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Zweites Buch.


Einleitungs-Kapitel

unterrichtet den Leser, wie es kömmt, daß dieses Werk Einleitungskapitel hat.

» Es unterliegt keinem Zweifel,« sagte mein Vater, »daß du jedem Hauptabschnitt deines Werkes – magst du ihn nun Buch oder Theil nennen – ein Einleitungskapitel vorausschicken solltest.«

Pisistratus. – »Warum sollte dies keinem Zweifel unterliegen, Vater?«

Mr. Caxton. – »Fielding Siehe Anm. 9. stellt es als eine unerläßliche Regel auf, die er durch sein Beispiel bekräftigt; und Fielding war ein kunstgerechter Schriftsteller, welcher wohl wußte, was er that.«

Pisistratus. – »Erinnerst du dich der Gründe, welche er dafür angibt, Vater?«

Mr. Caxton. – »Gewiß. Fielding sagt zwar sehr richtig, daß er nicht verbunden sei, seine Gründe anzugeben, allein er thut es dennoch hin und wieder, und ich verweise dich in Betreff derselben auf Tom Jones. Nur so viel will ich bemerken, daß einer dieser Gründe, und zwar ein ganz unumstößlicher, derjenige ist, daß der Leser dadurch in jedem Theil oder Buch den Vortheil hat, mit der vierten oder fünften, anstatt mit der ersten Seite beginnen zu können, ›ein Umstand von nicht geringer Bedeutung,‹ sagt Fielding, ›für Leute, welche die Bücher nur lesen, um sagen zu können, daß sie sie gelesen haben; und dieses Motiv ist ein viel allgemeineres, als man gewöhnlich glaubt, und findet nicht blos bei juridischen Werken und Andachtsbüchern Anwendung, sondern ist auch nicht selten die Veranlassung, daß Homer und Virgil, Swift und Cervantes durchblättert werden.‹ Henry Fielding, Tom Jones, Buch XVI, Kapitel 1. So,« rief mein Vater triumphirend, »ich wette einen Schilling gegen zwei Pence, daß ich die Stelle wortgetreu citirt habe.«

Mrs. Caxton. – »Der Tausend! Das wäre ja nichts Anderes, als Ueberschlagen. Ich begreife nicht, welchen Vortheil es haben kann, ein Kapitel zu schreiben, nur damit es nicht gelesen werde.«

Pisistratus. – »Ich auch nicht.«

Mr. Caxton (dogmatisch). – »Es ist die Ruhe in dem Bilde – Fielding nennt es den ›Contrast.‹« (Noch dogmatischer). »Und ich sage, meine Behauptung kann gar keinem Zweifel unterliegen. Ueberdies,« setzte mein Vater nach einer Pause hinzu, »gibt dieser Gebrauch Veranlassung, auseinanderzusetzen, was vorausgegangen ist, oder auf das Kommende vorzubereiten, oder aber – da Fielding mit Recht behauptet, daß für diese Art historischer Werke einige Gelehrsamkeit notwendig sei, bietet ein solches Einleitungskapitel eine passende Gelegenheit, mit Leichtigkeit und Natürlichkeit solch' angenehmen Zierrath einzuflechten. Auf jedem Treppenabsatze kannst du als Ruhepunkt für das Auge eine Urne oder Statue anbringen, sowie außerdem, wenn du Lust hast, geeignete Haltpunkte für das Nachdenken und auf diese Weise die Anlage des Werkes vervollständigen, das ein bloßes Ammenmährchen wäre, wenn es nicht auch einen allgemeinen Ueberblick über die Gedanken und Handlungen der Menschheit in sich faßte.«

Pisistratus. – »Aber in diesen Einleitungskapiteln drängt sich der Autor selbst zu sehr in den Vordergrund; und gerade wenn der Leser etwas von den dramatis personae erfahren möchte, steht man plötzlich dem Dichter gegenüber.«

Mr. Caxton. – »Pah! Dem läßt sich leicht ausweichen. Ahme den Chor des griechischen Schauspiels nach und fülle die Zwischenräume der Handlung dadurch aus, daß du ihm sagen lässest, was der Schriftsteller sonst in Person sagen würde.«

Pisistratus (schlau). – »Das ist ein guter Gedanke, Vater! Und ich habe bereits einen Chor und einen Chorführer dazu im Auge.«

Mr. Caxton (arglos). – »Aha! Du bist nicht so einfältig, als du dir den Anschein geben willst; und selbst, wenn ein Schriftsteller sich ein wenig vordrängte – was wäre dagegen einzuwenden? Es ist bloße Ziererei, vorauszusetzen, daß ein Buch in die Welt kommen könne ohne Verfasser. Jedes Kind hat einen Vater – einen Vater zum Wenigsten, wie der große Condé Louis II. de Bourbon, prince de Condé (1621-1686), auch als »Le Grand Condé« bekannt, war Erster Prinz von Geblüt des französischen Königshauses Bourbon. Er gilt als einer der bedeutendsten Feldherren des 17. Jahrhunderts und spielte als Anführer der adeligen Opposition gegen Kardinal Mazarin eine wichtige Rolle während des Bürgerkriegs der Fronde. in seinem Gedichte sagt.«

Pisistratus. – »Der große Condé ein Dichter? Davon habe ich nie etwas gehört!«

Mr. Caxton. – »Ich sage auch nicht, daß er ein Dichter war, aber er sandte ein Gedicht an Madame de Montpensier. Neidische Kritiker behaupten, er habe es von einem Andern schreiben lassen und ihn dafür bezahlt; allein warum sollte denn ein großer Feldherr nicht auch ein Gedicht zu Stande bringen können – wenn auch nicht gerade ein sehr schönes? Was meinst du, Roland, ob wohl der Herzog sich je versucht hat in ›Stanzen‹ an Maria, oder in ›Versen auf einen schlummernden Säugling?‹«

Kapitän Roland. –»Austin, ich schäme mich deiner! Freilich konnte der Herzog Gedichte machen, wenn es ihm beliebte – Gedichte in dem Charakter des großen Condé, das heißt kriegerische, heroische Gedichte – darauf wollt' ich wetten. Laß doch hören!«

Mr. Caxton (declamirend). –

»Telle est du Ciel la loi sévère
Qu'il faut qu' un enfant ait un père;
On dit même quelque fois
Tel enfant en a jusqu' à trois.« »Dass jedes Kind einen Vater hat, ist von der Natur so bestimmt; aber einem Gerücht zu Folge haben manche Kinder drei.«

Kapitän Roland (mit Abscheu). – »Solches Zeug hätte Condé geschrieben? Das glaube ich nicht!«

Pisistratus. – »Aber ich. Und ich mache mir die Citation zu Nutzen – du und Roland, ihr sollt Beide Vater meines Kindes sein, so gut wie ich.

Tel enfant en a jusqu' à trois

Mr. Caxton (feierlich). – »Ich lehne die Vaterschaft ab; nur was hin und wieder eine gesunde, kleine Züchtigung anbelangt, so habe ich nichts dagegen, die Pflicht eines Vaters zu erfüllen.«

Pisistratus. – »Angenommen! Hast du bis jetzt etwas gegen das Kind einzuwenden?«

Mr. Caxton. – »Es ist noch im Flügelkleide; warten wir, bis es gehen kann!«

Blanche. – »Aber sage mir doch, bitte, wen du zu deinem Helden machen willst? und soll Miß Jemima deine Heldin werden?«

Kapitän Roland. – »Es steckt ein Geheimniß hinter –«

Pisistratus (hastig). – »Bst, Onkel! Laß die Katze noch nicht aus dem Sack. – Hört nun weiter. Ich verließ Frank Hazeldean auf dem Wege nach dem Casino.«


Zweites Kapitel.

» Dies ist ein hübscher, anmuthiger Platz,« dachte Frank, als er die Pforte öffnete, die durch die Felder nach dem Casino führte, welches mit seinen Gypspilastern ihm freundlich entgegenlächelte. »Allein mich wundert, daß mein Vater, der doch sonst so pünktlich ist, den Fahrweg so voll Löcher und Unkraut läßt. Der fremde Monsieur empfängt, wie es scheint, nicht viele Besuche.«

Als jedoch Frank in die Nähe des Hauses kam, fand er keine Ursache, sich über Mangel an Ordnung zu beklagen; es war Alles in bestem, zierlichstem Stande gehalten. Frank schämte sich der Hufspuren, welche sein Pony in dem glatten Sandwege zurückließ; er stieg daher ab, band das Thier an das Pförtchen und ging zu Fuß auf die Glasthüre an der Vorderseite des Gebäudes zu.

Er zog einmal, zweimal an der Klingel, allein es kam Niemand; die alte Magd, welche ziemlich harthörig war, befand sich gerade hinten im Hofe, um nach Eiern zu suchen, die ein ungezogenes Huhn den Küchenzwecken entzogen haben mochte, und Jackeymo fischte nach Stichlingen und Elritzen, die im Verein mit den Eiern dazu dienen sollten, ihm und seinem Herrn Leib und Seele zusammenzuhalten. Die alte Magd bezog seit einiger Zeit ein Kostgeld – zum Glück für sie! Frank klingelte zum drittenmale und jetzt mit dem ganzen Ungestüm seines Alters. Nun endlich zeigte sich Jemand in dem Belvedere auf der Terrasse.

» Diavolo!« sprach Doctor Riccabocca bei sich selbst. »Junge Hähne krähen laut auf ihrem eigenen Düngerhaufen; dies muß wohl ein Hahn von besonders edler Race sein, daß er auf demjenigen eines Andern solchen Lärm aufschlägt!«

Mit diesen Worten schlenderte er aus dem Pavillon und stand plötzlich vor Frank in einem Schlafrock von schwarzer Sarsche und eine rothe Mütze auf dem Kopfe, wodurch er einem Zauberer nicht unähnlich sah, während eine Rauchwolke seinen Lippen entströmte – der letzte Trostzug, den er gethan, ehe er die Pfeife bei Seite legte. Frank hatte zwar den Doctor schon früher gesehen, aber noch nie in diesem Kostüm eines Gelehrten, und er war daher einigermaßen betroffen, als er sich umwandte und ihn plötzlich neben sich erblickte.

» Signorino – junger Herr,« sagte der Italiener, indem er mit seiner gewohnten Höflichkeit die Mütze abnahm, »entschuldigen Sie die Nachlässigkeit meiner Dienerschaft – ich schätze mich glücklich, Ihren Befehl entgegenzunehmen.«

»Doctor Rickybocky?« stammelte Frank, verwirrt durch diese höfliche Anrede und die tiefe, jedoch würdevolle Verbeugung, womit sie begleitet war. »Ich – ich bringe Ihnen ein Billet von der Halle. Mamma – ich wollte sagen, meine Mutter – und Tante Jemima lassen sich bestens empfehlen und hoffen, daß Sie kommen werden, Sir.«

Der Doctor nahm das Billet mit einer zweiten Verbeugung in Empfang, öffnete die Glasthüre und forderte Frank zum Eintreten auf. Der junge Herr war schon im Begriff, mit der gewöhnlichen Ungenirtheit eines Schulknaben die Einladung abzulehnen, weil er Eile habe; allein Doctor Riccabocca's würdevolles Wesen flößte ihm Ehrfurcht ein, während ein Blick in die Halle seine Neugierde erregte, weßhalb er stillschweigend der Einladung Folge leistete.

Die Halle, welche die Form eines Achtecks hatte, war ursprünglich in Fachwerk getäfelt gewesen, und der Italiener hatte die einzelnen Fächer mit Landschaften ausgeschmückt, welche in dem warmen, sonnigen Lichte seines Heimathlandes erglänzten. Frank war kein Kunstkenner; allein er fühlte sich gleichwohl seltsam gefesselt durch die dargestellten Scenen, welche insgesammt einen wirklichen oder eingebildeten See zeigten – dunkelblaues, glänzendes Wasser, in dem sich ein reiner, tiefblauer Himmel spiegelte. Auf dem einen Bilde führten Stufen nach dem See hinunter, an dessen Ufer sich eine heitere Gruppe belustigte; auf einem andern warf der Sonnenuntergang einen rosigen Schimmer über eine stattliche Villa oder einen Palast, in dessen Hintergrunde die Alpenkette sichtbar war, während zu beiden Seiten lange Rebengelände sich hinzogen und auf den Wellen kleine Boote schaukelten. Kurz, in allen acht Fächern bewahrte die Landschaft bei aller Mannigfaltigkeit im Einzelnen doch denselben Charakter – gleich als ob hier irgend ein Lieblingsaufenthalt abgebildet worden wäre.

Der Italiener zeigte jedoch keine Neigung, seine Kunstwerke zu erklären, sondern schritt Frank voran durch die Halle, öffnete die Thüre seines gewöhnlichen Wohnzimmers und bat ihn, einzutreten. Frank that es ziemlich ungern und setzte sich mit ungewohnter Schüchternheit auf die Ecke eines Stuhls. Allein auch hier zogen bald neue Proben von Doctor Riccabocca's Geschicklichkeit seine Aufmerksamkeit auf sich.

Das Zimmer war ursprünglich tapezirt gewesen; Riccabocca hatte jedoch Leinwand darüber gespannt und verschiedene satyrische Bilder darauf gemalt, welche durch Einfassungen, aus phantastischen Arabesken bestehend, von einander getrennt waren. Hier schob Cupido einen Schubkarren, mit Herzen gefüllt, die er an einen häßlichen alten Burschen mit einem Geldsacke in der Hand – wahrscheinlich Plutus vorstellend – zu verhandeln schien. Dort sah man Diogenes mit der Laterne in der Hand, von Kindern verhöhnt und von kläffenden Hunden verfolgt, über den Marktplatz gehen, um einen ehrlichen Menschen zu suchen. An einer andern Stelle steckte ein Löwe zur Hälfte in einer Fuchshaut, während ein Wolf im Schafskleide sich freundschaftlich mit einem jungen Lamme unterhielt. Dort streckten schnatternde Gänse ihre Hälse aus dem römischen Kapitol, während in der Entfernung die trotzigen Angreifer in größter Eile davonliefen.

Kurz, in jedem dieser seltsam gefaßten Felder war irgend ein beißender Sarkasmus symbolisch dargestellt; nur in dem Bilde über dem Kamin erblickte man einen ernsteren und rührenderen Gegenstand. Es zeigte einen Mann im Pilgergewande, der mit feinen, aber unzählbaren Banden an die Erde gefesselt war, während man ein geisterhaftes Abbild seines Ichs, seinen Schatten, in die Ferne entschweben sah. Darunter standen die pathetischen Worte des Horaz:

» Patriae quia exul
      Se quoque fugit?
« Horaz, Carm. II, 16, 19f.

(»Kann ein aus dem Vaterlande Entflohener auch ebenso sich selbst entfliehen?«) Das Zimmer war äußerst einfach, fast ärmlich möblirt; allein die Möbel waren so gestellt, daß das Gemach einen Anstrich von Geschmack und Eleganz erhielt. Selbst einige Gypsbüsten und Statuen, obgleich nur von einem herumziehenden Händler gekauft, verfehlten nicht, einen classischen Eindruck hervorzubringen; ihr blendendes Weiß schimmerte zwischen malerisch gruppirten Blumen hervor oder hob sich von zierlich aus Weiden geflochtenem und mit Rankengewächsen umzogenem Gitterwerk ab, wobei die bunten Blumen einen angenehmen Gegensatz zu den dunkeln Epheublättern bildeten und dem ganzen Zimmer das Ansehen einer Laube verliehen.

»Wollen Sie gütigst erlauben?« sagte der Italiener, mit dem Finger auf das Siegel des Briefes deutend.

»O ja,« antwortete Frank naiv.

Riccabocca erbrach das Siegel, und ein leichtes Lächeln stahl sich über seine Züge. Dann wandte er sich ein wenig von Frank ab, hielt die Hand vor das Gesicht und schien nachzusinnen.

»Mrs. Hazeldean,« nahm er endlich das Wort, »erweist mir sehr große Ehre. Ich erkenne kaum ihre Handschrift, sonst würde ich ihren Brief mit größerer Ungeduld geöffnet haben.«

Dabei schauten die dunkeln Augen über die Brille hinweg und drangen geradezu in Frank's unbehütetes, undiplomatisches Herz. Der Doctor erhob das Billet und zeigte mit dem Finger auf die Schriftzüge.

»Cousine Jemima's Hand,« versetzte Frank so natürlich, als ob die Frage in Worten an ihn gerichtet gewesen wäre.

Der Italiener lächelte. »Mr. Hazeldean hat Gäste in seinem Hause?«

»Nein – das heißt, bloß Barney, den Kapitän. Vor der Jagdsaison haben wir selten viele Gäste,« setzte Frank mit einem leichten Seufzer hinzu, »und dann sind, wie Sie wissen, die Ferien zu Ende. Meiner Ansicht nach sollte man die Schule einen Monat später schließen.«

Der Doctor schien durch den ersten Theil von Frank's Erwiderung beruhigt, setzte sich an den Tisch und schrieb seine Antwort – nicht rasch, wie Engländer zu thun pflegen, sondern sorgfältig und deutlich, wie Jemand, der gewohnt ist, seine Worte abzuwägen, und in der steifen italienischen Handschrift, welche dem Schreiber so viel Zeit zum Nachdenken läßt, während er seine Buchstaben bildet. Er antwortete daher nicht sogleich auf Frank's Bemerkung in Bezug auf die Ferien, sondern vollendete sein Billet, überlas es dreimal, zündete langsam eine Kerze an, siegelte den Brief und übergab ihn Frank mit den Worten:

»Um Ihretwillen, mein junger Herr, bedaure ich, daß Ihre Ferien so früh beginnen, meinetwegen aber muß es mich freuen, da ich die freundliche Einladung annehme, die Sie mir doppelt angenehm gemacht haben, indem Sie dieselbe eigenhändig überbrachten.«

»Der Kuckuk hole den Mann mit seinen schönen Redensarten! Man weiß gar nicht, wo man dabei hinsehen soll,« dachte Frank.

Der Italiener lächelte abermals, als ob er auf's Neue und vielmal ohne den Beistand seiner durchdringenden schwarzen Augen – in des Knaben Herz gelesen hätte, und sagte dann mit weniger Förmlichkeit, als zuvor: »Sie machen sich wohl nicht viel aus Komplimenten, junger Herr?«

»Nein, gewiß nicht,« versetzte Frank aufrichtig.

»Desto besser für Sie, da Ihr Weg durch die Welt schon gebahnt ist; desto schlimmer, würde ich sagen, wenn Sie ihn erst zu bahnen hätten.«

Frank machte ein verlegenes Gesicht; der Sinn dieser Worte war zu tief für ihn, daher wandte er sich zu den Malereien.

»Diese Bilder sind sehr drollig und scheinen vortrefflich gemalt zu sein. Wer hat sie gemacht?«

»Signorino Hazeldean, Sie wollen, daß ich von Ihnen annehme, was Sie sich anzunehmen weigerten.«

»Das wäre?« entgegnen Frank fragend.

»Komplimente!«

»Komplimente? – O nein! Aber sind diese Bilder nicht schön gemalt?«

»Nicht sonderlich; Sie sehen in mir den Künstler.«

»Wie! Sie haben diese Bilder gemalt?«

»Ja.«

»Und auch diejenigen in der Halle?«

»Auch jene.«

»Der Natur entnommen – eh?«

»Die Natur,« erwiderte der Italiener sententiös und vielleicht ausweichend, »läßt sich nichts nehmen.«

»O!« sagte Frank, abermals in Verlegenheit gerathend, und fuhr dann fort: »Aber ich muß mich jetzt verabschieden, mein Herr. Es freut mich sehr, daß Sie kommen.«

»Ohne Komplimente?«

»Ohne Komplimente.«

» A rivedersi – Leben Sie indessen wohl, mein junger Signorino! Hier hinaus,« setzte er hinzu, als er bemerkte, daß Frank auf die unrechte Thüre zuging.

»Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten? Er ist unverfälscht – eigenes Gewächs.«

»Nein, ich danke Ihnen bestens,« rief Frank, der sich plötzlich der Warnung seines Vaters erinnerte. »Leben Sie wohl! Bemühen Sie sich nicht weiter, mein Herr; ich kenne jetzt meinen Weg.«

Allein der höfliche Italiener geleitete seinen Gast bis zu dem Pförtchen, an welchem Frank seinen Pony zurückgelassen hatte. Der junge Gentleman, welcher fürchtete, ein so überaus artiger Wirth möchte ihm den Steigbügel halten wollen, nahm hastig den Zügel in die Hand und schwang sich behende in den Sattel, ohne sich die Zeit zu nehmen, den Italiener um den Weg nach Rood Hall zu befragen, der ihm völlig unbekannt war.

Riccabocca's Auge folgte dem Knaben, während dieser einen Abhang hinanritt, und mit einem tiefen Seufzer sprach er bei sich selbst:

»Je weiser wir werden, desto mehr sehnen wir uns nach dem Alter unserer Thorheiten zurück. Es ist angenehmer, mit leichtem Herzen den steinigen Hügel hinauf zu sprengen, als im Pavillon sitzend zu den steinigen Wahrheiten Machiavelli's ›Wie wahr!‹ zu rufen!«

Mit diesen Worten kehrte er nach dem Belvedere zurück; allein er vermochte sich nicht wieder in seine Studien zu vertiefen. Er betrachtete während einiger Minuten die Aussicht, bis er sich der Felder wieder erinnerte, welche ihm Jackeymo so dringend zu pachten gerathen hatte, und durch die Felder an Lenny Fairfield gemahnt wurde. Er kehrte nun in das Haus zurück, aus welchem er nach kurzer Zeit in seinem Ausgangscostüm mit Mantel und Regenschirm wieder heraustrat, seine Pfeife anzündete und nach dem Dorfe Hazeldean schlenderte.

Indessen hatte Frank, nachdem er eine Strecke weit geritten, an einer Hütte Halt gemacht und dort erfahren, daß es einen kürzeren Weg durch die Felder nach Rood Hall gebe, wodurch er beinahe drei Meilen abschneiden könnte. Allein Frank verfehlte denselben und kam wieder auf die Landstraße zurück, worauf ihn ein Chausseegeldeinnehmer, dem er sein Weggeld bezahlte, zurechtwies. Zuletzt kam er auf einen schmalen Pfad zwischen grünen Hecken, wo ein halbverfallener Wegzeiger die Richtung nach Rood angab.

Erst gegen Mittag, nachdem Frank fünfzehn Meilen geritten war, (statt, wie er beabsichtigt hatte, zehn Meilen auf sieben zu ermäßigen), gelangte er plötzlich auf ein wildes Stück Urboden, welches halb Jagdgrund, halb Weideplatz zu sein schien, und in dessen seltsamen Winkeln verfallene Hütten von häßlichem Aussehen zerstreut lagen; träge, schmutzige Kinder verfertigten Pasteten aus Straßenkoth, unordentlich gekleidete Weiber flochten Stroh vor ihren Thüren, und eine große, aber verwahrloste und baufällige Kirche, welche anzudeuten schien, daß die Generation, die sie gebaut hatte, frömmer gewesen, als die jetzt lebende, stand kühn und kahl an der Straße.

»Ist dies das Dorf Hood?« fragte Frank einen stämmigen jungen Mann, der am Wege Steine klopfte – ein trauriges Zeichen, daß er keine lohnendere Arbeit finden konnte!

Der Mann nickte mürrisch und fuhr in seiner Arbeit fort.

»Und wo ist die Halle – Mr. Leslie's Wohnung?«

Der Steinklopfer schaute in einfältigem Staunen auf und griff an seinen Hut.

»Wollen Sie dahin?«

»Ja, wenn ich sie finden kann.«

»Ich will sie Euer Gnaden zeigen,« sagte der Bauer rasch.

Frank ließ seinen Pony im Schritt gehen, und der Mann trabte neben ihm her.

Frank hatte viel von seines Vaters Wesen an sich, ungeachtet der Verschiedenheit des Alters und mehr noch der Sitten, durch welche sich jede nachfolgende, in der Civilisation fortschreitende Generation von der vorhergehenden zu unterscheiden pflegt. Bei all' seiner in Eton angenommenen Stutzerhaftigkeit war er leutselig und freundlich gegen die Bauern und hatte für ländliche Angelegenheiten den Blick eines auf dem Lande Geborenen.

»Ihr scheint hier in diesem Dorfe nicht besonders gutes Fortkommen zu finden, mein guter Freund,« sagte er mit kundiger Miene.

»Nein; im Winter gibt es viele Noth hier und, was das betrifft, im Sommer auch; und von der Gemeinde hat ein lediger Mann nicht viel zu erwarten.«

»Aber die Farmer, sollt' ich meinen, brauchen doch hier auch Arbeiter, so gut wie anderswo?«

»Ja, allein es ist nicht viel Landwirtschaft hier. Was zur Dorfmarkung gehört, ist meist wilder Boden.«

»Die Armen haben aber doch ein Weiderecht,« versetzte Frank, eine große Anzahl vagabundirenden Geflügels und Viehes bemerkend.

»Ja; Nachbar Timmias weidet seine Gänse auf der Almand; Andere ihre Kühe und Nachbar Jowlas seine Schweine. Ich weiß nicht, ob sie ein Recht dazu haben. Aber die Herrschaft in der Halle thut, was sie kann, um uns zu helfen; allein es ist nicht viel, denn sie ist nicht so reich, wie andere Herrschaften, obgleich,« setzte der Bauer mit Stolz hinzu, »von so altem Adel, als irgend eine Familie in der Grafschaft.«

»Es freut mich, zu sehen, daß Ihr ihnen zugethan seid.«

»O ja, das bin ich schon. Sie sind vielleicht mit dem jungen Herrn auf der Schule?«

»Ja,« erwiderte Frank.

»Ah! Ich hörte den Pfarrer sagen, daß Master Randal ein mächtig kluger Junge sei und noch einmal reich werden könne. Ich wünsche es von ganzem Herzen; denn ein armer Gutsherr macht auch die Gemeinde arm. Hier ist die Halle, junger Herr!«


Drittes Kapitel.

Frank sah auf und erblickte ein viereckiges Gebäude, das trotz seiner modernen Schiebfenster augenscheinlich einem fernen Alterthum angehörte. Das Haus mit seinem hohen, kegelförmigen Dach – eine Reihe hoher, zierlicher Schornsteinspitzen von roth gebranntem Thon, welche einzelne gemeinere Rauchfänge von der unedleren Form der gegenwärtigen Zeit stolz überragten – verwitterte Steinornamente, die innerhalb eines Tudorbogens eine Thüre aus der behaglichen Zeit Georgs III. umrahmten – endlich das besonders schmutzige, von Wind und Wetter verdorbene Aussehen der kleinen, schön gearbeiteten Ziegel, aus welchen das Haus gebaut war – dies Alles bewies, daß die Wohnstätte früherer Geschlechter mit geschmackloser Unehrerbietigkeit den Gewohnheiten von Nachkömmlingen angepaßt worden war, die sich weder von Pugin Augustus Welby Northmore Pugin (1812-1852), engl. Architekt und Designer, der für seine Ideen auch theoretisch eintrat. hatten aufklären lassen, noch einen Sinn für die Poesie der Vergangenheit besaßen. Das Haus war auf dem düstern, öden Landstriche plötzlich vor Frank aufgetaucht, denn es lag in einem Thaleinschnitt und war durch eine Gruppe kränklicher, verkrüppelter Föhren dem Auge entzogen, bis eine jähe Wendung des Weges diesen Schirm bei Seite ließ und die trübselige Wohnung dem unbefriedigten Blicke bloßstellte.

Frank stieg ab; der Mann hielt ihm den Pony, und nachdem er seine Halsbinde zurechtgezupft, näherte sich der geputzte Etonianer der Thüre und unterbrach die tiefe Stille des Ortes mit dem lauten Schlage eines modernen Messingklopfers – ein Ton, welcher sogleich einen verwunderten Staar aus seinem Neste unter der Rinne des Giebeldaches aufschreckte und eine ganze Schaar von Sperlingen, Meisen und Goldammern in die Flucht jagte. Rechts neben dem Hause befand sich ein schmutziger Hof, mit einem grob gearbeiteten Holzgeländer ohne Anstrich versehen, an welchem sich nach einiger Zeit ein Mutterschwein mit seiner zahlreichen, wißbegierigen Familie einfand, seinen Rüssel zwischen dem Gitter hindurchstreckte und den Besucher mit neugierigen und etwas argwöhnischen Blicken betrachtete.

Während Frank noch immer draußen steht und ungeduldig mit der Reitpeitsche auf seine weißen Beinkleider klopft, wollen wir einen eiligen Blick auf die einzelnen Glieder der Familie im Innern werfen.

Mr. Leslie, der pater familias, befindet sich in einem kleinen Gemache, das sein »Studirzimmer« genannt wird, in welches er sich regelmäßig jeden Morgen nach dem Frühstück zurückzieht, und das er selten vor Ein Uhr – seiner altmodischen Essensstunde – verläßt. Mit welchen geheimnißvollen Beschäftigungen Mr. Leslie diese Stunden ausfüllt, hat noch Niemand ergründen können.

Im gegenwärtigen Augenblick sitzt er vor einem kleinen, wackligen Schreibtische, dessen viertes, viel zu kurzes Bein mit alten Briefen und Zeitungsfetzen unterlegt ist. Der Schreibtisch steht offen und zeigt eine Menge Fächer, die mit verschiedenen, im Laufe vieler Jahre gesammelten Dingen angefüllt sind. In einigen dieser Fächer befinden sich Bündel vergilbter, mit abgeblaßten Schnüren zusammengebundener Briefe, in einem andern Fache liegt ein Stück Grauwacke, das Mr. Leslie auf einem Spaziergang aufgelesen hat und für ein seltenes Mineral hält. Es trägt die zierliche Aufschrift: »Gefunden in Hollow Lane den 21. Mai 1924 von Maunder Slugge Leslie Engl. maunder: verträumt herumschlendern; sludge: Schlamm., Esq.« Das nächste Fach enthält verschiedene Stücke Eisen in der Form von Nägeln, zerbrochenen Hufeisen und dergl., die Mr. Leslie gleichfalls auf seinen Wanderungen gefunden und, einem harmlosen Volksaberglauben zu Folge, weder liegen lassen mochte, noch später wegzuwerfen sich entschließen konnte. Wieder in einem andern Fach befindet sich eine ansehnliche Sammlung durchlöcherter Kieselsteine, aus demselben Grunde aufbewahrt, in Gesellschaft eines verbogenen Sechspencestückes; daneben, hübsch in phantasiereiche Mosaik geordnet, unterschiedliche Herzmuscheln, Mohrenzähne (ich meine die Muscheln, welche diesen Namen führen) und andere Proben von dem Scharfsinn der Natur in Erfindung von Conchilien Conchylien: Gehäuse von Schnecken und Muscheln; mit ihnen befasst sich die Conchologie (Muschellehre). – zum Theil Erbstücke aus dem Nachlasse einer unverheiratheten Verwandten, zum Theil von Mr. Leslie selbst gesammelt, als er in seiner Jugend einmal einen Ausflug an die Küste machte.

Im nächsten Fach liegen die Berichte des Gutsvogtes, mehrere Pakete Rechnungen, ein alter Steigbügel, drei Paar Knie- und eben so viele Schuhschnallen, die Mr. Leslie's Vater gehört hatten, einige Siegel mit einem Schuhriemen zusammengebunden, ein Zahnstocherfutteral, ein in Schildpatt gefaßtes Vergrößerungsglas zum Lesen, die ersten Schreibhefte seiner beiden Söhne und seiner Tochter und eine Haarlocke seiner Gattin, in einen Liebesknoten verschlungen unter Glas und Rahmen. Weiter eine kleine Mäusefalle, ein Patentpfropfzieher, der für den gewöhnlichen Gebrauch zu gut scheint, Bruchstücke eines silbernen Theelöffels, der durch natürlichen Verfall sich in seine einzelnen Theile aufgelöst hat, ein kleiner, brauner Beutel von holländischer Leinwand, welcher Halbpencestücke von verschiedenem Datum bis zur Regierung der Königin Anna zurück, nebst zwei französischen Sous und einem deutschen Silbergroschen enthält. Mr. Leslie pflegt dieses Gemisch mit dem hochtrabenden Namen »seiner Münzsammlung« zu beehren und hat darüber, als über ein wichtiges Erbstück, in seinem Testamente verfügt.

Außer den genannten Gegenständen sind noch manche andere Merkwürdigkeiten von ähnlicher Art und gleichem Werthe vorhanden –» quae nunc describere longum est« »Was hier weiter auszuführen langweilig wäre«, ein Satz, der in zeitgenössischen Lateingrammatiken und -übungsbüchern oft auftaucht (allerdings mit »perscribere« statt »describere«). – und Mr. Leslie ist eben damit beschäftigt, diese seine Sachen zu »ordnen«, wie er sich ausdrückt – eine Arbeit, der er sich mit musterhafter Pünktlichkeit wöchentlich einmal unterzieht. Dieser Tag des »Ordnens« ist heute, und er hat soeben seine Münzen gezählt und ist im Begriffe, den Beutel langsam zuzubinden, als Frank's Klopfen an seine Ohren dringt.

Mr. Maunder Slugge Leslie hält inne, schüttelt ungläubig das Haupt und will eben seine Beschäftigung wieder aufnehmen, als er von einem Gähnen ergriffen wird, das ihn volle zwei Minuten verhindert, den Beutel vollends zuzubinden.

Nachdem wir uns nun hinlänglich mit dem Studirzimmer bekannt gemacht, wollen wir uns nach den Ergötzlichkeiten des Salons, oder vielmehr des Wohnzimmers umsehen. Das eigentliche Besuchzimmer befand sich im ersten Stock und hatte eine reizende Aussicht nicht auf die düstern Föhren, sondern auf die romantische, wellenförmige Waldlandschaft – war aber seit dem Tode von Mr. Leslie's Mutter nicht mehr benützt worden. Man hielt es für zu gut, um sich darin aufzuhalten, wenn keine Gesellschaft da war, und da man nie Gesellschaft hatte, so kam man nie hinein. In Folge der Feuchtigkeit hingen die Tapeten von den Wänden, und Ratten, Mäuse und Motten – diese edaces rerum Verkürzung der Redewendung »tempus edax rerum« (Zahn der Zeit), also etwa »diese Fresser von Gegenständen«. – hatten die meisten Stuhlpolster und einen beträchtlichen Theil des Fußbodens zernagt.

Daher war das Wohnzimmer das einzige zum Aufenthalt geeignete Gemach, und da man daselbst das Frühstück, Mittag und Abendessen einnahm, und Mr. Leslie nach dem letzteren auch dort seinen Grog zu trinken und seine Cigarre zu rauchen pflegte, so konnte nicht in Abrede gezogen werden, daß es »einen Geruch« habe – einen gemütlichen, gesunden Familiengeruch, der auf zahlreiche Mahlzeiten und verschiedenartige Bewohner hindeutete.

Das Zimmer hatte zwei Fenster, wovon das eine die volle Aussicht nach den Föhren, das andere einen Blick auf den Hof gewährte, dessen Hintergrund der Schweinstall bildete. An dem Föhrenfenster saß Mrs. Leslie; vor ihr auf einem hohen Stuhle stand ein Korb mit Kleidungsstücken ihrer Kinder, die der Ausbesserung bedurften. In ihrer Nähe befand sich ein mit Messing ausgelegter Arbeitstisch von Rosenholz – ein Hochzeitsgeschenk und seiner Zeit ein höchst werthvoller Gegenstand; jetzt aber war das Messing an verschiedenen Stellen losgesprungen und hatte sowohl an den Fingern der Kinder, als an Mrs. Leslie's Kleidern großes Unheil angerichtet.

Auf besagtem Tische befand sich ein Nähkästchen nebst Fingerhut und Scheere, Stränge von Wolle und Faden und kleine Stückchen Leinwand und Tuch zum Flicken. Allein Mrs. Leslie war in diesem Augenblick nicht mit Arbeiten beschäftigt, sondern schickte sich erst dazu an, und zwar that sie dies schon seit anderthalb Stunden. Sie hatte nämlich auf ihrem Schooße einen Roman liegen, der von einer Dame verfaßt war, die für eine frühere Generation unter dem Namen »Mrs. Bridget Blue Mantle« Unter diesem Namen erschienen bei Minerva Press zwischen 1806 und 1818 neun mehrbändige Romane, die bald in der zeitgenössischen Publizistik und sogar auf der Bühne wegen ihres schlechten Geschmacks verspottet wurden. Die Identität der Verfasserin ist bis heute nicht geklärt; auch die Identifizierung mit Elizabeth Thomas (1770/71–1855) bleibt umstritten. viel geschrieben. In der linken Hand hatte Mrs. Leslie eine sehr feine Nadel, während sie in der rechten einen dicken Faden hielt, dessen Ende sie von Zeit zu Zeit an die Lippen führte, worauf sie – die Augen stets auf das Buch geheftet – einen schwachen, unsichern Versuch machte, die Nadel einzufädeln; allein eben so leicht hätte ein Kameel hindurch gehen können!

Der Roman nahm jedoch Mrs. Leslie's Aufmerksamkeit nicht ausschließlich in Anspruch; denn von Zeit zu Zeit unterbrach sie ihre Lectüre, um den Kindern einen Verweis zu geben, oder zu zu fragen, »wie viel Uhr es sei«, oder die Bemerkung zu machen, daß »Sarah ihre Geschäfte nie lernen werde«, und daß »sie wohl wissen möchte, warum Mr. Leslie ihren Arbeitstisch nicht herrichten lasse«. Mrs. Leslie ist einmal sehr hübsch gewesen, und ungeachtet ihres unordentlichen und ärmlichen Anzugs hat sie noch immer ein vornehmes Aussehen – beinahe zu vornehm für ihre Verhältnisse.

Sie ist stolz auf das Alter ihrer Familie von beiden Seiten; ihre Mutter gehörte zu dem ehrwürdigen Stamme der Daudlers von Daudle Place, ein Geschlecht, das schon vor der Eroberung Nach der Schlacht von Hastings 1066 übernahm die französisch-normannische Aristokratie die Führung in England; Wilhelm I. (»der Eroberer«) war König von 1066 bis 1087. existirte. Man braucht in der That nur die alten Chroniken zu lesen oder in den gedehnten, moralisirenden Gedichten zu blättern, an welchen die Thane Thane: das angelsächsische Wort ist verwandt mit dem mittelhochdeutschen »degen«: ›Krieger‹; es bezeichnete im Mittelalter den angelsächsischen Gefolgsmann; hier sind die Königsvasallen gemeint. und Aeltesten früherer Zeit sich ergötzten, um zu sehen, daß die Familie Daudle eine sehr einflußreiche war, noch ehe Wilhelm I. im Lande das Unterste zu oberst kehrte. Während so das Geschlecht der Mutter unbestreitbar sächsisch war, hatte dasjenige des Vaters nicht nur den Namen, sondern auch die Eigentümlichkeiten der Normannen und trug viel dazu bei, jener Grille des berühmten Verfassers von »Sibyl, Oder die zwei Nationen« »Sybil, or The Two Nations« ist ein 1845 erschienener Roman von Benjamin Disraeli, in dem er für ein Bündnis von Aristokratie und Arbeiterschaft gegen das kapitalistische Bürgertum eintritt. – den fortdauernden Unterschied zwischen der erobernden und eroberten Bevölkerung betreffend – Vorschub zu leisten.

Mrs. Leslie's Vater rühmte sich des Namens Montfydget und stammte ohne Zweifel von jenen reichen Baronen Montfichet ab, welche so ausgedehnte Ländereien und so feste Schlösser besaßen. Die Montfydgets waren ein hochnasiges, mageres, reizbares Geschlecht, und der ungeübteste Physiognome vermochte in Mrs. Leslie's psychischer und moralischer Natur auf den ersten Blick die Vermischung beider Racen zu erkennen. Sie besaß das sinnende, blaue Auge des Sachsen und die leidenschaftliche, hohe Nase des Normannen und verband mit der träumerischen Untätigkeit der Dundles die rücksichtslose Habgier der Montfydgets.

Zu Mrs. Leslie's Füßen spielte ein kleines Mädchen, welchem die Haare (und dazu recht schöne Haare!) in das Gesicht hereinhingen, mit einer zerbrochenen Puppe, und am andern Ende des Zimmers saß an einem hohen Pulte der älteste Sohn, Frank's Schulkamerad von Eton. Wenige Minuten, ehe Frank's lautes Pochen die Ruhe des Hauses gestört, hatte Randal von seinen Büchern aufgeschaut, um in ein sehr zerrissenes Exemplar des griechischen Neuen Testamentes zu blicken, worin sein Bruder Oliver eine Schwierigkeit gefunden hatte die er von Randal gelöst zu sehen wünschte.

Während das Gesicht des jungen Etonianers dem Lichte zugekehrt war, würde der erste Anblick dem Beschauer eine wehmüthige, aber achtungsvolle Theilnahme eingeflößt haben; denn die Züge hatten bereits den fröhlichen Charakter der Jugend verloren – es war sogar schon eine Furche auf der Stirne sichtbar, die Linien der Ermattung zeigten sich unter den Augen und um den Mund herum, und der gelblichen Gesichtsfarbe entsprachen die blassen Lippen. Jahre eifrigen Studiums hatten bereits den Keim manchen Gebrechens und mancher Schmerzen in diesen zarten Organismus gesäet; wer aber länger diese Züge studirt hätte, dessen Mitleid würde bald einem andern unheimlichen Gefühle – einer Art von Furcht – weichen. Es lag so viel ruhige, kalte Kraft in dem Ausdrucke, daß sie die Hinfälligkeit des Körpers Lügen strafte. Man erblickte darin das Zeugniß eines gebildeten Geistes, aber man fühlte, daß gerade in dieser Bildung etwas Furchtbares liege.

Einen merkwürdigen Kontrast zu diesem frühwelken, aber außerordentlich geistreichen Gesichte bot das blühende, runde Antlitz Oliver's, dessen matte blaue Augen fest auf diejenigen seines Bruders geheftet waren, als ob er denselben einen Schimmer des Wissens entlocken wollte, welches kalt und klar aus ihnen sprach.

Bei Frank's Pochen fingen Olivers eben erwähnte blaue Augen voll Erwartung an zu funkeln, und er verließ hastig seines Bruders Seite. Das kleine Mädchen schüttelte die Haare auf dem Gesicht und starrte ihre Mutter ängstlich und verwundert an.

Der junge Student runzelte die Stirn und kehrte langsam zu seinen Büchern zurück.

»Gütiger Himmel!« rief Mrs. Leslie, »wer kann das nur sein? Oliver, geh' im Augenblick vom Fenster weg; man kann dich ja sehen! Juliet! schnell – zieh die Klingel! – nein, geh' nach der Treppe und rufe hinunter ›nicht zu Hause‹. Auf jeden Fall ›nicht zu Hause‹,« wiederholte Mrs. Leslie aufgeregt, denn das Blut der Montfydget war in Wallung.

Eine Minute darauf vernahm man Frank's laute Knabenstimme deutlich an der äußern Thüre.

Randal fuhr leicht zusammen.

»Das ist Frank Hazeldean's Stimme. Ich möchte ihn gerne sehen, Mutter.«

»Ihn sehen?« wiederholte Mrs. Leslie erstaunt. »Ihn sehen! wenn das Zimmer in solchem Zustande ist!«

Randal hätte erwidern können, daß das Zimmer in keinem schlimmern Zustande sich befinde, als gewöhnlich; aber er sagte nichts. Eine leichte Röthe überflog auf einen Augenblick sein blasses Gesicht, dann stützte er den Kopf auf die Hand und preßte die Lippen fest zusammen.

Die äußere Thüre schloß sich mit einem widrigen, ungastlichen Knarren, und eine Magd in Schlappschuhen, eine Karte zwischen den Fingern haltend, trat in das Zimmer.

»Für wen ist die Karte? Gib her, Jenny,« rief Mrs. Leslie.

Allein Jenny schüttelte den Kopf, legte die Karte neben Randal auf das Pult und verschwand, ohne ein Wort zu sagen.

»O, sieh nur, Randal, sieh!« rief Oliver, der wieder an's Fenster gesprungen war; »welch' ein hübscher, grauer Pony!«

Randal blickte nicht nur auf, sondern trat sogar entschlossen an das Fenster und betrachtete einen Augenblick den feurigen Pony sowohl, als den fein gekleideten Reiter. Dabei wechselte der Ausdruck in seinen Zügen schneller, als an einem stürmischen Tage die Wolken am Himmel hinfliegen. Zuerst drückte sich Neid und Unzufriedenheit in der aufgeworfenen Lippe und dem finstern Blicke aus; dann klärte sich der letztere auf, und in dem stolzen Lächeln war Hoffnung und hohes Selbstgefühl nicht zu verkennen. Hierauf aber wurde aufs Neue Alles kalt, starr und finster – Randal kehrte an sein Pult zurück, setzte sich entschlossen nieder und murmelte halblaut vor sich hin –

»Nun wohl – Wissen ist Macht


Viertes Kapitel.

Mrs. Leslie stand rasch und unruhig auf, lehnte sich über Randals Schulter und las die Karte. Die lateinische Druckschrift nachahmend erblickte man zuerst, mit Feder und Tinte geschrieben, MR. FRANK HAZELDEAN; darüber aber waren eilig und kaum leserlich die Worte gekritzelt:

»Lieber Leslie – ich bedaure sehr, daß du nicht zu Hause bist – komme doch zu uns, ich bitte dich!«

»Du wirst hingehen, Randal?« fragte Mrs. Leslie nach einer Weile.

»Ich weiß noch nicht.«

»Du kannst wohl gehen; du bist wie ein Gentleman gekleidet und darfst dich überall sehen lassen; bei dir ist's anders wie bei den Kindern,« setzte sie mit einem fast verächtlichen Blicke aus Oliver's grobe, fadenscheinige Jacke und Juliettens zerrissenes Kleidchen hinzu.

»Alles, was ich habe, verdanke ich Mr. Egerton und ich muß mich nach seinen Wünschen richten; er steht nicht gut mit den Hazeldeans.« Dann seinen Bruder ansehend, der etwas beschämt dastand, setzte er mit einem seltsamen Ausdruck hochmütiger Freundlichkeit hinzu: »Was ich später einmal besitzen werde, Oliver, das werde ich mir selbst zu verdanken haben, und wenn ich emporkomme, will ich auch die Meinigen emporheben.«

»Lieber Randal,« sagte Mrs. Leslie, ihn zärtlich auf die Stirne küssend, »was du für ein gutes Herz hast!«

»Nein, Mutter! meine Bücher lehren mich nicht, daß man in der Welt mit einem guten Herzen vorwärts kommt, sondern mit einem harten Kopfe,« erwiderte Randal mit rauher Offenheit und in verächtlichem Tone. »Doch ich kann jetzt nicht mehr arbeiten; komm mit mir hinaus, Oliver!«

Indem er dies sagte, entzog er seine Hand derjenigen seiner Mutter und verließ das Zimmer.

Als Oliver ihn einholte, war Randal schon auf die Gemeindewiese gelangt und setzte, anscheinend ohne auf seinen Bruder zu achten, mit raschen Schritten und in tiefes Schweigen versunken seinen Weg fort. Endlich blieb er auf einer kleinen Anhöhe unter dem Schatten einer alten Eiche stehen, von wo aus man das verfallene Haus, die alte, baufällige Kirche und das öde, trübselige Dorf überschauen konnte.

»Oliver,« sprach Randal mit geschlossenen Zähnen, so daß seine Stimme einen zischenden Ton bekam, »unter diesem Baume habe ich zuerst den Entschluß gefaßt –«.

Er hielt inne.

»Welchen Entschluß, Randal?«

»Eifrig zu lernen – denn Wissen ist Macht!«

»Aber du lernst ja so gerne.«

»Ich!« rief Randal. »Meinst du, als Wolsey und Thomas-à-Becket homas Wolsey (um 1475-1530), englischer Staatsmann, römisch-katholischer Erzbischof von York und Kardinal; als englischer Lordkanzlers viele Jahre der mächtigste Mann Englands. – Thomas Becket (1118-1170), Lordkanzler Englands und von 1162 bis 1170 Erzbischof von Canterbury; wurde 1170 im Auftrag des Thronfolgers und Mitkönigs Heinrichs des Jüngeren ermordet. Priester wurden, sie hätten Freude daran gehabt, ihren Rosenkranz und ihre Ave Maria's herzusagen? Ich Freude am Lernen!«

Oliver blickte seinen Bruder groß an; die historischen Anspielungen gingen über seinen Horizont.

»Du weißt,« fuhr Randal fort, »daß wir Leslie's nicht immer solch arme, bettelhafte Edelleute waren, wie heutzutage. Du weißt, in Grosvenor Square wohnt ein sehr, sehr reicher Mann. Sein Vermögen kommt von einer Leslie her; dieser Mann ist mein Beschützer, Oliver, und er ist sehr gütig gegen mich.«

Randal lächelte bitter, indem er so sprach. »Komm weiter,« sagte er nach einer Pause – »komm weiter!« und abermals beschleunigten sie ihre Schritte und gingen schweigend neben einander her.

Endlich gelangten sie an einen kleinen, seichten Bach, in welchem einige große Steine lagen, so daß die Knaben trockenen Fußes hinüber kamen.

»Willst du mir nicht jenen Ast abreißen, Oliver?« sagte Randal plötzlich, auf einen Baum zeigend. Oliver gehorchte mechanisch. Randal streifte die Blätter und Nebenzweige ab, so daß zuletzt nur noch eine Gabel übrig blieb, mit welcher er sich anschickte, die Trittsteine wegzuschaffen.

»Was machst du da, Randal?« fragte ihn Oliver verwundert.

»Wir sind jetzt auf der andern Seite des Baches und gehen einen andern Weg zurück. Wir brauchen also die Steine nicht mehr – darum fort damit!«


Fünftes Kapitel.

Am Morgen nach dem Besuche, den Frank Hazeldean zu Rood Hall abgestattet hatte, saß der sehr ehrenwerthe Audley Egerton, Parlamentsmitglied, geheimer Rath und Staatsminister, in seiner Bibliothek und erwartete die Postsendungen, ehe er sich in sein Bureau begab. Inzwischen schlürfte er seinen Thee und durchflog die Zeitungen mit jenem raschen, halb geringschätzenden Blicke, womit erfahrene Staatsmänner Lob und Tadel des vierten Standes zu betrachten pflegen.

Zwischen Mr. Egerton und seinem Stiefbruder findet wenig, eigentlich gar keine Aehnlichkeit Statt, ausgenommen, daß Beide von hoher, kräftiger, ächt englisch muskulöser Gestalt sind; und selbst darin zeigt sich bald eine Verschiedenheit, denn des Squires athletische Form beginnt bereits sich zu jener sinnlichen Körperfülle zu runden, welche die natürliche Entwicklung zufriedener Menschen zu sein scheint, wenn sie sich dem mittleren Alter nähern. Audley hingegen ist eher zum Magerwerden geneigt, und sein Wuchs, obgleich seine Muskeln fest wie Eisen sind, ist schlank genug, um den Ideen der Hauptstadt in Bezug auf Eleganz vollständig zu entsprechen. Anzug, Haltung – kurz die ganze Erscheinung ist diejenige eines Londoners. In seiner Kleidung zeigt sich mehr Rücksicht auf die Mode, als dies bei den geschäftigen Mitgliedern des Unterhauses der Fall zu sein pflegt; aber Audley Egerton ist auch immer etwas mehr gewesen, als ein geschäftiges Parlamentsmitglied. In der besten Gesellschaft hat er immer als ein Mann von Bedeutung gegolten, und eines der Geheimnisse, denen er seine Erfolge im Leben verdankte, war, daß er stets den Ruf eines »ächten Gentlemans« genoß.

Während er sich so über die Zeitungen niederbeugt, ist ein gewisser Adel in der Haltung des schöngeformten Kopfes nicht zu verkennen. Die ungeachtet eines röthlichen Schimmers dunkelbraunen Haare sind hinten kurz geschnitten und vorn gegen den Scheitel zu etwas gelichtet, wodurch die gebieterische Stirne noch mehr hervortritt. Sein regelmäßiges Profil zeichnet sich durch jene Art von Schönheit aus, welche Männern imponirt und dem andern Geschlecht gefällt und daher – im Gegensatz zu dem hübschen Gesichte eines bloßen Stutzers – von wirklichem Vortheil im öffentlichen Leben ist. Es zeigt starke, männliche, etwas strenge Züge. Aber der Ausdruck ist weder offen, wie derjenige des Squires, noch kalt und verschlossen, gleich demjenigen des geistreichen jungen Leslie, sondern zurückhaltend und würdevoll, auf Selbstbeherrschung deutend, wie es der Physiognomie eines Mannes geziemt, der gewohnt ist, vorher zu denken, ehe er redet. Bei Audley Egerton's Anblick wundert man sich nicht, wenn man hört, daß er kein blumenreicher Redner, kein beißender Controversist, wohl aber ein »gewichtiger Sprecher« ist. Er hat sehr viel gelesen, aber nicht, um seine Vorträge mit erborgten, gelehrten Zierrathen aufzuschmücken. Humor besitzt er nicht viel, dagegen jene Art von Witz, der zu einer ernsten, schneidenden Ironie wesentlich ist. Seine Phantasie kann nicht besonders lebhaft, sein Urtheil nicht ungewöhnlich sein und schlau genannt werden; allein wenn er mit seinen Reden auch nicht blendet, so langweilt er doch nie damit – dazu ist er zu sehr Weltmann.

Audley Egerton findet überall Anerkennung als ein Mann von gesundem Verstande und richtigem Urtheil. Und wie er jetzt die Zeitungen bei Seite legt, wobei sein Gesicht einen milden Ausdruck gewinnt, wird sich Niemand darüber wundern, daß er bei den Frauen sehr beliebt gewesen ist und noch jetzt in Gesellschaftszimmern und Boudoirs großen Einfluß besitzt. Wenigstens rief es bei Niemand Erstaunen hervor, als verlautete, daß sich die reiche Erbin Clementine Leslie, Verwandte und Mündel Lord Lansmere's, eine junge Dame, welche schon drei Grafen und den muthmaßlichen Erben eines Herzogthums abgewiesen hatte, in Liebe zu Audley Egerton verzehre.

Lord Lansmere und seine Gemahlin hatten den natürlichen Wunsch gehegt, Miß Leslie möchte sich mit ihrem Sohne verbinden. Allein der junge Lord, dessen Ansichten über die Ehe ebenso überspannt sein mochten, wie sein ganzes übriges Wesen, ließ sich nicht bewegen, ihr einen Antrag zu machen; ja er war, wie man in der Stadt behauptete, der Hauptvermittler gewesen, um die Partie zwischen Clementina und seinem Freunde Egerton zu Stande zu bringen; denn ungeachtet der Neigung der jungen Erbin bedurfte es einer Vermittlung, um die Bedenklichkeiten, welche Egerton's Zartgefühl erhob, zu beseitigen. Zum ersten Mal gestand er nämlich, daß sein Vermögen nicht so bedeutend sei, als man allgemein vermuthe, weßhalb er sich mit dem Gedanken nicht befreunden könne, seiner Gattin, und wenn er sie auch noch so sehr verehre und bewundere, Alles zu verdanken. L'Estrange war mit seinem Regiment‹ abwesend, als diese Bedenken geltend gemacht wurden; allein auch im Auslande unterstützte er durch Briefe an seinen Vater und an seine Cousine die Heirathsverhandlungen, und noch ehe ein Jahr nach seiner Erwählung für Lansmere vorüber war, führte Audley die reiche Erbin als seine Braut heim.

Ihr Vermögen war hauptsächlich in Fonds angelegt und die darüber getroffenen Bestimmungen für den Gatten ganz besonders günstig, denn obgleich das Kapital zu Beider Lebzeiten unangetastet bleiben sollte – zum Vortheile der etwa zu erwartenden Kinder – so sollte nach dem Tode eines der Ehegatten – wenn keine Nachkommen vorhanden – das ganze Vermögen ungeschmälert dem überlebenden Theil anheimfallen. Indem Miß Leslie diese Klausel nicht nur genehmigte, sondern selbst vorschlug und damit Mr. Egerton einen Beweis ihres hochherzigen Vertrauens gab, wurde niemand von ihr beeinträchtigt; denn sie besaß keine nahen Verwandten, welche Ansprüche auf ihre Erbschaft hätten machen können. Ihr nächster Verwandter war Harley L'Estrange, und wenn er zufrieden war, so hatte Niemand sonst ein Recht, sich zu beschweren. Die Leslies von Rood Hall waren, wie wir bald sehen werden, nur in sehr entferntem Grade mit ihr verwandt.

Erst nach seiner Vermählung fing Mr. Egerton an, thätigen Antheil an den Parlamentsverhandlungen zu nehmen. Er hatte in der That keinen günstigeren Moment finden können, um eine Laufbahn des Ehrgeizes zu beginnen. Seine Reden über den Zustand des Landes gewannen um so mehr Bedeutung, als seine eigenen Interessen so sehr dabei betheiligt waren, und sein Talent fand eine mächtige Stütze in der fürstlichen Pracht seines Haushaltes in Grosvenor Square in seiner gesicherten Lebensstellung und in dem Rufe eines in Wirklichkeit sehr großen Vermögens, das im Munde des Volkes zu den Schätzen eines Krösus anwuchs.

Audley Egerton's Erfolge im Parlament übertrafen alle Erwartungen, die man früher von ihm gehegt hatte. Gleich von Anfang an nahm er im Hause jene Stellung ein, welche nur durch einen feinen Takt und große Weltkenntniß erworben und von dem Vorwurfe der Unhaltbarkeit und Zweideutigkeit rein erhalten werden kann, die aber, einmal gesichert, um ihrer seltenen Unabhängigkeit willen um so mehr imponirt: nämlich die Stellung eines Gemäßigten, der zwar so weit einer Partei angehört, als nöthig ist, um an ihr eine Stütze zu haben, allein dennoch unabhängig genug sich erhält, um bei gewissen Fragen sein Wort und seine Stimme zu einem Gegenstande der Spannung und Besorgniß zu machen.

Da er zu den Tories hielt (das Wort »conservativ«, welches besser für ihn gepaßt hätte, war damals noch nicht gebräuchlich), so trennte er sich von der Partei des Landvolkes und bezeigte stets große Achtung vor den Ansichten bedeutender Städte. Die Journalisten pflegten seine Meinungen mit dem Beiworte »aufgeklärt« zu bezeichnen. Ohne je der Leidenschaft des Tages zu sehr vorauszueilen, blieb er auch nie hinter der Bewegung desselben zurück; und bei der Berechnung der Möglichkeiten bewies er jene vollendete Meisterschaft, welche der Politiker zuweilen durch den Umgang mit der Welt erwirbt – er wußte die Aussichten für oder wider eine bestimmte Frage, die im Laufe einer gewissen Zeit zum Abschluß kommen mußte, mit solchem Scharfsinne zu berechnen, daß er den eigentlichen Punkt stets im rechten Moment zwischen Wind und Wetter zu messen verstand. Er war für jene veränderliche Witterung, welche man »die öffentliche Meinung« nennt, ein so guter Barometer, daß er sich zu einem Mitarbeiter an der »Times« geeignet haben würde.

Bald, und zwar nicht absichtslos, gerieth er mit seinen Wählern von Lansmere in Streit; auch besuchte er diesen Wahlbezirk nie wieder – vielleicht, weil der Schmähbrief des Squire und der Umstand, daß sein eigenes Bild von den ackerbauenden Wählern auf dem Kornmarkte verbrannt worden war, unangenehme Erinnerungen in ihm erweckten. Allein gerade diejenigen Reden, welche in Lansmere die tiefste Entrüstung hervorgerufen, hatten in einer der bedeutendsten Handelstädte so große Anerkennung gefunden, daß ihm dieselbe bei der nächsten Wahl die Ehre erwies, ihn zu ihrem Vertreter zu erwählen. In jenen Tagen – vor der Reformbill Der »Reform Act« von 1832, auch als »Great Reform Act« bezeichnet, war ein Gesetz, mit dem die Wahlkreiseinteilung für die Wahl des britischen Parlaments zum ersten Mal seit fast 150 Jahren geändert wurde. Nötig geworden waren die Änderungen vor allem durch das Phänomen der Rotten boroughs (»verfaulte Bezirke«) – Wahlkreise, deren Wählerzahl im Verlauf der Jahre durch das Zensuswahlrecht so stark gesunken war, dass die wenigen verbliebenen Wählerstimmen im Parlament weit übergewichtet waren. – Pflegten große Handelsstädte nur Männer von hoher Bedeutung zu ihren Abgeordneten zu ernennen, und es war in der That ein ehrenvoller Auftrag, im Namen der fürstlichen Kaufleute Englands zu sprechen.

Mrs. Egerton überlebte ihre Vermählung nur wenige Jahre und hinterließ, da zwei Kinder, die sie geboren hatte, früh gestorben waren, keine Nachkommenschaft. Das ganze Vermögen der Hingeschiedenen ging daher ohne Beschränkung und Controle auf ihren Gemahl über.

Wie tief auch der Schmerz des Wittwers sein mochte, so verschmähte er es jedenfalls, ihn der Welt zu zeigen, wie denn überhaupt Audley Egerton schon früh gelernt hatte, seine innersten Regungen zu verbergen. Er hielt sich einige Monate auf dem Lande auf, Niemand wußte wo? und als er zurückkehrte, war eine tiefe Furche auf seiner Stirne sichtbar, sonst aber keine Aenderung in seinen Gewohnheiten und in seinem sonstigen Treiben zu bemerken, ausgenommen, daß er bald darauf einwilligte, ein Staatsamt, das ihm angetragen wurde, zu bekleiden, und mehr als je sich in die Geschäfte vertiefte.

Mr. Egerton war immer äußerst freigebig in Geldangelegenheiten gewesen. Das Vermögen eines reichen Staatsmannes wird gar vielfach in Anspruch genommen, und Niemand befriedigte diese Ansprüche auf eine so fürstliche Weise, wie Audley Egerton. Allein unter all seinen Handlungen der Wohlthätigkeit schien keine lobenswerther, als die Gunst und Freigebigkeit, welche er dem Sohne Mrs. Leslie's von Rood Hall, eines armen, entfernten Verwandten seiner Gattin, zu Theil werden ließ.

Etwa vier Generationen früher lebte ein gewisser Squire Leslie, ein Mann, welcher nicht nur große Güter, sondern auch einen thätigen Geist besaß. Da er Ursache hatte, mit seinem ältesten Sohne unzufrieden zu sein, so wurde dieser zwar nicht von ihm enterbt, allein er vermachte die Hälfte seiner Güter einem jüngern Sohne.

Der Eifer und die Talente des Letzteren rechtfertigten die Vorliebe des Vaters. Er vermehrte sein Vermögen und verstand es, durch öffentliche Dienste und eine vornehme Verbindung sich eine ausgezeichnete Stellung zu sichern. Seine Nachkommen folgten seinem Beispiele und gehörten zu den ersten Mitgliedern des englischen Unterhauses, bis nach dem Tode des letzten männlichen Familiengliedes als einzige Erbin und Vertreterin dieses Zweiges, Miß Clementina Leslie, übrig blieb, welche nachher Mr. Egerton's Gattin wurde.

Mittlerweile hatte der ältere Sohn jenes obenerwähnten Squires einen großen Theil seines Erbes vergeudet und verpraßt und durch gemeine Sitten und schlechte Gesellschaft den Namen, dessen Stammhalter er war, herabgewürdigt.

Wie er, so trieben es auch seine Nachkommen, bis zuletzt Randal's Vater, Mr. Maunder Slugge Leslie, nichts übrig blieb, als das alte verfallene Stammschloß und die elenden Ländereien, welche es umgaben.

Obschon aller Verkehr zwischen den beiden Zweigen der Familie aufgehört hatte, fühlte doch der jüngere stets eine gewisse Achtung vor dem ältern, als dem Haupte der Familie. Auch vermuthete man, daß Mrs. Egerton auf ihrem Sterbebette ihre verarmten Verwandten und Namensvettern der Fürsorge ihres Gatten empfohlen habe. Denn als Audley einige Monate nach Mrs. Egerton's Tode wieder in London erschien, sandte er an Mr. Maunder Slugge Leslie die Summe von fünftausend Pfund mit dem Bemerken, daß die Verstorbene kein geschriebenes Testament hinterlassen, dagegen mündlich ihrem Verwandten das gedachte Legat bestimmt habe; zugleich bitte Mr. Egerton um die Erlaubniß, für die Erziehung des ältesten Sohnes sorgen zu dürfen.

Mr. Maunder Slugge Leslie hätte mit diesen fünftausend Pfunden viel zur Verbesserung seines kleinen Gutes thun, oder auch durch Anlegung in dreiprocentigen Staatspapieren aus den Interessen einen wichtigen Zuschuß für seine Bequemlichkeit erzielen können. Ein benachbarter Sachwalter jedoch, der das Legat ausgewittert hatte, wußte ihm dasselbe unter dem Vorwande abzulocken, daß er es bei einer Kanalbaugesellschaft sehr vorteilhaft anlegen könne, hatte aber kaum die fünftausend Pfund in seinen Klauen, als er damit nach Amerika durchging.

Randal, welchen Mr. Egerton in eine treffliche Vorbereitungsschule gethan, hatte indessen wenig Fleiß oder Talent an den Tag gelegt; allein kurze Zeit vor seinem Abgang aus der Anstalt kam an dieselbe als Lehrer der alten Klassiker ein junger ehrgeiziger Mann, der in Oxford studirt hatte, und dessen Eifer, mit großem Lehrtalente gepaart, auf viele Zöglinge und besonders auf Randal Leslie einen tiefen Eindruck machte. Er unterhielt sich auch außer den Unterrichtenden mit den Schülern über die Vortheile des Studirens und lieferte bald darauf an sich selbst einen Beweis für die Richtigkeit seiner Behauptung; denn er gab ein griechisches Schauspiel mit solch scharfsinnigen und gelehrten Noten heraus, daß ihn sein Collegium, dessen Mißfallen er sich durch einige geringfügige Unregelmäßigkeiten zugezogen hatte, in seinen ehrwürdigen Schooß zurückrief, indem es ihm eine Collegiatur anbot. Hierauf empfing er die Ordination, wurde Professor am Collegium, zeichnete sich abermals durch eine Abhandlung über den griechischen Accent aus, erhielt eine sehr einträgliche Pfründe und galt als ein Mann, der es noch bis zum Bischof bringen werde. Dieser junge Mann also flößte Randal seinen Durst nach Kenntnissen ein, und als der Knabe später nach Eton kam, zeigte er solchen Fleiß und Eifer, daß sein Ruhm bald zu Audley's Ohren drang. Letzterer, der, wie alle ehrgeizigen Menschen, eine lebhafte Theilnahme für Talent und besonders für Willenskraft empfand, nahm daraus Anlaß, seinen Schützling in Eton zu besuchen. Von dieser Zeit an bewies Mr. Egerton eine lebhafte, fast väterliche Theilnahme für den ausgezeichneten Etonianer, welcher in den Ferien stets einige Tage bei ihm zubringen durfte.

Ich habe gesagt, daß Egerton's Benehmen gegen diesen Knaben lobenswerther war, als die meisten edelmüthigen Handlungen, welche man von ihm rühmte, weil er dafür keinen Beifall von der Welt zu ernten hoffen durfte. Was ein Mensch für seine Verwandten thut, macht nicht jenen éclat, welcher die bei öffentlichen Gelegenheiten bewiesene Freigebigkeit umgibt. Entweder kümmern die Leute sich gar nicht darum, oder halten es stillschweigend für bloße Pflichterfüllung. Auch war die Bemerkung des Squires, daß Randal Leslie mit den Hazeldeans noch näher verwandt sei, als mit Mrs. Egerton, ganz richtig, denn Randal's Großvater hatte wirklich eine Miß Hazeldean geheirathet (die vornehmste Verbindung, deren sich dieser Zweig der Familie seit der obenerwähnten Scheidung rühmen konnte). Allein Audley Egerton schien diese Thatsache ganz zu übersehen. Da er selbst nicht von den Hazeldeans abstammte, so kümmerte er sich nicht im Mindesten um ihre Genealogie; auch trug er Sorge, den Leslies einzuschärfen, daß seine Großmuth gegen sie nur der Achtung für das Andenken seiner Gattin und ihrer Verwandten zuzuschreiben sei.

Nichtsdestoweniger hatte der Squire in Audley's Freigebigkeit gegen die armen Leslies einen Vorwurf seines »entfernten« Bruders wegen seiner Vernachlässigung dieser herabgekommenen Verwandten sehen wollen, und fühlte sich hauptsächlich aus diesem Grunde bei jeder Erwähnung von Randal's Namen unangenehm berührt. Die Leslie's von Rood waren aber in der That so außer allen Verkehr gekommen, daß der Squire ihr Dasein völlig vergessen hatte, bis Randal der Schützling seines Bruders wurde, worauf der Squire sich Vorwürfe machte, daß ein Anderer, als er selbst, das Haupt der Hazeldeans, dem Enkel einer Hazeldean seine hülfreiche Hand bieten mußte.

Nachdem wir nun, freilich vielleicht etwas zu weitläufig, Audley Egerton's Stellung, der Welt und seinem jungen protégé gegenüber, auseinandergesetzt haben, können wir ihm erlauben, seine Briefe in Empfang zu nehmen und zu lesen.


Sechstes Kapitel.

Mr. Egerton überblickte die Beuge der vor ihm liegenden Schreiben, erbrach einige derselben und warf sie, kaum gelesen, in den Papierkorb. Männer der Oeffentlichkeit erhalten so seltsame, unnöthige Briefe, daß ihr Papierkorb nie leer wird. Briefe von Finanzleuten (nicht Männer vom Fach, sondern Dilettanten), welche neue Methoden vorschlagen, um die Nationalschuld zu tilgen; unfrankirte Briefe aus Amerika mit der Bitte um ein Autograph; Briefe von zärtlichen Müttern auf dem Lande, die irgend einen Wundersohn zu einer Stelle im königlichen Dienste empfehlen; Schreiben von Freigütern gegen Bigotterie; Schreiben von Frömmlern gegen Freigeistern; Briefe mit der Unterschrift Brutus Redivivus Der wiederauferstandene Brutus (der Mörder Cäsars)., welche die angenehme Nachricht enthalten, daß der Schreiber einen Dolch für Tyrannen besitzt, wenn die dänischen Ansprüche nicht unverzüglich befriedigt werden; Briefe, mit Mathilde oder Caroline unterzeichnet, worin gesagt wird, daß sie das Bildniß des berühmten Mannes auf der Anstellung gesehen, und daß ein für seine Reize empfängliches Herz zu finden sei nro *** Piccadilly; Briefe von Bettlern, Betrügern, Verrückten, Spekulanten, Mäklern – lauter Futter für den Papierkorb.

Aus der so gesichteten Correspondenz las Mr. Egerton zuerst die Geschäftsbriefe heraus, welche er methodisch in eine Abtheilung seines Taschenbuches steckte; dann kam die Reihe an die Briefe, welche ihn persönlich betrafen, und die er gleichfalls mit großer Sorgfalt in einem andern Fache unterbrachte. Dieser Letztern waren es nur drei: einer von seinem Rentmeister, ein andrer von Harley L'Estrange und ein dritter von Randal Leslie. Er pflegte seine Correspondenz auf seinem Bureau zu besorgen, und dahin machte er sich wenige Minuten später auf den Weg. Mancher Vorübergehende wandte sich um, der kräftigen Gestalt nachzuschauen, welche ungeachtet der drückenden Sommerhitze den schwarzen Frack fest zugeknöpft hatte, was der stolzen Haltung und breiten, vollen Brust des schönen Staatsmannes vortrefflich stand. Beim Umbiegen in die Parlamentsstraße gesellte sich einer seiner Collegen zu ihm, der sich ebenfalls an die Sorgen und Mühen des Tages begab.

Nach einigen Bemerkungen über die letzte Debatte sagte dieser: » A propos, können Sie nicht nächsten Sonnabend bei mir speisen? Sie werden Lord Lansmere treffen, der nach London kömmt, um Montag für uns zu stimmen.«

»Ich habe zwar selbst einige Personen zu Tische geladen,« antwortete Egerton; allein ich will sie bitten, einen andern Tag zu kommen. Ich sehe Lord Lansmere zu selten, als daß ich eine Gelegenheit versäumen möchte, mit einem Manne, den ich so sehr verehre, zusammenzutreffen.«

»So selten! Wohl wahr; er kömmt nicht oft nach London; aber warum besuchen Sie ihn nicht auf dem Lande? Ein angenehmes, altmodisches Haus – gute Jagd –«

»Mein lieber Westbourne, sein Haus ist für mich › nimium vicina CremonaeNach Virgil, Bucolica, Ecl. IX, 28: »Mantua, vae!, miserae nimium vicina Cremonae!« (Ach Mantua, zu nah dem unglücklichen Cremona!) bemerkte Swift, als er mit ansah, wie eine Frau versehentlich mit ihrem Kleid eine Violine vom Tisch fegte. – nahe bei einem Wahlorte, wo ich in effigie In effigie (wörtl. im oder als Bildnis): Hinrichtungen, bei denen der Täter flüchtig war, wurden symbolisch an dessen Bildnis durchgeführt. verbrannt worden bin.«

»Ha, ha! Ja ich erinnere mich recht wohl, Sie kamen zuerst für diesen kleinen Bezirk ins Parlament. Aber Lansmere selbst hat sich doch niemals über Ihr Votum aufgehalten – oder?«

»Er benahm sich sehr edel und sagte, er habe sich nie angemaßt, mich als sein Sprachrohr zu betrachten; außerdem stehe ich mit L'Estrange auf sehr vertrautem Fuße.«

»Kömmt denn dieser wunderliche Mensch gar nicht mehr nach England zurück?«

»Er pflegt seine Eltern alle Jahre auf einige Tage zu besuchen, und begibt sich dann wieder auf den Kontinent.«

»Ich sehe ihn niemals.«

»Er kömmt im September oder October, während Sie natürlich auf dem Lande sind, und trifft in London mit seiner Familie zusammen.«

»Warum besucht er seine Eltern denn nicht aus ihrem Landsitze?«

»Wer nur ein Paar Tage alle Jahre in England zubringt, muß wohl in London viel zu besorgen haben, sollte ich meinen.«

»Ist er noch immer gleich geistreich und unterhaltend?«

Egerton nickte bejahend.

»Welche Auszeichnungen hätte er sich nicht erwerben können!« fuhr Lord Westbourne fort.

»Welche Auszeichnungen hat er sich nicht erworben!« versetzte Egerton förmlich. »Als Offizier von beispielloser Tapferkeit ist er zugleich ein Gelehrter vom feinsten Geschmack und ein vollendeter Gentleman, der nicht seines gleichen hat.«

»Es freut mich, in dieser übelwollenden Zeit einen Mann den andern mit solcher Wärme loben zu hören,« bemerkte Lord Westbourne. »Allein wenn auch L'Estrange, wie ich nicht zweifle, alle Vorzüge besitzt, die Sie von ihm rühmen, so werden Sie doch wohl zugeben, daß er sein Leben vergeudet, indem er es beständig in der Fremde zubringt.«

»Indem er versucht, glücklich zu sein, Westbourne? Sind Sie gewiß, daß nicht vielmehr wir unser Leben vergeuden? Doch ich kann Ihre Antwort nicht abwarten. Wir stehen an der Thüre meines Kerkers.«

»Sonnabend also, nicht wahr?«

»Ja, es bleibt dabei. Guten Tag!«

Eine Stunde und darüber verbrachte Egerton in Staatsgeschäfte vertieft; dann benützte er einen Augenblick der Ruhe (während er auf einen Bericht wartete, den er einem seiner Sekretäre aufgetragen hatte), um seine Briefe zu beantworten. Die geschäftliche Correspondenz war bald erledigt, und nachdem er seine Antworten bei Seite geworfen, um sie von einem Untergebenen siegeln zu lassen, nahm er die ihn persönlich betreffenden Schreiben aus seiner Brieftasche.

Zuerst zog er den Bericht seines Rentmeisters in Erwägung; er war sehr lang; die Antwort darauf bestand jedoch nur in drei Zeilen. Pitt selbst konnte für seine eigenen Interessen und Angelegenheiten nicht gleichgültiger sein und doch galt Audley Egerton bei seinen Feinden als Egoist!

Der nächste Brief war an Randal Leslie, und auch dieser, obgleich etwas länger, war nichts weniger als weitschweifig. Er lautete:

»Lieber Mr. Leslie!

Ich erkenne Ihr Zartgefühl, welches Sie antrieb, mich zu fragen, ob Sie Frank Hazeldeans Einladung, ihn in der Halle zu besuchen, annehmen sollen oder nicht. Da er Sie aufgefordert hat, so sehe ich keinen Grund, abzulehnen. Aber leid würde es mir thun, wenn es den Anschein gewänne, als ob Sie sich aufdrängen wollten, und als eine allgemeine Regel möchte ich bemerken, daß ein junger Mann, der sich selbst seinen Weg in der Welt zu bahnen hat, am besten thut, allen vertrauten Umgang mit Altersgenossen zu vermeiden, welche nicht dieselbe Geistesrichtung haben, oder verwandte Zwecke verfolgen.

Ich wünsche, daß Sie, sobald dieser Besuch gemacht ist, nach London kommen. Die Zeugnisse, welche ich über Ihre Fortschritte in Eton erhalten habe, machen nach meiner Ansicht Ihre Rückkehr dorthin unnöthig. Wenn Ihr Vater damit einverstanden ist, so meine ich, Sie sollten im nächsten Semester die Universität von Oxford beziehen. Indessen habe ich einen Collegiaten von Baliol angeworben, um Ihre Studien zu leiten. Nach dem Rufe zu urtheilen, den Sie sich in Eton erworben haben, meint derselbe, es werde Ihnen alsbald gelingen, ein Stipendium in seinem Collegium zu erlangen. Wenn dies der Fall ist, so sehe ich Ihre Laufbahn als gesichert an.

Ihr

aufrichtiger            
und wohlmeinender Freund
A. E.                 

Der geneigte Leser wird wohl einen gewissen förmlichen Ton in diesem Briefe bemerken. Mr. Egerton nennt seinen Schützling nicht »lieber Randal,« wie es wohl natürlich scheinen möchte, sondern kalt und steif »lieber Mr. Leslie.« Auch gibt er zu verstehen, daß der junge Mann sich selbst seinen Weg in der Welt bahnen muß. Sollte dies vielleicht allzu sanguinische Hoffnungen auf eine reiche Erbschaft niederschlagen, welche seine Großmuth erregt haben konnte?

Der Brief an Lord L'Estrange war von ganz verschiedener Art, als die vorhergehenden. Er war lang und enthielt eine Menge jener traulichen Plaudereien und kleinen Neuigkeiten, welche einen Freund in der Fremde interessiren können. Es herrschte ein munterer Ton darin, als ob der Freund dadurch erheitert werden sollte; man fühlte, daß es die Antwort auf einen melancholischen Brief sein mußte – sie war von einem Hauche inniger Zuneigung, ja Zärtlichkeit durchweht, deren selbst Diejenigen, welche Audley Egerton am meisten zugethan waren, ihn kaum für fähig gehalten hätten. Bei alledem lag etwas Erzwungenes in dem Schreiben, obschon vielleicht nur der feine weibliche Tact dies erkannt haben würde. Jedenfalls hätte man vergebens jenes Sichgehenlassen, jene herzlichen Ergießungen darin gesucht, welche man in den Briefen zweier Jugendfreunde erwarten konnte, und die auch in den abgebrochenen, ungezwungenen Sätzen seines Correspondenten nicht fehlten. Doch worin äußerte sich dieser Zwang? Egerton schreibt geläufig genug, wo seine Feder leicht über Paragraphen dahin eilt, die sich auf Andere beziehen; allein Egerton spricht nicht von sich selbst – er vermeidet sorgfältig jede Anspielung auf die innere Welt seiner Gefühle.Vielleicht aber besitzt Audley Egerton gar kein Gefühl? Wie kann man erwarten, daß ein ernster Staatsmann, der seinen Vormittag in Downingstreet zubringt und die Nächte durchwacht, um in einem Comite Gesetzesentwürfe zu berathen, in demselben Style schreiben werde, wie ein müßiger Träumer unter den Pinien von Ravenna oder an den Ufern des Comersees An diesen verbringt Ernest Maltravers eine seiner Stationen in seinem Werdegang; siehe das dritte Buch des gleichnamigen Romans (1837) von Bulwer-Lytton.?

Audley hatte soeben seine Epistel, wie sie nun einmal war, geendet, als der aufwartende Diener die Ankunft einer Deputation aus einer gewerblichen Provinzialstadt anmeldete, welche auf zwei Uhr bestellt war. In ganz London gab es kein Bureau, wo man Deputationen weniger warten ließ, als in demjenigen, welchem Audley Egerton vorstand.

Die Abgesandten traten ein – ungefähr zwanzig Männer von mittlerem Alter und behaglichem Aussehen, die nichtsdestoweniger ihre Beschwerden hatten und ihre Interessen, sowie das Wohl des Landes durch eine Klausel in einem von Mr. Egerton angebrachten Gesetzesentwurf bedroht glaubten.

Der Bürgermeister der Stadt war der Wortführer; er sprach sehr gut, aber in einem Style, an den der würdevolle Staatsmann nicht gewohnt war – ohne Umstände, rund heraus, leicht und frei – nach Art der Amerikaner. Ueberhaupt lag etwas in dem Aeußern und in der Haltung des Bürgermeisters, was an einen Aufenthalt in der großen Republik erinnerte. Er war ein schöner Mann; allein er hatte den scharfen, herrischen Blick eines Menschen, der sich keinen Strohhalm um einen Präsidenten oder Monarchen bekümmert und sich der Freiheit freut, seine Meinung sagen und »seinen eigenen Neger auspeitschen« zu können.

Augenscheinlich stand er bei seinen Mitbürgern in großer Achtung, und Mr. Egerton besaß hinreichenden Scharfblick, um zu bemerken, daß der Bürgermeister ein eben so reicher, als beredter Mann sein mußte, da es ihm gelungen war, die Empfindlichkeit und Eifersucht zu überwinden, welche sein Ton bei seinen Standesgenossen zu reizen ganz geeignet war.

Mr. Egerton war viel zu weise, um an bloßen Manieren Anstoß zu nehmen, und obschon er etwas verwundert aufschaute, als seine Bemerkungen ziemlich geringschätzig aufgenommen wurden, so hielt er es doch nicht unter seiner Würde, überzeugenden Gründen nachzugeben. In den Vorstellungen des Bürgermeisters lag so viel gesunder Menschenverstand und Billigkeit, daß der Minister die höfliche Zusage gab, dieselben in reifliche Erwägung ziehen zu wollen.

Hierauf geleitete er die Deputation nach der Thüre; allein kaum war dieselbe geschlossen, als sie sich auf's Neue öffnete, und der Herr Bürgermeister allein wieder hereintrat, nachdem er seinen Gefährten draußen zugerufen: »Ich habe Mr. Egerton etwas zu sagen vergessen; warten Sie unten auf mich!«

»Nun, Herr Bürgermeister,« sagte Audley, auf einen Stuhl deutend, »was haben Sie noch zu bemerken?«

Der Bürgermeister wandte sich nach der Thüre, um zu sehen, ob sie geschlossen sei; dann zog er seinen Stuhl ganz nahe zu demjenigen, welchen Mr. Egerton inne hatte, legte seinen Zeigfinger auf dessen Arm und sagte: »Ich glaube es mit einem Weltmann zu thun zu haben, Sir?«

Mr. Egerton verbeugte sich schweigend, indem er seinen Arm aus dem Bereiche des Zeigfingers brachte.

Bürgermeister. – »Sie bemerken, mein Herr, daß ich die Abgeordneten, welche wir in's Parlament gewählt, nicht aufgefordert habe, uns zu begleiten. Wir fahren besser ohne dieselben. Beide gehören, wie Sie wohl wissen, zur Opposition – zu den Ultras.«

Mr. Egerton. – »Das ist ein Unglück, um welches die Regierung sich nicht kümmern kann, wenn es sich um die Frage handelt, ob der Geschäftsverkehr der Stadt gehoben oder benachtheiligt werden soll.«

Bürgermeister. – »Nun ich denke, was Sie sagen ist Alles schön und gut. Aber Sie würden doch froh sein, bei der nächsten Wahl zwei Abgeordnete zu bekommen, welche es mit den Ministern halten.«

Mr. Egerton (lächelnd). – »Das ist keine Frage, Herr Bürgermeister.«

Bürgermeister. – »Und das kann ich zu Stande bringen. Ich darf wohl sagen, daß ich die ganze Stadt in meiner Tasche habe. Es ist auch nicht mehr, wie billig, denn ich bringe eine Masse Geld unter die Leute. Sehen Sie, Mr. Egerton, ich habe lange Zeit in dem Lande der Freiheit – in den Vereinigten Staaten – gelebt, und ich komme zur Sache, wenn ich mit einem Weltmanne spreche. Ich bin selbst ein Weltmann. Wenn die Regierung mir einen Gefallen erweisen will, so thue ich auch etwas für sie. Zwei Stimmen für eine freie unabhängige Stadt, wie die Unsrige – das ist schon der Mühe werth, nicht wahr?«

Mr. Egerton (überrascht). – »In der That, ich –«

Bürgermeister (noch näher rückend und den Minister unterbrechend). – »Keinen Unsinn, weder auf der einen, noch auf der andern Seite. Ich habe mir's nun einmal in den Kopf gesetzt, daß ich zum Ritter geschlagen werden möchte. Wundern Sie sich immerhin, Mr. Egerton. Es ist freilich eine Lumperei, ich weiß es wohl; aber jeder Mensch hat seine Schwächen, und die meinige ist, daß ich gerne Sir Richard heißen möchte. Nun wohl, wenn Sie mir diesen Titel verschaffen können, so dürfen Sie mir nur die zwei Abgeordneten nennen, welche Sie bei der nächsten Wahl im Parlament zu sehen wünschen – das heißt, wenn sie zu Ihrem Schlag gehören – aufgeklärte Männer des Fortschritts. Ist das nicht ehrlich und wie ein Mann gesprochen?«

Mr. Egerton (sich stolz aufrichtend). – »Ich kann nicht begreifen, weßhalb Sie gerade mir diesen äußerst seltsamen Antrag machen.«

Bürgermeister (gut gelaunt mit dem Kopfe nickend). – »Ja sehen Sie, ich bin nicht eigentlich mit der Regierung einverstanden, glaube aber, daß Sie der Beste sind unter den Herrn am Ruder. Und vielleicht würden Sie gerne Ihre Partei verstärken. Dies bleibt aber natürlich unter uns; die Ehre ist ein kostbares Kleinod!«

Mr. Egerton (mit ernster Würde). – »Ich bin Ihnen für Ihre gute Meinung sehr verbunden, Sir; allein ich stimme mit meinen Kollegen in allen wichtigen Fragen, welche die Regierung des Landes betreffen, vollständig überein, und –«

Bürgermeister (ihn unterbrechend). – »Ach ja, so müssen Sie freilich sagen; das ist ganz richtig. Allein ich vermuthe, manches würde anders gehen, wenn Sie Premier-Minister wären. Doch habe ich noch einen weitern Grund, weßhalb ich mich mit meinem kleinen Anliegen gerade an Sie wende. Sie wurden früher einmal zum Vertreter des Lansmerer Bezirks gewählt, und zwar mit einer Majorität von zwei Stimmen, nicht wahr?«

Mr. Egerton. – »Ich weiß nichts von den Einzelheiten dieser Wahl; denn ich war nicht gegenwärtig.«

Bürgermeister. – »Nein; aber glücklicherweise waren zwei Verwandte von mir dabei, welche für Sie stimmten. Und diese zwei Stimmen waren es, welche Sie in's Parlament brachten. Seitdem haben Sie sich hübsch warm hier gebettet, und ich denke, wir haben einigen Anspruch an Sie –«

Mr. Egerton – »Ich kann Ihnen keinen derartigen Anspruch zugestehen, Sir. Ich war und bin ein Fremder für Lansmere und wenn die Wähler mir die Ehre erwiesen, für mich zu stimmen, so geschah es viel mehr aus Rücksicht für –«

Bürgermeister (den Minister abermals unterbrechend). – »Für Lord Lansmere, wollten Sie sagen. Das ist höchst unconstitutionell, sollt' ich meinen. Peer des Reichs! Doch das thut nichts zur Sache; ich kenne die Welt, und ich würde mich mit meiner Angelegenheit an Lord Lansmere wenden, wenn ich nicht gehört hätte, daß er so stolz, wie Lucifer, sei.«

Mr. Egerton (mit sichtlichem Widerwillen seine Papiere ordnend). – »Mein Herr, es ist nicht mein Amt, Sr. Majestät Candidaten für die Ritterwürde vorzuschlagen, und noch weniger geziemt es mir, mit Sitzen im Parlament Handel zu treiben.«

Bürgermeister. – »O, wenn dies der Fall ist, so werden Sie mich entschuldigen. Ich verstehe mich nicht sehr viel auf die Etikette in diesen Dingen. Ich hatte nur gedacht, wenn ich Ihnen zwei Sitze für Ihre Freunde zur Verfügung stellte, so würden Sie diese Sache in Ihren Geschäftskreis ziehen. Da Sie übrigens sagen, daß Sie mit Ihren Kollegen übereinstimmen, so kömmt es am Ende auf eines hinaus. Uebrigens müssen Sie sich nicht einbilden, daß ich der Mann sei, die Stadt zu verhandeln oder meine politische Ansicht nach Gefallen zu wechseln. Gewiß nicht! Unsere dermaligen Abgeordneten sagen mir nicht zu. Ich bin ganz für den Fortschritt; aber sie rennen mir zu schnell voraus, und da die Regierung einem gemäßigten Fortschritt nicht abgeneigt ist, so kann ich eben so gut diese unterstützen, als Jene. Aber der gewöhnlichsten Dankbarkeit gemäß« (fügte der Bürgermeister schmeichelnd hinzu) »sollte ich zum Ritter geschlagen werden. Ich kann die Würde aufrecht erhalten und Sr. Majestät Ehre machen.«

Mr. Egerton (ohne den Blick von seinen Papieren zu erheben). – »Ich muß Sie an die geeignete Behörde verweisen.«

Bürgermeister (ungeduldig). – »Geeignete Behörde! Wohlan, da in diesem alten Lande noch ein solches Possenspiel getrieben wird, daß man alle Formen durchmachen und jedes Geschäft regelrecht betreiben muß, so haben Sie die Güte, mir zu sagen, an wen ich mich wenden soll.«

Mr. Egerton (welcher anfängt, eben so belustigt, als entrüstet zu sein). – »Wenn Sie den Ritterschlag wünschen, so müssen Sie den Premierminister darum ersuchen; wollen Sie aber der Regierung in Parlaments-Angelegenheiten Vorschläge machen, so verlangen Sie eine Audienz bei Mr. ***, dem Sekretär der Schatzkammer.«

Bürgermeister. – »Und was glauben Sie, daß dieser Patron sagen wird, wenn ich zu ihm gehe?«

Mr. Egerton (bei dem der Humor die Oberhand über den Unwillen gewinnt). – »Vermuthlich wird er sagen, daß Sie die Sache nicht in dem Lichte darstellen sollen, wie Sie es mir gegenüber gethan haben; daß die Regierung stolz darauf sein werde, Ihr und Ihrer Wahlgenossen Vertrauen zu besitzen, und daß ein Mann, wie Sie, der als Bürgermeister eine so hervorragende Stellung einnimmt, wohl darauf zählen könne, bei irgend einer passenden Gelegenheit zum Ritter erhoben zu werden – daß Sie aber für's Erste nicht davon reden, sondern sich bemühen sollen, bessere politische Ansichten in der Stadt zu verbreiten.«

Bürgermeister. – »Aha, ich merke, was der Patron mit mir vorhätte! Ich bin kein solcher Grünschnabel, Mr. Egerton! Vielleicht ist's am besten, ich wende mich an die Hauptquelle. Wie meinen Sie wohl, daß der Premierminister meinen Vorschlag aufnehmen würde?«

Mr. Egerton (in welchem nun die Entrüstung über den Humor siegt). – »Wahrscheinlich gerade so, wie ich im Begriffe stehe, es zu thun.«

Mit diesen Worten zog er die Klingel, worauf der Bediente erschien.

»Begleiten Sie den Herrn Bürgermeister hinaus,« befahl der Minister.

Der Bürgermeister wandte sich rasch um, während sich sein Gesicht mit einer Purpurglut überzog. Dann ging er gerade auf die Thüre zu, ließ jedoch den Bedienten durch den Gang vorauschreiten, drehte sich plötzlich wieder um und rief mit geballten Fäusten und von Zorn halb erstickter Stimme: »Dafür sollen Sie mir eines Tages büßen, so wahr ich Richard Avenel heiße!«

»Avenel!« wiederholte Egerton betroffen – »Avenel!«

Allein der Bürgermeister war verschwunden.

Audley versank in ein tiefes, finsteres Brüten, auf dem er erst erwachte, als der Bediente meldete, daß die Pferde bereit seien.

Zerstreut schaute er auf und erblickte seinen Brief an Harley L'Estrange, der noch immer offen auf dem Tische lag. Er zog ihn näher zu sich und schrieb: »Soeben verläßt mich ein Mann, der sich Aven –« Mitten in dem Worte hielt er inne. »Nein, nein,« murmelte er, »welche Thorheit, alte Wunden dort wieder aufzureißen!« und radirte sorgfältig das Geschriebene aus.

An diesem Tage ritt Audley Egerton nicht, wie er sonst zu thun pflegte, in den Park, sondern lenkte, nachdem er seinen Reitknecht entlassen hatte, über die Westminsterbrücke auf's Land hinaus. Anfangs ritt er langsam, wie in Gedanken versunken; dann schnell, als ob er denselben entfliehen wollte; und als er Abends gegen seine Gewohnheit spät im Parlamentshause erschien, sah er blaß und erschöpft aus. Allein er mußte nothgedrungen sprechen – und Audley Egerton sprach gut, wie immer.


Siebentes Kapitel.

Trotz aller seiner macchiavellistischen Niccolò Machiavelli (1469-1527), florentinischer Philosoph, Politiker, Diplomat, Chronist, Schriftsteller und Dichter. Aufgrund seines Werkes Il Principe (Der Fürst) gilt er als einer der bedeutendsten Staatsphilosophen der Neuzeit. Machiavelli ging es hier – im Ansatz neutral – darum, Macht analytisch zu untersuchen. Der später geprägte Begriff Machiavellismus wird als abwertende Beschreibung eines Verhaltens gebraucht, das zwar raffiniert ist, aber ohne ethische Einflüsse von Moral und Sittlichkeit die eigene Macht und das eigene Wohl als Ziel sieht. Sein Name wird daher heute häufig mit rücksichtsloser Machtpolitik unter Ausnutzung aller Mittel verbunden. Weisheit war es Doctor Riccabocca doch nicht gelungen, Leonhard Fairfield in seinen Dienst zu locken, obgleich er es allerdings so weit gebracht hatte, die Wittwe theilweise für seine Absichten zu gewinnen. Letzterer stellte er die weltlichen Vortheile der Sache vor: Lenny sollte es weiter bringen, als zu einem gewöhnlichen Tagelöhner; er sollte die Gärtnerei in all ihren Theilen gründlich erlernen – und einst Obergärtner werden. »Auch will ich Sorge tragen,« fügte Riccabocca hinzu, »daß er seine Schulbildung nicht vernachlässigt, und ihn Alles lehren, wofür er einen offenen Kopf hat.«

»Der Junge hat für Alles einen offenen Kopf,« versetzte die Wittwe.

»Dann,« erwiderte der weise Mann, »soll auch Alles hinein kommen!«

Die Wittwe war offenbar geblendet; denn wie wir bereits gesehen, hielt sie sehr viel auf Schulbildung, und sie wußte, daß der Pfarrer den Doctor als einen ungemein gelehrten Mann ansah. Aber Riccabocca galt für einen Papisten, er stand sogar im Verdachte der Zauberei. Die Bedenklichkeiten über diese beiden Punkte würde jedoch der Italiener, der die Kunst verstand, das schöne Geschlecht zu überreden, bald zerstreut haben, wenn dies zu einem Zwecke hätte führen können; allein Lenny machte allen weiteren Verhandlungen ein Ende. Der Knabe hegte nämlich einen tödtlichen Widerwillen gegen Riccabocca; er fürchtete sowohl ihn, als seine Brille, seine Pfeife, das lange Haar, den Mantel und den rothen Regenschirm, und antwortete daher mit Bestimmtheit auf jeden Antrag: »Mit Verlaub, Sir, ich möchte lieber nicht, ich möchte lieber nicht; ich möchte lieber noch bei meiner Mutter bleiben!«

Riccabocca sah sich daher gezwungen, alle ferneren Experimente seiner macchiavellistischen Diplomatie aufzugeben; allein er ließ sich durch das erste Mißlingen seiner Versuche nicht entmuthigen; er gehörte im Gegentheil zu jenen Menschen, die der Widerstand nur noch mehr reizt. Was ihm zuerst nur aus Klugheitsrücksichten wünschenswerth erschienen war, wurde jetzt ein Gegenstand heftigen Verlangens. Ohne Zweifel hätte man unter gleich annehmbaren Bedingungen ein ganzes Dutzend Knaben bekommen können. Aber in demselben Augenblick, da Lenny sich herausnahm, die Pläne des Italieners zu vereiteln, gewann seine Erwerbung in Signor Riccabocca's Augen die größte Wichtigkeit.

Jackeymo dagegen verlor alles Interesse an den Fallen und Schlingen, die sein Herr dem Musterknaben des Dorfes zu legen beabsichtigte, über der plötzlichen Ueberraschung, welche sich seiner bemächtigte, als er vernahm, Doctor Riccabocca habe eine Einladung in die Halle auf einige Tage angenommen.

»Es werden keine Fremde dort sein,« sagte Riccabocca. »Armer Giacomo, einige Unterhaltung im Bedientenzimmer wird dir wohlthun; auch ist der Braten des Squires nahrhafter als unsere Stichlinge und Elrizen. Dein Leben wird dadurch verlängert werden.«

»Der Padrone beliebt zu scherzen,« versetzte Jackeymo mit stolzer Unterwürfigkeit; »als ob Jemand in seinem Dienste Hunger sterben könnte!«

»Hm,« meinte Riccabocca, »du hast dieses Experiment versucht, so weit es die menschliche Natur nur irgend gestattet, mein treuer Freund!«

Bei diesen Worten streckte er seinem Mitverbannten die Hand entgegen mit jener Vertraulichkeit, welche auf dem Continent zwischen Herr und Diener gebräuchlich ist. Giacomo verneigte sich tief und eine Thräne fiel auf die Hand, welche er küßte.

» Cospetto,« fuhr Riccabocca fort, »tausend unächte Perlen sind nicht so viel werth, als eine einzige ächte. Wir kennen den Werth der Weiberthränen; aber die Thränen eines ehrlichen Mannes – pfui, Giacomo! – die kann ich dir nie bezahlen! – Geh' und sieh nach unserer Garderobe!«

Was die Garderobe seines Herrn anbelangte, so war Jackeymo recht wohl damit zufrieden; denn es fanden sich verschiedene Anzüge vor, von welchen Jackeymo meinte, sie seien noch so gut, wie neu, obgleich schon manches Jahr verflossen war, seitdem sie aus der Hand des Schneiders gekommen. Als aber Giacomo den Inhalt seines eigenen Kleiderschrankes zu mustern begann, zog sich sein Gesicht beträchtlich in die Länge. Nicht als ob er keine andern Kleidungsstücke besessen hätte außer denen, welche er auf dem Leibe trug; an Vorrath fehlte es nicht – allein die Beschaffenheit war um so schlimmer. Traurig betrachtete er zwei Anzüge, je aus den drei Theilen bestehend, welche die männliche Kleidung ausmachen. Der eine Anzug lag ausgebreitet auf seinem Bette, gleich einem Veteranen, den treue Hände auf's Paradebett gelegt haben, während der andere stückweise von dem gehässigen Lichte beleuchtet wurde – der Torso über einen Stuhl gelegt, und die Beine von Jackeymo's melancholischem Arme herabhängend. Keine noch so lange Zeit in der Morgue ausgestellten Leichen konnten weniger Zeichen von Wiederbelebung geben, als diese ehrsamen Verblichenen; denn Jackeymo hatte in der That seine Kleider weniger gespart – magis profusus sui Mehr mit dem Eigenen verschwenderisch (angelehnt an Sallust, De coniuratione Catilinae, V, 3.) – als sein Herr. In der ersten Zeit ihrer Verbannung hatte er die Gewohnheit, sich zu Tische besser zu kleiden, beibehalten, da er einen solchen Beweis von Achtung dem Padrone schuldig zu sein glaubte; später jedoch mußten auch die Staatskleider für den Morgendienst gebraucht werden, bis sie unter der scharfen Benützung den letzten Athem aushauchten.

Obschon der Doctor in seiner philosophischen Zerstreutheit solchen kleinen Haushaltungssorgen wenig Aufmerksamkeit zu schenken pflegte, so hatte er doch – mehr aus Mitleid für Jackeymo, als aus Rücksicht für die Achtbarkeit, welche die Kleidung des Dieners auf die Würde des Herrn zurückwirft – schon öfter gesagt: »Giacomo, du brauchst Kleider; laß dir welche von den meinigen zurechtmachen!«

Und Jackeymo hatte sich jedesmal dankbar verneigt, als ob er die Schenkung angenommen hätte; allein die Sache war leichter gesagt, als gethan.

Obgleich sich nämlich Jackeymo und Riccabocca, Dank der strengen Diät, welche sie beobachteten, indem sie sich fast ausschließlich von Stichlingen und Elritzen nährten, in jenem Zustande befanden, den man, nach dem langen Leben der Geizhälse zu urtheilen, am zuträglichsten für den menschlichen Körper halten sollte – jenen Zustand nämlich, da man nur aus Haut und Knochen besteht – so hatten doch die Knochen, welche in Riccabocca's Haut steckten, insgesammt die Längenrichtung eingeschlagen, indessen die Knochen in Jackeymo's Haut sich vorzüglich in die Breite ausdehnten. Eben so gut hätte man eine gekappte Zwergeiche, in deren Höhlung die Kinder des Waldes gemächlich schlafen, in die Rinde einer lombardischen Pappel zu stecken vermocht, als Jackeymo in Riccabocca's Anzüge gekleidet.

Aber auch angenommen, daß der Geschicklichkeit des Schneiders ein solches Wunder vielleicht gelungen wäre, so hätte doch Jackeymo es nie über's Herz bringen können, von der Großmuth seines Herrn Gebrauch zu machen. Er hegte eine gewisse heilige Ehrfurcht für die Kleider des Padrone. Es ist bekannt, daß die Alten, nachdem sie einem Schiffbruche entronnen waren, die Kleider, worin sie gegen die Wellen gekämpft hatten, in einem Votivtempel Votivgaben beruhen auf Gelöbnissen, sie werden ex voto als symbolische Opfer dargebracht. aufzuhängen pflegten. Mit derselben abergläubischen Verehrung betrachtete Jackeymo diese Reliquien der Vergangenheit. »Diesen Rock trug der Padrone bei jener Gelegenheit. Ich erinnere mich noch ganz wohl des Abends, an welchem der Padrone diese Beinkleider das letzte Mal anzog!« und hiermit wurden Rock und Beinkleider mit liebevoller Sorgfalt gebürstet und ehrfurchtsvoll zur Ruhe gelegt.

Allein was war jetzt zu thun? Jackeymo war viel zu stolz, um seine Person vor dem Hausmeister des Squires in einem Anzuge sehen zu lassen, der ihm und dem Padrone Unehre gemacht hätte.

Mitten in dieser Verlegenheit wurde geklingelt und er eilte in's Wohnzimmer hinab. Riccabocca stand am Kamin unter der symbolischen Darstellung des patriae exul Der Vertriebenheit aus dem Vaterland (nach Horaz, Oden II, 16, 19)..

»Giacomo,« sagte er, »es ist mir eingefallen, daß du dir noch immer keine meiner überflüssigen Kleider hast zurecht machen lassen, wie ich dir befohlen hatte. Aber wir werden nun in die große Welt gehen, und hat einmal das Besuchen angefangen, so weiß der Himmel, wo es enden wird. Daher geh' in die nächste Stadt und kaufe dir einen Anzug. Kleider sind theuer in England. Wird dies hinreichen?« Mit diesen Worten hielt er ihm eine Fünfpfundnote entgegen:

Jackeymo lebte, wie wir schon oben bemerkt haben, auf einem viel vertraulicheren Fuße mit seinem Herrn, als der steife Engländer es von seinem Diener dulden würde. Allein in seiner Vertraulichkeit blieb Giacomo doch stets ehrerbietig und achtungsvoll. Nur jetzt vergaß er einigermaßen die schuldige Ehrfurcht.

»Der Padrone ist toll!« rief er aus. »Er würde sein ganzes Vermögen wegschleudern, wenn ich es zuließe! Fünf englische oder hundert und sechsundzwanzig mailändische Pfunde! Unter einem mailändischen Pfund versteht Giacomo eine mailändische Lire. [ Anm.d.Verf.] Santa Maria! Unnatürlicher Vater! Was soll aus der armen Signorina werden? Denkt der Padrone, sie auf diese Weise in dem fremden Lande zu versorgen?«

»Giacomo,« sagte Riccabocca, sein Haupt vor dem Sturme beugend, »morgen denken wir an die Signorina; heute gilt es die Ehre des Hauses. Deine Beinkleider, Giacomo – unglücklicher Mann, deine Beinkleider!«

»Der Padrone hat Recht,« erwiderte Jackeymo, sich besinnend, in demüthigem Tone. »Der Padrone hat Recht, mich zu tadeln, aber nicht auf so grausame Weise. Es ist wahr, er gibt mir Kost, Wohnung und einen schönen Lohn und kann also füglich erwarten, daß ich nicht in einem solchen Aufzug einhergehe.«

»Was Kost und Wohnung betrifft, so wollen wir es noch gelten lassen,« sagte Riccabocca; »aber der schöne Lohn ist ein Gebilde deiner Phantasie.«

»Keineswegs,« versetzte Jackeymo; »er ist nur rückständig. Als ob der Padrone ihn nicht eines Tages zahlen – als ob ich mich erniedrigen wollte, einem Herrn zu dienen, der nicht die Absicht hat, seine Dienerschaft zu besolden! Kann ich denn nicht warten? Hab' ich denn nicht meine Ersparnisse noch? Doch nur getrost – getrost! Der Padrone soll mit mir zufrieden sein. Ich habe noch zwei schöne Anzüge und war eben damit beschäftigt, sie zu ordnen, als geklingelt wurde. Sie sollen sehen, Sie sollen sehen!«

Und Jackeymo eilte aus dem Zimmer nach seiner Stube zurück, schloß einen kleinen Koffer auf, der zu den Häupten seines Bettes stand, warf eine Menge kleiner Gegenstände heraus und zog endlich aus der untersten Tiefe einen ledernen Beutel hervor, dessen Inhalt er auf das Bett ausleerte. Es waren meist italienische Münzen, einige Frankenthaler, ein silbernes Medaillon mit dem Bilde seines Schutzpatrons, des heiligen Giacomo, eine vollwichtige englische Guinee Eine von 1663 bis 1816 in Umlauf befindliche britische Goldmünze, die als erste maschinell hergestellt wurde; ihr Wert wurde 1717 auf 21 Schilling (= 1 Pfund und 1 Shilling) festgesetzt. Mit diesem Wert von 1,05 GBP ist die Guinee bis heute als Rechnungseinheit in Gebrauch. und ungefähr zwei oder drei Pfunde in englischen Silbermünzen. Jackeymo steckte das ausländische Geld wieder in den Beutel, indem er kläglich vor sich hin murmelte: »man würde hier nur d'ran verlieren,« zählte dann die englischen Münzen: »Werdet Ihr auch hinreichen, Ihr Schurken?« rief er, sie unmuthig schüttelnd. Jetzt fiel ihm das Medaillon in die Augen; er hielt inne, betrachtete das winzige Bild des Heiligen mit großer Bedächtigkeit und fuhr dann in einer Sprache fort, die er wahrscheinlich den aphoristischen Sprüchwörtern seines Gebieters entlehnt hatte:

»Welcher Unterschied ist zwischen einem Feinde, der mir nicht schadet, und einem Freunde, der mir nicht nützt? Monsignore San Giacomo, mein Schutzpatron, du bist mir wenig nütze in dem ledernen Beutel. Wenn du mir aber zu einem Paar neuer Beinkleider verhilfst, so bist du wirklich mein Freund. Alla bisogna, Monsignore! Es besteht Bedarf, Monsignore!«

Nun steckte er das Medaillon, nachdem er es zuvor andächtig geküßt hatte, in die eine Tasche, die Münzen in die andere, schnürte die zwei abgelebten Anzüge in ein Bündel zusammen und murmelte vor sich hin: »Welch' ein häßlicher Geizhals bin ich, dem Padrone Schande zu machen, trotz all' dem Gelde, das ich in seinem Dienste erspart habe!« Dann rannte er hinab, ergriff Hut und Stock, und wenige Minuten später sah man ihn der benachbarten Stadt L. zutraben.

Augenscheinlich hatte der arme Italiener keinen Fehlgang gemacht; denn er kam an jenem Abend noch zu rechter Zeit zurück, um den dünnen Haferschleim, das frugale Nachtessen seines Herrn, zu kochen, und brachte einen zwar etwas fadenscheinigen, aber doch noch höchst anständigen schwarzen Anzug nebst zwei Vorhemden und zwei weißen Halsbinden mit. Von all diesem Putz hielt jedoch Giacomo die Beinkleider in besonderer Verehrung; sie hatten gerade so viel gekostet, als er aus dem Medaillon gelöst, und er war deßhalb überzeugt, San Giacomo habe sein Gebet um diesen nothwendigen Artikel erhört und ihm dazu verholfen. Die übrigen Gegenstände hatte er auf dem gewöhnlichen Wege des Tausches und Kaufes an sich gebracht; die Beinkleider aber waren ein besonderes Gnadengeschenk des heiligen Giacomo!


Achtes Kapitel.

Das Leben hat schon zu vielen sinnreichen Vergleichen Anlaß gegeben, und wenn wir gleichwohl das Wesen desselben nicht besser verstehen, so liegt die Schuld gewiß nicht an dem Mangel eines sogenannten »illustrirenden Raisonnements.« Unter anderen Bildern erinnert es einen ruhigen Beobachter zu Zeiten an jene sich im Kreise drehende Maschine, welche man auf Jahrmärkten zu finden pflegt, und die unter dem Namen »Caroussel« bekannt ist, wobei jeder Theilnehmer, auf seinem hölzernen Pferde sitzend, seinem Vorgänger nachzujagen scheint, während er selbst von dem hinter ihm Reitenden verfolgt wird. So ist auch der Mensch, das Weib so gut wie der Mann, ein von Natur die Jagd liebendes Thier; der Höchste selbst findet immer noch etwas zu erjagen, und Keiner ist zu niedrig, als daß ihn nicht ein Anderer zu seiner Beute auserlesen könnte.

Beschränken wir nun unsere Beobachtung auf das Dorf Hazeldean, so sehen wir in diesem Caroussel den Doctor Riccabocca, welcher auf seinem Steckenpferd Lenny Fairfield nachjagt, und Miß Jemima, die auf ihrem Damensattel ihr Rößlein hinter dem Doctor herpeitscht. Die Erklärung, weßhalb Miß Jemima, welche schon so lange und so fest von der Schlechtigkeit der Männer überzeugt war, einem solchen doch noch einmal die Gelegenheit geben wollte, sich in ihren Augen zu rechtfertigen, wollen wir jenen Herren überlassen, welche behaupten, daß sie »in keinen andern Büchern lesen, als in den Blicken der Frauen.« Vielleicht lag der Grund in der übergroßen Zärtlichkeit und Milde in Miß Jemima's Charakter; vielleicht bedachte sie auch, daß ihre Erfahrungen von der Schlechtigkeit der Männer sich nur auf solche erstreckt hatten, die in unsern kalten nordischen Gegenden geboren und erzogen worden; während sie hoffen durfte, daß in dem Vaterlande Petrarca's und Romeo's, im Lande der Citronen und Myrthen das männliche Ungeheuer sanften Einflüssen zugänglicher und in seiner Bosheit weniger verhärtet sein möchte.

Ohne uns weiter in diese Vermuthungen einzulassen, genüge es, zu sagen, daß Jemima bei Doctor Riccabocca's Erscheinen im Besuchzimmer zu Hazeldean sich mehr als je darüber freute, in ihrer Feindschaft gegen das männliche Geschlecht zu seinen Gunsten etwas nachgelassen zu haben. Allerdings fand Frank Hazeldean den altmodischen, fremdartigen Anzug des Italieners, seine langen Haare, den chapeau bras Zweipitz bzw. modizifierter Dreispitz, der oft gefaltet unter dem Arm getragen wird; im 18. Jh. in Mode., über den sich der Fremde so anmuthig verbeugte und den er gleichsam an sein Herz drückte, ehe er ihn wieder unter den Arm schob, wo er sich ausnahm wie der Kopf unter dem Flügel eines gebratenen Hühnchens – Frank Hazeldean fand alles dieses einigermaßen possierlich, mußte aber dennoch gestehen, daß Riccabocca's Aussehen und Benehmen unverkennbar den vollendeten Gentleman beurkundete.

Und als nach dem Essen die Unterhaltung ungezwungener wurde und der Pfarrer und seine Gattin, welche dem Doctor zu Ehren ebenfalls eingeladen worden, ihr Bestes thaten, um die geistige Begabung ihres Freundes recht in's Licht zu stellen, da wurde seine Unterhaltung ungemein lebhaft und angenehm, wenn gleich sie zuweilen etwas zu hoch für seine Zuschauer sein mochte. Sein Gespräch war dasjenige eines Mannes, der mit den Kenntnissen, welche man durch das Studium der Bücher und der Welt erwirbt, auch die Kunst verbindet, in gebildeter Gesellschaft zu gefallen – eine Kunst, die für einen Gentleman unerläßlich ist.

Allein Riccabocca besaß noch eine andere, weniger harmlose Kunst – diejenige nämlich, die schwache Seite seiner Umgebung rasch zu erspähen und mit der sorglosen Miene eines Schützen, der in's Blaue feuert, mit einem einzigen Worte mitten in's Herz zu treffen.

Die kleine Gesellschaft war entzückt von Riccabocca's Liebenswürdigkeit, so daß selbst Kapitän Barnabas um eine volle Stunde später als gewöhnlich, an das Whist erinnerte. Der Doctor, welcher nicht spielte, fiel nun den beiden Damen, Miß Jemima und Mrs. Dale, anheim.

Zwischen den Beiden sitzend (auf dem Platze, welcher mit Fug und Recht Flimsey zukam, die sich zu ihrem großen Aerger und Erstaunen diesen Abend in einen Winkel des Zimmers verwiesen sah) – umgeben von Freundschaft und Liebe – bot der Doctor ganz das Bild des reinsten häuslichen Glückes.

Die Freundschaft arbeitete, wie es sich für sie ziemte, emsig an dem gestickten Taschentuche, um der Liebe Zeit zu lassen, ihren Angriff zu beginnen.

»Sie müssen sich in dem Casino doch sehr einsam fühlen,« sagte die Liebe in theilnehmendem Tone.

»Gewiß wird dies der Fall sein,« versetzte Riccabocca galant, »wenn ich Sie verlassen haben werde, mein Fräulein!«

Die Freundschaft warf der Liebe einen bedeutsamen Blick zu – die Liebe erröthete oder schaute zu Boden, was auf dasselbe herauskommt.

»Allerdings,« begann die Liebe von Neuem, »hat die Einsamkeit für ein fühlendes Herz –«

Riccabocca dachte an das Einladungsbillet und knöpfte unwillkürlich seinen Rock zu, als ob er das soeben erwähnte Organ schützen müsse.

»Die Einsamkeit hat für ein fühlendes Herz sicher großen Reiz. Selbst für uns arme, unwissende Frauen ist es so schwer, eine gleichgestimmte Seele zu finden – aber für Sie

Die Liebe hielt inne, als hätte sie zu viel gesagt, und beugte sich verschämt über ihren Blumenstrauß.

Doctor Riccabocca schob vorsichtig seine Brille zur Seite und schien mit einem Blick das ganze Inventarium von Miß Jemima's Reizen aufzunehmen. Ihr Gesicht hatte, wie schon bemerkt, einen sanften, nachdenklichen Ausdruck und würde entschieden hübsch gewesen sein, wenn die Milde mit etwas mehr Lebhaftigkeit gepaart und die Nachdenklichkeit etwas weniger schmachtend gewesen wäre. Die Cousine des Squire's war nämlich von Natur allerdings sanft, aber durchaus nicht tiefsinnig; es floß viel zu viel Hazeldean'sches Blut in ihren Adern, als daß die trübe Stimmung. welche man Melancholie nennt, bei ihr hätte aufkommen können. Daher paßte auch diese angenommene Träumerei schlecht zu ihrem Gesicht, welches nur durch ein heiteres Lächeln erhellt zu werden brauchte, um außerordentlich einnehmend zu sein. Dieselbe Bemerkung galt auch von ihrer Figur, welche durch das träumerische Wesen aller jener wellenförmigen Grazie beraubt wurde, die den zarten Curven der weiblichen Gestalt durch Bewegung und Lebhaftigkeit verliehen wird. Im einzelnen betrachtet war ihre Figur gar nicht übel; zwar ein wenig mager, aber nichts weniger als abgezehrt – wohl proportionirt, leicht und biegsam. Allein die unselige Schwermuth verlieh ihrer ganzen Erscheinung einen Ausdruck von Trägheit und Leblosigkeit, so daß man, wenn Miß Jemima sich auf dem Sopha zurücklehnte, aus der völligen Abspannung ihrer Nerven und Muskeln hätte schließen können, sie sei gänzlich des Gebrauches ihrer Glieder beraubt. Riccabocca's Auge glitt rasch über ein Antlitz und eine Gestalt hinweg, welche in solcher Weise um alle von der Vorsehung geschenkten Reize betrogen waren, rückte hierauf näher zu Mrs. Dale und sagte: »Vertheidigen Sie mich« (hier hielt er einen Augenblick inne und fuhr dann fort) »gegen die Anklage daß ich eine verwandte Seelenstimmung nicht zu schätzen wisse.«

»O, das habe ich nicht gesagt!« rief Jemima aus.

»Vergebung,« entgegnete der Italiener, »wenn ich so ungeschickt war, Sie mißzuverstehen. In solcher Nachbarschaft ist es kein Wunder, wenn man den Kopf verliert!«

Mit diesen Worten erhob er sich und blickte über Franks Schulter, um einige Ansichten von Italien zu betrachten, die Jemima dem Gaste zu Ehren aus der Bibliothek hervorgesucht hatte – gewiß eine sehr zarte Aufmerksamkeit, wenn sie vielleicht auch nicht ganz frei von Selbstsucht gewesen war.

»Ein höchst interessanter Mann, in der That!« seufzte Miß Jemima, »allein zu – zu freigebig mit Schmeicheleien!«

»Sagen Sie mir, meine Liebe,« fragte Mrs. Dale ernsthaft, »glauben Sie, daß sich das Ende der Welt wohl noch etwas länger aufschieben läßt, oder müssen wir uns eiligst darauf vorbereiten?«

»Wie boshaft Sie sind!« erwiderte Miß Jemima, sich abwendend.

Einige Minuten später wußte es Mrs. Dale so einzurichten, daß sie sich mit Doctor Riccabocca in einem entfernten Winkel des Zimmers befand, um ein Gemälde, angeblich von Wouverman Philips Wouwerman (um 1619-1668), niederländischer Maler des Barock., zu betrachten.

Mrs. Dale. – »Jemima ist sehr liebenswürdig, nicht wahr?«

Riccabocca. – »Außerordentlich. – Ein schönes Schlachtstück!«

Mrs. Dale. – »So gutherzig.«

Riccabocca. – »Alle Damen sind es. Wie natürlich dieser Krieger den verzweifelten Hieb nach dem Ausreißer führt!«

Mrs. Dale. – »Man kann sie nicht eigentlich schön nennen, aber sie hat etwas sehr Gewinnendes.«

Riccabocca (lächelnd). – »So gewinnend, daß es mich wundert, warum sie noch nicht gewonnen ist. – Der Grauschimmel im Vordergrund hat eine äußerst kühne Haltung!«

Mrs. Dale (welche Riccabocca's Lächeln nicht recht traut und deßhalb einen entschiedenen Angriff machen will). – »Noch nicht gewonnen – das ist auch in der That seltsam! Und doch soll sie ein schönes Vermögen haben.«

Riccabocca. – »Ah!«

Mrs. Dale. – »Ich glaube wohl sechstausend Pfund – viertausend ganz bestimmt.«

Riccabocca (einen Seufzer unterdrückend und mit der ihm eigentümlichen Gewandtheit). – »Wenn Mrs. Dale noch unverheirathet wäre, so würde ihre Freundin nicht nöthig haben, zu sagen, wie groß ihre Mitgift sein werde. Miß Jemima ist jedoch so gut, daß ich überzeugt bin, es ist nicht ihre Schuld, wenn sie noch – Miß Jemima ist!«

Bei diesen Worten glitt der Italiener hinweg und setzte sich zu den Spielenden.

Mrs. Dale war unzufrieden, aber nicht beleidigt. »Es wäre für Beide ein so großes Glück!« murmelte sie fast unhörbar.

»Giacomo,« sagte Riccabocca, als er sich an diesem Abend in dem großem bequemen, mit schönen Teppichen versehenen englischen Schlafzimmer auskleidete, in dessen Nische das große Himmelbett stand, welches ganz dazu gemacht schien, das Glück des ehelosen Standes zu Schanden zu machen. – »Giacomo, es sind mir diesen Abend sechstausend – oder zum Wenigsten viertausend Pfund angetragen worden.«

» Cosa meravigliosa!« rief Jackeymo. »Wunderbar!« und er bekreuzte sich mit großer Andacht. »Sechstausend englische Pfund! Das macht ja hunderttausend – was sag' ich Einfaltspinsel! – über hundert und fünfzigtausend mailändische Pfunde!«

Und Jackeymo, der von dem Ale des Squires ziemlich aufgeregt war, begann eine Reihe Gesticulationen und Capriolen, worin er sich jedoch plötzlich unterbrach, um zu fragen:

»Aber wohl nicht umsonst?«

»Umsonst? Nein!«

»Diese gewinnsüchtigen Engländer! Die Regierung möchte Sie wohl bestechen?«

»Das nicht.«

»So wollen die Geistlichen einen Ketzer aus Ihnen machen?«

»Noch schlimmer als das,« entgegnete der Philosoph.

»Noch schlimmer! O Padrone – pfui!«

»Sei kein Narr, sondern ziehe mir die Beinkleider aus. – Man verlangt von mir, ich soll sie nicht mehr tragen!«

»Was nicht mehr tragen?« rief Jackeymo, indem er die langen Beine seines Gebieters in ihrer leinenen Bekleidung anstarrte.

»Was nicht mehr tragen?«

»›Die Hosen,‹« erwiderte Riccabocca lakonisch.

»Die Barbaren!« stotterte Jackeymo.

»Meine Nachtmütze! – Und nie mehr in dieser es mir wohl sein lassen,« fuhr Riccabocca fort, indem er die baumwollene Bedeckung über den Kopf zog; »und nie mehr einen ruhigen Schlaf in diesem genießen,« setzte er, auf das Himmelbett deutend, hinzu.

»Ein Leibeigener, ein Sklave werden!« sprach er mit steigernder Entrüstung weiter; »beschwatzt und beschnurrt, gestreichelt und gekratzt, gezankt und geliebkost, geblendet und betäubt, gesattelt und gezäumt, beteufelt und – verheirathet werden!«

»Verheirathet!« rief Jackeymo gelassener. »Das ist freilich sehr schlimm. Aber hundertfünfzigtausend Lire, und vielleicht eine hübsche junge Dame und –«

»Hübsche junge Dame!« brummte Riccabocca, indem er in's Bett sprang und heftig die Decke über sich zog. »Lösche das Licht aus und mache, daß du fortkommst, du verwünschter, alter Mordbrenner!«


Neuntes Kapitel.

Nicht lange nach der Auferstehung des Unheil verkündenden Stockes konnte selbst ein gewöhnlicher Beobachter deutlich bemerken, daß etwas im Dorfe nicht ganz richtig sei. Die Bauern sahen mürrisch aus; zwar nahmen sie mit ungewöhnlicher Förmlichkeit ihre Hüte ab, wenn der Squire vorbeiging; aber sein rasches, herzliches »Guten Tag, Nachbar!« blieb ohne freundliche Erwiderung. Die Weiber schauten ihm verstohlen von der Thüre oder aus den Fenstern nach; allein sie kamen nicht, wie sie sonst zu thun pflegten (wenigstens die hübschesten unter ihnen), um ihm ein flüchtiges Kompliment über ihr gutes Aussehen oder über die Reinlichkeit ihrer Häuser zu entlocken. Selbst die Kinder, welche sonst nach vollbrachter Arbeit um den alten Stock herum gespielt hatten, mieden jetzt diesen Platz und schienen das Spielen überhaupt ganz aufgegeben zu haben.

Andererseits wird wohl Niemand für nichts und wieder nichts ein öffentliches Gebäude errichten oder herstellen wollen. Jetzt, da der Squire den Stock wieder erweckt und ihn so ungemein schön gemacht hatte, war es natürlich, daß er auch Jemand hineinzustecken wünschte. Ueberdies war sein Stolz und sein Selbstgefühl durch den Widerspruch des Pfarrers verletzt worden, und seine Vorsorge fand eine Rechtfertigung, seine Behauptung einen Triumph über die Ansicht des Geistlichen, wenn es ihm gelang, einen genügenden, thatsächlichen Beweis zu liefern, daß der Stock nicht eher ausgebessert worden, als man seiner bedurfte.

Ihm selbst unbewußt hatte deßhalb der Squire ein viel barscheres, herrischeres, drohenderes Wesen angenommen, als bisher. Der alte Salomons bemerkte, »man dürfe sich wohl in Acht nehmen, denn der Squire habe einen boshaften Blick im Augenwinkel sitzen – gerade wie der schwarzbraune Stier, ehe er den kleinen Knaben des Nachbars Barnes in die Luft schleuderte.«

Seit zwei oder drei Tagen waren diese stummen Anzeichen eines herannahenden Ungewitters eher bemerkbar gewesen als wirklich bemerkt worden, ohne daß ein positiver Art der Tyrannei auf der einen oder der Empörung auf der andern Seite stattgefunden hätte. Aber in der Nacht desselben Sonnabends, an welchem Doctor Riccabocca das Himmelbett in dem Gastzimmer mit den Zitzvorhängen einnahm, brach die gedrohte Revolution aus. Bei nächtlicher Weile wurde ein persönlicher Schimpf an dem Stocke verübt. Und am Sonntag Morgen machte Mr. Stirn (welcher in dem ganzen Kirchspiel am frühsten aufstand), als er eben im Begriff war, sich nach der Meierei zu begeben, die Bemerkung, daß der Knauf an der Seitensäule abgeschlagen, die vier Löcher des Stockes mit Straßenkoth ausgefüllt und von irgend einem Schurken mitten in das Schnörkelwerk die Worte eingeschnitten worden waren: »Zum Teufel mit dem Stock!«

Mr. Stirn war eine zu wachsame rechte Hand, ein viel zu eifriger Freund des Gesetzes und der Ordnung, um eine solche That nicht mit Abscheu und Entsetzen zu betrachten. Als der Squire um halb acht Uhr in sein Ankleidezimmer kam, sagte ihm der Hausmeister, welcher zugleich das Amt eines Kammerdieners verwaltete, mit geheimnißvoller Miene, daß Mr. Stirn ihm etwas besonders Wichtiges über eine höchst freche, mitternächtliche Verschwörung und Rebellion mitzutheilen habe.

Der Squire öffnete seine Augen weit und befahl, Mr. Stirn sogleich vorzulassen.

»Nun?« rief der Gutsherr, indem er mit dem Abziehen seines Rasiermessers auf dem Streichriemen inne hielt.

Mr. Stirn stöhnte.

»Nun, Mann, was gibt's?«

»Noch nie hab' ich etwas Aehnliches in diesem Kirchspiele erlebt,« begann Mr. Stirn; »und ich kann mir's nur dadurch erklären, daß die fremden Papisten semminirt haben –‹«

»Was haben?«

»Semminirt –«

»Disseminirt Engl. dissiminate: verbreiten, ausstreuen., Dummkopf! Aber was haben sie disseminirt?«

»Zum Teufel mit dem Stock!« begann Mr. Stirn, der sich recht in medias res stürzte, und zwar mittelst seiner Benützung einer der edelsten Formen der Rhetorik.

»Mr. Stirn!« rief der Squire, über und über roth werdend, »sagten Sie ›zum Teufel mit dem Stock‹ – mit meinem schönen, neuen Stock?«

»Gott behüte, gnädiger Herr! Das haben die Schurken gesagt, das haben sie mit Messern und Dolchen hineingeschnitten und haben Straßenkoth in die vier Löcher gestopft und der Säule den Kopf abgeschlagen.«

Der Squire nahm das Handtuch von seiner Schulter, legte Streichriemen und Messer hin, setzte sich majestätisch in seinen Lehnstuhl, schlug ein Bein über das andere und sagte mit erkünstelter Ruhe:

»Fassen Sie sich, Stirn! Sie haben die Anzeige zu machen von einem Angriff – kann ich meinen Sinnen trauen? – von einem Angriff gegen meinen neuen Stock. Fassen Sie sich! Seien Sie ruhig! Nun! Was zum Teufel hat das Kirchspiel angewandelt?«

»Ja, gnädiger Herr, das ist eben die Frage,« erwiderte Mr. Stirn. Dann legte er den Zeigefinger der rechten Hand auf die Fläche der linken und erzählte die Thatsache.

»Auf wen haben Sie Verdacht? Ruhig jetzt! Reden Sie nicht im Zorn! Sie sind ein Zeuge – ein leidenschaftsloser, vorurtheilsfreier Zeuge. Blitz und Donner! Das ist die unverschämteste, unverantwortlichste, teuflischste – Wen haben Sie im Verdacht, sage ich.«

Stirn drehte seinen Hut in der Hand herum, zog seine Augenbrauen in die Höhe, machte mit seinem Daumen eine Bewegung über die Schultern und flüsterte: »Ich habe gehört, daß die beiden Papisten heute Nacht bei Euer Gnaden geschlafen haben.«

»Wie, Sie Gimpel! Glauben Sie, Doctor Riccabocca werde aus seinem warmen Bett aufstehen, um die Löcher in meinem neuen Stocke zuzustopfen?«

»Nein, er ist zu pfiffig, um es selbst zu thun; aber er kann es semminirt haben. Es ist eine dicke Freundschaft zwischen ihm und Pfarrer Dale, und Euer Gnaden weiß, daß der Pfarrer gegen den Stock eingenommen war. Nur ein wenig Geduld, gnädigster Herr! Fallen Sie nicht gleich über mich her! Es ist ein Junge hier im Kirchspiel –«

»Ein Junge! Ach, da sind Sie schon dem Ziele näher. Was wird der Pfarrer ›Zum Teufel mit dem Stock‹ schreiben! Welchen Knaben meinen Sie?«

»Den Jungen, den Pfarrer Dale so verhätschelt, bei dessen Mutter der Papist neulich eine ganze Stunde gesessen, und der so tief ist, wie ein Brunnen. An dem Tage, als der Stock wieder aufgestellt wurde, sah ich ihn um den Platz herumschleichen und sich unter einem Baume verstecken; und dieser Junge ist kein anderer als Lenny Fairfield.«

»Hui,« pfiff der Squire vor sich hin, »Sie haben heute Ihre Sinne nicht recht beisammen. Lenny Fairfield, der Musterknabe des Dorfes! Gehen Sie doch! Ich glaube, am Ende hat es gar Keiner aus dem Kirchspiel gethan, sondern irgend ein nichtswürdiger Landstreicher – vielleicht jener verwünschte Kesselflicker, der mit einem boshaften Esel herumzieht, den ich neulich erwischte, als er eben Disteln aus den Augen des alten Stockes fraß. Das beweist, wie der Kesselflicker seine Esel zieht. Wohlan! Halten Sie gute Wache! Heute ist Sonntag – leider der schlimmste Tag in der Woche für Unordnung und Spektakel. Zwischen dem Morgen- und Nachmittagsgottesdienst und nach der Abendkirche schlendert, wie Sie wohl wissen, immer müssiges Volk aus der Umgegend herum. Verlassen Sie sich darauf, die wirklich Schuldigen werden sich um den Stock versammeln und sich verrathen. Halten Sie nur Ihre Augen und Ohren offen, und ich bin überzeugt, die Sache wird sich aufklären, noch ehe der Tag zu Ende ist. Und wenn wir ihn haben, so wollen wir an dem Schurken ein Exempel statuiren.«

»Das wollen wir,« versetzte Stirn, »und wenn wir ihn nicht finden, so muß doch ein Exempel statuirt werden. Das ist die Sache, gnädiger Herr! Deßhalb wird der Stock nicht respectirt, weil es bis jetzt noch an einem Exempel gefehlt hat. Wir müssen ein Exempel statuiren!«

»Meiner Treu', ich glaube, das ist wahr, und wir wollen den ersten müssigen Schlingel, den Sie auf irgend etwas Unrechtem erwischen, hineinstecken und wenigstens ein Paar Stunden d'rin lassen.«

»Mit dem größten Vergnügen, Euer Gnaden! Ja, ja, das soll geschehen!«

Und nachdem Mr. Stirn auf diese Weise vollständige und unumschränkte Vollmacht über alle Beine und Handgelenke im Kirchspiel – so weit nämlich der Stock in Frage kam – erhalten hatte, verabschiedete sich diese hochwichtige Persönlichkeit von dem Squire.


Zehntes Kapitel.

» Randal,« sagte Mrs. Leslie an jenem denkwürdigen Sonntage, »hast du wirklich im Sinne, die Hazeldeans zu besuchen?«

»Ja, Mutter,« antwortete Randal; »Mr. Egerton hat nichts dagegen, und da ich nicht mehr nach Eton zurückkehre, würde ich vielleicht nicht so bald Gelegenheit finden, Frank wieder zu sehen. Ich darf es gegen Mr. Egerton's natürlichen Erben nicht an Achtung fehlen lassen.«

»Gütiger Himmel!« rief Mrs. Leslie, welche gleich manchen Frauen ihres Schlages in ihrer Denkweise eine Art von Weltsinn hatte, der sich nie in ihrem Betragen kundgab. »Gütiger Himmel! Der natürliche Erbe der alten Besitzungen der Leslie's!«

»Er ist Mr. Egerton's Neffe, und ich,« fügte Randal hinzu, unverhohlen seinen Gedanken Worte leihend, »bin mit Mr. Egerton gar nicht verwandt.«

»Allein,« versetzte die arme Mrs. Leslie mit Thränen in den Augen, »es wäre doch eine Schande für ihn, wenn er nicht seine besondern Absichten mit dir hätte, da er doch die Kosten deiner Erziehung bestreitet, dich nach Oxford schickt und dich in den Ferien immer zu sich kommen läßt.«

»Absichten, Mutter, hat er sicher, nur nicht diejenigen, welche du vermuthest. Thut nichts! Es genügt, daß er mich für's Leben ausgerüstet hat. Ich werde meine Waffen schon gebrauchen, wie es mir am besten dünkt.«

Hier wurde das Gespräch durch den Eintritt der übrigen Familienglieder, welche schon für den Kirchgang gerichtet waren, unterbrochen.

»Es kann doch noch nicht Zeit sein, zur Kirche zu gehen! Unmöglich!« rief Mrs. Leslie, die niemals rechtzeitig fertig war.

»Das letzte Zeichen wird soeben geläutet,« sagte Mr. Leslie, ein obwohl langsamer, doch höchst methodischer, pünktlicher Mann. Mrs. Leslie, deren Montfydgetblut jetzt in Wallung war, rannte außer sich zur Thüre hinaus, die Treppe hinan, riß ihren besten Hut vom Ständer, ihren neusten Shawl aus der Kommode, drückte hastig den erstern auf den Kopf, warf den letztern über die Schultern, steckte ihn mit einer großen Nadel übereinander, um einen klaffenden Spalt an der Taille ihres Kleides (in Folge verschiedener fehlender Knöpfe) zu bedecken, und flog dann wie eine Windsbraut wieder hinab. Indessen wartete die Familie vor der Hausthüre, und als eben der letzte Glockenton verhallt war, setzte sich der Zug von der elenden Behausung nach der verfallenen Kirche in Bewegung.

Die Kirche war groß, die Versammlung jedoch klein – und ebenso die Besoldung des Pfarrers. Die Leslie's hatten früher den großen Zehnten besessen, denselben aber längst schon veräußert. Die Pfründe, welche zu vergeben ihnen noch immer zustand, mochte etwa ein jährliches Einkommen von hundert Pfund abwerfen, und der gegenwärtige Pfarrer hatte außer diesen keine anderen Einkünfte. Er war ein guter und von Natur nicht eben dummer Mann; allein Armuth und die Sorgen für Weib und Kinder, verbunden mit dem, was man für einen gebildeten Geist »Einzelhaft« nennen könnte, nämlich völliger Mangel an Umgang mit gebildeten Leuten, mit welchen er außer seinem seelsorgerlichen Amte einen Gedanken hätte austauschen können, hatte ihn in eine trübsinnige Trägheit eingelullt, welche zu Zeiten an Geistesschwäche gränzte. Er besaß nicht die Mittel, seiner Gemeinde Wohlthaten zu erweisen; weder durch Liebesgaben, noch auf irgend eine sonstige Art vermochte er ihr nützlich zu werden, und so stand ihm auch kein anderer moralischer Einfluß zu Gebot, als das Beispiel seines tadellosen Lebens und die negative Wirkung, welche seine schläfrigen Predigten hervorbrachten. Seine Gemeindeglieder belästigten ihn daher nur wenig, und ohne den Einfluß, den Mrs. Leslie in den Stunden ihrer Montfydget-Thätigkeit auf die lenksamsten derselben – nämlich die Kinder und Greise – ausübte, hätten sich nicht sechs Personen darum bekümmert, ob er seine Kirche schloß oder nicht.

Unsere Familie saß jedoch stattlich in ihrem alten Herrenstuhl; Mr. Dumdrum Anklang an engl. humdrum: stumpfsinnig, öde. trug in einem traurigen, kläglichen Tone die Gebete vor, wozu alte Leute, die nicht mehr sündigen konnten, und Kinder, welche die Sünde noch nicht kennen gelernt hatten, die Responsorien in einer Weise krächzten, die eines aristophanischen Fröschecorps »Die Frösche«, antike griechische Komödie des Aristophanes, uraufgeführt um 405 v.u.Z. würdig gewesen wäre. Dann folgte eine lange Predigt über ein Thema, das Niemand interessiren konnte – in Wahrheit nichts Anderes als eine homiletische Homiletik: Predigtlehre. Controverse, welche der Pfarrer schon vor Jahren verfaßt und vorgetragen hatte. Nach dem Schlusse der Rede ließ sich ein allgemeines lautes Grunzen vernehmen, als ob Jedes Gott danke, erlöst zu sein; dann begann ein Schuhgeklapper – die Alten humpelten und die Jungen stürmten nach der Kirchthüre.

Unmittelbar nach dem Gottesdienste nahm die Familie Leslie ihr Mittagsmahl ein, und sobald dies vorüber war, machte sich Randal zu Fuße auf den Weg nach Hazeldean.

Obschon von zartem und schwächlichem Körperbau, besaß er doch die rasche Beweglichkeit und Energie, welche man bei nervösen Temperamenten zu bemerken pflegt, so daß die Beine des langsamen Bauern, den er für die ersten paar Meilen als Führer mitgenommen hatte, auf eine ziemlich harte Probe gestellt wurden. In Randal's Wesen lag freilich nicht jene gewinnende Herzlichkeit gegen die Armen, welche Frank von seinem Vater geerbt hatte; aber doch war er Gentleman genug (trotz manchen geheimen Lasters, das sich nicht mit dem Charakter eines solchen verträgt), um keinen rohen Hochmuth gegen Untergebene zu zeigen. Wenn er auch selbst nicht viel redete, so ließ er doch seinen Begleiter sprechen, und dieser – derselbe junge Bursche, welchen Frank angeredet hatte – ergoß sich in Lobeserhebungen zuerst über den Pony des jungen Hazeldean und zuletzt über diesen selbst. Randal drückte sich den Hut tiefer in's Gesicht. Allein Landleute haben oft einen merkwürdigen Takt und ein sehr feines Gefühl; Tom Stowell war nur ein gewöhnliches Exemplar dieser Klasse, allein er bemerkte doch plötzlich, daß er seinem Begleiter wehe gethan habe. Er hielt inne, kratzte sich hinter den Ohren und sagte, seinen Gefährten freundlich anblickend:

»Aber, Mr. Randal, ich werde es erleben, Sie noch einmal auf einem weit schöneren Thiere zu sehen, als der kleine Pony! Es kann gar nicht fehlen, denn Sie sind so gut ein Gentleman als nur irgend einer im Lande.«

»Ich danke Euch,« sagte Randal. »Allein Gehen ist mir lieber als Reiten; ich bin mehr daran gewöhnt.«

»Und Sie marschiren auch wacker. Weit und breit gibt es keinen bessern Fußgänger als Sie. Das Gehen ist auch sehr angenehm, und der Weg nach der Halle führt durch eine sehr hübsche Gegend.«

Randal schritt rasch weiter, als ob er sich sehnte, den versöhnenden und tröstenden Worten seines Begleiters zu entgehen. Als er endlich auf einen breitern Weg kam, sagte er: »So, nun werde ich mich wohl zurecht finden können. Ich danke schön, Tom!« und drückte einen Schilling in die harte Hand des Landmannes. Dieser weigerte sich zuerst, ihn anzunehmen, und eine Thräne trat ihm in's Auge. Er fühlte für diesen Schilling herzlichere Dankbarkeit als für die halbe Krone, welche Frank ihm großmüthig gespendet hatte; mitleidsvoll gedachte er der armen, herabgekommenen Familie und vergaß darüber des eigenen sauern Kampfes mit dem Wolf vor seiner Thüre.

Zögernd blieb er an dem Heckenweg stehen, bis Randal ihm aus dem Gesichte entschwunden war, und kehrte dann langsam zurück. Indessen setzte der junge Leslie raschen Schrittes seinen Weg fort. All' seine Bildung, all' sein rastloses Streben vermochte in seiner Brust keine so edlen, poetischen Empfindungen zu erwecken, wie diejenigen, welche den ungelehrten Bauern auf seinem Heimweg begleiteten.

Als Randal auf einer Strecke unbebauten Landes anlangte, woselbst verschobene Wege sich kreuzten, fing er an, Müdigkeit zu fühlen, und mäßigte daher seinen Schritt. In diesem Augenblick rollte ein Cabriolet aus einem der Feldwege daher und schlug dieselbe Richtung, wie der Fußgänger, ein. Der Weg war holperig und steil, und der im Wagen sitzende Landmann, ein stämmiger junger Bursche, der zu der bessern Klasse der Pächter zu gehören schien, fuhr langsam, so daß Randal mit ihm Schritt halten konnte. Mitleidig ruhte sein Blick auf dem bleichen Gesichte und den augenscheinlich ermüdeten Gliedern des Knaben.

»Sie scheinen müde zu sein, junger Herr!« redete er ihn an. »Vielleicht haben wir denselben Weg, und ich kann Sie ein Stück weit mitnehmen.«

Es war Randal's Grundsatz, keinen Vortheil, der sich ihm darbot, unbenützt zu lassen, daher er auch das Anerbieten zur Freude des ehrlichen Pächters ohne Umstände annahm.

»Ein schöner Tag,« sagte der Letztere, als Randal neben ihm Platz genommen hatte. »Kommen Sie von weit her?«

»Von Rood Hall.«

»O, Sie sind wohl der junge Squire Leslie?« sagte der Pächter, achtungsvoll den Hut lüpfend.

»Ja, mein Name ist Leslie. Kennen Sie Rood?«

»Ich bin auf Ihres Herrn Vaters Besitzung erzogen worden. Haben Sie vielleicht von Pächter Bruce gehört?«

Randal. – »Ich erinnere mich sehr wohl eines Mr. Bruce, der, als ich noch ein kleiner Knabe war, den besten Theil unserer Güter in Pacht hatte und uns immer Kuchen mitbrachte, wenn er zu meinem Vater kam. Ist er mit Ihnen verwandt?«

Pächter. – »Er war mein Onkel. Leider ist er todt.«

Randal. – »Todt! Das thut mir herzlich leid; er war immer so freundlich gegen uns Kinder. Aber er hatte jenen Pacht unserer Güter schon lange aufgegeben.«

Pächter (entschuldigend). – »Er that es gewiß sehr ungern. Allein es fiel ihm damals eine unerwartete Erbschaft zu –«

Randal. – »Und da gab er die Landwirtschaft auf?«

Pächter. – »Das nicht. Allein mit seinem Kapital konnte er den höhern Pachtzins für eine ausgezeichnete Pachtung bezahlen.«

Randal (bitter). – »Alles Kapital scheint von den Ländereien von Rood zu fliehen. Wessen Farm pachtete er dann?«

Pächter. – »Er pachtete das Gut Hawleigh von Squire Hazeldean. Ich sitze jetzt darauf. Wir haben viel Geld hineingesteckt; aber ich beklage mich nicht, denn das ausgelegte Kapital rentirt sich gut.«

Randal. – »Würde sich das Geld, wenn Sie es in meines Vaters Güter gesteckt hätten, nicht eben so gut rentirt haben?«

Pächter. – »Mit der Zeit vielleicht wohl. Aber wir brauchten neue Wirthschaftsgebäude, Scheunen, Viehställe und noch vieles Andere, was der Gutsherr machen lassen mußte. Allein nicht jeder hat die Mittel dazu. Squire Hazeldean ist ein reicher Mann.«

Randal. – »Ja freilich!«

Der Weg wurde jetzt wieder besser, und der Pächter ließ sein Pferd munter traben.

»Wohin wollen Sie, Mr. Leslie? Wenn ich Ihnen einen Gefallen erweisen kann, so macht es mir nichts, ein Paar Meilen umzufahren.«

»Ich gehe nach Hazeldean,« sagte Randal, sich aus seiner Träumerei aufraffend. »Aber machen Sie meinetwegen keinen Umweg.«

»O, Hawleigh Farm liegt gleich hinter dem Dorfe, und wir haben also denselben Weg.«

Der Pächter, der in der That ein hübscher, junger Bursche war – jener Klasse angehörend, welche die Landwirtschaft, wenn sie über bedeutende Kapitalien verfügen kann, hervorzubringen pflegt, und die, was Erziehung und Bildung betrifft, den Squires einer früheren Generation um nichts nachsteht – begann von seinem Roß, dann von Pferden im Allgemeinen, von Jagden und Wettrennen zu plaudern und behandelte alle diese Gegenstände mit Verstand und Bescheidenheit. Randal drückte sich den Hut noch tiefer in die Stirne und unterbrach seinen Gefährten nicht, bis sie an dem Casino vorbei kamen. Das klassische Aussehen desselben fiel ihm auf, und als der Wind den Duft der Orangeblüthen zu ihm herübertrug, fragte er schnell: »Wem gehört dieses Hans?«

»Squire Hazeldean ist der Eigentümer; er hat es aber an einen Ausländer vermiedet oder demselben geliehen. Dieser soll ein ächter Gentleman, aber sehr arm sein.«

»Arm?« wiederholte Randal, indem er sich nach dem wohlgepflegten Garten, der reinlichen Terrasse, dem hübschen Belvedere umschaute und durch die offen stehende Hausthüre einen Blick in die gemalte Halle warf. »Arm, sagen Sie? das Gut scheint sehr gut unterhalten. Was nennen Sie arm, Mr. Bruce?«

Der Pächter lachte.

»Das ist eine Gewissensfrage! Ich glaube, der fremde Herr ist so arm, als man sein kann, ohne Schulden zu machen und ohne Hungers zu sterben.«

»So arm, wie mein Vater?« fragte Randal plötzlich und freimüthig.

»Du mein Gott, Sir! Ihr Vater ist ein sehr reicher Mann im Vergleich mit ihm!«

Randal's Blick haftete noch immer auf dem Casino, und sein geistiges Auge vergegenwärtigte ihm den Kontrast, den es gegen seine eigene verwahrloste, armselige Heimath mit all ihrem elenden Zubehör darbot. Da war kein wohlgepflegter Garten in Rood Hall, keine lieblichen Düfte von Orangeblüthen. Hier war die Armuth noch elegant – dort wie schmutzig, wie verächtlich! Er begriff nicht, mit welch' geringen Kosten der Hochgenuß der Schönheit sich erzielen läßt.

Jetzt näherten sie sich der Umzäunung des Parkes von Hazeldean, und da Randal eines Pförtchens ansichtig wurde, so bat er den Pächter, anzuhalten, und stieg aus. Der Knabe befand sich bald im Schatten der dichten Eichengruppen, der Pächter aber fuhr wohlgemuth seines Weges, ein lustiges Liedchen pfeifend, dessen Melodie noch zu Randals Ohren drang, während er in finsterer Gemüthsstimmung rasch unter den Bäumen weiter schritt.

Als er in der Halle anlangte, fand er, daß sich die ganze Familie und, der patriarchalischen Sitte gemäß, auch so ziemlich die sämmtliche Dienerschaft in der Kirche befand. Nur eine alte, gebrechliche Hausmagd war zurückgeblieben, welche ihm die Thüre öffnete. Da sie etwas taub und sehr einfältig schien, mochte Randal nicht von ihr verlangen, eingelassen zu werden, um im Hause Frank's Rückkehr abzuwarten. Er sagte deßhalb nur kurz, er wolle ein wenig spazieren gehen und nach beendigtem Gottesdienste wieder kommen.

Die alte Frau starrte ihn an, indem sie sich alle Mühe gab, ihn zu verstehen. Randal jedoch drehte ihr rasch den Rücken zu und schlenderte nach der Gartenseite des schönen, alten Hauses hin.

Für jedes einigermaßen empfängliche Auge mußte der weiche, weitausgedehnte Rasenteppich mit den zahlreichen Blumenbeeten in wechselndem Farbenspiel – die majestätischen Cedern, welche ihren ruhigen Schatten auf das Gras warfen und das malerische Gebäude mit seinen vorspringenden Fenstern und Giebeln den freundlichsten Anblick darbieten; allein ich fürchte sehr, der knabenhafte Greis betrachtete die Scene nicht mit den Augen des Dichters oder Malers!

Er erblickte die Kundgebung des Reichthums und der Neid war das einzige Gefühl, welches seine Seele erfüllte.

Die Arme über der Brust gekreuzt, stand er eine Zeitlang in Anschauen vertieft mit zusammengepreßten Lippen und finsterer Stirne; dann ging er langsam und gesenkten Blickes weiter, indem er vor sich hin murmelte:

»Der Erbe dieses Besitzthums ist nicht viel mehr, als ein Gimpel, während ich Talent und Kenntnisse besitzen soll, und mein Wahlspruch heißt: ›Wissen ist Macht.‹ Aber wird mich bei all meinem Ringen das Wissen je auf dieselbe Stufe erheben, welche dieser Gimpel schon vermöge seiner Geburt einnimmt? Es wundert mich nicht, daß der Arme den Reichen haßt; aber welcher Arme hat mehr Ursache zu glühendem Haß gegen den Reichen, als der arme Edelmann? Audley Egerton denkt wohl, ich solle mit der Zeit in's Parlament kommen und ein Tory werden, wie er selbst. Was! Alles bestehen lassen, wie es ist? Nein! nicht einmal eine Demokratie genügt mir, wenn nicht eine Revolution vorhergeht. Ich begreife den Ruf eines Marat Jean Paul Marat (1743-93), radikaler Wortführer in der französischen Revolution; von seinen politischen Gegnern für die Septembermassaker verantwortlich gemacht; durch seine Ermordung wurde er zum »Märtyrer der Revolution«.: ›Mehr Blut!‹ Marat hat als armer Mann gelebt und sich den Wissenschaften gewidmet – Angesichts eines fürstlichen Palastes.«

Randal drehte sich rasch um und warf einen Blick voll Haß und Ingrimm auf die arme alte Halle, die zwar ein recht behagliches Wohnhaus, aber nichts weniger, als ein Palast war. So ging er, die Arme noch immer auf der Brust verschränkt, rückwärts, als ob er weder den Anblick, noch den Gedankengang, den derselbe heraufbeschworen, verlieren wollte.

»Allein,« fuhr er in seinem Selbstgespräch fort, »zu einer Revolution ist nicht die mindeste Aussicht vorhanden. Sollte übrigens derselbe Verstand und Wille, der in Revolutionen sein Glück macht, dies nicht auch im gewöhnlichen Leben vermögen? Wissen ist Macht. Wohlan! Sollte ich nicht die Macht haben, diesen Gimpel aus dem Weg zu schaffen – ihn zu vertreiben? Woraus vertreiben? Aus seines Vaters Halle? Und wenn er todt wäre, auf wen würde Hazeldean übergehen? Hat meine Mutter mir nicht gesagt, daß ich der nächste Verwandte des Squires wäre, wenn er keine Kinder hätte? O, aber der Knabe überlebt mich zehnmal! Ihn vertreiben aus was? Wenigstens aus den Gedanken seines Onkels Egerton – eines Onkels, der ihn nie gesehen hat. Dies wenigstens wäre ausführbar. Du sagst, ich soll mir meinen Weg in der Welt bahnen, Audley Egerton! Ja, das will ich – und auch den Weg zu dem Reichthum, den du meinen Vorfahren geraubt hast. Verstellung – Verstellung! Lord Bacon Francis Bacon (1561-1626), englischer Philosoph, Staatsmann und als Wissenschaftler Wegbereiter des Empirismus. erklärt die Verstellung für erlaubt – Lord Bacon übte sie selbst – und –«

Hier nahm das Selbstgespräch ein plötzliches Ende; ganz in seine Gedanken verzückt, war der Knabe immer weiter rückwärts gegangen und zuletzt an der Stelle angelangt, wo der Rasen gegen den Graben zu abschoß – und gerade in dem Augenblicke, als er sich an Lord Bacon's Grundsätzen und Beispielen stählen wollte, fehlte der Boden unter seinen Füßen und – platsch! lag Randal Leslie im Graben!

Nun traf es sich aber, daß der Squire, dessen thätiger Geist immer etwas zu verändern und zu verbessern haben mußte, erst vor wenigen Tagen den Graben in dieser Gegend hatte erweitern und abdachen lassen, so daß der Boden noch frisch und feucht und weder mit Rasen belegt, noch festgestampft war. Als daher Randal, sich von dem ersten Schrecken erholend, auf seine Füße sprang, waren seine Kleider über und über mit Koth bedeckt, während die Gewalt des Falles sich an dem seltsamen, phantastischen Aussehen seines Hutes kund gab, welcher voller Beulen und so zerdrückt war, daß er kaum mehr überhaupt einem Hute ähnlich sah, geschweige denn demjenigen eines anständigen, fleißig seinen Studien obliegenden jungen Gentlemans – des besondern Schützlings Audley Egerton's. Weit eher hätte man ihn für den aus der Gosse aufgelesenen Hut eines Trunkenboldes halten können!

Randal war zerschlagen, betäubt und schwindlig, so daß er an den Zustand seiner Kleider nicht sogleich dachte. Als dies endlich geschah, wurde seine üble Laune noch erhöht. Er war noch Knabe genug, um den Gedanken, sich dem ihm unbekannten Squire und dem stutzerhaften Frank in solchem Aufzuge vorzustellen, nicht ertragen zu können, und beschloß deßhalb, lieber wieder in den Heckenweg einzubiegen und nach Hause zurückzukehren, ohne den Zweck seiner Reise erfüllt zu haben. Da er jedoch gerade vor sich einen Fußpfad gewahrte, der nach einer kleinen Pforte führte, so schlug er denselben ein in der Hoffnung, dadurch früher auf die Landstraße zu gelangen, als auf dem Wege, den er hergekommen war.

Es ist erstaunlich, wie wenig wir armen Erdenwürmer die Warnungen unseres guten Engels beachten. Ich zweifle nicht im Mindesten, daß irgend eine wohlwollende Macht Randal Leslie in den Graben gestürzt hatte in der Absicht, ihm einen bedeutungsvollen Wink über das Geschick aller Derjenigen zu geben, welche den heutzutage gar nicht ungewöhnlichen Schritt im Gange des Menschengeistes einschlagen – nämlich den Schritt rückwärts – um mit neidischem Auge nach dem Eigenthum des Nächsten zu schielen! Ja, ich vermuthe, daß noch vor Ende dieses Jahrhunderts mancher schmucke Bursche seinen Graben gefunden haben und in einem viel schäbigern Rocke herausgekrochen sein wird, als er anhatte, da er hinein fiel.

Randal wußte seinem guten Genius wenig Dank für diese gewaltsame Warnung – kein Wunder, denn er wäre der Erste gewesen, der es gethan hätte!


Elftes Kapitel.

An jenem Morgen kam der Squire in sehr gereizter Stimmung zum Frühstück. Er war zu sehr Engländer, um eine Beleidigung geduldig zu ertragen, und betrachtete es als einen persönlichen Schimpf, daß man das Geschenk, welches er erst kürzlich der Gemeinde gemacht, so wenig in Ehren gehalten hatte. Neben seinem Stolze waren aber auch seine Gefühle verletzt. Denn die ganze Sache zeugte von einem empörenden Undank, nachdem er sich nicht nur mit der Wiederherstellung, sondern auch mit der Verschönerung des Stockes so viele Mühe gegeben hatte. Freilich war es keine so große Seltenheit, den Gutsherrn verstimmt zu sehen, und so rief auch dieser Umstand keine sonderliche Beachtung hervor. Riccabocca und Mrs. Hazeldean konnten zwar allerdings nicht umhin, zu bemerken, daß der Squire als Wirth sich etwas einsilbig und als Gatte etwas auffahrend zeigte, allein der Gast war zu bescheiden und rücksichtsvoll, und die Gattin zu verständig, um in der frischen Wunde, woher sie auch rühren mochte, zu wühlen, und bald nach dem Frühstück zog sich der Squire in sein Studirzimmer zurück, welches er auch während des Morgengottesdienstes nicht verließ.

Forster sucht in seiner herrlichen Biographie Oliver Goldsmith's Life, adventures and times of Oliver Goldsmith (1848) von John Forster (1812-76), der später auch eine Dickens-Biographie vorlegte. unsere Herzen zu rühren, indem er anführt, daß sein Held den geistlichen Stand nicht erwählt habe, weil er geglaubt, nicht gut genug dafür zu sein. Armer Goldsmith! Dein Landprediger von Wakefield war ein vortrefflicher Ersatzmann für dich, und Doctor Primrose Dr. Charles Primrose ist die Haupt- und Titelfigur in »The Vicar of Wakefield« (1766) von Oliver Goldsmith. wenigstens wird gut genug für die Welt sein, bis Miß Jemima's Befürchtungen zur Wahrheit werden.

Nun hatte aber Squire Hazeldean ein nicht weniger zartes Gewissen, als Oliver Goldsmith. Es gab Tage, an denen er sich für zu schlecht hielt, nicht ein Prediger, sondern auch nur ein Zuhörer zu sein – »Tage« (wie er in seiner derben Weise sich ausdrückte) »an welchen ich meinen Teufel – und ich kenne keinen schlimmern, als den Teufel des Zorns – nicht in den Kirchenstuhl der Familie tragen möchte, damit er mir heuchlerische Responsorien aus meiner guten Großmutter Gebetbuch herausbrumme.« So blieb also der Squire mit seinem Dämon zu Hause. Allein der Teufel war gewöhnlich ausgetrieben, bevor der Tag zu Ende ging, und diesmal mußte sich der Squire, noch ehe es zum Nachmittagsgottesdienst läutete, durch Vernunftgründe oder Selbstanklage in die rechte Gemüthsverfassung hineingearbeitet haben, denn er erschien unter der Vorhalle seines Hauses mit seiner Gattin am Arm und an der Spitze des ganzen Haushaltes, um sich in die Kirche zu begeben. Der zweite Gottesdienst war – wie dies auf dem Lande gewöhnlich der Fall ist – mehr besucht, als der erste, und unser Pastor pflegte daher für diesen seine eindringlichsten Reden aufzusparen.

Pfarrer Dale, obwohl ein recht gelehrter Mann, besaß weder die gründliche theologische, noch archäologische Bildung, welche die jüngere Generation der Geistlichkeit auszeichnet. Ich bezweifle sehr, ob er ein nur einigermaßen erträgliches Examen in den Kirchenvätern bestanden haben würde, und was alle jene feinen Förmlichleiten in der Kirchenordnung betrifft, so wäre er sicher nie der Mann gewesen, Spaltungen in einer Gemeinde hervorzurufen oder einen Bischof in Verlegenheit zu setzen. Auch in der kirchlichen Architektur war Pfarrer Dale wenig bewandert. Ihm war es gleichgültig, ob die einzelnen Theile eines Gotteshauses rein gothisch waren, oder nicht; und die verschiedenen Ornamente, Rundbogen und Spitzbogen waren Dinge mit denen er, wie ich befürchte, seinen Kopf nie behelligte. Aber ein Geheimniß besaß er, das vielleicht von größerer Wichtigkeit ist, als jene feinen Mysterien: er verstand es, seine Kirche zu füllen. Selbst heim Morgengottesdienst blieb kein Stuhl leer, und Nachmittags war die Kirche gedrängt voll.

Heutzutage würde Pfarrer Dale wohl der Vorwurf gemacht werden, als habe er nur eine geringe Vorstellung von der geistlichen Gewalt der Kirche, denn man hatte nie von ihm gehört, daß er sich in gelehrte Streitfragen eingelassen über das Verhältniß der Kirche zum Staate – ob sie über demselben stehe, oder ihm einverleibt sei – ob die Kirche Vorläuferin des Pabstthums gewesen, oder daraus hervorgegangen – u. s. w.  u. s. w. Seinem Lieblingsgrundsatze › Quieta non movere‹ (wenn etwas ruhig ist, so lasse man es in Ruhe) nach, dachte er ohne Zweifel, je weniger man über solche Dinge streite, desto besser sei es für Kirche und Laienwelt. Ebensowenig hatte man ihn je ein Bedauern darüber ausdrücken hören, daß die alte Sitte des Excommunicirens außer Gebrauch gekommen, oder die priesterliche Gewalt in irgend einer andern Weise geschmälert worden.

Dabei hatte jedoch Pfarrer Dale einen hohen Begriff von dem heiligen Vorrechte eines Dieners des Evangeliums – zu rathen – zu warnen – zu überzeugen – zu verweisen. Namentlich pflegte er, was das zuletzt genannte Vorrecht betraf, in seinen Nachmittagspredigten den eindringlichsten Gebrauch von demselben zu machen, nicht nur, weil sich seine Zuhörer, wie schon erwähnt, um diese Zeit am zahlreichsten einfanden, sondern auch, weil er bei all' seiner Unschuld dennoch ein schlauer Mann war und gar wohl wußte, daß die Leute nach dem Mittagessen eine Predigt weit besser ertragen, als vorher, und daß man dem Herzen viel eher beikommen kann, wenn der Magen befriedigt ist.

Es lag in der Art, wie Pfarrer Dale seine Gemeinde in der Predigt anfaßte, ein so herzliches Wohlwollen, ein so väterlicher Ton, daß Niemand sich verletzt fühlen konnte. Und wenn er irgend eine besondere Persönlichkeit im Auge hatte, an welche sich seine Ermahnungen richteten, so geschah dies in so unmerklicher Weise, daß nur der Schuldige selbst es wußte, wer der Sünder war, den er meinte. Dabei schonte er weder Reiche noch Arme; seine Predigt galt eben so wohl dem Squire und dem großen, dicken Pächter und Kirchenältesten Mr. Bullock, als dem Pflüger Hodge und Scrub, dem Zaunmacher. Am öftesten hätte sich Mr. Stirn von Pfarrer Dale's Worten getroffen fühlen können; allein derselbe besaß zwar Verstand genug, um zu wissen, daß er gemeint sei, aber nicht guten Willen genug, um sich dadurch bessern zu lassen.

Pfarrer Dale's Predigten zeigten nebenbei etwas von jener Kühnheit bildlicher Darstellung, welche man in den Reden unserer ältern Gottesgelehrten findet. Gleich ihnen verschmähte er es nicht, hier und da eine Anekdote aus der Geschichte einzuschalten, oder eine Anspielung aus einem weltlichen Schriftsteller zu borgen, um die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu beleben, oder einen Beweisgrund deutlicher zu machen. Der gute Mann verfolgte dabei noch einen besondern Zweck, der übrigens mit der Hauptaufgabe nicht im Zusammenhang stand, und sich dieser auch vollständig unterordnete. Pfarrer Dale war nämlich ein Freund der Wissenschaft – der Wissenschaft im Verein mit der Religion – und seine Hinweisungen auf Schriftsteller, welche nicht in den gewöhnlichen Lesebereich seiner Gemeinde gehörten, ermunterten zuweilen einen strebsamen Pächterssohn, in seinen freien Abendstunden sich von dem Geistlichen nähern Aufschluß zu erbitten und so unter sicherer Anleitung eine feinere und gediegenere Bildung zu suchen.

Der Pfarrer, dessen Auge und Herz stets an seiner Heerde hing, hatte mit großem Leidwesen die Verwirklichung seiner Besorgnisse bei dem Wiederaufleben des Stockes wahrgenommen. Es war ihm nicht entgangen, daß ein Geist der Unzufriedenheit unter den Bauern um sich griff, und daß herrische, inquisitorische Pläne das natürliche Wohlwollen des Squires trübten, er hatte die Zeichen eines Bruches – die Vorläufer der ewig zündbaren Fehde zwischen Reichen und Armen erkannt, und sann daher auf nichts Geringeres, als auf eine große politische Predigt, welche aus den Wurzeln socialer Wahrheiten eine Heilkraft heraus ziehen sollte für die zwar noch verborgene, aber darum nicht minder schmerzliche Wunde in der Brust seiner Gemeinde von Hazeldean.

Folgt nun

Pfarrer Dale's politische Predigt.


Zwölftes Kapitel.

»Denn ein Jeglicher   
wird seine Last tragen.«

Galater 6. 5.

» Meine Brüder! Jeder Mensch hat seine Last zu tragen. Wenn es in der Absicht Gottes läge, daß unser Leben im Grabe ein Ende nähme, dürften wir dann nicht glauben, daß Er ein so kurzes Dasein von den Sorgen und Leiden, denen die Menschheit seit Erschaffung der Welt unterworfen ist, frei erhalten hätte?

Setzen wir den Fall, ich sei ein zärtlicher Vater und habe ein Kind, das ich innigst liebe, von dem ich aber vermöge einer göttlichen Offenbarung wisse, daß es im achten Jahre sterben werde, so würde ich sicherlich seine Kindheit nicht durch nutzlose Vorbereitung für die Pflichten des Lebens verkümmern. Wäre ich ein reicher Mann, so würde ich es nicht den Liebkosungen seiner Mutter entziehen, um es der strengen Zucht einer Schule zu unterwerfen. Wäre ich arm, so nähme ich es nicht mit hinaus zu meinen Feldgeschäften, daß die Sonne es versenge, oder sein Blut im Winterfrost erstarre. Wozu seiner Kindheit Mühseligkeiten aufbürden, um es für das Mannesalter vorzubereiten, wenn ich doch weiß, daß es bestimmt ist, nie zum Manne heranzureifen?

Glaube ich aber im Gegentheil, daß meinem Kinde ein längeres Dasein bestimmt ist, muß ich dann nicht, je nach der Stellung, welche ihm seine Geburt anweist, seine Kindheit für die Kämpfe des Lebens vorbereiten, ihm manche Mühe, manchen Schmerz auflegen, um es für die Obliegenheiten des reifern Alters zu erziehen und zu kräftigen?

Ebenso geht es unserem Vater im Himmel. Dieses Erdenleben ist nur unsere Kindheit, erst in dem zukünftigen erlangen wir unsere geistige Reife – dort erst kann Er uns ›den überschwenglichen Reichthum seiner Gnade‹ zeigen, und so müssen wir sowohl seine Liebe, als seine Weisheit darin erkennen, daß er in den Mühen und Leiden uns die Kräfte der Seele erproben und ihre Tugenden entwickeln läßt, damit dieselbe vorbereitet werde für die Erlangung unseres Erbes, die Erringung des uns erkauften Besitzes! Daher ist Jeglichem seine Last auferlegt.

Wenn Ihr also glaubt, meine Brüder, daß unser Gott ein gütiger Gott – ja, daß Er nur so liebevoll, wie ein irdischer Vater ist, so müßt Ihr in Euren zeitlichen Mühen und Leiden einen Beweis dafür erkennen, daß Ihr für ein ewiges Leben erzogen werden sollt.

Freilich meint Jeder, seine Last sei am schwersten zu tragen. Der Arme stöhnt unter seiner Armuth, der Reiche unter den Sorgen, welche mit dem Reichthume zunehmen. Denn der Reichthum befreit uns so wenig von der Sorge, daß vielmehr die Weisen aller Zeiten einstimmig die Worte des Weisesten wiederholt haben: ›Denn wo viel Gutes ist, da sind Viele, die es essen; und was genießt sein, der es hat, ohne daß er es mit Augen ansieht?‹ (Prediger Sal. 5. 6.) und dies ist wörtlich wahr, meine Brüder! denn wäre ein Mann auch so reich wie der König Salomo selbst, so muß doch sein Gold, wenn er es nicht etwa in eine Kiste verschließen will, hinaus und sich unter Andere vertheilen; und wenn er, wie Salomo, große Werke ausführt – wenn er sich Häuser baut und Weinberge pflanzt, Gärten anlegt und Obstbäume zieht – so nährt das Geld, das er ausgibt, Diejenigen, welche für ihn arbeiten, und Salomo konnte nicht mit größerem Wohlbehagen essen, als der ärmste Maurer, der an seinem Hause bauen half oder der Tagelöhner, der seinen Weinberg pflanzte. Darum ›wo viel Gutes ist, da sind Viele, die es essen.‹

Und dies, meine Brüder, soll uns zu Duldsamkeit und Mitleid mit den Reichen veranlassen. Wir haben Theil all ihrem Reichthum, sie mögen es wollen oder nicht wollen, ihre Sorgen aber theilen wir nicht.

Die Geschichte unseres Landes erzählt uns, daß eine Prinzessin, welche bestimmt war, die größte Königin zu werden, die je auf Englands Throne saß, ein singendes Milchmädchen beneidete; und ein weltlicher Dichter, dessen Weisheit nur durch die inspirirten Schriftsteller der Bibel übertroffen wird, stellt Uns einen durch List und Gewalt auf den Thron erhobenen König dar, wie er sich nach dem Schlummer sehnt, der dem Aermsten und Niedrigsten seiner Unterthanen bescheert ist. Wir sehen darin eine Bestätigung der Worte des Sohnes Davids: ›Wer arbeitet, dem ist der Schlaf süße, er habe wenig oder viel gegessen; aber die Fülle des Reichen läßt ihn nicht schlafen.‹ (Pred. Sal. 5. 11.)

Unter meinen hier anwesenden Brüdern ist sicher Mancher, der früher arm gewesen und durch Fleiß und Rechtschaffenheit zu einem verhältnißmäßigen Wohlstande gelangt ist. Er lasse sein Herz antworten auf meine Fragen: Haben nicht die Hauptsorgen, welche ihn jetzt quälen, ihren Grund in den Gütern, die er erworben? und ist er nicht jetzt Anfechtungen seines Geistes und Prüfungen seiner Tugend unterworfen, von denen er nichts wußte, als er noch zu seiner Arbeit ging, ohne sich um den kommenden Tag zu kümmern?

Aber es ist ganz recht, daß jeder Stand seine eigene Plage – Jedermann seine Last habe. Wenn der Arme nicht zuweilen seine Armuth als Last empfände und deßhalb seine Lage zu verbessern und (wie man in der Welt zu sagen pflegt) ›sich empor zu bringen‹ suchte, so würden seine kostbarsten Kräfte nie geweckt werden, und wir dürften nie Zeugen sein von dem in unserm Lande so häufigen Schauspiel eines erfolgreichen Kampfes mannhafter Anstrengung gegen ein widriges Geschick – eines Kampfes, in welchem der Sieg eines Einzigen Tausende mit Hoffnungen erfüllt.

Das Sprüchwort nennt die Noth die Mutter der Erfindungen, und die gesellschaftlichen Segnungen, welche jetzt unter uns so allgemein sind, wie Luft und Sonnenschein, verdanken wir jenem Gesetze unserer Natur, welches uns beständig nach Vervollkommnung streben läßt, jede folgende Generation mit den Früchten der vorhergegangenen bereichert und in freien Ländern nicht selten das Kind des Arbeiters zu einem Platze unter den Lenkern des Staates erhebt.

Wenn aber die Noth die Mutter der Erfindungen ist, so ist die Armuth die Schöpferin der Künste. Gäbe es keine Armuth und kein Gefühl für dieselbe, wo bliebe wohl das, was wir den Reichthum eines Landes nennen? Nimmt man von der Civilisation Alles hinweg, was durch die Armen hervorgebracht wurde, was bleibt alsdann? Der Zustand der Wilden.

An der Stelle von Arbeitern und Fürsten würdet Ihr freilich Gleichheit erblicken – aber die Gleichheit wilder Menschen. Nein, nicht einmal diese; denn rohe Gewalt würde alsbald die Herrschaft erlangen, und wehe den Schwachen! Während Ihr jetzt die Einen in Zwilch, die Andern in Purpur einhergehen seht, würde Euer Auge überall nur auf Nacktheit treffen. Wo jetzt der Palast und die Hütte stehen, gäbe es nichts, als Löcher und Höhlen. So hoch ein einfacher Bauer über einen wilden König erhaben ist, so weit übertrifft die durch die Anstrengungen des Fleißes bereicherte und erhobene Gesellschaft den Zustand, in welchem die Armuth keine Ungleichheit fühlt, und die Mühe nicht nach Erleichterung seufzt.

Wenn andererseits die Reichen vollkommene Befriedigung in ihrem Reichthum fänden, so würden ihre Herzen durch die sinnlichen Genüsse, die er gewährt, notwendig verhärtet. Allein das von der göttlichen Weisheit in die Seele gepflanzte Gefühl, daß im Mammon Eitelkeit und Ueberdruß liege, erhält den Reichen empfänglich für himmlisches Sehnen und lehrt ihn, sein Glück in jenen erhabenen Tugenden zu suchen, zu welchen ihn der Reichthum befähigt, nämlich in dem Schutze des Schwachen und in der Wohlthätigkeit gegen den Unglücklichen.

Und dies, meine Brüder, führt mich zu der Betrachtung einer andern Seite des unerschöpflichen Themas, welches die Worte des Apostels Uns darbieten: ›Ein Jeglicher wird seine Last tragen.‹

Die irdischen Lebensstellungen sind ungleich. Warum wohl? O, meine Brüder, könnt Ihr Euch nicht denken, weßhalb? Wenn es für unser geistiges Wachsthum besser wäre, daß es weder Hohe, noch Geringe, weder Reiche, noch Arme gäbe, glaubt Ihr nicht, die Vorsehung würde es so angeordnet und durch ihre geheimnißvolle, aber gnädige Einwirkung die Grundmauern und das Fachwerk des gesellschaftlichen Gebäudes so eingerichtet haben? Wenn wir aber in den frühesten Perioden menschlicher Annalen, sowie in den zahllosen Regierungsversuchen, welche der menschliche Geist je ersannen hat, immer diese Ungleichheit finden, müssen wir da nicht auf die Vermuthung kommen, daß dieselbe für die Grundzüge unserer Natur wesentlich und notwendig sei?

Ihr fragt, warum diese Ungleichheit? Warum? Ebenso gut könnt Ihr fragen, warum das Leben ein Kreislauf von Pflichten und eine Pflanzschule von Tugenden sei. Denn wenn alle Menschen gleich wären, wenn es weder Leiden, noch Wohlbefinden, weder Armuth, noch Reichthum gäbe, würdet Ihr nicht mit einem Schlage mindestens die Hälfte aller menschlichen Tugenden aus dem Leben streichen? Wenn es keinen Mangel und keine Schmerzen gäbe, wo bliebe dann die Standhaftigkeit, die Geduld und Ergebung? Hätten wir keine Größe, keinen Reichthum, was würde aus dem Wohlwollen, aus der Barmherzigkeit, aus dem segensvollen Mitleid? was aus der Mäßigkeit inmitten des Ueberflusses – aus der Gerechtigkeit bei Ausübung der Macht?

Führen wir die Frage weiter aus. Laßt uns annehmen, alle Lagen seien die gleichen – es gebe nichts zu hoffen und nichts zu fürchten .– welch' ein moralischer Todesstoß würde dadurch allen Kräften der Seele versetzt! – Welch' ein Kettenglied zwischen dem menschlichen Herzen und der göttlichen Vorsehung würde dadurch zerrissen! Wenn wir das Böse vernichten könnten, würden wir auch die Hoffnung vernichten, und Hoffnung, meine Brüder, ist der Weg zum Glauben. Hat aber ›Alles seine Zeit‹ – das Weinen seine Zeit und das Lachen seine Zeit – so mag der Trauernde Trost suchen in der Ewigkeit, und der Fröhliche Gott danken für die glückliche Stunde.

Ach, meine Brüder, wäre es möglich, die Ungleichheiten des Lebens aufzuheben, so würden Unsere edelsten Tugenden verbannt, unser geistiges Wesen versänke in Starrsucht, unsere Seelenkräfte müßten erlahmen. Die sittliche Welt, gleich wie die äußere, verdankt ihre Schönheit und Kraft der Mannigfaltigkeit und dem Gegensatze.

›Ein Jeglicher wird seine Last tragen‹. Gut! Aber hören wir nun auch einen der vorhergehenden Verse desselben Kapitels: ›Einer trage des Andern Last, so werdet Ihr das Gesetz Christi erfüllen‹. Ja, während der Himmel einem Jeden sein besonderes Leiden auferlegt, verbindet er zugleich alle Menschen zu einer einzigen großen Familie durch dasjenige Gefühl, welches vielleicht mehr als irgend ein anderes, uns vor der unvernünftigen Thierwelt auszeichnet – ich meine das Gefühl der Theilnahme – das Gefühl, welches Einer für den Andern hegt! Die übrige Heerde meidet den Hirsch, der von dem Schützen gezeichnet ist, und die andern Schafe achten nicht auf das arme Thier, das sich im Schatten verbirgt, um dort zu sterben; aber der Mensch kennt Freude und Leid nicht nur für sich allein, sondern er empfindet auch die Freude und das Leid seiner Umgebung. Derjenige, welcher nur für sich selbst fühlt, hat seine wahre Menschennatur abgeschworen; denn unmenschlich ist in unsern Augen, wer keine Theilnahme hat für seinen Nächsten, menschlich aber, wer trauert mit den Trauernden.

Meine Brüder! Was hauptsächlich die göttliche Sendung unsers Herrn bezeichnete, das ist die unmittelbare Berufung an jenes Gefühl der Theilnahme, durch welches wir Uns von der unvernünftigen Kreatur unterscheiden. Er wendet sich nicht an irgend ein geistiges Vermögen, das nur Wenigen verliehen ist, sondern an den Drang des Herzens, der uns Allen innewohnt; und indem er ermahnt: ›Liebet einander‹, und ›Einer trage des Andern Last‹, erhebt er eine unserer köstlichsten Empfindungen zum heiligsten Gesetze. Der Schriftgelehrte fragt unsern Herrn: ›Wer ist denn mein Nächster?‹ und der Herr antwortet ihm mit dem Gleichnisse vom barmherzigen Samariter. Der Priester und der Levite sahen den verwundeten Mann, der unter die Mörder gefallen war, und gingen vorüber. Der Priester mochte sehr strenggläubig, der Levite sehr bewandert sein im Gesetz; allein der Heiland würdigt weder die Gelehrsamkeit des Leviten, noch die Rechtgläubigkeit des Priesters einer Erwähnung. Er führt blos die Handlung des Samariters an und fragt dann den Schriftgelehrten: ›Welcher dünket dich, der unter diesen Dreien der Nächste sei gewesen. Dem, der unter die Mörder gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm that. Da sprach Jesus zu ihm: So gehe hin und thue deßgleichen‹.

O, welche Oberflächlichkeit der menschlichen Urtheile! Es genügte, ein Samariter zu sein, um von dem Priester verworfen, von dem Leviten verachtet zu werden. Und was sind uns jetzt der Priester und der Levit, obgleich sie zu dem auserwählten Volke Gottes gehörten? Sie haben ihren Platz in den Herzen der Menschen verscherzt, als sie an dem Leidenden, der auf dem Wege lag, vorübergingen; während der verachtete, aus dem Schooße der Hebräer halb ausgestoßene Samariter ein Mitglied unserer Familie, unser Blutsverwandter, ein Bruder in der Brüderschaft der Liebe sein wird, so lange noch Erbarmen und Noth sich auf der gemeinsamen Heerstraße des Lebens begegnen!

›Einer trage des Andern Last, so werdet Ihr das Gesetz Christi erfüllen‹. Glaubet nicht, meine Brüder, daß sich dies blos auf das Almosengeben beziehe – auf das Lindern der Noth, welches man gemeiniglich Barmherzigkeit nennt – auf die Augenfällige Pflicht, einen Theil unseres Ueberflusses an unsern hungernden Bruder abzutreten. Nein. Der Aermste unter Euch soll mir bezeugen, ob die schwersten Lasten diejenigen des Leibes sind – ob ein freundliches Wort, ein Beweis liebevollen Andenkens seinem Herzen nicht schon wohler gethan haben, als das mit Murren gereichte Brod oder die Gabe, die, mit finsterer Stirne gespendet, ihn nur demüthigte? Theilnahme ist eine Wohlthat, die uns Allen zu Gebote steht, dem Armen so gut, wie dem König; Theilnahme ist der Reichthum Christi, Theilnahme ist Brüderschaft. Es ist den Reichen befohlen, wohlthätig zu sein gegen die Armen, und den Armen, ihre Vorgesetzten zu ehren. Gut. Aber zu den Armen sage ich noch weiter: › Seid mild gegen die Reichen‹ und den Reichen rufe ich zu: › Ehret die Armen‹!

›Einer trage des Andern Last, so werdet Ihr das Gesetz Christi erfüllen‹. Du, armer Mann, blicke nicht mit Neid und Mißgunst auf den größern Antheil an irdischen Gütern, der deinem Bruder zugefallen ist. Sei überzeugt, daß auch er seinen Kummer und sein Kreuz zu tragen hat, und vielleicht um so empfindlicher dafür ist, weil er zärtlicher erzogen wurde. Und ist er nicht tausendfachen Versuchungen ausgesetzt – Versuchungen, so groß, daß unser Herr selbst ausgerufen hat: ›Wie schwer ist es, daß ein Reicher in's Himmelreich eingehe‹! Und was sind Versuchungen anders als Prüfungen? Was sind Prüfungen anders, als Gefahren und Leiden? Glaubt nicht, daß Ihr nicht auch gegen einen Reichen barmherzig sein könnet, selbst wenn Ihr ihm Euren Unterhalt zu verdanken habt. Ein heidnischer Schriftsteller, der von den frühesten Predigern des Evangeliums oft angeführt wurde, hat mit Wahrheit gesagt: ›Wo nur immer Raum ist für einen Menschen, da ist auch Platz für eine Wohlthat‹.

Und ich frage jeden reichen Bruder unter Euch, ob, wenn er im Stolze seines Herzens dahin geht, um seine Scheunen und Speicher, seine Gärten und Felder zu besichtigen, und plötzlich den finstern Blick seines Arbeiters bemerkt – wenn er sich gehaßt sieht inmitten seines Ueberflusses, wenn er fühlt, daß seine geringsten Fehler mit boshafter Härte beurtheilt, seine unverkennbaren Wohlthaten mit neidischem Undank aufgenommen werden – ob, sage ich, nicht sogleich alle Freude an seinem weltlichen Besitzthum in seinem Herzen erlischt, ob er dann nicht fühlt, welch' einen Schatz von Frohsinn der Arme zu verleihen hat! Denn all' sein Mammon ist vergänglich; aber in dem Lächeln unseres Nebenmenschen, dem wir einen Dienst erwiesen haben, liegt etwas, das wir mit uns in den Himmel nehmen können. Wenn also ›Einer des Andern Last trägt‹, so werden die Armen Nachsicht mit den Fehlern und Mitleid mit den Sorgen der Reichen haben. Allen Menschen, Lazarus sowohl, als dem reichen Manne, ward gesagt: ›Richtet nicht, auf daß Ihr nicht gerichtet werdet‹.

Allein denke nicht, du Reicher, daß wir nur für die Armen predigen. Wenn es der Letztern Pflicht ist, dir deinen Wohlstand zu gönnen, so liegt es dir ob, ihnen ihre Arbeit so viel als möglich zu versüßen. Sei eingedenk, daß unser Herr nicht nur gesagt hat: ›Wie schwer ist es, daß ein Reicher in's Himmelreich eingehe‹, sondern auch, daß Er auf die Frage: ›Ja, wer kann denn selig werden?‹ erwiderte: Bei den Menschen ist es unmöglich, aber bei Gott sind alle Dinge möglich‹, das heißt, wenn der Mensch allein seinen Versuchungen widerstehen sollte, würde er verloren gehen; aber mit Gottes Beistand wird er gerettet werden. So gut deine Reichthümer dir zur Prüfung werden können, ebensowohl mögen sie zu Zeugnissen deiner Tugenden werden, denn wenn du mit deinem Reichthum beweisest, daß du mitleidig und liebevoll, mäßig und gütig bist, so wird er deinen Glauben und deine guten Werke verkündigen.

Wir pflegen beständig das Gebot im Munde zu führen: ›Alles, was Ihr wollt, daß Euch die Leute thun sollen, das thut Ihr ihnen‹. Warum aber lassen wir es so oft an der Ausübung fehlen? Weil wir versäumen, die Theilnahme in unsern Herzen zu nähren, welche die Natur uns als Instinkt eingepflanzt und der Heiland uns zum Gesetz gemacht hat. Wenn du deinem Nächsten das thun willst, was du möchtest, daß er dir thue, so überlege wohl, wie derselbe deine Handlung ansehen wird. Setze dich an seine Stelle. Wenn du stark bist und er schwach, so steige herab von deiner Höhe und gehe in seine Schwachheit ein; lege eine Weile deine Last bei Seite und nimm die seinige auf; sieh gleichsam mit seinen Augen, laß dein Herz in seinem Busen schlagen. Thue dies und du wirst oft gestehen müssen, daß, was deiner Macht gerecht erschienen, seiner Schwachheit hart vorkommen muß. Denn ›gleichwie ein eifriger Mann noch nicht seine Pflicht erfüllt hat, wenn er seinen Bruder Trunkenbold und Vieh nennt Jeremias Taylor. »Von der christlichen Klugheit«, Thl. 2. [ Anm.d.Verf.], ebenso wenig erreicht der Verwalter der Gerechtigkeit seinen Zweck, wenn er auf die große Säule der Gesellschaft nichts als Warnungen schreibt, welche den Kühnen aufreizen und den Furchtsamen schrecken; und ein Mensch wird das Gesetz ebenso wenig, wie die Tugend lieben, wenn er mit Härte und Grobheit dazu gezwungen wird‹ ebd.. Wenn Ihr also die Last der Geringen tragen wollt, Ihr Großen der Erde, so fühlt nicht nur für sie, sondern mit ihnen! Wachet darüber, daß Euer Stolz sie nicht reize, Eure Macht sie nicht unnöthig erbittere! Vergeßt nicht, daß die unter Euch Stehenden zu der Klasse gehören, aus welcher die Apostel gewählt wurden, und daß zu ihnen der Herr des Weltalls herabstieg von seinem himmlischen Throne!«

Hier hielt der Pfarrer einen Augenblick inne, das Auge auf den Kirchstuhl zunächst der Kanzel geheftet, wo der Magnat von Hazeldean saß. Der Squire hatte das Kinn gedankenvoll auf die Hand gestützt, sein Haupt war abwärts gebeugt und eine höhere Röthe als gewöhnlich bedeckte sein Gesicht.

»Wer aber,« nahm der Pfarrer in sanftem Tone wieder auf, ohne in sein Buch zu blicken – gleichsam als folge er seiner plötzlichen Eingebung – »Wer aber in seinem Herzen die Theilnahme ausgebildet hat, begeht keinen solchen Irrthum, oder wenn er es gethan, beeilt er sich, ihn wieder gut zu machen. Dem guten Menschen ist die Theilnahme so natürlich, daß er ihr mechanisch gehorcht, wenn er nur sein Gewissen von seinem Herzen ermahnen läßt. Erkennt in dieser Theilnahme das Band, welches Reiche und Arme umschlingt. Durch dieselbe wird unser irdisches Loos, wie es sich auch immer gestattet habe, zu dem, was es sein soll: eine Uebung für die jeder Lage eigentümlichen Tugenden.

›So trage denn Einer des Andern Last‹! Dies ist das Gesetz Christi – erfülle es, o meine Heerde!«

Mit diesen Worten schloß der Geistliche seine Rede und die Zuhörer beugten ihre Häupter.



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