischchen, die in ihrem Glasbehälter fest schliefen – zwei oder drei Hunde auf dem Teppich vor dem Kamin und Flimsey Engl. flimsy: zart, dünn, schwach., Miß Jemima's Wachtelhündchen, das wie eine Kugel zusammengerollt auf dem weichsten Sopha lag – Mrs. Hazeldean's Arbeitstisch in einiger Unordnung, als wäre er erst kürzlich benutzt worden – die Chronik von St. James St. James Chronicle: britische Zeitung, erschien 1761 bis 1866., welche neben dem Armstuhl des Squire's von einem dreifüßigen Tischchen herunterhing – ein hoher Schirm aus gepreßtem und vergoldetem Leder, der den Spieltisch beschützte – alles Dieses in einem Raume angebracht, der doch nichts weniger als überfüllt schien, bot manchen angenehmen Ruhepunkt für das Auge dar, wenn es sich von dem Anblick der äußern Natur ab und der Wohnstätte der Menschen zuwandte.
Doch sieh! Kapitän Barnabas, gestärkt durch seine vierte Tasse Thee, hat endlich den Muth gefaßt, Mrs. Hazeldean zuzuflüstern: »Glauben Sie nicht, daß der Pfarrer nachgerade ungeduldig wird nach seinem Rubber?« Mrs. Hazeldean warf einen Blick auf den Geistlichen und lächelte, gab aber dem Kapitän das Zeichen, die Klingel zu ziehen; Lichter wurden hereingebracht, die Vorhänge herabgelassen, und wenige Minuten später hatte sich die Gesellschaft um den Spieltisch versammelt.
Die Besten unter uns sind nur Menschen – es ist dies freilich keine neue Wahrheit und doch vergißt man sie jeden Tag. Ich bin überzeugt, daß es Viele gibt, die in diesem Augenblick in ihrem wohlwollenden Herzen denken, daß mein Pfarrer nicht Whist spielen sollte. Alles, was ich darauf zu erwidern habe, ist: »Jeder Mensch hat seine Schooßsünde, und das Whistspiel war diejenige Mr. Dale's. Meine Herren und Damen, welches ist die Ihrige?« In der That will ich auch meinen armen Pfarrer nicht als einen Musterpfarrer aufstellen – es ist genug, in einem Dorfe, das nicht größer ist als Hazeldean, ein Muster zu haben, und diesen Titel hat Lenny Fairfield, wie wir Alle sehr wohl wissen, sich erworben und die Aussicht über den Stock als Lohn dafür erhalten.
Pfarrer Dale war zwar vor noch nicht allzu langer Zeit, aber doch in einer Periode ordinirt worden, in welcher man es viel leichter mit der geistlichen Würde nahm, als in unsern Tagen. Die ältern Pfarrer spielten ihren Rubber, als ob sich dies ganz von selbst verstünde; die jüngeren gingen auf die Jagd (ich kannte einen Schulmeister, der zugleich Doctor der Theologie war, ein vortrefflicher Mann, dessen Zöglinge den vornehmsten Familien Englands angehörten, und der während der Saison regelmäßig dreimal in her Woche auf die Jagd zu reiten pflegte), und die jüngsten endlich verschmähten es nicht, hin und wieder ein heiteres Lied zu singen, das nicht von David gedichtet war, und Theil an den Rundtänzen zu nehmen, die sicherlich keine Aehnlichkeit mit denjenigen hatten, welche der genannte fromme König vor der Bundeslade aufzuführen pflegte.
Bedarf es einer so langen Einleitung, um dich zu entschuldigen, armer Pfarrer Dale, daß du mit so triumphirendem Lächeln gegen deinen Partner eben das Pick-Aß ausspielst? Ich muß gestehen, daß nichts fehlte, was das Unrecht des Pfarrers noch vergrößern konnte. Erstlich spielte er nicht aus christlicher Liebe, blos um Andern einen Gefallen zu erweisen. Nein, das Spiel machte ihm Freude – wirkliche, große Freude; er war mit ganzer Seele dabei. Auch zeigte er sich durchaus nicht so gleichgültig gegen den damit in Verbindung stehenden Mammon, wie es sich für einen christlichen Pfarrer geziemt hätte. Er sieht sehr betrübt aus, wenn er seine Schillinge aus seiner Börse herausholen mußte, und höchst vergnügt, wenn er die Schillinge, die vorher andern Leuten gehört hatten, hineinstecken konnte. Endlich waren, vermöge einer jener Uebereinkünfte, die bei verheirateten Personen, welche an demselben Tische spielen, gewöhnlich sind, Mr. und Mrs. Hazeldean unabänderlich Partner, obschon es kaum schlechtere Spieler geben mochte, als die beiden Leutchen, während Kapitän Barnabas, der in Graham's Hotel mit Ehre und Glück gespielt hatte, notwendig Pfarrer Dale's Partner wurde, der seinerseits besonnen und gut spielte. Beim Lichte betrachtet konnte also kaum von einem ehrlichen Spiel die Rede sein; das Zusammenwirken dieser beiden Spielhelden gegen das unschuldige Ehepärchen mußte fast als Betrug erscheinen.
Mr. Dale kannte dieses Mißverhältniß der Streitkräfte und hatte deßhalb öfter den Vorschlag gemacht, die Partner zu wechseln oder Marken vorzugeben; allein sein Vorschlag war von dem Squire und seiner Gemahlin stets mit Stolz zurückgewiesen worden, so daß dem Pfarrer nichts übrig blieb, als sein Gewissen mitsammt den zehn Points, die er durchschnittlich gewann, in die Tasche zu stecken.
Das Sonderbarste von der Welt ist die Verschiedenheit, mit welcher das Whistspiel auf die Stimmung der Menschen wirkt. Es ist durchaus kein Prüfstein des Charakters – nicht im Mindesten! Die sanftmütigsten Leute von der Welt werden oft beim Whist aufbrausend: dagegen habe ich Personen, die in den gewöhnlichen Angelegenheiten des Lebens wunderlich und zänkisch waren, ihre Verluste beim Whist mit dem Stoicismus eines Epictet Epiktet (um 50-138), antiker Philosoph, zählt zu den einflussreichsten Vertretern der späten Stoa. ertragen sehen. Dies zeigte sich auch in dem Gegensatze, welchen die Opponenten aus der Halle und aus dem Pfarrhause darboten. Der Squire, der für einen so heftigen Mann galt, wie nur irgend einer in der Grafschaft, war der gutmüthigste Mensch von der Welt, wenn er beim Whist dem sonnigen Gesichte seiner Gattin gegenübersaß. Nie hörte man, daß sich die Beiden ihre ewigen Fehler im Spiel vorwarfen; im Gegentheil lachten sie nur, wenn sie mit vier Honneurs in den Händen die Karten wegwarfen. Das Höchste, was man etwa hörte, war: »Ei, Harry, das war seltsam von dir gespielt. Ho – ho ho!« Oder »der Tausend! Hazeldean! Du lässest sie drei Stiche machen, während du die ganze Zeit das Aß in der Hand hast! Ha – ha – ha!«
Bei solchen Veranlassungen fand regelmäßig des Squire's ho – ho – ho und Mrs. Hazeldean's ha – ha – ha! ein Echo in Kapitän Barnabas' Munde.
Nicht so der Pfarrer. Das Spiel hatte für ihn ein so lebhaftes, kunstgerechtes Interesse, daß selbst die Fehler seiner Gegner ihn ärgerten. Man mußte hören, wie er mit erhobener Stimme und heftigen Geberden die Spielgesetze erklärte, Hoyle Joshua Hoyle, engl. Theologe des 17. Jh. citirte und an alle Gewalten des Gedächtnisses und des gesunden Menschenverstandes appellirte – eine Fluth von Beredsamkeit entwickelnd, welche die Heiterkeit des Squire's und seiner Gattin nur noch vermehrte.
Während die vier Personen am Spieltische beschäftigt waren, saß Mrs. Dale, welche ihren Gatten, trotz ihrer Kopfschmerzen, begleitet hatte, auf dem Sopha neben Miß Jemima oder vielmehr neben Miß Jemima's Flimsey, der bereits die Mitte des Sophas in Beschlag genommen hatte und bei dem bloßen Gedanken an eine Störung zu knurren anfing. Master Frank, der sich allein an einem Tische befand, betrachtete bald seine Schuhe, bald Gilray's Carricaturen James Gillray (1757-1815), britischer Karikaturist., welche seine Mutter zu seiner geistigen Unterhaltung angeschafft hatte.
Mrs. Dale fühlte im Grund ihres Herzens viel mehr Zuneigung für Miß Jemima als für Mrs. Hazeldean, vor der sie sich ein wenig fürchtete, obgleich Beide sich schon als Kinder gekannt hatten und sich zuweilen Harry und Carry nannten. Doch gehörten diese vertraulichen Diminutive zu dem Geschlechte der »Theuersten«, und die beiden Damen bedienten sich derselben nur etwa zu solchen Zeiten, da sie, wären sie junge Mädchen und die Gouvernante nicht um den Weg gewesen, einander geklopft und gezwickt hätten.
Mrs. Dale war noch immer eine sehr hübsche, Mrs. Hazeldean eine sehr schöne Frau. Mrs. Dale malte in Wasserfarben, sang, machte Kartengestelle und Federnhalter und galt für »eine elegante, talentvolle Frau.« Mrs. Hazeldean hingegen führte des Squire's Rechnungen, schrieb den besten Theil seiner Briefe, hielt ihr großes Hauswesen in musterhafter Ordnung und galt für eine »sehr kluge, erfahrene Frau.« Mrs. Dale hatte Kopfweh und Nerven, Mrs. Hazeldean keines von Beiden. Mrs. Dale sagte: »Harry hat keinen wirklichen Fehler; aber sie ist doch gar zu männlich,« während Mrs. Hazeldean sich dahin aussprach: »Carry wäre ein ganz gutes Geschöpf, wenn sie ihr geziertes Wesen ablegte.« Mrs. Dale erklärte, Mrs. Hazeldean sei ganz geschaffen zur Frau eines Landedelmanns. Mrs. Hazeldean behauptete dagegen, Mrs. Dale hätte niemals einen Pfarrer heirathen sollen. Wenn Carry mit einer dritten Person von Harry sprach, sagte sie stets: »die liebe Mrs. Hazeldean«; kam Harry gelegentlich auf Carry zu reden, so bediente sie sich stets des Ausdrucks: »Die arme Mrs. Dale.«
Nun weiß der Leser, warum Mrs. Hazeldean die Pfarrerin »arm« nannte – wenigstens weiß er es so gut wie ich selbst. Denn beim Licht betrachtet gehörte dieses Wort in diejenige Klasse des weiblichen Wörterbuches, welche man »von unklarer Bedeutung« nennen könnte, ähnlich dem Konx Ompax, welches die Forscher nach den eleusinischen Mysterien Die Mysterien von Eleusis waren Initiations- und Weiheriten, benannt nach dem Demeterheiligtum in Eleusis bei Athen. – Die Phrase »Konx Ompax«, die gegenüber den Initiierten ausgesprochen wird, deutet die Forschung als »Gib Acht und tu nichts Unrechtes!« so sehr verwirrt hat; die Anwendung ist eher in Beispielen darzuthun, als der Sinn sich genau erklären läßt.
»Ihr Hündchen ist in der That ein reizendes Thier, Jemima,« sagte Mrs. Dale, welche eben den Namen Caroline in die Ecke eines Battisttaschentuches stickte. Zugleich rückte sie aber ein wenig mehr nach der Seite, indem sie hinzusetzte: »Er wird doch nicht beißen?«
»Nein, bewahre!« versetzte Miß Jemima und fügte dann vertraulich flüsternd hinzu: »Sie müssen aber nicht von einem er sprechen; 's ist eine Dame.«
»So,« entgegnete Mrs. Dale, indem sie sich noch mehr zurückzog, als ob die Enthüllung von dem Geschlecht des Thieres nicht dazu gedient hätte, ihre Furcht zu vermindern. »Sie dehnen also Ihre Abneigung gegen das männliche Geschlecht selbst auf die Schooßhunde aus. Das heiße ich in der That Consequenz, Jemima!«
Miß Jemima. – »Ich hatte früher einmal ein Männchen – einen Mops! Die Race wird jetzt sehr selten. Ich glaubte, er habe mich sehr lieb, denn er schnappte nach Jedermann, außer mir, und ich mußte manchen Kampf für ihn bestehen. Nun wohl, können Sie es glauben – ich hatte einige Zeit bei meiner Freundin, Miß Smilecox, in Cheltenham zugebracht, und da ich wußte, daß William so hitzig ist und so schwere Stiefel trägt, so zitterte ich bei dem Gedanken, was ein Fußtritt für Folgen haben könnte, und ließ daher Buff – dies war sein Name – bei Miß Smilecox.« (Eine Pause.)
Mrs. Dale (gelangweilt ausschauend). – »Nun, meine Liebe?«
Miß Jemima. – »Sollten Sie es glauben, wenn ich Ihnen sage, daß, als ich nach einer Abwesenheit von blos drei Monaten nach Cheltenham zurückkehrte, Miß Smilecox mir seine ganze Zuneigung entrissen hatte und das undankbare Thier mich nicht einmal mehr kannte! Und noch dazu ein Mops, von denen man behauptet, daß sie besonders treu seien. Freilich sollten sie es sein, die häßlichen Dinger! Seitdem habe ich nie mehr einen männlichen Hund gehalten. Glauben Sie mir, sie sind Alle gleich herzlose, selbstsüchtige Geschöpfe!«
Mrs. Dale. – »Die Möpse? Ja, das glaube ich auch.«
Miß Jemima (mit Feuer). – »Die Männer! – Ich sagte Ihnen ja, daß es ein männlicher Hund war.«
Mrs. Dale (begütigend). – »Wohl wahr, meine Liebe; aber das Ganze war so durcheinander gemischt!«
Miß Jemima. – »Sie haben in den Zeitungen jenen kaltblütigen Bruch eines Eheversprechens gelesen? und das war noch dazu ein alter Schurke von vierundsechzig Jahren! Aber sie werden durch das Alter um kein Haar besser. Und wenn man bedenkt, daß das Ende alles Fleisches herannaht und daß –«
Mrs. Dale (rasch, denn sie zieht Miß Jemima's anderes Steckenpferd diesem vor). – »Ja, meine Liebe! Aber lassen Sie uns von etwas Anderem reden! Mr. Dale hat seine eigenen Ansichten, und es ziemt mir, als Pfarrersfrau« (Mrs. Dale lächelt und zeigt dabei ein reizendes Grübchen, aus welchem sie mehr zu machen weiß als Jemima aus ihren dreien), »mit ihm übereinzustimmen – das heißt, was die Theologie betrifft.«
Miß Jemima (eifrig). – »Aber die Sache ist so klar, wenn Sie nur –«
Mrs. Dale (hält ihr scherzend den Mund zu). – »Kein Wort mehr, ich bitte darum! Sagen Sie mir lieber, was halten Sie von dem Miethsmann des Squire in dem Casino? Ist Signor Riccabocca nicht ein interessanter Mann?
Miß Jemima. – »Interessant? Für mich nicht. Interessant? Warum sollte er interessant sein?«
Mrs. Dale bleibt stumm und dreht ihr Taschentuch in ihren hübschen weißen Händen herum, als ob sie das R in Caroline betrachten wollte.
Miß Jemima (halb ärgerlich, halb schmeichelnd). – »Warum sollte er interessant sein? Ich habe ihn kaum je angesehen. Man sagt, er rauche immer und esse nie. Dazu ist er häßlich.«
Mrs. Dale. – »Häßlich? Nein. Ein schöner Kopf fast wie Dante's. Doch was ist Schönheit?«
Miß Jemima. – »Sehr wahr! – Was ist Schönheit? Ja, wie Sie sagen, ich glaube, es ist doch etwas Interessantes an ihm. Er steht melancholisch aus; doch dies hat vielleicht seinen Grund in seiner Armuth.«
Mrs. Dale. – »Es ist erstaunlich, wie wenig man die Armuth fühlt, wenn man liebt. Charles und ich, wir waren früher sehr arm – ehe der Squire –« (Mrs. Dale hält inne, blickt nach dem Squire hin und murmelt einen Segenswunsch, dessen Innigkeit ihr Thränen in's Auge ruft.) »Ja, wir waren sehr arm; aber wir fühlten uns dennoch glücklich, und dies war viel mehr meines Gatten Verdienst als das meinige.« (Thränen, einer neuen Quelle entströmend, trübten abermals ihre lebhaften Augen, als die niedliche Frau zärtlich nach ihrem Gatten hinblickte, dessen Stirne in Folge eines Fehlers im Spiele düster umwölkt war.)
Miß Jemima. – »Nur die abscheulichen Männer halten das Geld für eine Quelle des Glückes. Ich wäre wohl die Letzte, die einen Mann darum weniger achtete, weil er arm ist.«
Mrs. Dale. – »Es nimmt mich Wunder, warum der Squire Signor Riccabocca nicht öfter hierher einladet. Wir finden an ihm einen werthvollen Zuwachs.«
Die Stimme des Squires vom Spieltisch herüber: – »Wen sollte ich öfter einladen, Mrs. Dale?«
Pfarrer (ungeduldig). – »Kommen Sie, Squire, kommen Sie! Spielen Sie auf meine Carreau-Dame heraus!«
Squire. – »Da ist Trumpf – zieh den Stich ein, Mrs. Hazeldean!«
Pfarrer. – »Halt, halt! Trumpf auf mein Carreau?«
Kapitän (feierlich). – »Der Stich ist eingezogen. Spielen Sie weiter, Squire!«
Squire. – »Carreau König.«
Mrs. Hazeldean. – »Mein Himmel, Hazeldean! Du hast ja nicht Farbe bekannt! Ha – ha – ha! Trumpft die Carreau-Dame und spielt darauf den König ans! Das ist mir noch nicht vorgekommen! Ha – ha – ha!«
Kapitän Barnabas (im Tenor). – »Ha – ha – ha!«
Squire. – »Meiner Seel', 's ist wahr! Ho – ho – ho!«
Kapitän (im Baß). – »Ho – ho – ho!«
Die Stimme des Pfarrers wird trotz seiner Anstrengungen durch das Gelächter seiner Gegner und den festen, klaren Ton des Kapitän Barnabas erstickt, welcher ruft: »Drei Stiche, die uns gehören! Die Partie ist gewonnen!«
Squire (sich die Augen wischend). – »Es ist nicht mehr zu ändern. Harry, gib für mich! – Wen sollte ich einladen, Mrs. Dale?« (Aergerlich werdend.) »Das ist das erste Mal, daß ich die Gastfreiheit von Hazeldean in Zweifel ziehen höre!«
Mrs. Dale. – »Mein bester Sir, ich bitte tausendmal um Verzeihung; aber Sie kennen das Sprüchwort: Der Horcher an der Wand –«
Squire (brummend, wie ein Bär). – »Ich höre nichts als Sprüchwörter, seit dieser Monsieur unter uns ist. Wollen Sie die Güte haben, sich deutlicher auszusprechen, Madam!«
Mrs. Dale (etwas empfindlich über die rauhe Anrede des Gutsherrn). – »Ich sprach von dem Monsieur, wie Sie ihn zu nennen belieben, Mr. Hazeldean.«
Squire. – »Was? von Rickybocky?«
Mrs. Dale (die reine italienische Aussprache versuchend). – »Signor Riccabocca.«
Pfarrer (in Verzweiflung seine Karten auf den Tisch werfend). – »Spielen wir Whist oder nicht?«
Der Squire, welcher in der Hinterhand ist, wirft den König auf das Coeur-Aß, welches der Kapitän in der Vorderhand ausgespielt hat. Dem Kapitän bleiben noch Dame, Bube und zwei andere Coeur-Karten, sowie vier Trümpfe mit der Dame, aber keine Stechkarte zu den beiden andern Farben. Das Spiel ist also gerade von der Art, daß es, besonders nachdem der Gegner den Coeur-König ausgespielt hat, zweifelhaft wird, ob der Spieler in der Vorhand trumpfen soll oder nicht. Der Kapitän zaudert; er möchte nicht gern seine guten Coeur-Knaben ausspielen, da er überzeugt ist, daß der Squire sie trumpfen würde; anderseits mag er aber auch nicht eine frische Farbe anspielen, von welcher er keine Karte hat, mit der er seinen Partner unterstützen könnte. In dieser Verlegenheit beschließt er, wie es einem Militär geziemt, einen kühnen Ausfall zu machen und Trumpf zu spielen in der Hoffnung, daß sein Partner stark genug ist und er auf diese Weise seine Karten gut anbringen kann.
Squire (die Pause benützend, welche durch das Besinnen des Kapitäns verursacht wird). – »Es ist nicht meine Schuld, Mrs. Dale. Ich habe schon vor undenklich langer Zeit Rickybocky zu uns bitten lassen. Aber es scheint, daß ich nicht sein genug bin für solche ausländische Gesellen. Er mag nicht kommen – das ist Alles, was ich weiß.«
Pfarrer (entsetzt, da er den Kapitän Trumpf ausspielen sieht, wovon er selbst nur zwei hat, mit denen er in Pique, das bei ihm nur in einer Karte vertreten ist, zu stechen hofft, während er sonst keine Aussicht hat, noch einen Stich zu machen). – »Wahrhaftig, Squire, wir thäten besser, das Spiel aufzugeben, als daß Sie meinen Partner auf diese Weise aus dem Concepte bringen! Das ewige Geplapper!«
Squire. – »Geduld! wir wollen jetzt ganz ruhig sein, Harry! Was! – Trumpf, Barney? Schönen Dank dafür!«
Und der Squire durfte wohl dankbar sein, denn der unglückliche Gegner stößt auf Aß, König, Bube und noch zwei andere Trümpfe. Der Gutsherr sticht die Zehen des Pfarrers mit seinem Buben und spielt dann das Aß und hierauf den König. Nachdem er so alle Trümpfe herausgezogen hat, außer der Dame des Kapitäns und seinen eigenen beiden letzten, spielt er in Pique, wovon der Pfarrer nur eine Karte und der Kapitän blos zwei in der Hand hat, seine Terzmajor ab, zwingt so die Dame heraus und gewinnt die Partie im Galopp.
Pfarrer (mit einem Blick auf den Kapitän, der dem majestätischen Antlitze eines Jupiter, wie er im Begriff ist, seinen Donnerkeil zu schleudern, geziemt hätte). – »Das ist vermuthlich die neueste Mode in London – ein solches Spiel! Zu meiner Zeit galt die Regel: Zuerst den Trick machen und dann die Partie zu gewinnen suchen.«
Kapitän. – »Da war kein Trick zu machen.«
Pfarrer (losbrechend). – »Kein Trick zu machen? Zwei Trümpfe in meiner Hand – zwei Stiche sicher, bis Sie sie herausholten! Abscheulich! Solch übereiltes Trumpfen!« (Er rafft die Karten zusammen, breitet sie mit zitternden Händen und bebenden Lippen auf dem Tische aus und bemüht sich, zu beweisen, daß fünf Stiche von ihm und seinem Partner hätten gemacht werden können ( NB., es ist das kleine Whist, welches Kapitän Barnabas in der Halle eingeführt hat), bringt jedoch nur vier heraus, worüber der Kapitän triumphirend lächelt. Der Pfarrer geräth in Leidenschaft und wirft, nichts weniger als überzeugt, die Karten zusammen, sinkt dann in seinen Stuhl zurück und ruft mit fast weinerlicher Stimme) – »Das grausamste Trumpfen! die mutwilligste Grausamkeit!«
Mr. und Mrs. Hazeldean (im Chor). – »Ho – ho – ho! – Ha – ha – ha!«
Der Kapitän, welcher diesmal nicht in das Lachen mit einstimmt und an dem jetzt die Reihe des Ausgebens ist, mischt die Karten für die entscheidende Partie des Rubbers mit solcher Umständlichkeit und Vorsicht, wie etwa Fabius Quintus Fabius Maximus, genannt »Cunctator« (der »Zögerer«), römischer Senator, Consul und Feldherr des 3. Jh. v.u.Z. Sein Beiname weist auf seine Taktik des hinhaltenden Widerstandes hin, die er im Zweiten Punischen Krieg (218–201 v.u.Z.) erfolgreich gegen Hannibal einsetzte. seine Truppen aufgestellt hätte.
Der Squire erhebt sich, um seine Beine zu strecken, und da ihm der Zweifel, der in seine Gastlichkeit gesetzt wurde, auf's Neue in den Sinn kömmt, so ruft er seiner Gattin zu: »Harry! Schreib doch morgen selbst an Rickybocky und bitte ihn, zwei oder drei Tage bei uns zuzubringen. Haben Sie's gehört, Mrs. Dale?«
»Ja,« versetzte Mrs. Dale, sich die Ohren zuhaltend, um dem Squire wegen seines lauten Sprechens eine leise Rüge zu geben. »Mein theurer Mr. Hazeldean, bedenken Sie, daß ich arg schwache Nerven habe.«
»Bitt' um Verzeihung,« murmelte der Squire, sich nach seinem Sohne umwendend, welcher, der Carricaturen überdrüssig, den großen Folioband der Grafschaftsgeschichte herbeigeholt hatte, das einzige Buch in der Bibliothek, auf welches der Squire großen Werth legte und das er gewöhnlich in seinem Arbeitszimmer neben den Feld und Wirtschaftsbüchern unter Schloß und Riegel hielt, heute aber ziemlich ungern dem Kapitän Higginbotham zu Gefallen in das Gesellschaftszimmer gebracht hatte. Die Higginbothams nämlich gehörten – wie schon der Name deutlich bewies – einer alten sächsischen Familie an, welche früher in der nämlichen Grafschaft Güter besessen hatten, und der Kapitän pflegte während seiner Besuche in Hazeldean Hall regelmäßig um die Erlaubniß zu bitten, in der Grafschaftsgeschichte blättern zu dürfen, da es seinen Augen wohl that und sein Gefühl von der Würde seines alten Geschlechtes auffrischte, wenn er folgende Stelle darin las:
»Links von dem Dorfe Dunder, angenehm in einem Thale gelegen, befindet sich Botham Hall, der Wohnsitz der alten Familie Higginbotham, wie sie jetzt gewöhnlich genannt wird. Indessen geht aus den Grafschaftslisten und verschiedenen alten Urkunden hervor, daß die Familie ursprünglich Higges hieß, bis sie zuletzt, da das Herrenhaus in Botham lag, die Bezeichnung ›die Higgen in Botham‹ annahm, worauf im Verlaufe der Zeit durch die Sprachverderbniß des gemeinen Mannes endlich Higginbotham entstand.«
»Wie, Frank! meine Grafschaftsgeschichte!« rief der Squire. »Mrs. Hazeldean, er hat meine Grafschaftsgeschichte.«
»Nun wohl, Hazeldean; es ist auch an der Zeit, daß er etwas von der Grafschaft kennen lernt.«
»Ja, und von der Geschichte dazu,« setzte Mrs. Dale boshaft hinzu, da ihre üble Laune noch nicht ganz verflogen war.
Frank. – »Ich verderbe gewiß nichts daran, Vater! Es interessirt mich gerade etwas.«
Kapitän (die Karten zum Abheben hinlegend). – »Du bist gewiß an der Stelle über Botham Hall, Seite 706 nicht wahr?«
Frank. – »Nein, ich versuchte ausfindig zu machen, wie weit es bis zu Mr. Leslie's Sitz, Rood Hall, ist. Weißt du es, Mutter?«
Mrs. Hazeldean. – »Ich kann es nicht sagen. Die Leslies verkehren sehr wenig mit der Grafschaft und Rood Hall ist sehr abgelegen.«
Frank. – »Warum haben sie denn so wenig Verkehr mit der Grafschaft?«
Mrs. Hazeldean. – »Ich glaube, sie sind arm und deßhalb wohl auch stolz; denn es ist eine sehr alte Familie.«
Pfarrer (mit großer Ungeduld auf den Tisch trommelnd). – »Alte Leier! Was schwatzen Sie da von Ihren alten Familien, während die Karten schon eine halbe Stunde gemischt daliegen!«
Kapitän Barnabas. – »Wollen Sie für Ihren Partner abheben, Cousine?«
Squire (welcher mit nachdenklicher Miene auf die Fragen seines Sohnes gehört hat.) – »Warum möchtest du die Entfernung von Rood Hall kennen?«
Frank (etwas zögernd). – »Weil Randal Leslie seine Ferien dort zubringt, Vater.«
Pfarrer. – »Ihre Gemahlin hat für Sie abgehoben, Mr. Hazeldean – ich glaube nicht, daß es ganz in der Ordnung war –und mein Partner hat eine Zwei aufgeschlagen – Coeur Zwei. – Haben Sie die Güte, herzukommen und zu spielen – wenn Sie überhaupt noch spielen wollen.«
Der Squire kehrt an den Tisch zurück, und nach wenigen Minuten ist das Spiel durch eine geschickte List des Kapitäns gegen die Hazeldeans entschieden. Die Uhr schlägt zehn und die Bedienten treten mit einem Servirbrett ein. Der Squire zählt seine und seiner Gattin Verluste, worauf der Kapitän und der Pfarrer sechzehn Schillinge unter sich theilen.
Squire. – »Nun werden Sie wohl besserer Laune sein, Pfarrer! Sie gewinnen genug von uns, daß Sie bald einen Wagen und vier Pferde halten können.«
»Pah,« murmelte der Pfarrer, »am Ende des Jahres bin ich doch um keinen Pfennig reicher geworden.«
Und in der That, so unglaublich diese Behauptung auch schien, so war sie doch vollkommen wahr. Der Pfarrer theilte seinen Gewinn in der Regel in drei Häuschen; ein Drittel erhielt Mrs. Dale als ihr eigenes Taschengeld; was aus dem zweiten Drittel wurde, gestand er Niemandem, selbst nicht seiner bessern Hälfte, obschon so viel gewiß war, daß jedes Mal, wenn der Pfarrer sieben Schillinge und sechs Pence gewann, eine halbe Krone ihren Weg in die Armenbüchse fand, ohne daß man sich zu erklären wußte, woher sie kam. Das letzte Drittel behielt der Pfarrer offenermaßen für sich, ich hege jedoch nicht den mindesten Zweifel, daß es am Ende des Jahres ebenso sicher in die Hände der Armen gerathen war, als wenn er es in die Armenbüchse gelegt hätte.
Die Gesellschaft hatte sich jetzt um das Servirbrett versammelt und nach Belieben mit Wein und Wasser oder Wein ohne Wasser gestärkt, ausgenommen Frank, der noch immer die Karte in der Grafschaftsgeschichte studirte, während er den Kopf auf die Hand stützte und mit den Fingern in seinen Haaren wühlte.
»Frank,« sagte Mrs. Hazeldean, »ich habe dich ja noch nie so eifrig studiren sehen.«
Frank fuhr auf und erröthete, als schäme er sich, des zu vielen Lernens irgend einer Art überführt zu werden.
Squire (mit etwas verlegener Stimme). – »Was weißt du denn von Randal Leslie, Frank?«
»Nun, er ist in Eton, Vater!«
»Was ist es für ein Knabe?« fragte Mrs. Hazeldean.
Frank zögerte, als ob er sich besänne, und antwortete hierauf: »Er gilt für den Gescheutesten in der Schule; aber er schanzt auch tüchtig.«
»Das heißt mit andern Worten,« sagte der Pfarrer mit dem seinem Stande geziemenden Ernste, »er weiß, daß man ihn auf die Schule geschickt hat, um zu lernen, und deßhalb thut er es. Sie nennen das Schanzen – ich nenne es Pflichterfüllung. Aber mit Vergunst, Squire, wer und was ist dieser Randal Leslie, daß Sie so grimmig aussehen?«
»Wer und was er ist?« wiederholte der Squire mit leisem Stöhnen. »Sie wissen doch, daß Mr. Audley Egerton Miß Leslie, die reiche Erbin, heirathete. Und dieser Knabe ist ein Verwandter von ihr. Ich kann sagen,« setzte der Squire hinzu, »daß er ebenso nahe mit mir verwandt ist, denn seine Großmutter war eine Hazeldean. Allein ich weiß weiter nichts von den Leslie's, als daß Mr. Egerton, der keine eigenen Kinder besitzt, nach dem Tode seiner armen Frau sich des jungen Randal angenommen hat, seine Erziehung bestreitet und, wie ich vermuthe, ihn wohl zu seinem Erben einsetzen wird. Er mag es thun! Frank und ich brauchen, Gott sei Dank, nichts von Audley Egerton!«
»Ich kann mir wohl denken, daß Ihr Bruder großmüthig gegen die Verwandten seiner Frau ist,« sagte der Pfarrer kühn, »denn ich bin überzeugt, Mr. Egerton ist ein Mann von tiefem Gefühl.«
»Was zum Henker wissen denn Sie von Audley Egerton? Ich bezweifle, daß Sie je ein Wort mit ihm gewechselt haben.«
»Doch,« sagte der Pfarrer, die Farbe wechselnd und mit verlegener Miene, »ich hatte einst eine Unterredung mit ihm.« Und als er des Squires Ueberraschung bemerkte, setzte er hinzu: »Ich war damals Pfarrer in Lansmere und es handelte sich um eine traurige Geschichte, die eines meiner Pfarrkinder betraf.«
»Wie! eines Ihrer Pfarrkinder zu Lansmere – einen der Wähler, die Audley Egerton abschüttelte, nachdem ich mir solche Mühe für seine Erwählung gegeben hatte? Seltsam, daß Sie dies noch nie gegen mich erwähnten, Mr. Dale!«
»Mein theurer Sir,« sagte der Geistliche, seine Stimme dämpfend und in dem milden Tone versöhnender Vorstellung, »Sie werden gleich so reizbar, wenn Mr. Audley Egerton's Name nur genannt wird.«
»Reizbar!« rief der Squire, dessen Zorn schon lange gekocht hatte und nun zum Uebersprudeln kam – »reizbar, Sir! das sollte ich wohl glauben! Ein Mann, für den ich gut sagte auf der Wahlbühne, Mr. Dale! – ein Mann, um dessen willen ich ein ›Preisochse‹ genannt und auf öffentlichem Marktplatze ausgepfiffen wurde, Mr. Dale! – ein Mann, wegen dessen mit kaltem Blute auf mich geschossen wurde von einem Offizier in seiner Majestät Diensten, der mir eine Kugel in die rechte Schulter jagte, Mr. Dale! – ein Mann, der nach all diesem so undankbar war, den Interessen des Grundbesitzes den Rücken zuzuwenden – der den Muth hatte, abzuläugnen, daß es ein Fehl- und Nothjahr gewesen, in welchem drei meiner besten Pächter zu Grunde gerichtet wurden, Mr. Dale! – ein Mann, Sir, der eine Rede über Geldkurse hielt, über welche ihm Ricardo, ein Jude, seine Bewunderung aussprach! Gütiger Himmel! Sie sind mir ein schöner Pfarrer, der einem Menschen das Wort redet, welcher sich von einem Juden bewundern läßt! Sie müssen seine Ideen vom Christenthum haben. Reizbar, Sir!«
Der Squire brüllte jetzt förmlich und mit dem Donner seiner Stimme verband sich nun eine Gewitterwolke auf seiner Stirne von so bedrohlicher Wildheit, daß sie einem Bussy d'Amboise Louis de Clermont, seigneur de Bussy d'Amboise (1549-1579), typischer Adliger der Zeit des französischen Königs Heinrich III. – voller Mut und Beherztheit, stolz, oft gewalttätig und provokant. oder einem fechtenden Fitzgerald Gerald FitzGerald, 8. Earl of Kildare (ca. 1456-1513); von Eduard IV. 1481 zum Lord Deputy von Irland bestimmt; 1494 der Verschwörung gegen die Krone bezichtigt, vor dem Parlament in Drogheda verurteilt und im Tower of London gefangen gesetzt; zwei Jahre später begnadigt und erneut als Lord Deputy eingesetzt. 1505 kämpfte er gegen Chieftains im Süden Irlands; den dort empfangenen Wunden erlag er 1513. Ehre gemacht haben würde.
»Sir, wenn dieser Mann nicht mein Stiefbruder gewesen wäre, so würde ich ihn gefordert haben. Ich bin seiner Zeit auch fest hingestanden. Ich habe eine Kugel in meiner rechten Schulter davongetragen. Ja gewiß, ich hätte ihn gefordert.«
»Mr. Hazeldean! Mr. Hazeldean! Ich entsetze mich über Sie!« rief der Pfarrer, näherte alsdann seine Lippen dem Ohre des Squires und flüsterte ihm zu: »Welch' ein Beispiel geben Sie Ihrem Sohne! Sie werden sehen, daß er sich nächstens duellirt, und dann haben Sie es blos sich selbst zuzuschreiben.«
Diese Warnung kühlte Mr. Hazeldean's Zorn, und er versetzte brummend: »Zum Henker, warum mußten Sie mich auch so in Harnisch bringen?« Dann sank er in seinen Stuhl zurück und begann sich mit seinem Taschentuch Kühlung zu fächeln.
Der Geistliche verfolgte geschickt und schonungslos seinen errungenen Vortheil. »Und da es nun in Ihrer Macht steht, einem Knaben Höflichkeit und Güte zu erweisen, dessen sich Mr. Egerton aus Achtung für das Andenken seiner Gattin angenommen hat, der, wie Sie selbst sagen, mit Ihnen verwandt ist, und der Sie nie beleidigt hat – einem Knaben, dessen Fleiß ihn zu einem vortrefflichen Gefährten für Ihren Sohn machen würde – Frank« (hier erhob der Pfarrer seine Stimme) »nicht wahr, Sie wünschen wohl den jungen Leslie zu besuchen und haben deßhalb die Karte der Grafschaft so aufmerksam studirt?«
»Allerdings,« antwortete Frank etwas schüchtern, »wenn mein Vater nichts dagegen hat. Leslie ist sehr freundlich gegen mich gewesen, obgleich er schon in der sechsten Klasse und fast immer der Erste in der ganzen Schule ist.«
»Ah,« sagte Mrs. Hazeldean, »die fleißigen Schüler halten immer zusammen, und obgleich du dir's in den Ferien recht wohl sein lässest, so bin ich doch überzeugt, Frank, daß du in der Schule sehr fleißig bist.«
Mrs. Dale öffnete ihre Augen weit und schaute verwundert aus. Mrs. Hazeldean gab diesen Blick mit großer Lebhaftigkeit zurück und sagte, indem sie den Kopf in die Höhe warf – »Ja wohl, Carry, wenn Sie auch meinen Frank nicht für klug halten, so sind doch seine Lehrer anderer Meinung. Er hat im letzten Semester einen Preis gewonnen. Blicke doch auf, mein Sohn! Jenes schöne Buch, Frank – wofür hast du es erhalten?«
Frank (mit Widerstreben). – »Für die Verse, Mutter!«
Mrs. Hazeldean (triumphirend). – »Verse! Hören Sie's, Carry – Verse!«
Frank (schnell einfallend). – »Aber Leslie hatte sie mir gemacht.«
Mrs. Hazeldean (zurückfahrend). – »O Frank! einen Preis für eine Arbeit, die ein Anderer für dich gemacht hatte! – das war schlecht!«
Frank (aufrichtig). – »Du kannst dich nicht mehr darüber schämen, als ich mich schämte, da ich den Preis erhielt.«
Mrs. Dale (obgleich vorhin gereizt durch Harry's schnippisches Wesen, läßt jetzt der Großmuth die Oberhand über ihre Verstimmung). – »Um Vergebung, Frank! Ihre Mutter darf jetzt eben so stolz auf Ihre Offenheit sein, als sie es vorhin auf den Preis gewesen.«
Mrs. Hazeldean schlingt ihren Arm um Frank's Nacken, lächelt Mrs. Dale zu und plaudert leise mit ihrem Sohn über Randal Leslie. Miß Jemima nähert sich jetzt Carry und sagt zu ihr bei Seite: »Aber wir vergessen den armen Mr. Riccabocca. Mrs. Hazeldean, obgleich sie das beste Geschöpf von der Welt ist, hat eine so derbe Weise, die Leute einzuladen! Wäre es nicht besser, wenn Sie ein Wörtchen mit ihm sprächen, Carry?«
Mrs. Dale (sich in ihren Shawl hüllend, mit freundlichem Ton). – »Wie wäre es, wenn Sie selbst ein Billetchen schrieben? Inzwischen werde ich ihn ohne Zweifel wohl auch sehen.«
Pfarrer (seine Hand auf die Schulter des Squires legend). – »Sie vergeben mir doch meine Unbescheidenheit, mein theurer Freund! Sie wissen ja, wir Geistliche nehmen uns arge Freiheiten heraus mit Leuten, die wir schätzen und lieben, wie ich Sie schätze und liebe.«
»Pfui,« sagte der Squire, aber wider seinen Willen spielte das gewohnte herzliche Lächeln um seinen Mund. »Sie setzen immer durch, was Sie sich vornehmen, und so wird wohl Frank hinüberreiten müssen zu dem Liebling meines –«
» Bruders,« ergänzte der Pfarrer den Satz, indem er das süße Wort in einem so süßen Ton aussprach, daß der Squire den Geistlichen nicht zu verbessern wagte, wie er sich selbst hatte verbessern wollen.
Mr. Dale schickte sich zum Fortgehen an; als er jedoch an Kapitän Barnabas vorbei ging, verwandelte sich der wohlwollende Ausdruck seines Gesichtes auf eine traurige Weise.
»Das grausamste Trumpfen, Kapitän Higginbotham!« sagte er finster und schritt majestätisch weiter.
Die Nacht war so schön, daß der Pfarrer und seine Frau sich veranlaßt sahen, noch einen kleinen Umweg durch das Gehölz zu machen.
Mrs. Dale. – »Ich denke, ich habe diesen Abend ein gutes Stück Arbeit vollbracht.«
Pfarrer (sich aus einer Träumerei aufraffend). – »Wirklich, Carry? Das Taschentuch wird gewiß sehr hübsch werden.«
Mrs. Dale.– »Taschentuch! Unsinn, mein Lieber! Glaubst du nicht, daß es ein großes Glück für Beide wäre, wenn Jemima und Signor Riccabocca zusammenkommen könnten?«
Pfarrer. – »Zusammenkommen?«
Mrs. Dale. – »Nun ja doch – ich meine, wenn ich eine Partie zu Stande bringen könnte.«
Pfarrer. – »Das wird schwer halten. Ich glaube, Riccabocca wird nicht nur Jemima, sondern auch dir gewachsen sein.«
Mrs. Dale (mit stolzem Lächeln). – »Nun, wir werden sehen. Betrug nicht Jemima's Vermögen viertausend Pfund?«
Pfarrer (wieder in sein voriges Nachdenken versunken, erwidert träumerisch). – »Ja, ja – ich glaube wohl.«
Mrs. Dale. – »Und sie muß sich inzwischen noch etwas Hübsches erspart haben. Sie hat gewiß jetzt nahezu sechstausend Pfund. Aber mein bester Charles, du bist in der That so – Gütiger Himmel! was ist das?«
Als Mrs. Dale diesen Schreckensruf ausstieß, waren sie eben aus dem Gebüsch auf den Dorfrasen getreten.
Pfarrer. – »Was hast du denn?«
Mrs. Dale (ihren Gatten heftig in den Arm kneipend). – »Das Ding dort – dort!«
Pfarrer. – »Nichts, als der neue Stock, Carry; es wundert mich übrigens nicht, daß du davor erschrickst, denn du bist eine sehr verständige Frau. Ich wollte nur, der Squire würde auch davor erschrecken!«
Ein Brief, angeblich von Mrs. Hazeldean, an A. Riccabocca Esquire, in dem Casino; in der That aber verfaßt und geschrieben von Miß Jemima Hazeldean.
Mein theurer Sir!
Für ein fühlendes Herz muß es immer schmerzlich sein, Jemanden betrübt zu haben, und obgleich es sicherlich nicht Ihre Absicht war, so haben Sie Mr. Hazeldean und mir, so wie überhaupt unserm ganzen kleinen Familienkreise dennoch sehr wehe gethan, indem Sie so grausam unsere Versuche vereitelten, mit einem Manne, den wir so innig hochschätzen, näher bekannt zu werden. Haben Sie die Güte, werther Sir, uns ehrenhafte Genugthuung zu gewähren und uns auf einige Tage in der Halle das Vergnügen Ihrer Gesellschaft zu schenken! Dürfen wir Sie nächsten Sonnabend erwarten? Wir speisen um sechs Uhr.
Mr. und Miß Jemima Hazeldean lassen sich Ihnen bestens empfehlen.
Mit ausgezeichneter Hochachtung
Ihre
ergebeneHazeldean Hall.
Nachdem Miß Jemima diese Zeilen, deren Abfassung Mrs. Hazeldean ihr gerne überlassen, sorgfältig gesiegelt hatte, begab sie sich selbst in den Hof hinab, um dem Reitknecht gemessenen Befehl zu ertheilen, daß er auf Antwort warten müsse. Während sie ihm jedoch die nöthigen Anweisungen gab, kam Frank, der sich mit mehr als gewöhnlicher Stutzerhaftigkeit zu seinem Ritte herausgeputzt hatte, gleichfalls herunter, ließ sein Pony vorführen und befahl dann demselben Reitknecht, mit welchem Jemima eben gesprochen, und der ein schmucker Bursche war, den Grauschimmel zu satteln, um ihn zu begleiten.
»Nein, Frank,« wendete Miß Jemima ein, »Georg kann nicht mit dir ausreiten. Er hat eine Bestellung für deinen Vater zu besorgen. Du kannst Mat mitnehmen.«
»Warum nicht gar, Mat!« brummte Frank, nicht ohne Ursache ärgerlich über diese Zumuthung; denn Mat war ein sauertöpfischer alter Bursche, der ein höchst anstößiges Halstuch trug und es immer so einzurichten wußte, daß auch seine besten Stiefel geflickt erschienen; überdies nannte er Frank stets »Master« und weigerte sich hartnäckig, bergab im Trab zu reiten. »Mat! das fehlte mir noch! Mat kann den Auftrag besorgen und Georg mit mir ausreiten.«
Allein Miß Jemima hatte gleichfalls ihre Gründe, Mat zu verwerfen. Unterthänigkeit war nicht eben Mat's schwache Seite; er zeigte im Gegentheil ächt englische Unabhängigkeit in allen Häusern, in welchen man ihn nicht einlud, sich im Bedientenzimmer mit Bier zu erfrischen. Mat war fähig, Signor Riccabocca zu beleidigen und Alles zu verderben. Es erfolgte jetzt ein lebhafter Wortwechsel, der plötzlich durch das Erscheinen des Squires und seiner Gattin unterbrochen wurde, welche im Begriff waren, in ihrem bekannten Cabriolet nach der nächsten Stadt zu fahren. Die Sache wurde von den streitenden Parteien dem natürlichen Schiedsrichter zur Entscheidung vorgetragen.
Der Squire blickte mit großer Verachtung auf seinen Sohn. »Wozu brauchst du denn überhaupt einen Reitknecht? Fürchtest du etwa, von deinem Pony herunter zu fallen?«
Frank. – »Nein, Vater; aber ich möchte als Edelmann auftreten, wenn ich einen Edelmann besuche.«
Squire (in großem Zorn). – »Ha, du alberner Laffe! Ich denke, ich bin jeden Tag so gut ein Edelmann, als du, aber ich möchte wissen, wann du mich je zu einem Besuche in der Nachbarschaft mit solch' einem klingelnden Burschen an meiner Ferse hast ausreiten sehen – wie jener geckenhafte Emporkömmling Ned Spankie, dessen Vater eine Baumwollenspinnerei hatte. Zum ersten Mal höre ich, daß ein Hazeldean eine Livree für nöthig hält, um seine adlige Abkunft zu beweisen!«
Mrs. Hazeldean (welche bemerkt, daß Frank erröthet und im Begriff steht, eine heftige Antwort zu geben). – »Still, Frank! Keine Widerrede gegen deinen Vater! – Du willst also Mr. Leslie besuchen?«
»Ja, Mutter, und ich bin meinem Vater sehr dankbar, daß er es mir erlaubt,« sagte Frank, des Squires Hand ergreifend.
»Gut! Aber Frank,« fuhr Mrs. Hazeldean fort, »ich denke, du hast gehört, daß die Leslies sehr arm sind?«
Frank. – »Nun wohl, Mutter!«
Mrs. Hazeldean. – »Und möchtest du Gefahr laufen, den Stolz eines Edelmannes zu kränken, der von gleich guter Geburt ist, wie du, indem du deinen Reichthum vor ihm zur Schau trägst?«
Squire (mit großer Bewunderung). – »Harry! Zehn Pfund wollte ich darum geben, wenn ich das gesagt hätte!«
Frank (die Hand des Squires loslassend, um diejenige seiner Mutter zu ergreifen). – »Du hast Recht, Mutter! nichts könnte gemeiner sein.«
Squire. – »Gib mir nochmal deine Pfote, Junge; du gibst am Ende doch noch einen Span vom alten Block!«
Frank lächelt und geht zu seinem Pony.
Mrs. Hazeldean (zu Miß Jemima). – »Ist dies das Billet, welches du für mich schreiben wolltest?«
Miß Jemima. – »Ja, und da ich dachte, es liege dir nichts daran, es zu sehen, so habe ich es schon gesiegelt und Georg gegeben.«
Mrs. Hazeldean. – »Aber Frank kömmt auf seinem Wege zu den Leslies an dem Casino vorbei. Es wäre vielleicht artiger, wenn er den Brief selbst überbrächte.«
Miß Jemima (zweifelnd). – »Meinst du?«
Mrs. Hazeldean – »Ja gewiß. Frank – Frank – wenn du am Casino vorüber kömmst, so mache einen kurzen Besuch bei Mr. Riccabocca, gib ihm dieses Billet und sage ihm, daß es uns herzlich freuen würde, wenn er kommen wollte.«
Frank nickt mit dem Kopfe.
»Halt!« ruft der Squire, »wenn Rickybocky zu Hause ist, so wette ich darauf, daß er dir ein Glas Wein anbietet. Aber merke dir, es ist schlimmer, als wenn er dich auf die Folter spannen wollte. Pfui! Erinnerst du dich noch, Harry? Ich glaubte, es wäre aus mit mir.«
»Ja,« erwidert Mrs. Hazeldean, »um's Himmels Willen keinen Tropfen! Wein! Schöner Wein das!«
»Sprich mir nicht davon!« ruft der Squire, das Gesicht verziehend.
»Ich werde mich in Acht nehmen, Vater!« sagt Frank, indem er lachend im Stall verschwindet. Miß Jemima folgt ihm dahin, um ihn wieder zu versöhnen, und fährt mit ihren Ermahnungen, doch ja recht artig gegen den armen fremden Herrn zu sein, so lange fort, bis Frank den Fuß in den Steigbügel setzt. Der Pony, welcher wohl weiß, mit wem er zu thun hat, bäumt sich – gleichsam als Vorbereitung – zuerst ein wenig und sprengt dann im Galopp zum Hof hinaus.