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Viertes Buch.


Einleitungs-Kapitel,

welches Mr. Caxton's Ansichten über den Ehestand, unterstützt von gelehrten Autoritäten, enthält.

» Es war kein übler Einfall von dir, Pisistratus,« sagte mein Vater in gnädigem Tone, »die gesteigerte Zuneigung und die ernsthaften Absichten, Signor Riccabocca's mit einem einzigen Zuge zu schildern – Er legte seine Brille ab! Sehr gut!«

»Und doch,« versetzte mein Onkel, »läßt, wenn ich nicht irre, Shakespeare einen Liebhaber in unordentliche Gewohnheiten verfallen, sein Aeußeres vernachlässigen und mit herunterhängenden Strümpfen herumlaufen, anstatt seiner Erscheinung jene Aufmerksamkeit zu schenken, welche Riccabocca veranlaßt, seine Brille abzulegen und sich von der vortheilhaftesten Seite zu zeigen, welche die Natur ihm gestattete.«

»Es gibt verschiedene Grade und zahlreiche Phasen der Leidenschaft,« erwiderte mein Vater. »Shakespeare spricht von einem mißhandelten, schmachtenden, schmerzerfüllten Liebhaber, der über die Grausamkeit seiner Geliebten trauert – von einem Liebhaber, dem es nichts geholfen hat, sich zu schmücken, und der in seiner Niedergeschlagenheit in's andere Extrem verfallen ist. Signor Riccabocca jedoch hat sich über Miß Jemima's Grausamkeit nicht zu beklagen.«

»Nein, in der That nicht!« rief Blanche, ihr Köpfchen aufwerfend; »das dreiste Geschöpf!«

»Ja, meine Liebe,« sagte meine Mutter, indem sie sich alle Mühe gab, recht würdevoll auszusehen; »ich bin entschieden der Meinung, daß Pisistratus in dieser Hinsicht der Würde unseres Geschlechts zu nahe getreten ist. Freilich nicht absichtlich,« setzte sie mild hinzu, denn sie fürchtete, etwas allzu Bitteres gesagt zu haben; »allein es ist sehr schwer für einen Mann, uns Frauen zu schildern.«

Der Kapitän nickte beifällig; Mr. Squills lächelte, und mein Vater nahm den Faden seiner Rede wieder auf.

»Riccabocca,« sagte er, »hat keinen Grund, an dem Erfolg seiner Bewerbung zu verzweifeln, noch irgend welche Ursachen, das Mitleid seiner Geliebten erregen zu wollen. Daher kann er füglich seine Strumpfbänder befestigen und seine Brille ablegen. Was sagen Sie dazu, Mr. Squills? Denn das ›Hofmachen‹ muß jedenfalls eine große Umwälzung in der ganzen Constitution hervorbringen, und die Ansicht eines erfahrenen Arztes ist daher von großer Wichtigkeit.«

»Mr. Caxton,« entgegnete Squills, sichtlich geschmeichelt, »Sie haben ganz Recht. Wenn ein Mann den Hof macht, so befinden sich die Organe der Selbstachtung und des Ehrgeizes in großer Aufregung, und er sucht in einem möglichst vortheilhaften Lichte zu erscheinen. Erst wenn er, wie Sie vorhin ganz richtig bemerkten, gleich dem Shakespeare'schen Liebhaber das Hofmachen als ein schlechtes Geschäft aufgegeben hat und sein Gangliensystem von dem schweren Schlag betroffen worden ist, den ihm die Grausamkeit seiner Geliebten versetzte, vernachlässigt er sein Aeußeres – er thut es, nicht weil er verliebt, sondern weil sein Nervensystem niedergedrückt ist. Dies war, wenn Sie sich erinnern, bei dem armen Major Prim der Fall. Er trug seine Perücke stets verkehrt, nachdem Susanne Smart ihn abgewiesen hatte; ich brachte ihn jedoch wieder ganz zurecht.«

»Dadurch, daß Sie Miß Smart ihr Unrecht einsehen lehrten, oder daß Sie Major Prim ein anderes Liebchen verschafften?« fragte mein Onkel.

»Pah!« antwortete Mr. Squills, »durch Chinin und kalte Bäder.«

»Wir können daher als allgemeine Regel annehmen,« nahm mein Vater wieder das Wort, »daß der Proceß des Hofmachens bei dem betreffenden Individuum eine Neigung zur Putzsucht und selbst zur Geckenhaftigkeit mit sich bringt, wie Voltaire irgendwo sehr hübsch bewiesen hat. Ja die Mexikaner waren sogar der Meinung, daß wenigstens das weibliche Geschlecht diese Sorgfalt für sein Aeußeres auch nach der Verheirathung fortsetzen solle. In Sahagun's Geschichte von Neuspanien Historia general de las cosas de Nueva España von Bernardino de Sahagún; es ist das bedeutendste zeitgenössische Werk über das Leben und die Kultur der Azteken. Es wurde 1569 sowohl in Spanisch als auch in Nahuatl fertiggestellt und ist mit etwa 1700 unersetzlichen Bildern illustriert. Schwierigkeiten mit der spanischen Zensur verhinderten eine Veröffentlichung im Mutterland. finden wir den Rath einer aztekischen oder mexikanischen Mutter, die zu ihrer Tochter sagt: ›Damit dein Gatte keine Abneigung gegen dich fasse, wasche dich, schmücke dich und halte deine Kleidung rein.‹ Allerdings setzt die gute Frau hinzu: ›Thue es mit Mäßigung, denn wenn du jeden Tag dich und deine Kleider wäschest, so wird die Welt dich überfein, ja, manche Leute werden dich Tapetzon Tinemáxoch nennen!‹ Den genauen Sinn dieser Worte,« setzte mein Vater bescheiden hinzu, »kann ich nicht wieder geben, da ich nie Gelegenheit hatte, die alte aztekische Sprache zu erlernen, jedenfalls aber bedeuten sie wohl etwas sehr Schmachvolles und Schreckliches.«

»Ich vermuthe,« sagte mein Onkel, »ein Philosoph wie Signor Riccabocca, war selbst nicht sehr Tapetzon tine – oder wie das Ding heißt – und wußte eine so gute, englische Frau, wie die arme, liebevolle Jemima, gar nicht zu würdigem«

»Roland,« versetzte mein Vater, »du kannst die Ausländer nicht leiden, was freilich bei einem Manne, der sein Bestes gethan hat, sie in Stücke zu hauen und fetzenweise in die Luft zu sprengen, ein achtbares und sehr natürliches Vorurteil ist. Aber du bist auch den Philosophen nicht hold, und für diese Abneigung hast du ebenso triftigen Grund.«

»Ich deutete nur an, daß sie in der Regel nicht viel mit Wasser und Seife zu thun haben,« erwiderte mein Onkel.

»Das ist ein bedeutender Irrthum. Viele große Philosophen sind ächte Stutzer gewesen. Aristoteles war allgemein als Geck bekannt, und Buffon Französischer Naturforscher im Zeitalter der Aufklärung pflegte seine besten Spitzenmanschetten anzulegen, ehe er sich zum Schreiben niedersetzte, woraus man schließen darf, daß er sich auch zuvor die Hände wusch. Pythagoras empfiehlt häufige Waschungen als eine heilige Pflicht, und Horaz, der in seiner Weise ein so guter Philosoph war, als die Römer je einen aufzuweisen hatten, versäumt nicht, uns wissen zu lassen, was für ein nettes, gewandtes und wohlgekleidetes Männchen er gewesen. Aber du hast wohl nie die Apologie des Apulejus gelesen!«

»Nein, gewiß nicht! Wovon handelt sie?« fragte der Kapitän.

»Von gar vielen Dingen. Es ist die Rechtfertigung dieses Weisen gegen mehrere boshafte Beschuldigungen; unter andern und hauptsächlich gegen diejenige, daß er für einen Philosophen viel zu geziert und weibisch sei. Nichts kann die rhetorische Gewandtheit übertreffen, womit er sich entschuldigt, daß er – Zahnpulver gebraucht! ›Sollte ein Philosoph‹ ruft er aus, ›etwas Unreines an sich dulden – und besonders in dem Munde, der die Vorhalle der Seele, das Thor der Rede und der Porticus des Gedankens ist? Aemilianus freilich (der Ankläger des Apulejus) öffnet seinen Mund zu nichts Anderm als zu Schmähreden und Verläumdungen, bei ihm wäre ein Zahnpulver übel angebracht. Oder wenn er sich je eines solchen bedient, so ist es sicher nicht mein gutes arabisches Zahnpulver, sondern Holzkohle und verbrannte Lumpen. Ja, seine Zähne sollten so häßlich sein, wie seine Sprache! Und doch liebt es sogar das Krokodil, seine Zähne sich reinigen zu lassen. Insecten kriechen ihm in den Rachen, und arglos öffnet es denselben dem treuen, zahnkünstlerischen Vogel, der freiwillig seinen Schnabel als Zahnstocher leiht!«

Mein Vater war über seinem Gegenstand warm geworden und schwebte viele Meilen weit über Riccabocca und »Meiner Novelle.«

»Und merkt wohl,« rief er aus, »mit welchem Ernst dieser treffliche Platoniker sich zu der Anklage bekennt, daß er einen Spiegel besitze. ›Welcher Gegenstand,‹ sagt er, ›wäre wohl der Betrachtung eines menschlichen Wesens würdiger als sein eigenes Bild?‹ ( Nihil respectabilius homini quam fformam suam!) Ist nicht dasjenige unserer Kinder, das man ›des Vaters Ebenbild‹ nennt, uns das theuerste? Mag sich ein Künstler auch noch so viele Mühe geben, das von ihm verfertigte Porträt wird doch nie so vollkommen ähnlich sein, wie das Spiegelbild. Wie kann man es für schimpflich halten, sich mit gebührender Aufmerksamkeit im Spiegel zu betrachten? Hat nicht Socrates seinen Schülern ein aufmerksames Beschauen in demselben empfohlen? Behandelte er nicht den Spiegel als ein wichtiges moralisches Mittel? Der Schöne, welcher keine Schönheit darin bewundert, sollte dadurch erinnert werden, daß nur derjenige schön ist, welcher schön handelt; und je mehr der Häßliche seine Häßlichkeit vor sich sieht, desto mehr sollte er sich angetrieben fühlen, seine äußern Mängel durch seinen innern Werth vergessen zu machen. Stand nicht Demosthenes beständig vor seinem Spiegel? Uebte er nicht vor ihm, als wäre er ein Meister in der Kunst gewesen, seine Reden ein? Beredsamkeit lernte er von Plato, Dialectik von Eubulides Eubulides von Milet, antiker griechischer Philosoph (4. Jh. v.u.Z)., aber für den Vortrag – nahm er seine Zuflucht zu dem Spiegel!«

»Deßhalb,« schloß Mr. Caxton, indem er ganz unerwartet auf den früheren Gegenstand zurückkam – »deßhalb ist kein Grund zu der Annahme vorhanden, Doctor Riccabocca habe, weil er ein Philosoph gewesen, nicht auf Reinlichkeit und eine anständige äußere Erfüllung gesehen. Alles wohl erwogen, zeigte er ganz besonders den Philosophen, als er seine Brille ablegte und sich bemühte, so gut wie möglich auszusehen.«

»Nun,« sagte meine Mutter freundlich, »ich hoffe nur, daß es glücklich ausfällt. Doch würde es mir besser gefallen haben, wenn Pisistratus aus Doctor Riccabocca nicht einen so widerstrebenden Freier gemacht hätte.«

»Sehr wahr,« sagte der Kapitän; »der Italiener glänzt nicht als Liebhaber. Gieb ihm etwas mehr Feuer, Pisistratus – etwas mehr Galanterie und Ritterlichkeit.«

»Feuer – Galanterie – Ritterlichkeit!« rief mein Vater, welcher Riccabocca unter seinen besondern Schutz genommen hatte. »Siehst du denn nicht, daß der ganze Mann als Philosoph gehalten ist? und ich möchte wohl wissen, wann sich je ein Philosoph ohne beträchtliche Bedenken und ohne kalte Schauer in den Ehestand gestürzt hat? Es scheint mir in der That, daß Riccabocca – vielleicht ehe er Philosoph wurde – das Experiment gemacht hatte und durch die Erfahrung gewitzigt worden war. Sogar jener einfache, verständige, praktische Mann, Metellus Numidicus Quintus Caecilius Metellus Numidicus, römischer Politiker und Feldherr der späten Republik; 102 v.u.Z. Zensor (eine Art Sittenwächter)., der nicht einmal Philosoph, sondern nur römischer Censor war, sprach sich, als er das Volk zum Ehelichwerden ermahnte, folgendermaßen aus: ›Wenn wir ohne Weiber auskommen könnten, Quiriten Feierlich-dichterische Bezeichnung für die Bürger des alten Roms., würden wir Alle diese Last gern entbehren ( eam molestiam careremus); allein da es die Natur nun einmal so eingerichtet hat, daß wir mit Weibern nicht angenehm und ohne dieselben gar nicht leben können, so laßt uns lieber für das menschliche Geschlecht als für unser zeitliches Glück sorgen!‹«

Bei diesen Worten brachen die Frauen in einen solchen Sturm der Entrüstung aus, daß Roland und ich ihren Zorn durch die eifrigsten Versicherungen zu beruhigen suchten, wie sehr wir die verdammungswürdige Lehre des Metellus Numidicus mißbilligten.

Ohne im geringsten auf diese Unterbrechung zu achten, nahm mein Vater, nachdem endlich ein mißmuthiges Schweigen eingetreten war, wieder das Wort:

»Glaubt nicht, meine Damen, daß Ihr zu jener Zeit keinen Fürsprecher gehabt. Viele Römer waren galant genug, dem Censor Vorwürfe zu machen wegen eines Anspruchs, der ihnen ebenso unhöflich als unverständig vorkam. ›Wenn Numidicus die Männer zum Heirathen aufmuntern wollte,‹ sagten sie, nicht ohne anscheinend im Rechte zu sein, ›so hätte er nicht mit solcher Bestimmtheit an die Unannehmlichkeiten des Ehestandes erinnern sollen, wodurch er ihnen nur Abscheu davor einflößte.‹ Diesen Kritikern hielt jedoch ein braver Mann (dessen Name, Titus Castricius Rhetorik-Lehrmeister unter Kaiser Hadrian (Anfang 2. Jh.)., wohl verdient, von der Nachwelt aufbewahrt zu werden) die Behauptung entgegen, daß Metellus nicht passender hätte sprechen können, ›denn,‹ sagte er, ›man müsse wohl bedenken, daß Metellus ein Censor und kein Redner gewesen sei. Auszuschmücken, zu verstecken und die Dinge im günstigsten Lichte darzustellen, zieme dem Redner; aber Metellus, sanctus vir – ein tadelloser, frommer, ernster und aufrichtiger Mann, der in der feierlichen Würde eines Censors zu dem römischen Volke sprach, hatte die Verpflichtung, die nackte Wahrheit zu sagen, zumal über einen Gegenstand, über welchen jeder seiner Zuhörer sich durch die tägliche Erfahrung Aufklärung verschaffen konnte.‹ Da übrigens Riccabocca einmal den Entschluß gefaßt hatte, sich zu verheirathen, so war er wohl auch darauf vorbereitet, alle damit verbundenen Uebel zu ertragen, wie es einem Weisen geziemt; und ich gestehe, daß ich die Kunst bewundere, mit welcher Pisistratus die ihm bestimmte Frau gerade so gezeichnet hat, wie sie für einen Philosophen am besten paßt –«

Pisistratus verbeugt sich und blickt wohlgefällig umher, erschrickt aber vor zwei sehr unzufriedenen weiblichen Gesichtern.

Mr. Caxton (seinen Satz vollendend). – »Nicht nur, was den sanften Charakter und andere häusliche Tugenden, sondern auch, was das Aeußere des Gegenstandes seiner Wahl betrifft. Du hast dich offenbar der Antwort des Bias Bias von Priene (m 590-530 v.u.Z.) gehörte zusammen mit Thales von Milet, Pittakos von Mytilene und Solon von Athen zum festen Kanon der Sieben Weisen. Und wie diesen wurden ihm zahlreiche Aussprüche und Sentenzen zugeschrieben. erinnert, mein Sohn, als man ihn um seine Meinung über den Ehestand befragte:

›Ἤτοι καλὴν ἕξεις ὴ αἰσχρὰν· καὶ εἰ καλὴν, ἕξεις κοινήν· εἰ δὴ αἰσχρὰν, ἕξεις ποινήν.‹«

Pisistratus bemüht sich, so auszusehen, als ob er die Ansicht des Bias auswendig wisse, und nickt zustimmend.

Mr. Caxton. – »Das heißt, meine Lieben, ›du heirathest entweder eine schöne oder eine häßliche Frau; eine schöne aber ist koiné (in unserer Sprache: du wirst sie nicht allein haben); eine häßliche hingegen ist poiné – nämlich eine Furie.‹ – Nun ist aber, wie Aulus Gellius, dem ich dieses Citat entnehme, sehr richtig bemerkt, zwischen schön und häßlich ein weiter Zwischenraum. Und Ennius Quintus Ennius (239-169 v.u.Z.), Schriftsteller der Römischen Republik, oft als Vater der römischen Poesie bezeichnet; seine Tragödien sind freie Nachdichtungen griechischer Originale. gebraucht in seiner Tragödie Menelippus einen bewundernswürdigen Ausdruck, um den richtigen Grad der Anmuth zu bezeichnen, den ein Philosoph an seinem Weibe vorziehen dürfte. Er nennt diesen Grad stata forma – eine vernünftige, mittelmäßige Art von Schönheit, die weder zum koiné, noch zum poiné Anlaß gibt. Und Favorinus Philosoph des 1./2. Jh. aus Arelate (Arles). Er zählte zur Richtung der Skeptiker., ein merkwürdig verständiger Mann, der aus der Provence stammte – woselbst die Männer sich immer viel auf ihre Kenntniß der Weiber und der Liebe zu gute thaten, – nennt besagte stata forma die Schönheit der Ehefrauen – die eheliche Schönheit. Ennius sagt, daß Frauen von einer stata forma fast immer treu und bescheiden seien. Jemima nun wird uns, wie Ihr bemerkt, als ein Wesen von dieser Art beschrieben, und gerade die Feinheit deiner Beobachtung in dieser Hinsicht ist es, was mir bei deiner ganzen Schilderung der Brautwerbung eines Philosophen (mit Ausnahme des Ablegens seiner Brille) am besten gefällt; denn es zeigt, daß du die Ansicht des Bias in reifliche Erwägung gezogen und alle Gegengründe im fünften Buch und elften Kapitel des Aulus Gellius bewältigt hast.«

»Nichtsdestoweniger,« sagte Blanche halb schalkhaft und halb spröde, mit einem Lächeln im Auge und einem Schmollen auf der Lippe, »erinnere ich mich nicht, daß mir Pisistratus in den Tagen seiner komplimentenreichsten Aufmerksamkeiten je gesagt hätte, ich besitze eine stata forma – eine vernünftige, mittelmäßige Art von Schönheit.«

»Und ich glaube,« bemerkte mein Onkel, »daß er sich, wenn er uns einmal seine eigentliche Heldin, wer sie auch sein mag, beschreibt, wenig um Bias oder Aulus Gellius bekümmern wird.«


Zweites Kapitel.

Der Ehestand bringt sicherlich eine bedeutende Veränderung im Leben hervor. Man wundert sich, keine auffallende Umwandlung an einem Freunde oder einer Freundin wahrzunehmen, selbst wenn sie erst eine Woche verheiratet sind. Bei Doctor Riccabocca und seiner Gattin war diese Veränderung sehr bemerkbar.

Um zuerst, wie es die Galanterie verlangt, von der Dame zu sprechen, so hatte Mrs. Riccabocca jene sanfte Schwermuth, die Miß Jemima eigen gewesen, ganz abgelegt; sie wurde lebhaft und heiter und in Folge dessen um vieles hübscher. Auch nahm sie keinen Anstand, Mrs. Dale aufrichtig zu gestehen, sie glaube nun das Ende der Welt noch in weiter Ferne. Mittlerweile versäumte sie aber keineswegs, die Pflicht zu erfüllen, welche die von ihr aufgegebene Ansicht so sehr geeignet ist, einzuschärfen – »Sie bestellte ihr Haus!« Die kalte, ärmliche Eleganz, welche bisher in dem Casino geherrscht hatte, verschwand wie durch einen Zauber – das heißt, die Eleganz blieb, aber die Kälte und Aermlichkeit flüchteten sich vor dem Lächeln des Weibes. Gleich dem gestiefelten Kater fing Jackeymo nach der Hochzeit seines Herrn Stichlinge und Schmerlen nur noch zu seiner Unterhaltung. Jackeymo wurde stärker, und auch sein Herr blieb in dieser Beziehung nicht zurück. Mit Einem Wort, die hübsche Jemima wurde eine vortreffliche Frau. Riccabocca hielt sie im Geheimen für verschwenderisch; allein als weiser Mann verschmähte er jeden Einblick in die Haushaltungsrechnung und verzehrte seine Hammelskeule in vorwurfslosem Schweigen.

In der That lag in Mrs. Riccabocca's Charakter so viel ungekünstelte Güte, unter ihrem ruhigen Wesen schlug so ächt und warm das Herz der Hazeldeans, daß sie alle Erwartungen der Pfarrerin vollkommen rechtfertigte. Und wenn gleich der Doctor sich seines Glückes nicht laut rühmte, oder, wie so manche Neuvermählte es kränkend den nimis uncis naribus Nach Persius, Sat. I, 40f. (Winterfelds übernimmt wie Kolb Bulwers »unctis«.) – das heißt, den höhnischen Nasen mürrischer alter Eheleute – oder grell und schreiend den neidischen Augen der Junggesellen vorhielt, so war er doch sichtlich heiterer und wohlgemuther geworden. Sein Lächeln war weniger ironisch, seine Höflichkeit weniger steif. Er studirte den Macchiavelli nicht mehr so eifrig und kehrte nicht zu seiner Brille zurück, was jedenfalls ein sehr gutes Zeichen war. Außerdem gab sich der verfeinernde Einfluß seiner pünktlichen englischen Frau auch in der Verschönerung seines äußeren oder künstlichen Menschen zu erkennen. Die Kleider schienen ihm besser zu passen und waren überhaupt neu. Auch fand Mrs. Dale keine Gelegenheit mehr zu der Bemerkung, daß an seiner Manschette ein Knopf fehle, was ihr große Befriedigung gewährte.

Drei Dingen jedoch blieb der Weise unwandelbar treu: seiner Pfeife, seinem Mantel und dem rothseidenen Regenschirm. Mrs. Riccabocca hatte zwar – wir müssen es ihr zur Ehre nachrühmen – alle geziemenden weiblichen Künste gegen diese drei Ueberreste des alten unverheiratheten Adam aufgeboten; allein vergebens.

» Anima mia, meine Seele,« sagte der Doctor zärtlich, »der Mantel, der Schirm und die Pfeife sind die einzigen Erinnerungszeichen, welche mir von meinem Vaterlande geblieben sind. Achte und schone sie.«

Mrs. Riccabocca war gerührt und verständig genug, um einzusehen, daß der Mann, wenn er auch noch so glücklich verheiratet ist, immer einige Zeichen seiner frühern Unabhängigkeit, einige Beweise seiner Identität beibehalten will, welche die Frau wohl thun wird, unangetastet zu lassen. Jemima gab in Betreff des Mantels nach, fügte sich in den Regenschirm und verbarg ihren Abscheu vor der Pfeife. Und dabei gestand sie sich doch immer noch, daß sie in Anbetracht der Schlechtigkeit des männlichen Geschlechts eine weit schlimmere Wahl hätte treffen können.

Allein bei aller Ruhe und Heiterkeit war an dem Doctor eine gewisse nervöse Aufregung nicht zu verkennen; sie begann zwei Wochen nach der Hochzeit und steigerte sich mehr und mehr, bis an einem schönen, sonnigen Nachmittag, als Riccabocca auf der Terrasse stand und nach der Straße hinunter schaute, an welcher Jackeymo aufgestellt war, eine Postkutsche vor dem Casino anhielt. Der Doctor sprang auf, preßte beide Hände gegen sein Herz, als wäre es von einer Kugel genossen, und setzte dann über das Geländer hinweg. Seine Gattin sah ihn von ihrem Fenster aus, wie er den Hügel hinabstieg, während seine langen Haare im Winde flatterten, bis ihn die Bäume ihren Blicken entzogen.

»Ah,« dachte sie mit einem natürlichen Anflug ehelicher Eifersucht, »fortan werde ich nur noch die Zweite an seinem häuslichen Herde sein. Er ist hingegangen, um sein Kind willkommen zu heißen.« Und Mrs. Riccabocca's Thränen flossen bei diesem Gedanken.

Allein sie war von Natur so liebevoll, daß sie rasch ihre Aufregung zu unterdrücken und so gut als möglich jede Spur des Kummers der Stiefmutter zu vertilgen strebte. Nachdem ihr dies gelungen war und sie ein leises Gebet der Selbstanklage gemurmelt hatte, eilte die gute Frau rasch die Treppe hinab, bot ihr bestes Lächeln auf Im Original heißt es an dieser Stelle: »bot ihrem besten Lächeln auf«; Winterfeld hat dies offenbar unbesehen von Kolbs Übersetzung übernommen. und öffnete die Thüre der Terrasse.

Sie blieb nicht unbelohnt; denn kaum war sie in's Freie getreten, als ein Paar kleine Arme sie umschlangen, und die süßeste Kinderstimme, die man je vernommen, in gebrochenem Englisch die Worte flüsterte: »Gute Mama, liebe mich ein wenig!«

»Dich lieben? Von ganzem Herzen!« rief die Stiefmutter, indem sie mit der ganzen Zärtlichkeit einer rechten Mutter das Kind an ihr Herz drückte.

»Gott segne dich, meine Gattin!« sagte Riccabocca mit vor Rührung halb erstickter Stimme.

»Haben Sie die Güte und nehmen Sie auch dies,« setzte Jackeymo in italienischer Sprache hinzu, so gut es sein Schluchzen gestattete, und dabei brach er von seinem Lieblingsorangenbaume einen großen Zweig voll der schönsten Blüthen ab und drückte ihn seiner Gebieterin in die Hand. Sie hatte nicht den mindesten Begriff von dem, was er damit meinte. Die blumensprachliche Bedeutung besagt: Die Orangenblüte ist bereit, sich für ihre Mitmenschen aufzuopfern und dafür erwartet sie keinerlei Gegenleistung. Ihre Gefühle kommen direkt aus ihrem Herzen; es ist, als ob sie mit ihrem Herzen denken könne. Alles, was sie tut, entspringt nämlich einem tiefen inneren Wissen, aus dem wiederum ein reiner Wille hervorgeht. Sie strahlt eine fast jungfräuliche Unschuld aus, die ihr ganz selbstverständlich ist.


Drittes Kapitel.

Violante war in der That ein bezauberndes Kind – ein Kind, dem selbst die unsterbliche Mrs. Caudel Mrs. Caudle's Curtain Lectures (zuerst in der Zeitschrift »Punch« 1845, als Buchausgabe 1846) von Douglas William Jerrold ( 1803-1857). Mit Friedrich Gerstäckers kongenialer Übersetzung »Gardinenpredigten« (1846) bürgerte sich die Wortschöpfung im Deutschen ein. kaum eine harte Stiefmutter hätte sein können.

Betrachte sie jetzt, wie sie, aus jenen liebenden Armen entlassen, dasteht und mit der einen Hand noch immer an ihrer neuen Mama hängt, indeß sie die andere nach Riccabocca ausstreckt, während ihre großen, dunkeln Augen in Freudenthränen schwimmen. Welch' ein liebliches Lächeln! welche reine, edle Stirne! Sie sieht zart aus – offenbar bedarf sie einer sorgfältigen Pflege – sie bedarf der Mutter! Und wo ist die Frau, die sie nicht eben darum desto mehr liebte? Und doch welch' unschuldiges, kindliches Roth auf diesen klaren, weichen Wangen! Welche unbeschreibliche Anmuth in dieser kleinen, schlanken Gestalt!

»Das ist wohl deine Wärterin, mein Herzchen?« sagte Mrs. Riccabocca, eine dunkle, fremdartig aussehende, seltsam gekleidete Frauengestalt bemerkend, die weder einen Hut, noch eine Haube auf dem Kopfe trug und ihre Haare nur um einen großen silbernen Pfeil geschlungen hatte, indeß eine Kette von Filigran über ihrem Halstuch hing.

»Ach, die gute Anetta,«‹ sagte Violante in ihrer Muttersprache. »Papa, sie sagt, sie müsse wieder zurück; aber nicht wahr, sie soll nicht wieder fort?«

Riccabocca, welcher die Frau zuvor kaum bemerkt hatte, war bei dieser Frage betroffen; er wechselte einen hastigen Blick mit Jackeymo und näherte sich dann, eine unverständliche Entschuldigung murmelnd, der Wärterin, bat sie, ihm zu folgen, und ging mit ihr in's Freie hinaus. Er war wohl mehr als eine Stunde abwesend und kehrte hierauf allein zurück. Er sagte seiner Gattin einfach, die Wärterin müsse sogleich wieder abreisen und bleibe deßhalb im Dorfe, um die Postkutsche dort zu erwarten; in ihrem Hauswesen wäre sie doch von keinem Nutzen gewesen, da sie kein Wort Englisch verstehe; doch fürchte er sehr, Violante werde sich um sie grämen. Und Violante vermißte sie anfangs auch wirklich schmerzlich. Allein für ein Kind ist es etwas so Großes, Eltern zu finden und eine Heimath zu haben, daß die Kleine, so liebevoll und dankbar sie auch war, doch nicht lange traurig sein konnte.

Während der ersten paar Tage überließ Riccabocca seine Tochter keinem Andern. Selbst mit Jemima mochte er sie nicht gern allein lassen. Sie gingen mit einander spazieren und saßen Stunden lang in dem Belvedere. Dann begann er allmälig, das Kind Jemima's Pflege und Unterweisung anheimzugeben, letzteres besonders in Betreff der englischen Sprache, von welcher die Kleine bis jetzt nur einige, wahrscheinlich vorher auswendig gelernte Sätze deutlich und verständig aussprechen konnte.


Viertes Kapitel.

Unter den Bewohnern des Casino war einer, der sich weder über Doctor Riccabocca's Vermählung, noch über Violantens Ankunft freute – und dies war unser Freund Lenny Fairfield. Ehe die alles verschlingenden Pflichten der Brautwerbung begannen, hatte der Bauernknabe einen großen Theil von Riccabocca's Aufmerksamkeit genossen. Der Weise war mit Interesse dem Wachsthum dieses rohen, nach Licht ringenden Verstandes gefolgt. Aber durch die neuen Verhältnisse war Lenny aus seiner künstlichen Stellung als Schüler in seine natürliche Stellung als Untergärtner herabgesunken. Und nach Violanten's Ankunft sah er sich mit einem natürlichen bitteren Gefühle gänzlich vergessen – nicht allein von Riccabocca, sondern fast auch von Jackeymo. Zwar lieh ihm sein Herr noch immer Bücher, und der Diener hielt ihm Vorträge über die Blumenzucht. Allein Riccabocca hatte jetzt weder Zeit, noch Lust, sich damit abzugeben, den Wirrwarr von Ideen, welchen die Bücher in des Knaben Kopf hervorgebracht, zu ordnen und aufzuklären.

Und wenn Jackeymo schon vor der Ankunft der jungen Dame im Interesse ihrer Mitgift nach den Goldminen begierig gewesen war, die in jenen Feldern des Squires begraben lagen, welche der Doctor jetzt wirklich übernommen und die der Squire ihm gutmüthig als einen Beitrag zu Jemima's Morgengabe ohne Pachtzins überlassen hatte, so konnte der treue Diener nun, da ihre Gegenwart seinem Fleiße ein neuer Antrieb war, an nichts Anderes mehr denken als an das Land und an die Umwälzung, die er in den gewöhnlichen englischen Ernten zu bewirken hoffte. Der Garten blieb mit Ausnahme der Orangebäume Lenny völlig überlassen, und für das Feldgeschäft wurden noch weitere Arbeiter angestellt. Jackeymo hatte gefunden, daß der eine Theil des Bodens für Lavendel, der andere für Kamillen passen würde.

Auch beabsichtigte er, ein schönes Stück Feld, mit reichem Lehmboden, mit Fluchs anzubauen; der Squire jedoch verweigerte hartnäckig seine Einwilligung zu diesem Vorhaben. Der Flachsbau, vielleicht der einträglichste von allen, wenn er mit Geschicklichkeit auf einem günstigen Boden betrieben wird, war, wie es scheint, in frühern Zeiten in England weit häufiger versucht worden als heutzutage; denn man wird wenig alte Pachtverträge ohne die Klausel finden, daß derselbe, weil er das Land aussauge, nicht gestattet sei. Und obgleich Jackeymo dem Squire sehr gelehrt zu beweisen suchte, daß der Flachs selbst Bestandtheile enthalte, die, wenn man sie dem Boden wieder zurückgebe, alles ersetzten, was demselben entzogen werde, so hatte hoch Mr. Hazeldean über diesen Gegenstand seine altmodischen Vorurtheile, die unüberwindlich waren.

»Meine Vorfahren,« sagte er, »haben nicht ohne guten Grund diese Klausel in ihre Pachtverträge aufgenommen, und da die Ländereien des Casino Fideicommiß sind, so habe ich nicht das Recht, auf Frank's Kosten Euren ausländischen Grillen nachzugeben.«

Um sich nun für den Verlust des Flachses zu entschädigen, beschloß Jackeymo, ein hübsches Stück Wiesengrund in einen Obstgarten zu verwandeln, der nach seiner Berechnung zu der Zeit, da Miß Violante heiratsfähig wurde, zehn Pfund per Morgen einbringen mußte. Dem Squire wollte zwar auch dieser Plan nicht besonders gefallen, da jedoch kein Zweifel obwalten konnte, daß das Stück Land durch die Obstbäume an Werth gewinnen würde, so gab er zuletzt seine Einwilligung.

Alle diese Veränderungen hatten zur Folge, daß der arme Lenny Fairfield sehr viel sich selbst überlassen blieb, und dies zu einer Zeit, da die neuen und fremdartigen Vorstellungen, welche durch das Lesen von Doctor Riccabocca's Bücher in ihm hervorgebracht worden, die beständige Leitung durch einen überlegenen Geist in hohem Grade wünschenswerth gemacht hätten.

Eines Abends, als Lenny nach vollbrachtem Tagewerk verstimmt und mißmuthig der Hütte seiner Mutter zuging, traf er plötzlich mit dem Kesselflicker Sprott zusammen.


Fünftes Kapitel.

Der Kesselflicker saß unter einer Hecke und hämmerte an einem alten Kessel, während ein kleines Feuer vor ihm brannte, und der Esel ganz in der Nähe eines süßen Schlummers sich erfreute. Mr. Sprott blickte auf, als Lenny vorüber ging, nickte freundlich und sagte:

»Guten Abend, Lenny! Freut mich, zu hören, daß du einen so guten Dienst bei dem fremden Herrn gefunden hast.«

»So,« erwiderte Lenny, der noch immer einigen Groll im Herzen hegte; »jetzt schämt Ihr Euch also nicht, mit mir zu sprechen. Damals aber, als ich ohne mein Verschulden einen Schimpf ertragen mußte, war der rechte Gentleman am liebevollsten gegen mich.«

»Pr–r,« sagte der Kesselflicker, indem er das r nicht ohne besondern Nachdruck und Bedeutung rasseln ließ. »Siehst du, der rechte Gentleman braucht nicht sein Brod zu verdienen und hat also auch nicht nöthig, um seinen Ruf vor der Welt ängstlich zu sorgen. Ein armer Kesselflicker dagegen muß zimperlich und wählerisch in seinem Umgang sein. Aber setze dich ein wenig zu mir, Lenny; ich habe dir etwas zu sagen.«

»Mir?«

»Ja, dir. Schieb' den Grauen auf die Seite, und setze dich.«

Lenny folgte zögernd und ungerne der Einladung.

»Ich höre,« begann der Kesselflicker etwas unverständlich, indem er zwei Nägel zwischen den Zähnen hielt – »ich höre, daß du ein sehr großer Freund vom Lesen bist, und ich habe dort in meinem Ranzen einige hübsche, wohlfeile Bücher – manche darunter kosten nicht mehr, als einen Pfennig.«

»Ich möchte sie wohl sehen,« rief Lenny mit funkelnden Augen.

Der Kesselflicker erhob sich, öffnete einen der Körbe, welche an den Seiten des Esels herabhingen, zog einen Ranzen heraus und stellte ihn mit dem Bedeuten vor Lenny hin, daß er sich nur auswählen möge. Der Bauernknabe hätte sich nichts Besseres wünschen können. Er breitete den Inhalt auf dem Rasen aus – eine buntgemischte Kost für den hungrigen Geist – Nahrung und Gift – serpentes avibus Nach Horaz, Ars Poetica, I, 12f.: … non ut serpentes avibus geminentur, tigribus agni (… dass sich nicht Schlangen mit Vögeln, Tiger sich mit Lämmern paaren). – Gutes und Schlechtes. Hier Milton's Verlornes Paradies Paradise Lost (1667), episches Gedicht des englischen Dichters John Milton. Es erzählt die Geschichte des Höllensturzes der gefallenen Engel, der Versuchung von Adam und Eva durch Satan, des Sündenfalls und der Vertreibung aus dem Garten Eden. Das Werk ist bis heute von großem Einfluß im angelsächsischen Sprachraum und gehört zur Weltliteratur., dort Das Zeitalter der Vernunft The Age of Reason (1794) von Thomas Paine, einem der Gründerväter der Vereinigten Staaten im Zeitalter der Aufklärung. Die Schrift propagiert Vernunft und freies Denken, setzt sich kritisch mit institutionalisierter Religion im Allgemeinen und dem Christentum im Besonderen auseinander und tritt für den Deismus ein. – hier methodistische Methodismus: auf John Wesley (18. Jh.) zurückgehende protestantische Glaubensrichtung mit zahlreichen Anhängern. Tractate, dort die wahren Grundsätze des Socialismus – Abhandlungen über nützliche Wissensgegenstände, abgefaßt von einem wohlwollenden Gelehrten – Aufrufe an Fabrikarbeiter, erlassen von den festesten Köpfen und eingegeben von demselben Ehrgeiz, welcher Eratostratus Um unsterblichen Ruhm zu erlangen, setzte Herostratos im Jahre 356 v.u.Z. den 200 Jahre alten, unter Beteiligung von König Kroisos erbauten Tempel der Artemis in Ephesos in Brand und zerstörte ihn so. bewog, einen Tempel einzuäschern; Werke der Phantasie, so bewundernswürdig, wie Robinson Crusoe, oder so unschuldig, wie der Alte Englische Baron The Old English Baron: A Gothic Story von Clara Reeve; der Roman erschien unter diesem Titel 1778, war jedoch eine Überarbeitung des bereits 1777 erschienenen Romans The champion of virtue., neben rohen Untersetzungen jenes Unflaths, welcher unter der Regierung Ludwigs XV. die Sitten der französischen Jugend verdarb. Kurz, dieses Gemisch war ein kleiner Auszug aus der bunten Welt der Bücher – aus jener ungeheuren Stadt der Presse mit ihren Palästen und Spelunken – ihren Wasserleitungen und Cloaken, die sich alle gleichermaßen vor dem Auge Dessen öffnen, zu welchem Ihr, wie der Kesselflicker zu Lenny, sorglos sprecht: »Wählt Euch nur aus!«

Allein es liegt nicht in der Natur eines gesunden und reinen Gemüthes, sich in einer Spelunke niederzulassen oder in den Cloaken zu verirren, und nachdem Lenny Fairfield arglos in den schlechten Büchern geblättert hatte, wählte er zwei oder drei der besten, brachte sie dem Kesselflicker und fragte nach ihrem Preise.

»Ei,« sagte Mr. Sprott, seine Brille aufsetzend, »du hast gerade die theuersten ausgesucht; jene dort sind viel billiger und dazu interessanter.«

»Aber sie gefallen mir nicht; ich verstehe nicht, wovon sie handeln, während dieses hier, wie mir scheint, die Dampfmaschine beschreibt und hübsche Bilder hat; und das andere ist Robinson Crusoe, den mir Pfarrer Dale einmal versprochen hat – aber ich will ihn lieber von meinem eigenen Gelde kaufen.«

»Wie du willst,« sagte der Kesselflicker, »du sollst die Bücher für vier Schillinge bekommen und kannst mich nächsten Monat bezahlen.«

»Vier Schillinge? Das ist eine große Summe,« versetzte Lenny: »aber ich will das Geld nach und nach zurücklegen, da Ihr so gut sein wollt, mir Kredit zu geben. Guten Abend, Mr. Sprott!«

»Warte noch ein bischen,« sagte der Kesselflicker; »diese zwei Tractätchen will ich dir noch mit in den Kauf geben; sie kosten nur einen Schilling das Dutzend, und wenn du diese gelesen hast, wirst du erst ein regelmäßiger Kunde von mir werden.«

Der Kesselflicker warf Lenny Nr. l und 2 von den Aufrufen an die Arbeiter zu, die derselbe dankbar annahm.

Der junge Wißbegierige setzte seinen Weg durch die grünen Felder und das stille, herbstliche Gesträuch der Hecken fort indem er ein Buch um das andere betrachtete und nicht wußte, zu welchem er sich entschließen sollte.

Der Kesselflicker stand auf und schürte das Feuer mit Laub, Ginster und Reisern, die zum Theil dürr, zum Theil noch grün waren.

Lenny hat jetzt eines der Tractätlein aufgeschlagen – sie sind schneller gelesen und kosten weniger Kopfzerbrechens, als die Erklärung der Dampfmaschine.

Der Kesselflicker hat seinen schmutzigen Leimtopf auf die Glut gesetzt, und der Leim brodelt.


Sechstes Kapitel.

Als Violante mit ihrer neuen Heimath bekannter, und ebenso ihre Umgebung vertrauter mit ihr wurde, machte sich eine gewisse stolze Würde in ihrer Haltung und in ihrem Benehmen bemerkbar, die, wäre sie ihr nicht augenscheinlich angeboren und ganz natürlich gewesen, an der Tochter eines armen Verbannten sehr am unrechten Platze scheinen mußte, und die selbst bei Kindern von den höchsten Ständen in so zartem Alter selten angetroffen wird. Mit der Miene einer kleinen Prinzessin reichte sie ihr zartes Händchen zu einem freundlichen Drucke oder bot ihre ruhige klare Wange zum Kusse dar. Aber bei alledem war sie so anmuthig, und ihre stolze Würde war so hübsch und bezaubernd, daß man sie trotz ihres vornehmen Wesens lieben mußte.

Und sie verdiente es in Wahrheit geliebt zu werden; denn wenn auch zum Beispiel Mrs. Dale ihren Stolz nicht billigen konnte, so war derselbe doch frei von allem Egoismus, und das ist in der That kein gewöhnlicher Stolz. Sie besaß eine instinktartige Vorsorge für Andere, man sah es ihr an, daß sie jenes edlen weiblichen Heroismus, der Selbstverleugnung fähig sei und obgleich ein originelles, häufig ernstes, sinniges Kind, mit einem Anflug sanfter, aber tiefer Melancholie, so war sie doch nicht über die glückliche, natürliche Heiterkeit ihres Alters erhaben – nur klang ihr silbernes Lachen gedämpfter, ihre Geberden waren ruhiger, als dies bei Kindern der Fall zu sein pflegt, welche an viele Spielgefährten gewöhnt sind.

Mrs. Hazeldean sah sie am liebsten ernst und prophezeite, »die Kleine werde gewiß einmal eine sehr verständige Frau werden.« Mrs. Dale gefiel sie am besten, wenn sie heiter war, und sie behauptete, das Kind sei dazu geboren, manches Herzweh zu machen, eine Bemerkung, wofür sie von dem Pfarrer wohlverdiente Rüge erntete.

Mrs. Hazeldean schenkte ihr eine Sammlung kleiner Gartengeräthschaften und Mrs. Dale ein Bilderbuch und eine schöne Puppe. Lange Zeit hatten Buch und Puppe den Vorzug. Als jedoch Mrs. Hazeldean gegen Riccabocca die Bemerkung machte, das arme Kind sehe blaß aus und sollte sich mehr in der freien Luft bewegen, überredete der weise Vater seine Tochter, Mrs. Riccabocca finde großes Gefallen an dem Bilderbuch, und er würde sich sehr freuen, die Puppe zu besitzen, worauf Violante sich beeilte, beides wegzugeben; und nie war sie so glücklich, als wenn Mama (wie sie Mrs. Riccabocca zu nennen pflegte) das Bilderbuch betrachtete, und ihr Vater mit gravitätischem Ernst die Puppe schaukelte. Dann versicherte Letzterer, sie könne ihm im Garten von großem Nutzen sein, und sogleich begann Violante ihren Spaten, Hacke und Schubkarren in Bewegung zu setzen.

Diese letztere Befestigung brachte sie in unmittelbare Berührung mit Mr. Leonard Fairfield, der eines Morgens zu seinem großen Entsetzen bemerkte, daß Violante ein ganzes Selleriebeet ausgerottet hatte, weil sie die Pflanzen in ihrer Unwissenheit für Unkraut gehalten.

Lenny war über die Maßen aufgebracht. Er riß ihr die Hacke aus der Hand und sagte zornig: »Das dürfen Sie nicht thun, Fräulein. Ich werde es Ihrem Papa sagen, wenn Sie –« Violante nahm eine stolze Haltung an, und da ihr – wenigstens seit ihrer Ankunft in England – noch nie so begegnet worden war, so drückte sich in dem Erstaunen ihrer großen Augen ebenso wohl etwas Komisches als in der Würde ihrer beleidigten Miene etwas Tragisches aus.

»Es ist sehr unartig von Ihnen, Fräulein,« fuhr Leonard in milderem Tone fort, denn die Augen hatten ihn besänftigt und die Miene eingeschüchtert; »ich hoffe, Sie werden es nicht wieder thun.«

» Non capisco« (ich verstehe nicht), murmelte Violante, und ihre dunkeln Augen füllten sich mit Thränen. In diesem Moment kam Jackeymo herbei, und Violante sagte, indem sie sich alle Mühe gab, ihre Aufregung zu verbergen: »Il fanciullo e molto grossolano« (der Knabe ist sehr ungezogen).

Jackeymo ging mit dem Blicke eines wüthenden Tigers auf Leonard zu und rief: »Wie kannst du dich erfrechen, du Abschaum der Erde, die Signorina zum Weinen zu bringen?« Im Original folgt hier eine Anmerkung Bulwers, die Winterfeld nicht übernommen hat; in der Übersetzung von Carl Kolb lautet sie: »Es ist kaum nötig zu bemerken, daß Jackeymo in der Unterhaltung mit seinem Herrn und Violante, oder in seinen Selbstgesprächen, sich der italienischen Zunge bedient. Wir übersetzen hier, und es fallen deshalb die Sprachverstöße aus, zu denen er sich veranlaßt sehen würde, weil er die Sprache des Landes reden mußte, in dem er nur ein Gast ist.«

Und da ihm sein englischer Wörtervorrath nicht eine hinlängliche Menge von Schimpfnamen lieferte, so überhäufte er Lenny mit einem solchen Schwall italienischer Schmähungen, daß dieser vor Zorn und Bestürzung in einem Athem weiß und roth wurde.

Violante jedoch empfand nun Mitleid mit ihrem Opfer und begann mit ächt weiblicher Launenhaftigkeit Jackeymo wegen seiner Heftigkeit zu schelten; dann näherte sie sich Leonard, legte ihre Hand auf seinen Arm und sagte mit kindlicher und zugleich königlicher Freundlichkeit in dem reizendsten Gemisch von gebrochenem Englisch und weichem Italienisch, das wir nicht wieder zu geben vermögen und daher einfach übersetzen: »Kümmere dich nicht um ihn. Ich war es wohl, die Unrecht hatte; aber ich verstand dich nicht. War denn dies kein Unkraut?«

»Nein, meine theuerste Signora,« sagte Jackeymo in italienischer Sprache, indem er mit Betrübniß auf das verwüstete Selleriebeet blickte; »das ist kein Unkraut, sondern Sellerie, den man um diese Zeit des Jahres theuer verkaufen kann. Wenn es Ihnen aber Vergnügen macht, ihn aufzureißen, so möchte ich wissen, wer sich unterstehen dürfte, Sie daran zu hindern.«

Lenny zog sich zurück. Er war »der Abschaum der Erde« genannt worden, und dies noch dazu von einem Ausländer. Zum zweiten Mal hatte man ihn mißhandelt, weil er gethan, was er für seine Pflicht gehalten. Wieder empfand er die Kluft zwischen Reichen und Armen und immer mehr drängte sich ihm die Ueberzeugung auf, daß zwischen beiden ewiger Krieg herrschen müsse, denn er hatte die abscheulichen Tractate Nr. l und 2 von Anfang bis zu Ende gelesen. Mitten in dieser zornigen Stimmung jedoch fühlte er die sanfte Berührung der kleinen Hand, den beschwichtigenden Einfluß der versöhnenden Worte – und er schämte sich halb vor sich selbst, so rauh mit einem Kinde geredet zu haben.

Lenny setzte sich in einiger Entfernung nieder. »Ich sehe nicht ein,« dachte er, »warum es Reiche und Arme, Herren und Knechte geben muß.« Lenny hatte, wir dürfen dies nicht vergessen, Pfarrer Dale's politische Predigt nicht gehört.

Nach einer Stunde kehrte der Knabe, der sich indessen wieder gefaßt hatte, zu seiner Arbeit zurück. Jackeymo war auf das Feld gegangen und somit nicht mehr um den Weg; Riccabocca dagegen stand bei dem Selleriebeet und hielt seinen rothseidenen Regenschirm über Violante, die zu seinen Füßen saß und mit ihren großen Augen voll Liebe und Verständniß zu ihm aufschaute.

»Lenny,« redete Riccabocca den Knaben an, »mein junges Fräulein hat mir eben gesagt, daß sie sehr unartig und Giacomo sehr ungerecht gegen dich gewesen. Vergieb ihnen Beiden!«

Lenny's Verdruß zerschmolz in einem Augenblick. Die Erinnerung an die Tractate Nr. 1 und 2

»Gleich einem wesenlosen Traum
Ließ keine Spur zurück.« Shakespeare, Der Sturm, Akt 4, Szene 1

Er erhob seine Augen, in welchen seine ganze angeborene Herzensgüte glänzte, zu dem weisen Mann empor und heftete hierauf einen dankbaren Blick auf das Antlitz der kindlichen Friedenstifterin. Dann wandte er sich ab und weinte. Der Pfarrer hatte Recht: »Ihr Armen, habt Mitgefühl für die Reichen; Ihr Reichen, achtet die Armen!«


Siebentes Kapitel.

Von diesem Tage an wurden der niedrige Lenny und die königliche Violante die besten Freunde. Mit welchem Stolz lehrte er sie nicht Sellerie von Unkraut unterscheiden – und wie stolz war sie nicht, wenn man ihr sagte, daß sie nützlich sei! Kindern, zumal Mädchen, kann man keine größere Freude machen, als wenn man sie fühlen läßt, daß sie schon einigen Werth in der Welt haben – daß sie schon etwas leisten können.

Wochen und Monate verflossen und Lenny las immer noch fort, nicht blos die Bücher, welche der Doctor ihm borgte, sondern auch diejenigen, welche er von Mr. Sprott kaufte. Was die Bomben und Granaten gegen die Religion betrifft, die der Kesselflicker in seinem Ranzen bei sich trug, so fühlte Lenny noch keine Lust, sich damit in die Luft zu sprengen. Er war von der Wiege an in kindlicher Liebe und Ehrfurcht vor seinem himmlischen Vater und treuen Heiland erzogen worden, dessen Leben alle Berichte menschlicher Vortrefflichkeit weit übertrifft und dessen Tod über die höchsten Schilderungen menschlichen Heldenmuthes erhaben ist; und kein Wesen, welches in seiner Jugend gelernt hat, zu dem Barmherzigen zu stehen und den Heiland anzubeten, selbst wenn es im spätern Leben sich in die Dornen eines unseligen Skepticismus verstrickt haben sollte, vermöchte es, ohne sich im tiefsten Herzen empört und im Gewissen erschüttert zu fühlen, den Ewigen verspotten und verhöhnen zu hören. Wie der Hirsch instinktmäßig vor dem Tiger zurückbebt – wie der bloße Anblick des Skorpions Jeden, und sollte er nie zuvor einen solchen gesehen haben, von der Berührung abhält, so ließ schon die elfte Zeile einer schlechten, gotteslästerlichen Schrift, an die der Kesselflicker seine rußigen Finger legte, Lenny's Blut in seinen Adern erstarren.

Ebenso gesichert war der Bauernknabe vor Schriften gemeiner, unsittlicher Art, nicht nur durch die glückliche Unwissenheit seines ländlichen Lebens, sondern durch eine dauerndere Schutzwache: den Genius – den Genius, der lange Zeit braucht, ehe er die ihm innewohnende dorische Keuschheit verliert – der schamhaft ist, weil er den Ruhm liebt – der zwar gerne träumt, aber auf einem von Veilchen duftenden Rasen und nicht auf einem Düngerhaufen. Deßhalb sucht der Genius, selbst in der Verirrung der Sinne, aus der Sinnenwelt heraus in die feinere ätherische Phantasieenwelt zu flüchten. Abgesehen von den Leidenschaften aber ist der wahre Genius stets die praktischste von allen den Menschen verliehenen Gaben. Gleich dem Apollo, den die Griechen als den Typus des Genius verehrten, sieht er Arkadien selbst nicht als seine Heimath, sondern vielmehr als einen Verbannungsort an. Bald des Getändels in Tempe Im Tempe-Tal in Griechenland befand sich in der Antike am östlichen Ende ein Apollon-Heiligtum. Der Legende nach soll sich Apollon hier von seiner Schuld reingewaschen haben, die er durch die Tötung der in Delphi herrschenden Python auf sich geladen hatte. Dabei verliebte sich Apollon in die Nymphe Daphne, die jedoch in einen Lorbeerstrauch verwandelt wurde. Apollon brach einen Zweig von diesem Strauch ab und brachte ihn nach Delphi, wo er ihn einpflanzte. Zur Ehrung dieses Ereignisses gab es alle acht Jahre eine Prozession von Delphi ins Tempe-Tal. müde, erhebt sich der Genius, um seine Sendung zu erfüllen – der Schütze mit dem silbernen Bogen, der Lenker des Sonnenwagens zu sein. Um deutlicher zu reden: Genius ist die Begeisterung für Selbstveredlung; er hört auf zu sein oder entschlummert in dem Augenblick, da er es aufgibt, nach einem für ihn werthvollen Gegenstande zu streben, wodurch unversehens seine Vervollkommnung mit derjenigen der Welt sich verkettet.

Bis jetzt hatte Lenny's Genius noch keine Neigung, die nicht auf das Praktische und Nützliche hinzielte, weßhalb er sich auch naturgemäß seiner eigenen Sphäre und den Bedürfnissen derselben, nämlich den sogenannten mechanischen Künsten zuwandte. Er wünschte sich über Dampfmaschinen und artesische Brunnen Ein artesischer Brunnen ist ein Brunnen in einer Senke unterhalb des Grundwasserspiegels, in dem Wasser unter Überdruck steht. Dieses hydraulische Potenzial ist so hoch, dass das Wasser von selbst, das heißt ohne Pumpen, bis zur Erdoberfläche oder höher aufsteigt. Ein artesischer Brunnen ist im Gegensatz zu einer artesischen Quelle immer künstlich, da er durch eine Bohrung oder durch einen Schacht angelegt wurde. zu unterrichten, und zu diesem Ende waren ihm Vorkenntnisse in der Mechanik und Hydrostatik nöthig. Er kaufte sich daher populär gehaltene Werke über die Elemente dieser mystischen Wissenschaften und setzte bei Experimenten alle Kräfte seines Geistes in Thätigkeit.

Wie sehr achte und verehre ich Euch, Ihr edlen, hochherzigen Geister, die Ihr unbekümmert um Ruhm und für geringen irdischen Lohn dem Verstande des Armen die Thore des Wissens aufgeschlossen habt! Allein glaubt nicht, ich bitte Euch, daß damit schon alles Nöthige gethan sei. Bedenkt, ich bitte Euch, ob ein anderer Knabe, den die Religion nicht vor dem Gifte bewahrte, und in dem der Genius nicht nach Selbstveredlung rang, wohl eine ebenso gute Auswahl unter den Büchern im Ranzen des Kesselflickers getroffen haben würde.

Auch entging Lenny nicht völlig den verpesteten Bestandteilen der buntscheckigen Elemente, aus denen sein erwachender Geist Nahrung schöpfte. Bildet Euch nicht ein, daß alles Sauerstoff war, was seine lechzende Lippe begierig einsog. Nein – jene zündenden Tractate befanden sich ja noch immer in seinem Bereich!

Politisch mag ich sie nicht nennen; denn Politik bedeutet die Kunst, zu regieren, und die vorerwähnten Tractate zogen gegen alle von dem menschlichen Geschlechte jemals anerkannten Regierungen zu Felde. Dem gesunden Denker in seinem Lehnstuhl mögen sie vielleicht als erbärmlicher Unrath erscheinen; ebenso dir, erfahrener Staatsmann auf deinem Posten im Kabinet – und auch dir, ruhiger Würdenträger einer gelehrten Kirche – und dir, Lord Oberrichter, der du vielleicht schon manches Mal von den Schranken deines Gerichtshofes hinweg nach dem grausen Orcus von Norfolk Isle Die Norfolkinsel im Pazifischen Ozean, die zu Australien gehört, war zu Beginn des 19. Jh. ein Straflager, das sich zur am meisten gefürchteten Sträflingsanstalt des Pazifiks entwickelte. Ab 1825 ließ man die Gefangenen unter extremen Bedingungen arbeiten. Es gab Unmengen an Verletzten und Toten zu beklagen. 1844 wurde die Norfolkinsel Teil Tasmaniens. Damals wusste noch kaum jemand in der britischen Heimat von den Geschehnissen in der Sträflingskolonie. Nach und nach drangen jedoch Berichte an die Öffentlichkeit, es kam zu zahlreichen Protesten, und so musste die Strafanstalt im Mai 1855 geschlossen werden. die Geister der Menschen gesandt hast, welche dieser Unrath, weil er gleichzeitig auf die Organe des Erwerbs und der Kampflust fiel, vor der Zeit erschlagen hat.

Für Euch sind solche Tractate ein erbärmliches Geschmier; ob sie aber auch dem armen Manne so erscheinen, dem sie ein Paradies versprechen unter der leichten Bedingung, daß er die Welt umstürzen helfe? Freilich stellen diese »Aufrufe an die Arbeiter« das Weltumstürzen als die allereinfachste Sache dar – etwa als eine Einmaleins-Aufgabe. Die Armen brauchen nur ihre starken Fäuste gegen die Achse zu stemmen und wacker zu heben – dann geht's, hurrah, das Unterste zu oberst! Etwas gesunde Wuth muß freilich bei dem Heben mitwirken; und es ist so leicht, die Beredsamkeit der »Aufrufe« mit einer Art galleerregender Statistik zu würzen – »Mißbräuche der Aristokratie« – »Aemterhandel des Clerus« – »Kosten der Armee, die zum Besten der jüngern Söhne der Peers unterhalten wird« – »Kriege, in der schändlichen Absicht unternommen, die Renten der Landbesitzer zum Steigen zu bringen« – alles arithmetisch aufgetischt und mit Anekdoten gewürzt von allen Edelleuten, die sich irgend einen schlechten Streich zu Schulden kommen ließen, und von jedem Geistlichen, der seinem Rock Unehre machte, als ob solche Beispiele einen richtigen Begriff von dem Werthe des Adels und der Geistlichkeit zu geben vermöchten!

Alles dies, leidenschaftlich vorgetragen (und – wohlgemerkt! – nie beantwortet, da diese Literatur keine Controverse zuläßt, und der Schriftsteller ganz freies Feld hat), mag jämmerlicher Unrath sein; aber aus solchem Unrath bauen die Arbeiter Barrikaden zum Angriff und die Gesetzgeber Gefängnisse zur Verteidigung.

Und von diesem Gemische zog unser armer Freund Lenny mehr als genug aus dem Ranzen des Kesselflickers. Ihm schien es sehr geistreich und beredt, und er hielt die statistischen Angaben für so richtig, wie mathematische Beweise.

Ein berühmter Kenntnißverbreiter sieht mir über die Schulter und sagt: »Verbessere die Erziehung und sorge dafür, daß gute Bücher billig zu kaufen sind, dann wird all' dieser Unrath von selbst verschwinden.« Nehmen Sie mir nicht übel, mein Herr, aber ich glaube kein Wort davon. Wollte man von Ricardo und Adam Smith David Ricardo (1772-1823) und Adam Smith (1723–1790): führende Vertreter der liberalen Nationalökonomie. den Band für einen Heller verkaufen, so würden selbst dann diese Werke von den Arbeitern ebenso wenig gelesen werden, wie heutzutage von einem großen Theile hochgebildeter Männer. Ich bin noch immer der Ueberzeugung, daß, so lange die Presse arbeitet, Angriffe gegen die Reichen und Vorschläge zum Umsturz des Bestehenden einen beträchtlichen Theil der Literatur der Arbeiterwelt ausmachen werden.

Da liest Lenny Fairfield eine Abhandlung über Hydraulik und baut obendrein das Modell zu einem Springbrunnen; allein das hindert ihn nicht, jedem Vorschlag zur Tilgung der Nationalschuld beizupflichten, die er doch gewiß nie zu zahlen versprochen hat, die aber, wie man ihn versichert, Thee und Zucker so schamlos verteuert.

Dagegen will ich dir sagen, lieber Leser, was diesen beredten Aufreizungen in etwas entgegenwirkt und Lenny abhält, seine Stirne gegen die harten Mauern des socialen Systems einzustoßen – der einfache Umstand nämlich, daß er ein Paar Augen im Kopfe hat, die noch etwas Anderes thun als nur lesen.

Wenn er aus seinen Druckschriften erfahren hat, daß alle Herren Tyrannen, die Geistlichen Heuchler oder müssige Drohnen, alle Gutsbesitzer aber Vampyre und Blutsauger sind, so schaut er sich um in der kleinen Welt, die ihn umgibt, und muß sich zunächst gestehen, daß sein Herr kein Tyrann ist (vielleicht aber nur darum, weil er Ausländer, Philosoph und, so viel Lenny und ich wissen, Republikaner ist).

Dann Pfarrer Dale, obgleich ein eingefleischter Anhänger der Hochkirche, verdient weder ein Heuchler, noch eine müssige Drohne genannt zu werden. Freilich hat er eine sehr gute Pfründe, eine weit bessere, als er nach den »politischen« Ansichten jener Tractate haben sollte; allein Lenny muß zugeben, daß, wenn Pfarrer Dale um einen Pfennig weniger Einnahme hätte, er auch den Armen einen Pfennig weniger geben könnte, und wenn er eine Gemeinde mit der andern vergleicht, wie zum Beispiel Roodhall und Hazeldean, so dämmert wenigstens die Idee in ihm auf, daß nichts der Civilisation förderlicher ist als ein Pfarrer, der sein gutes Auskommen hat.

Ferner gehört der Squire Hazeldean, obgleich er ein eingefleischter Tory ist, doch keineswegs zu den Vampyren und Blutsaugern. Er lebt nicht von dem Volke, sondern ein großer Theil des Volkes lebt von ihm.

Lenny Fairfield geräth daher in nicht geringe Verlegenheit; seine praktische Erfahrung erschüttert seinen Glauben an die Evangeliumswahrheit seiner theoretischen Dogmen.

Aber – Ihr Herren, Pfarrer und Gutsbesitzer – obgleich ich soeben, auf die Gefahr hin, alle Popularität zu verlieren, gewissen Weisen, die gerade in unserer Zeit sehr in der Mode sind, einen Coupe de patte Schubs. gegeben, so sollt Ihr mir doch nicht loskommen, ohne daß ich Euch einen mahnenden Floh in's Ohr gesetzt habe. Glaubt nicht, das bloße Schreiben und Druckenlassen reicht zu, das Geschriebene und Gedruckte zu widerlegen, das Euren Untergang bezweckt. Durch Eure Feder könnt Ihr jenes Geschmier nicht unschädlich machen, wohl aber durch Euer Leben. Seid Ihr reich, wie Squire Hazeldean, so thut Gutes mit Eurem Gelde; seid Ihr arm, wie Signor Riccabocca, so thut Gutes durch Freundlichkeit und Wohlwollen.

Seht, hier steht Lenny, der eben seinen Wochenlohn empfängt; obgleich er weiß, daß er im nächsten Kirchspiel höhern Lohn erhalten könnte, so leuchten dennoch seine blauen Augen voll Dankbarkeit nicht bei dem Klang des Geldes, sondern weil der arme Verbannte sich so freundlich mit ihm über Dinge unterhält, die sich nicht auf seinen Dienst beziehen; während Violante die Treppe der Terrasse hinabsteigt, ein Körbchen mit Sago und andern Leckereien in der Hand, welche ihre Stiefmutter Mrs. Fairfield findet, die seit einigen Tagen unpäßlich ist.

Lenny wird auf seinem Heimwege dem Kesselflicker begegnen und einen ächt Demosthenischen »Aufruf«, einen Haupttractat über die »Notwendigkeit der Strikes« und den »Geiz der Herrschaften« kaufen. Indeß glaube ich immer, einige Worte von Signor Riccabocca, die ihn keinen Heller kosteten, und der Anblick des lächelnden Gesichtes seiner Mutter, die sich über den Inhalt des Körbchens freut, der gleichfalls nicht theuer war, dürften weit nachdrücklicher die Wirkung jenes »Aufrufs« zu nichte machen, als der beste Artikel, den Brougham oder Mill Henry Brougham (1778-1868), einer der Gründer des Edinburgh Review, für den auch James Mill (1773-1836) schrieb, ein Verfechter des Utilitarismus, einer v.a. in England vertretenen gedanklichen Richtung, die den Nutzen für den Einzelnen und die Gesellschaft in den Mittelpunkt ihrer philosophischen, politischen und wirtschaftlichen Überlegungen stellte. über diesen Gegenstand zu schreiben vermöchten.


Achtes Kapitel.

Der Frühling war wieder gekommen, und an einem schönen Maitag saß Leonard Fairfield bei dem kleinen Springbrunnen, den er nun wirklich im Garten angelegt und mit einem Blumengürtel eingefaßt hatte. Die Schmetterlinge flatterten über den Blüthen und die Vögel sangen über seinem Haupte. Leonard Fairfield ruht nach der Arbeit des Tages und genoß sein einfaches Mahl neben dem kühlen Spiel des funkelnden Wassers; sein Hunger nach Belehrung war jedoch noch größer, und er verschlang sein Buch während des Essens.

Ein Pfennigtractat ist das Schuhhorn der Literatur; es hilft sehr viele Bücher anziehen, von denen manche zu knapp sind, als daß es sich bequem darin gehen ließe. Das Pennytractätlein führt einen berühmten Schriftsteller an, und das Verlangen wird rege, ihn zu lesen; es unterstützt eine überraschende Behauptung durch eine gewichtige Autorität, und man möchte gern die Stelle vergleichen.

Während der langen Abende des vergangenen Winters hatte Leonard's Einsicht bedeutende Fortschritte gemacht. Durch unermüdetes Studium war er ohne alle Beihülfe über die Elemente der Mechanik hinaus gekommen und hatte die erlernten Grundsätze auch in der Praxis angewendet, nicht blos durch Anlegung des Springbrunnens und Benützung der Wissenschaft zu künstlicher Bewässerung zweier Felder vermittelst des Flusses, in welchem Jackeymo seine Stichlinge zu fangen pflegte, sondern auch durch verschiedene andere Erfindungen zur Erleichterung oder Abkürzung der Arbeit, wofür er in der ganzen Nachbarschaft belobt und bewundert wurde.

Andererseits hatten jene wüthenden Tractate, welche so summarisch über die Geschicke des Menschengeschlechts verfügten – selbst nachdem seine wachsende Vernunft und das Lesen von klassischeren und logischeren Werken nicht verfehlen konnte, ihm über die unwissenschaftliche Haltung und die unlogischen Schlußfolgerungen jener Flugschriften die Augen zu öffnen – durch die Citate und Andeutungen, welche sie enthielten, Lenny zum Studium bedeutenderer und gefährlicherer Philosophen angelockt.

Der Ranzen des Kesselflickers hatte ihm eine Uebersetzung von Condorcet's » Menschlichem Fortschritt« Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain (1793) von dem frz. Mathematiker, Aufklärer, Philosophen und Politiker Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet. Das Werk ist getragen vom aufklärerischen Glauben an die die Perfektibilität des Menschen. Es vertritt die Ansicht, dass der Mensch von Natur aus gut und zur Vervollkommnung seiner intellektuellen und moralischen Anlagen fähig sei. Bildungsunterschiede seien die Hauptursache der Tyrannei. Daher trat Condorcet schon früh für allgemein zugängliche Bildungseinrichtungen ein, die unabhängig von staatlichem Einfluss sein sollten. und eine andere von Rousseau's » Gesellschaftsvertrag« Du Contract Social ou Principes du Droit Politique (1762), das politisch-theoretische Hauptwerk des Genfer Philosophen Jean-Jacques Rousseau, eines der Schlüsselwerke der Aufklärungsphilosophie, einer der Wegbereiter moderner Demokratie, indem es die Volkssouveränität in den Mittelpunkt stellt. geliefert. Durch diese Schriften war er dann hinwiederum bewogen worden, aus dem Vorrath des Keßlers solche Tractate auszuwählen, welche von philantropischen Phrasen und Prophezeiungen eines künftigen goldenen Zeitalters wimmelten, gegen welches dasjenige des alten Saturn Das Goldene Zeitalter bezeichnet in der antiken Mythologie die als Idealzustand betrachtete friedliche Urphase der Menschheit vor der Entstehung der Zivilisation. Der Herrscher dieses Zeitalter ist Kronos, der in Rom mit dem italischen Gott Saturn identifiziert wurde. Die Saturnalien feiern so das Gedenken dieses fernen Zeitalters. nur eine Posse wäre – Tractate, so mild und mütterlich in ihrer Sprache, daß eine weit praktischere Erfahrung, als die unseres Lenny, dazu gehörte, um einzusehen, daß man über einen Strom von Blut setzen müßte, ehe man auch nur im mindesten hoffen dürfte, einen Fuß auf die blumenreichen Ufer zu setzen, nach denen sie zum Ausruhen einluden – Tractätchen, welche dem armen Christentum die Wangen schminkten, ihm einen Kranz von Narzissen auf's Haupt drückten und es einen pas de zephyr Der Zephyrsschritt ist ein Tanzschritt, der in bestimmten Gesellschaftstänzen des frühen 19. Jh. vorkam. tanzen ließen in dem idyllischen Ballet, in welchem St. Simon Henri de Saint-Simon (1760-1825) war ein bedeutender französischer soziologischer und philosophischer Autor zur Zeit der Restauration. Auf ihn berief sich der frühsozialistische Saint-Simonismus, der bis zur Revolution von 1848 ein Rolle spielt. der Heerde, die er schiert, vorflötet – Tractate endlich, die, nachdem zuvor als einleitender Grundsatz aufgestellt wurde, daß

»Die Wolken anstrebenden Thürme, die prächt'gen Paläste,
Die Tempel, die hehren, der Erdball, ja, alles,
Was dieser sein Eigenthum nennt, soll vergehen,«

an die Stelle der entschwundenen Erde Monsieur Fourier's symmetrisches Phalansterium Der Fourierismus ist eine sozietäre Theorie; er bezeichnet die von Charles Fourier (1772-1837) vertretene Lehre und deren Weiterentwicklung durch seine Anhänger, der sozietären Schule. Der Fourierismus wendet sich gegen den Liberalismus und die Fortschrittsgläubigkeit seiner Zeit. Das Phalansterium ist eine von Fourier erdachte landwirtschaftliche oder industrielle Produktions- und Wohngenossenschaft für eine in Fouriers Lehre Phalanx genannte Gemeinschaft von im Idealfall exakt 1620 Mitgliedern. Diese Menschen sollten dort gemeinsam leben, lieben, arbeiten und konsumieren. Bestandteil des Konzepts war die freie Liebe. oder Mr. Owen's architectonisches Parallelogramm Robert Owen (1771-1858), britischer Unternehmer und Frühsozialist. Er gilt als der Begründer des Genossenschaftswesens. Ähnlich wie Fourier schwebten ihm »Orte der Ko-Operation« vor mit je 1200 Personen; die Struktur dieser Orte sollte ein Quadrat darstellen, was zu dem Spottnamen »Owens Parallelogramm« führte. setzten.

Mit einem solchen Tractätchen würzte eben Lenny seine Brodkruste und Radieschen, als Riccabocca, dessen langes, dunkles Antlitz über die Schulter des Studirenden sich beugte, plötzlich ausrief:

»Diavolo! mein Freund! Was in aller Welt hast du hier? Laß mich doch einmal sehen – willst du?«

Leonard stand ehrerbietig auf und ein tiefes Roth übergoß seine Wangen, indem er Riccabocca die Abhandlung überreichte. Der Philosoph las die erste Seite mit großer Aufmerksamkeit, die zweite etwas flüchtiger und durchblätterte alsdann nur rasch den Rest. Er hatte schon eine zu lange Kette von politischen Problemen durchgemacht, um nicht über jenen pons asinorum Eselsbrücke. des Socialismus gekommen zu sein, auf welchem Fouriers und St. Simons mit gespreizten Beinen sitzen und laut rufen, daß sie an der äußersten Grenze des Wissens angekommen seien!

»Das ist alles so alt wie die Berge,« sagte Riccabocca verächtlich. »Aber die Berge stehen noch immer und dies geht so dahin!« setzte der Weise hinzu, indem er auf eine Rauchwolke deutete, die seiner Pfeife entstieg. »Hast du je Sir David Brewster's Schottischer Physiker (1781-1868); das Werk über die optischen Täuschungen, Letters on Natural Magic, erschien 1832. Abhandlung über optische Täuschungen gelesen? Nicht? Gut, so will ich sie dir borgen. Du wirst darin eine Geschichte von einer Dame finden, die beständig eine schwarze Katze auf dem Teppich vor ihrem Herde sah. Die schwarze Katze existirte nur in ihrer Einbildung; aber die Sinnentäuschung war doch natürlich und vernünftig – was meinst du?«

»Ei, Sir,« versetzte Leonard, der nicht verstand, was der Italiener damit sagen wollte, »ich sehe nicht ein, warum es natürlich und vernünftig sein sollte.«

»Thörichter Knabe! weil schwarze Katzen mögliche und bekannte Dinge sind. Wer aber in aller Welt hat jemals eine solche Gemeinschaft von Menschen gesehen, wie sie auf dem Herdteppich der Herren Fourier und Owen sitzt? Wenn die Hallucination jener Dame nicht vernünftig sein soll, wie muß dann diejenige eines Menschen genannt werden, der an solche Traumgesichte glaubt?«

Leonard biß sich auf die Lippe.

»Mein lieber Junge,« fuhr der Doctor freundlich fort, »das einzige Sichere und Greifbare, wozu diese Schriftsteller dich verleiten wollen, liegt gleich an der Schwelle und ist das, was man gemeiniglich eine Revolution nennt. Nun weiß ich, was das ist. Ich habe, wenn auch nicht eine Revolution, so doch einen Versuch dazu mitgemacht.«

Leonard erhob seine Augen zu seinem Herrn mit einem Blicke tiefer Ehrfurcht und großer Neugierde.

»Ja,« fuhr Riccabocca fort und seine Züge nahmen statt des gewohnten wunderlichen und satyrischen, einen lebhaften, edlen und heroischen Ausdruck an. »Ja, es war nicht eine Revolution um einer Chimäre, sondern um einer Sache willen, welche selbst die Kaltblütigen als eine gerechte anerkennen, und die, wenn der Erfolg gelingt, zu allen Zeiten als eine göttliche angesehen wird – die Befreiung des Vaterlandes von der Fremdherrschaft! Ich habe an einem solchen Versuche Theil genommen. Aber,« setzte der Italiener wehmüthig hinzu, »wenn ich mir in's Gedächtniß zurückrufe, welche böse Leidenschaften dadurch geweckt werden, wie alle Bande sich lösen, welche Ströme von Blut fließen müssen, wie jeder nützliche Gewerbfleiß in's Stocken geräth, wie dem Wahnsinn die Waffe in die Hand gegeben wird, und wie viele Bethörte als Opfer fallen – wenn ich dies alles bedenke, so drängt sich mir die ernste Frage auf, ob ein wirklich rechtschaffener, reiner und menschlich fühlender Mann, der einmal eine solche Ordalie Gottesurteil. durchgemacht hat, je dieses Wagniß auf's Neue unternehmen darf, wenn er nicht zuvor des Sieges gewiß und versichert ist, daß der Kampfpreis im Aufruhr der entfesselten Elemente seinen Händen nicht wieder entrissen wird.«

Der Italiener hielt inne, beschattete seine Stirne mit der Hand und sprach längere Zeit nicht mehr. Dann fuhr er, allmälig seinen gewöhnlichen Ton wieder annehmend, fort:

»Revolutionen ohne einen durch positive Erfahrungen klar gemachten Zweck – mit Einem Worte, Revolutionen, bei welchen es sich weniger um einen Wechsel der Gesetze oder der Dynastien, als um einen völligen Umsturz der gesellschaftlichen Ordnung handelt, sind selten von wahren Staatsmännern unternommen worden. Sogar Lykurg Nach antiken Quellen der Gesetzgeber von Sparta; nach heutigem Forschungsstand, wie man auch zu Bulwers Zeit schon richtig annahm, wahrscheinlich eine mythische Person hat, wie sich erweisen läßt, nie existirt und gehört daher in das Gebiet der Sage. Sie sind in der Regel Eingebungen von Philosophen (meistens gute, wohlwollende Leute, die einen eleganten, poetischen Styl schreiben), welche abgeschieden von der wirklichen Welt leben und auf deren Ansichten über gewöhnliche Gegenstände man ebenso wenig Gewicht legen wird, als man in Virgil's Eklogen Ein Sammelwerk von zehn Hirtengedichten Vergils, vermutlich zwischen 42 und 39 v.u.Z. entstanden. eine getreue Schilderung der Freuden und Leiden der Bauern, welche unsere Schafe hüten, erwartet. Liesest du sie, wie man die Werke eines Dichters liest, so wirst du sie reizend finden. Versuchst du es aber, die Welt nach ihren dichterischen Träumen zu formen, so wirst du reif für ein Tollhaus werden. Je weiter entfernt ein Zeitalter von der Verwirklichung solcher Ideen ist, desto mehr geben sich diese armen Philosophen ihren Träumen hin. So wurde es mitten in der traurigsten Sittenverderbniß des Hofes in Paris Mode, sich als Alexis oder Daphne mit einem Schäferstabe malen zu lassen. Und als in Griechenland die Freiheit am Ersterben war, und die Nachfolger Alexanders ihre Monarchien gründeten – als Rom immer mächtiger wurde, bis es mit seiner eisernen Faust alle andern Staaten zerdrückte, da wandte Plato sein Auge von der Welt ab, um es an seiner geträumten Atlantis Platon beschreibt die Insel Atlantis in seinen um 360 v.u.Z. verfassten Dialogen Timaios und Kritias, und zwar im Sinne eines Idealstaates, wie er ihn in der Schrift Politeia konzipiert hatte. zu ergötzen. In der grauenvollsten Periode der englischen Geschichte, als ein Schwert über seinem Haupte schwebte, gibt uns Sir Thomas Moore sein Utopien De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia – »Vom besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia«, ein 1516 von Thomas Morus in lateinischer Sprache verfasster philosophischer Dialog.. Und in demselben Augenblick, da die Welt im Begriffe steht, der Schauplatz für einen neuen Sesostris Pharao Sesostris I. (12. Dynastie, Mittleres Reich), regierte 45 Jahre erfolgreich ab 1975 v.u.Z. Ägypten; gilt als einer der bedeutendsten Herrscher des Mittleren Reiches und Altägyptens überhaupt. Erfolgreicher Feldherr, Vergrößerung des Reiches. zu werden, sagen uns die Träumer von Frankreich, das Jahrhundert sei zu aufgeklärt für den Krieg, der Mensch dürfe sich in Zukunft nur von der Vernunft regieren lassen und werde in einem Paradiese leben. Dies alles ist eine ganz hübsche Lectüre, Lenny, für einen Mann wie ich, der solche Dinge bewundern und darüber lächeln kann. Aber für dich – für einen Jüngling, der durch Arbeit seinen Lebensunterhalt gewinnen muß – für einen Mann, der da denkt, es müßte doch viel angenehmer sein, gemächlich in einem Phalansterium zu leben, als acht oder zehn Stunden des Tages zu arbeiten – für einen Mann von Talent, Fleiß und Erfindungsgeist, dessen Zukunft von der Ruhe und Ordnung eines Staates abhängt, in welchem Talent Fleiß und Erfindungsgeist ein sicheres Kapital sind – nein, ebenso wohl könnten die großen Bankiers, Messrs. Coutt's Coutts & Co, britische Privatbank, 1692 von dem Schotten John Campbell of Lundie gegründet; vielleicht das älteste Geldhaus der Welt; das Hauptquartier von Coutts befindet sich in London., eine Theorie befürworten, welche das ganze Banksystem umzustürzen beabsichtigt! Was immer die Gesellschaft beunruhigt – und wäre es auch nur ein grundloser Schrecken, wie viel mehr aber ein wirklicher Kampf – fällt zuerst auf den Markt der Arbeit und wirkt von da aus verderblich auf alle Gebiete geistiger Thätigkeit zurück. In solchen Zeiten liegt die Kunst darnieder; die Literatur wird vernachlässigt; die Leute sind zu sehr in Anspruch genommen, um etwas Anderes zu lesen als Schriften, die ihren Leidenschaften schmeicheln. Das Kapital, welches seine Sicherheit bedroht sieht, wagt sich nicht mehr keck durch das Land, die Thatkraft des Fleißes und Unternehmungsgeistes herausfordernd und jedem Arbeiter seinen Lohn bringend. Nun, beherzige meinen Rath, Lenny! Du bist jung, klug und strebsam. Selten gelingt es den Menschen, die Welt anders zu machen; aber in der Regel verfehlt derjenige nicht leicht seinen Zweck, der die Welt gehen läßt und sie nur auf's Beste zu benützen sucht. Du stehst jetzt mitten in der großen Krisis deines Lebens: es ist der Kampf zwischen den neuen Wünschen, welche durch die erweiterten Kenntnisse hervorgerufen werden, und dem Gefühl der Armuth, das solche Wünsche entweder in Hoffnung und Wetteifer oder in Neid und Verzweiflung verwandelt. Ich gebe zu, es liegt ein anstrengendes Feld der Thätigkeit vor dir; aber glaubst du nicht selbst, daß es leichter ist, einen Berg zu erklettern als ihn abzutragen? Diese Bücher fordern dich auf, das Letztere zu thun; der Berg aber ist das Eigenthum fremder Leute, unter gar viele Besitzer getheilt und von den Gesetzen beschützt. Beim ersten Spatenstich würdest du – ich wette zehn gegen eins – wegen Verletzung fremden Eigenthums eingezogen werden. Der Pfad aber, der auf den Berg führt, ist unbestrittenes Gemeingut. Du kannst den Gipfel erklommen haben, noch ehe du (vorausgesetzt, daß die Besitzer thöricht genug wären, es zuzugeben) eine Elle geebnet hättest. Cospetto!« schloß der Doctor, »es sind mehr als zweitausend Jahre, seit der arme Plato anfing, den Berg abzutragen, und noch ist derselbe um kein Haar breit niedriger geworden!«

Bei diesen Worten schritt Riccabocca, der seine Pfeife ausgeraucht hatte, gedankenvoll dem Hause zu und überließ es Leonard Fairfield, zu versuchen, ob er Licht aus dem Rauch gewinnen könne.


Neuntes Kapitel.

Kurze Zeit nach dieser Unterredung mit Riccabocca fand ein Ereigniß statt, welches Lenny's Geist eine neue Richtung gab. Eines Abends, als er in Abwesenheit seiner Mutter an einem neuen mechanischen Entwurfe arbeitete, zerbrach unglücklicher Weise eines der Werkzeuge, deren er sich bediente. Der Leser wird sich erinnern, daß Lenny's Vater Hauptzimmermann auf den Gütern des Squires gewesen war. Die Wittwe hatte das Handwerkszeug, das ihrem armen Mark gehörte, sorgfältig aufbewahrt und borgte wohl gelegentlich Lenny ein oder das andere Stück davon, ließ sich aber nicht bewegen, es ihm ganz abzutreten. Leonard wußte, daß er unter diesem Vorrath finden würde, was er bedurfte, und da er gerade sehr in seinen Plan vertieft war, konnte er sich nicht entschließen, zu warten, bis seine Mutter nach Hause kam.

Die Werkzeuge befanden sich nebst andern kleinen Reliquien des Verstorbenen in einer großen Truhe, die in Mrs. Fairfield's Schlafstube stand, und da die Kiste nicht verschlossen war, so nahm Lenny keinen Anstand, sich selbst das Gewünschte daraus zu holen. Während er so nach dem Werkzeug suchte, fiel sein Auge auf einen Pack Manuscripte, und er erinnerte sich plötzlich, wie ihm seine Mutter, als er noch ein Kind gewesen und kaum einen Unterschied zwischen Poesie und Prosa zu machen wußte, diese Manuscripte gezeigt und gesagt hatte: »Wenn du einmal recht gut lesen kannst, Lenny, so darfst du sie ansehen. Mein armer Mark machte so schöne Gedichte! Ach, er war so gelehrt!«

Leonard glaubte nun mit vollem Recht die Zeit gekommen, da er würdig geworden, die väterlichen Ergüsse zu lesen, und so nahm er das Manuscript mit lebhaftem, aber wehmüthigem Interesse heraus. Er erkannte seines Vaters Handschrift, die er schon oft in Haushaltungsbüchern und Stammbuchblättern gesehen hatte, und las mit großer Theilnahme einige unbedeutende Gedichte, welche nicht sonderlich viel Genie und ebenso wenig Meisterschaft in Sprache und Versbau verriethen – kurz, Gedichte, wie sie ein Mann, der seine Bildung nur sich selbst verdankt und mehr dichterisches Gefühl und Geschmack als poetische Inspiration und künstlerische Ausbildung besitzt, wohl mit Ehren vorweisen kann, ohne jedoch auf Ruhm Anspruch machen zu dürfen.

Allein indem er diese »Gelegenheitsgedichte« durchblätterte, stieß er auf andere, von einer ganz verschiedenen Handschrift – einer kleinen, außerordentlich zierlichen Frauenhand – und kaum hatte er sechs Zeilen davon gelesen, als er seine Aufmerksamkeit unwiderstehlich gefesselt fühlte. Sie waren von ganz anderer Art als die des armen Mark und trugen unverkennbar den Stempel des Genies. Wie die Poesie der Frauen überhaupt, drückten diese Ergüsse persönliche Gefühle aus – sie waren kein Spiegel der Welt, sondern Betrachtungen eines einsamen Herzens. Allein gerade diese Art von Poesie spricht die Jugend am meisten an. Auch hatten die besagten Verse noch eine besondere Anziehungskraft für Leonard; sie schienen einen Kampf auszudrücken, der dem seinigen verwandt war – Klagen über die Verhältnisse, in welchen die Dichterin lebte – ein süßes, melodisches Murren gegen das Schicksal. Im Uebrigen zeichneten sie sich durch einen erhabenen Schwung des Gefühls aus, der bei einem Manne leicht als Uebertreibung erschienen wäre; aus einer weiblichen Feder geflossen, wurden sie jedoch von so vielen ächten Offenbarungen einer aufrichtigen, tiefen, begeisterten Seele getragen, daß sie stets natürlich klangen und unverkennbar einer Natur entsprungen waren, die wenig vom Glück zu hoffen hatte.

Leonard war noch immer in das Lesen dieser Gedichte vertieft als Mrs. Fairfield eintrat.

»Was hast du gethan, Lenny? – meine Truhe durchsucht?«

»Ich wollte etwas aus meines Vaters Handwerkszeug holen, Mutter, und fand diese Papiere, von denen du gesagt hattest, daß ich sie mit der Zeit lesen dürfe.«

»Da glaube ich wohl, daß du mich nicht hereinkommen hörtest,« sagte die Wittwe seufzend. »Ich konnte Stunden lang still sitzen, wenn mein armer Mark mir seine Gedichte vorlas. Es war ein gar so schönes darunter, › des Landmanns Häuslichkeit‹, hast du es schon gefunden, Lenny?«

»Ja, liebe Mutter; und die Anspielung auf dich entging mir nicht; sie brachte mir Thränen in's Auge. Aber diese Verse sind nicht von meinem Vater – von wem sind sie? Sie scheinen von einer Frauenhand geschrieben.«

Mrs. Fairfield blickte hin, wechselte die Farbe, fühlte sich einer Ohnmacht nahe und setzte sich nieder.

»Arme, arme Nora!« seufzte sie. »Ich wußte nicht, daß sie darunter waren; Mark pflegte sie aufzubewahren, und so kamen sie unter die seinigen.«

Leonard. – »Wer war denn Nora?«

Mrs. Fairfield. – »Wer? – Kind! – wer? Nora war – war meine – meine leibliche Schwester.«

Leonard (der mit großem Erstaunen sein Ideal von der Verfasserin dieser mit so zierlicher Hand geschriebenen melodischen Zeilen mit seiner einfachen, ungebildeten Mutter vergleicht, die weder lesen, noch schreiben kann). – »Deine Schwester? Ist's möglich? Also meine Tante. Wie kommt es, daß du mir nie früher von ihr gesagt hast? O, du solltest so stolz auf sie sein, Mutter!«

Mrs. Fairfield (die Hände zusammenschlagend). – »Wir waren auch Alle stolz auf sie, wir Alle – Vater, Mutter – Alle! Sie war so schön und so gut und gar nicht stolz, obgleich sie so vornehm aussah, wie die erste Lady im Lande. O Nora! Nora!«

Leonard (nach einer Pause). – »Aber sie muß eine ausgezeichnete Erziehung genossen haben.«

Mrs. Fairfield. – »Freilich hatte sie das!«

Leonard. – »Wie kam es?«

Mrs. Fairfield (unruhig auf ihrem Stuhle hin und herrückend). – »O, die gnädige Frau war ihre Pathin – Lady Lansmere meine ich – und gewann sie sehr lieb, als sie noch ganz klein war! Und sie mußte bei ihr im Parke wohnen und die gnädige Frau bedienen; später wurde sie in eine Schule geschickt, und sie war so gescheidt, daß sie durchaus als Gouvernante nach London mußte. Aber rede mir nicht mehr davon, Knabe! Rede nicht mehr davon!«

Leonard. – »Warum nicht, Mutter? Was ist aus ihr geworden? Wo ist sie?«

Mrs. Fairfield (in einen Strom von Thränen ausbrechend)– »Im Grab – in ihrem kalten Grab! Todt, todt!«

Leonard war unaussprechlich erschüttert und betrübt. Ein Dichter, glaubt man, müsse immer leben, immer unser Freund sein. Es war Leonard, als sei seinem Herzen plötzlich ein theures Wesen entrissen worden. Zwar versuchte er, seine Mutter zu trösten; allein ihr Schmerz war ansteckend, und er weinte mit ihr.

»Und wie lange ist sie schon todt?« fragte er endlich in traurigem Tone.

»Schon manches, manches lange Jahr! Aber,« setzte Mrs. Fairfield hinzu, indem sie aufstand und ihre zitternde Hand auf Leonard's Schulter legte, »du mußt nicht mehr von ihr mit mir reden – ich kann es nicht ertragen – es bricht mir das Herz. Noch eher kann ich von Mark sprechen hören! Komm jetzt hinunter – komm!«

»Darf ich diese Gedichte nicht behalten, Mutter? Lasse sie mir!«

»Nun ja! Diese wenigen Blättchen Papier sind alles, was sie hinterlassen hat. Du magst sie behalten; aber gieb mir die von Mark zurück. Sind es auch gewiß alle?« und die Wittwe, obgleich sie die Verse ihres Gatten nicht lesen konnte, musterte eifersüchtig das Manuscript, das mit seinem unregelmäßigen Gekritzel beschrieben war, glättete es mit großer Sorgfalt, legte es wieder in die Truhe und bedeckte es mit einigen Lavendelzweigchen, welche Leonard, ohne es zu wissen, bei Seite geschoben hatte.

»Aber,« begann Leonard von Neuem als sein Blick wieder auf die schöne Handschrift seiner verstorbenen Tante fiel; »du nennst sie Nora, und ich sehe doch, daß sie sich mit einem L unterzeichnet hat.«

»Leonora war ihr Name. Ich sagte dir ja, daß sie das Pathenkind der gnädigen Frau gewesen. Wir nannten sie Nora, der Kürze wegen.«

»Leonora – und ich heiße Leonard! Bin ich nach ihr so genannt worden?«

»Ja, ja – doch schweige, schweige, Knabe,« schluchzte die arme Mrs. Fairfield, und kein Bitten und Schmeicheln konnte sie bewegen, einen Gegenstand fortzusetzen oder wieder aufzunehmen, der ihr augenscheinlich so unerträglichen Schmerz verursachte.


Zehntes Kapitel.

Es ist schwer, die Wirkung zu beschreiben, welche diese Entdeckung auf Leonard's Gedankengang hervorbrachte. Ein Wesen, das seinem eigenen geringen Stamme angehört hatte, war ihm also vorangegangen in dem mühsamen Aufschwung nach den erhabenen Regionen der Intelligenz. Ihm war zu Muthe wie dem Seemann auf unbekanntem Meere, der auf einer wüsten Insel einen bekannten, theuern Namen eingegraben findet. Und dieses geniale, kummervolle Geschöpf, dessen Dasein ihm erst durch ihr Lied bekannt geworden und dessen Tod nach Verfluß so vieler Jahre in dem einfachen Herzen der Schwester einen so leidenschaftlichen Schmerz hervorrief, lieh der Romantik, die in seinem jungen Herzen erwachte, das Ideal, das er unbewußt gesucht hatte. Er freute sich darüber, daß sie so schön und gut gewesen war. Er hielt in seinen Studien inne, um an sie zu denken und sich in seiner Phantasie ihr Bild auszumalen.

Daß ein Geheimniß über ihrem Schicksal walte, schien ihm gewiß, und während diese Ueberzeugung seinem Interesse mehr Tiefe verlieh, gewann das Geheimniß selbst allmälig einen Zauber, den er nicht zu zerstreuen wünschte. Er ergab sich in Mrs. Fairfield's hartnäckiges Schweigen und begnügte sich, die Verstorbene jenen heiligen, unauslöschlichen Bildern anzureihen, die wir nicht zu entschleiern suchen. Jugend und Phantasie hegen manchen geheimen Ideenschatz, den sie selbst Solchen nicht mitzutheilen Lust haben, in die sie das größte Vertrauen setzen. Ich zweifle sehr an der Tiefe des Gefühls bei einem Menschen, in dessen Seele nicht verborgene Winkel sich finden, in welche er Niemanden einen Einblick gestattet.

Bisher waren, wie ich bereits bemerkte, Leonard Fairfield's Talente mehr dem Positiven als dem Idealen zugewendet gewesen – mehr der Wissenschaft und der Erforschung von Thatsachen, als der Poesie und jenen ungreifbaren Wahrheiten, die das Element der Dichtkunst sind. Er hatte zwar die bedeutendsten Dichter gelesen, aber ohne daß er daran gedacht hätte, sie nachzuahmen – mehr aus der einfachen Begierde, alle berühmten Denkmäler des menschlichen Geistes kennen zu lernen, als aus jener besondern Vorliebe für Verse, welche in der Kindheit und Jugend zu häufig sind, um als sicheres Merkmal dichterischer Begabung zu gelten. Nun aber klangen diese, der ganzen übrigen Welt unbekannten Melodien in seinen Ohren, verschmolzen mit seinen Gedanken und setzten gleichsam sein ganzes Leben in Musik. Jetzt las er Poesie mit einem ganz andern Gefühl – es war ihm, als habe er nun ihr Geheimniß entdeckt. Und während er so las, ward er von dem Zauberstab der Muse berührt – und »die Verse kamen von selbst.«

Ich bin Vandale genug, um zu glauben, daß für viele Gemüther beim Beginn unserer ernsten und wichtigen Pilgerfahrt die Liebhaberei für Poesie und dichterische Träume großen und bleibenden Schaden stiftet, daß sie dazu dient, den Charakter zu entnerven, falsche Begriffe vom Leben beizubringen und die edlen Anstrengungen und Pflichten eines thätigen Mannes als knechtische Plackerei zu schildern. Freilich ist dies nicht bei aller Poesie der Fall, namentlich nicht bei der klassischen in ihren erhabensten Meistern – nicht bei der Poesie eines Homer, Virgil oder Sophocles – vielleicht nicht einmal bei derjenigen des lässigen Horaz. Aber die Poesie, welche die Jugend am meisten anspricht – die sentimentale Poesie muß nothwendig einen nachtheiligen Einfluß auf Gemüther ausüben, die schon vorher zur Empfindsamkeit hinneigen und der Kräftigung bedürfen, um zu gesunder Mannheit heranzureifen.

Anderseits aber paßt gerade diese letztere Art von Poesie, welche vorzüglich der Neuzeit angehört, für viele Gemüther von anderem Guß, für Gemüther, wie sie unsere Zeit mit ihren harten, positiven Formen hervorzubringen geeignet ist. Und wie in gewissen Himmelstrichen die gütige Fürsorge der Natur den Samen derjenigen Pflanzen und Kräuter besonders reichlich ausstreut, welche gegen die unter dem Einfluß der dortigen Atmosphäre am häufigsten vorkommenden Krankheiten als Heilmittel dienen, so mag vielleicht auch die weichere und sentimentale Art der Poesie in harten, geldsüchtigen, unromantischen Zeiten als Heilmittel und Gegengift wirken. Wir sind heutzutage so sehr von der Welt in Anspruch genommen, daß wir wohl Etwas brauchen können, das vom Monde und den Sternen mit uns plaudert, mag es auch immerhin in etwas zu überschwenglicher Weise geschehen.

Jedenfalls ließ sich in dieser Periode seines intellectuellen Lebens die Milde unseres Helicon Gebirge in der griechischen Landschaft Böotien; in der Antike galt der Helikon als der Sitz der Musen. als ein heilender Thau auf Leonard Fairfield nieder. In seinem stürmischen, ungeregelten Ehrgeiz, in seinem unbestimmten Ringen mit den riesigen Formen politischer Wahrheiten, in seinem Drange nach der Anwendung der Wissenschaft auf praktische Zwecke erschien ihm diese liebliche Muse in dem weißen Gewande eines Friedensengels; mit erhobener Hand nach dem heitern Himmel deutend, eröffnete sie ihm die Aussicht in das Reich des Schönen, welches dem Landmann so gut als dem Prinzen sich erschließt – sie zeigte ihm, daß es auf Erden noch etwas Edleres gibt als den Reichthum – daß derjenige, welcher die Welt mit dem Auge des Dichters betrachtet, in seiner Seele stets ein König ist.

Allein auch für praktische Zwecke ersetzte der umfassendere und tiefere Erfindungsgeist, den die Poesie anspornt, die Großartigkeit des Entwurfes und die Feinheit der Untersuchung, so daß er sich über den bloßen Scharfsinn des Mechanikers erhob und die träge Kraft der ihm zu Gebot stehenden Materie mit dem Ehrgeiz des Entdeckers betrachtete.

Vor allem aber fand seine innere Unzufriedenheit einen Ausweg, nicht in offenbarem Krieg gegen die bestehende Welt, sondern durch die reinigenden Kanäle des Gesanges, wodurch sie sich allmälig auflöste und zuletzt gänzlich verschwand. Wenn wir uns gewöhnen, alle Dinge mit einem Geiste aufzufassen, der sie nur von einer lieblichen oder erhabenen Seite darstellt, so fühlen wir uns unmerklich von einer großen philosophischen Duldsamkeit erfüllt, selbst gegen das, was wir vorher mit Haß und Verachtung betrachteten.

Leonard blickte in sein Herz, nachdem die Zauberin es angehaucht hatte, und durch den Nebel der flüchtigen und sanften Melancholie, welcher noch die Stelle verrieth, wo sie geweilt, sah er eine neue Sonne der Lust und Freude aufgehen über der Landschaft des menschlichen Lebens.

So hatte also diese geheimnißvolle Verwandte, obgleich durch den Tod seiner persönlichen Bekanntschaft entzogen, dennoch zu ihm geredet, ihn besänftigt, gehoben, erheitert und jeden Mißklang seines Innern in Harmonie aufgelöst; und wenn es ihr vergönnt war, aus höheren Sphären auf ein Leben herabzublicken, auf welches ihre Seele so wunderbar eingewirkt hatte, mußte nicht ihr lieblicher, rettender Geist mit heiligerer Freude auf dem Pfade ewigen Fortschrittes dahingleiten?

Wir pflegen die große Mehrzahl menschlicher Leben dunkel zu nennen. Welche Anmaßung! Wissen wir denn, wie viele Leben sich durch einen einzigen aus dem Staube namenloser Gräber bewahrten Gedanken zum Ruhme aufgeschwungen haben?


Elftes Kapitel.

Ungefähr ein Jahr nachdem Leonard das Familienmanuscript entdeckt hatte, borgte Pfarrer Dale das ruhigste Pferd aus des Squires Ställen, um sich desselben zu einem größern Ausflug zu bedienen. Nach seiner Aussage riefen ihn Geschäfte zu seiner frühern Gemeinde von Lansmere; denn wie bereits in einem der vorstehenden Kapitel angedeutet worden, war er in dem gedachten Wahlstädtchen Hülfsgeistlicher gewesen, ehe ihm die Pfründe von Hazeldean übertragen wurde.

Der Pfarrer verließ so selten sein Dorf, daß diese Reise nach einer zwanzig Meilen entfernten Stadt sowohl in der Halle, wie im Pfarrhause als ein höchst gewagtes Unternehmen angesehen wurde. Mrs. Dale ließ der Gedanke daran die ganze Nacht keine Ruhe, und obgleich sie in Folge dieser Schlaflosigkeit an dem ereignißvollen Morgen ein gar schlimmes Nervenkopfweh hatte, duldete sie doch nicht, daß eine minder sorglose Hand die beiden Sattelsäcke packte, die der Pfarrer zugleich mit dem Pferde geborgt hatte. Ja, so wenig vertraute sie der Möglichkeit, der gute Mann könnte in ihrer Abwesenheit auch nur den geringsten gesunden Menschenverstand zeigen, daß sie ihn während des Packens nicht von der Seite ließ, um ihm ganz genau zu zeigen, wo sie das reine Hemd hingesteckt und wie behutsam sie seine alten Pantoffeln in einer seiner Predigten gewickelt habe. Sie ermahnte ihn dringend, die Butterbrödchen nicht mit seiner Rasirseife zu verwechseln, und machte ihn darauf aufmerksam, wie sorgfältig sie einem solchen Mißgriff vorzubeugen gesucht habe, indem sie beide Gegenstände so weit von einander getrennt, als die Natur der Sattelsäcke nur immer gestattet hatte.

Der arme Pfarrer, welcher keineswegs zu den zerstreuten Leuten gehörte, und von dem es gewiß nicht zu erwarten stand, daß er sich mit Butterbrödchen rasiren und Seife verzehren werde, hörte dem allem mit ehelicher Geduld zu und dachte, daß nie zuvor ein Mann eine solche Frau gehabt habe; auch vermochte er nicht ohne Thränen sich der Abschiedsumarmung seiner weinenden Carry zu entwinden.

Ich muß übrigens bekennen, daß er mit einiger Besorgniß seinen Fuß in den Steigbügel setzte und seine Person der Willkür eines ihm unbekannten Thieres vertraute. Was immer Mr. Dale's geringere Talente als Mann und Pfarrer sein mochten, die Reitkunst war sicher nicht seine stärkste Seite. Ja, ich zweifle, ob er seit seiner Verheirathung mehr als zweimal die Zügel zur Hand genommen hatte.

Mat, der grämliche alte Reitknecht des Squires, stand mit dem Pferde bereit und gab auf des Pfarrers sanfte Frage, ob das Thier auch ganz sicher sei, die lakonische Antwort: »Ei freilich, lassen Sie ihm nur den Kopf!«

»Wie – den Kopf lassen?« wiederholte Pfarrer Dale etwas verwundert, denn er hatte nicht im geringsten die Absicht, jenen für die Oeconomie des Lebens so wesentlichen Theil von dem Leibe des Rößleins zu trennen – »den Kopf lassen?«

»Ja, ja, und zerren sie nicht so am Zaum, sonst wird das Thier einen Tanz auf den Hinterbeinen ausführen.«

Augenblicklich ließ der Pfarrer die Zügel nach, und als nun Mrs. Dale, die zurückgeblieben war, um ihrer Thränen Herr zu werden, an die Pforte eilte, um noch ein »letztes Lebewohl« zu empfangen, winkte er ihr mit der Hand einen muthigen Gruß zu und trabte den Heckenweg hinab.

Anfänglich war unser Reiter ganz in die Aufgabe vertieft, die Eigenheiten der Stute zu studiren, um sich einen Begriff von ihrem Charakter im Allgemeinen machen zu können; so suchte er zum Beispiel zu errathen, warum sie das eine Ohr stützte, während sie das andere zurücklegte – warum sie sich immer so weit links hielt, daß sein Bein an der Hecke streifte – warum sie endlich, an einem kleinen Pförtchen, das nach der Hausmeierei führte, angekommen, stehen blieb und ihre Nüstern gegen das Gitter rieb – eine Beschäftigung, von welcher sie der Pfarrer, da alles gütliche Zureden nichts fruchtete, endlich durch einen schüchternen Schlag mit der Peitsche abzubringen versuchte.

Nachdem diese Krisis glücklich überstanden war, schien das Rößlein zu begreifen, daß es eine Reise vor sich habe; es schlug unruhig mit dem Schweife und ließ seinen Schritt in einen raschen Trab übergehen, welcher den Pfarrer alsbald auf die Landstraße und in die Nähe des Casino's brachte.

Hier saß auf dem Thore, das zu seiner Wohnung führte, von seinem rothseidenen Regenschirm beschattet, Doctor Riccabocca.

Der Italiener blickte von dem Buche auf, in welchem er las, und sah den Pfarrer mit großen Augen an; dieser schielte jedoch nur ein wenig nach ihm hin, denn er wagte nicht, seine Aufmerksamkeit von der Stute abzuwenden, die bei Riccabocca's Anblick beide Ohren gespitzt und unzweideutige Symptome jener Ueberraschung und abergläubischen Furcht vor unbekannten Gegenständen an den Tag gelegt hatte, die man »Scheuen« zu nennen pflegt.

»Bitte, rühren Sie sich nicht,« rief der Pfarrer, »sonst möchten Sie das Thier erschrecken. Es scheint ein gar ängstliches, scheues Geschöpf zu sein. Soho – sachte, sachte!«

Und dabei begann er die Stute mit großer Salbung zu streicheln.

Auf diese Weise ermuthigt, überwand das Thier seinen ersten, sehr natürlichen Schrecken bei dem Anblick Riccabocca's und seines rothen Schirmes; und da es früher schon bei verschiedenen Gelegenheiten im Casino gewesen war und höchst verständiger Weise Orte, die im Bereiche seiner Erfahrung lagen, solchen vorzog, von denen es sich keinen Begriff machen konnte, so schritt es gravitätisch auf das Thor zu, auf welchem der Doctor saß, schaute ihn eine Weile an, als ob es sagen wollte: »Wenn du nur weggehen möchtest!« und blieb dann ruhig stehen.

»Wohlan!« sagte Riccabocca, »da Ihr Pferd höflicher gegen mich gesinnt zu sein scheint als Sie, so benütze ich die mir durch Ihre unfreiwillige Pause dargebotene Gelegenheit, um Ihnen zu Ihrer gegenwärtigen Erhöhung Glück zu wünschen und die freundliche Hoffnung auszusprechen, daß der Hochmuth nicht zu Falle kommen möge!«

»Pah!« rief der Pfarrer, eine sorglose Miene annehmend, während er jedoch immer das Thier beobachtete, welches in einen sanften Schlummer zu verfallen schien; »ich bin freilich seit Jahren nicht mehr viel geritten, und die Pferde des Squires sind wohlgenährt und feurig, aber ebenso harmlos wie ihr Herr, wenn man einmal ihre Art kennt.«

» Chi và piano, và sano,
E chi và sano, và lentano,
«

bemerkte Riccabocca, auf die Sattelsäcke deutend. »Sie reiten langsam und daher sicher, und wer sicher geht, kann weit kommen. Sie scheinen zu einer Reise gerüstet.

»Das bin ich in der That,« erwiderte der Geistliche, »und zwar in einer Angelegenheit, die auch Sie einigermaßen betrifft.«

»Mich?« rief Riccabocca erstaunt – »die mich betrifft?«

»Ja, insofern es möglich ist, daß Sie dadurch einen Diener verlieren, den Sie achten und lieben.

»Aha, ich verstehe,« entgegnen Riccabocca; »Sie haben oft darauf angespielt, daß ich oder die Gelehrsamkeit, oder beides zusammen, den jungen Leonard Fairfield zum Dienen untauglich gemacht habe.«

»So meinte ich es nicht; ich sagte nur, Sie hätten ihn zu etwas Höherem tauglich gemacht. Aber lassen Sie gegen ihn nichts hievon verlauten. Auch kann ich Ihnen für jetzt nicht weiter mittheilen, denn es ist sehr zweifelhaft, ob mein Vorhaben gelingt, und es wäre nicht gut, den armen Leonard mit seiner Lage unzufrieden zu machen, ehe wir gewiß wissen, daß wir sie zu verbessern im Stande sind.«

»Das können Sie nie mit Bestimmtheit wissen,« versetzte der Weise kopfschüttelnd, »und ich gestehe, daß ich nicht uneigennützig genug bin, um Ihnen nicht ein wenig zu grollen, daß Sie mir einen unschätzbaren, treuen, zuverlässigen, verständigen und,« setzte Riccabocca mit steigendem Affecte hinzu, »ungemein wohlfeilen Diener abwendig machen wollen. Nichtsdestoweniger reisen Sie glücklich, und der Himmel lasse Ihr Vorhaben gelingen! Ich bin kein Alexander, der sich zwischen den Menschen und die Sonne stellt Anspielung auf die Anekdote um Diogenes, den aus überzeugter Bedürfnislosigkeit in einer Tonne lebenden kynischen Philosophen; als einst Alexander der Große ihn besuchte und fragte, was er ihm zu Gefallen tun könne, antwortete Diogenes nur, er möge ihm doch aus der Sonne gehen.

»Sie sind ein edler, hochherziger Mann, Signor Riccabocca, trotz Ihrer kaltblütigen Sprüchwörter und Ihrer schlechten Bücher!« Während der Geistliche so sprach, war er unvorsichtig genug, in seiner Begeisterung die Peitsche auf die Schulter seines Pferdes fallen zu lassen, wodurch das arme Thier höchst unsanft aus seinem unschuldigen Schlummer aufgeschreckt wurde. Entsetzt machte es einen Satz vorwärts, der um ein Haar den Doctor von seinem Sitze auf dem Thor heruntergeworfen hätte, drehte dann rasch um, das Gebiß zwischen den Zähnen fassend (denn der Pfarrer hatte verzweifelt am Zaume gezerrt), und rannte sodann im Galopp davon. Mr. Dale verlor beide Steigbügel und wurde derselben erst wieder mächtig, als das Pferd seinen Schritt mäßigte und er Zeit gewann, Athem zu schöpfen und umherzuschauen. Riccabocca und das Casino waren ihm jedoch längst aus dem Gesichte verschwunden.

»In der That,« sprach Pfarrer Dale mit großer Selbstgefälligkeit bei sich selbst, denn es war ihm kein geringer Triumph, daß er noch immer im Sattel saß – »es ist doch wahr, das Pferd ist die edelste Eroberung, die der Mensch je gemacht hat. Ein schönes Geschöpf – und ungemein schwer, darauf zu sitzen – zumal ohne Steigbügel!«

Der Pfarrer pflanzte die Füße fest in seine Steigbügel, und sein Herz hob sich in stolzem Selbstgefühl.


Zwölftes Kapitel.

Die Grafschaft, in welcher Lansmere lag, stieß an diejenige, zu der das Dorf Hazeldean gehörte. Spät am Nachmittag kam der Pfarrer über das Flüßchen, welches die Grenze bildete, und gelangte zu einem Wirthshause, das an einem Kreuzweg stand, wo die Landstraße sich theilte und auf der einen Seite nach Lansmere, auf der andern direct nach London führte. Vor diesem Wirthshaus blieb das Rößlein stehen und ließ beide Ohren mit der Miene eines Pferdes hängen, das entschlossen ist, eine Erfrischung einzunehmen. Und der Pfarrer selbst, dem es sehr warm war und der sich vom Reiten etwas wund fühlte, sagte wohlwollend zu der Stute:

»Nicht mehr als billig – du sollst Hafer und Wasser haben.«

Er stieg ab, und da sich seine Glieder, sobald er terra firma erreicht hatte, ziemlich steif erwiesen, übergab er das Pferd dem Hausknecht und trat in das mit Sand bestreute Gastzimmer des Wirthshauses, um auf einem sehr harten Windsorstuhle auszuruhen.

Er war etwas mehr als eine halbe Stunde allein gewesen und hatte sich die Zeit mit Lesen einer Grafschaftszeitung, welche stark nach Tabak roch, vertrieben und sich dabei bemüht, die Fliegen abzuwehren, die sich in Schwärmen um ihn sammelten, als ob sie noch niemals einen Geistlichen gesehen hätten und nun begierig wären, sein Fleisch zu kosten – als eine Postkutsche vor dem Gasthause hielt und ein Reisender ausstieg, der mit seinem Mantelsack in der Hand in die besandete Gaststube Die einfachen, gestampften Böden waren in früheren Zeit mit weißem Sand bestreut, der regelmäßig ausgefegt und erneuert wurde. geführt wurde.

Der Geistliche stand höflich auf und machte eine Verbeugung.

Der Reisende griff an seinen Hut, ohne ihn abzunehmen, betrachtete Mr. Dale vom Kopf bis zu den Füßen, ging an's Fenster und pfiff eine lebhafte ungeduldige Weise, kehrte hierauf wieder zu dem Kamin zurück und zog die Klingel, indem er abermals den Pfarrer mit großen Augen maß. Als dieser höflich das Zeitungsblatt weglegte, ergriff er dasselbe, warf sich auf einen Stuhl, legte eines seiner Beine auf den Tisch, das andere auf den Kaminsims und begann die Zeitung zu lesen, während er mit einer so dreisten Mißachtung der gewöhnlichen Stellung der Stühle und der darauf Sitzenden den Stuhl auf seinen Hinterbeinen schaukeln ließ, daß der Pfarrer mit Schaudern jeden Augenblick erwartete, er werde sich rücklings überstürzen.

Von Mitleid getrieben, sagte der Pfarrer sanft:

»Diese Stühle sind sehr verrätherisch, mein Herr! Ich fürchte, Sie werden zu Falle kommen.«

»Wie,« entgegnete der Reisende, erstaunt aufblickend; »wie zu Fall kommen? Oho, mein Herr, Sie sind satyrisch.«

»Satyrisch? Nein, gewiß nicht!« betheuerte der Pfarrer ernstlich.

»Ich denke, jeder freie Mann hat ein Recht, in seinem Hause zu sitzen, wie es ihm beliebt,« nahm der Reisende lebhaft das Wort; »und ein Wirthshaus ist sein eigenes Haus, sollt' ich meinen, so lang er seine Zeche bezahlt. He, Betty, meine Liebe –« Das Stubenmädchen war jetzt auf den Ruf der Klingel erschienen.

»Ich bin nicht Betty; wollen Sie Betty sprechen?«

»Nein, Sally – kalten Grog und ein Biscuit.«

»Ich bin auch nicht Sally,« murmelte das Stubenmädchen. Allein nun wandte sich der Reisende um und zeigte ein so hübsches Halstuch und so einnehmende Züge, daß sie erröthend lächelte und hinausging, das Verlangte zu holen.

Der Fremde sprang jetzt auf, warf das Blatt bei Seite, zog ein Federmesser heraus und begann seine Nägel zu beschneiden.

Während dieser eleganten Beschäftigung fiel ihm des Pfarrers Dreispitz in's Auge, der auf einem Stuhl in der Ecke des Zimmers lag.

»Sie sind ein Geistlicher, vermuthe ich, mein Herr?« fragte er mit leichtem Hohne.

Abermals verbeugte sich Mr. Dale, halb würdevoll, halb entschuldigend. Es war eine Verbeugung, welche sagen wollte:

»Nichts für ungut, Herr, ich bin ein Geistlicher und schäme mich dessen nicht.«

»Reisen Sie weit?« fragte der Fremde.

Pfarrer. – »Nicht sehr.«

Reisender. – »Zu Wagen? In diesem Fall, und wenn wir denselben Weg haben – halb Part!«‹

Pfarrer. – »Halb Part?«

Reisender. – »Ja, ich zahle die Hälfte der Kosten – die Weggelder mitgerechnet.«

Pfarrer. – »Sie sind sehr gütig, mein Herr. Allein (mit Stolz) ich reise zu Pferde.«

Reisender. – »Zu Pferde? Na, das hätte ich nicht errathen! Sie sehen mir nicht so aus. Wohin sagten Sie, daß Sie gehen?«

»Ich habe nicht gesagt, wohin ich gehe,« versetzte der Pfarrer trocken, denn er fühlte sich durch die unbestimmte und ungrammatische Bemerkung über seine Reitkunst, »daß er nicht so aussehe,« verletzt.

»Zurückhaltend!« sagte der Fremde lachend.

Der Pfarrer erwiderte nichts, sondern ergriff seinen dreieckigen Hut und schritt mit einer gravitätischeren Verbeugung, als die erste gewesen, nach der Thür, um zu sehen, ob sein Pferd gefressen habe.

Das Thier hatte in der That seinen Hafer, der ihm spärlich genug zugemessen worden, verzehrt, und wenige Minuten später machte sich Mr. Dale wieder auf den Weg. Er mochte ungefähr drei Meilen zurückgelegt haben, als er das Rollen eines Wagens vernahm und eine Chaise, aus deren Fenstern ein Paar menschliche Beine in höchst seltsamer Weise heraushingen, schnell herangefahren kam. Wie jedoch die Stute den Hufschlag der Postpferde hinter sich hörte, begann sie zu tänzeln und nahm die Aufmerksamkeit des Pfarrers so sehr in Anspruch, daß dieser nur wie im Traume plötzlich ein menschliches Gesicht anstatt der Beine zu bemerken glaubte. Der Fremde schaute, während er vorbei wirbelte, nach ihm heraus, und als er sah, wie Mr. Dale im Sattel auf und ab geschlendert wurde, rief er:

»Nun, was macht das Leder?«

»Leder?« sagte der Pfarrer zu sich selbst, als sein Pferd sich wieder beruhigt hatte. »Was mag er damit meinen? Leder! Ein recht gemeiner Mensch! Aber ich bin ihn doch geschickt los geworden.«

Ohne ferneres Abenteuer gelangte Mr. Dale nach Lansmere. Er kehrte im besten Wirthshause ein, erfrischte seinen Körper durch eine allgemeine Abwaschung und setzte sich dann nieder, um mit gutem Appetit sein Beefsteak und eine Pinte Porter zu genießen.

Der Geistliche verstand sich besser auf die Physiognomie der Menschen als auf die der Pferde. Ein Blick auf den höflich schmunzelnden Wirth, der den Tisch abräumte und den Wein aufsetzte, befriedigte ihn so weit, daß er den Versuch wagte, eine Unterredung anzuknüpfen.

»Ist der gnädige Herr gegenwärtig hier?«

Der Wirth entgegnen noch höflicher als zuvor: »Nein, Sir. Seine Gnaden und Mylady sind nach London gereist, um mit Lord L'Estrange zusammen zu treffen.«

»Lord L'Estrange! Er ist also wieder in England?«

»So habe ich gehört,« versetzte der Wirth; »aber hier sehen wir ihn nie. Ich erinnere mich seiner, als er noch ein sehr junger hübscher Mann war. Jedermann liebte ihn und war stolz auf ihn. Aber welche Streiche machte er nicht, als er noch ein Knabe war! Wir hofften immer, er werde einmal unsern Bezirk vertreten; aber er treibt sich immer im Ausland herum. Es ist Jammerschade! Ich bin ein ächter Blauer Blau steht in England politisch für die Konservativen, damals die Tories. Bei der danach als »gemeine Partei« (im Original: low party) apostrophierten politischen Gruppierung handelt es sich um die liberalen Whigs., Sir, wie sich's auch gebührt. Der blaue Candidat erweist mir stets die Ehre, im Lansmere Wappen abzusteigen. Nur die gemeine Partei kehrt im Eber ein,« setzte der Wirth mit einem Blick unaussprechlichen Ekels hinzu. »Ich hoffe, der Wein schmeckt Ihnen, Sir?«

»Er ist sehr gut und scheint alt zu sein.«

»Seit achtzehn Jahren auf Flaschen gezogen, Sir. Ich ließ das Faß für die große Wahl von Dashmore und Egerton kommen. Es ist nicht mehr viel davon übrig; ich gebe nur alten Freunden davon – und ich meine, Sir, obgleich Sie stärker geworden sind und stattlicher aussehen, so dürfe ich doch sagen, daß ich schon früher das Vergnügen Ihrer Bekanntschaft gehabt habe.«

»Das ist allerdings wahr, obschon ich, wie ich fürchte, nie ein sehr guter Kunde von Ihnen gewesen bin.«

Wirth. – »Ah, Sie sind es also wirklich, Mr. Dale! Dacht' ich es doch gleich, als Sie in die Stube traten. Ihre Frau Gemahlin ist hoffentlich ganz wohl und auch der Squire – ein hübscher, angenehmer Herr. Seine Schuld war's nicht, daß es mit Mr. Egerton so schlecht ausfiel. Wir haben ihn seit jener Zeit nicht wieder gesehen – Mr. Egerton, meine ich. Es wundert mich auch nicht, daß er wegbleibt; aber der Sohn des gnädigen Herrn, der hier geboren und erzogen wurde – es ist sehr unnatürlich, daß er uns so den Rücken kehrt!«

Mr. Dale gab keine Antwort, und der Wirth war im Begriff, sich zu entfernen, als der Pfarrer noch ein Glas Portwein einschenkte und sagte:

»Es muß sich wohl vieles hier verändert haben. Ist Mr. Morgan, der Wundarzt, noch hier?«

»Nein, bewahre. Nachdem Sie fort waren, verschaffte er sich ein ›Plom‹ und wurde ein rechter Doctor. Und er hatte auch eine schöne Praxis; aber da verfiel er plötzlich auf eine neumodische Art, zu kuriren – ich glaube, man heißt es Homo– so etwas –«

»Homöopathie.«

»Ganz richtig – etwas gegen allen Verstand. Und dadurch verlor er hier seine Praxis und zog nach London. Ich habe seitdem nichts von ihm gehört.«

»Sind die Avenels noch in ihrem alten Hause?«

»O ja, und es geht ihnen recht gut, so viel ich weiß. John ist immer kränklich; aber doch geht er hin und wieder zu den wunderlichen Burschen und trinkt dort sein Gläschen; aber sein Weib kömmt dann und holt ihn heim, ehe er sich Schaden thun kann.«

»Ist Mrs. Avenel noch immer dieselbe?«

»Sie trägt ihren Kopf noch höher, als sonst,« versetzte der Wirth lächelnd. »Sie war immer – ich will nicht grade sagen stolz, aber doch strotzig Im Original: gumptious, ein Neologismus, wie der Pfarrer richtig erkennt; es handelt sich um eine Ableitung von gumption (tatkräftige Entschlossenheit, Klugheit), worauf der Pfarrer sich im Weiteren (im Original) auch zutreffend besinnt. Kolb übersetzt hier übrigens »protzig«. – Für »trotzig« findet sich im Original bumptious, was eigentlich »aufgeblasen, wichtigtuerisch« bedeutet und zu einem Stadtbüttel auch besser passt. Der Reim fordert eben seinen Tribut …, wie ich's nennen möchte.«

»Dieses Wort habe ich noch nie gehört,« bemerkte der Pfarrer, indem er Messer und Gabel niederlegte. »Strotzig! ich glaube, dieser Ausdruck findet sich wohl in keinem Wörterbuch. Trotzig – das kenne ich wohl.«

»Trotzig ist trotzig, und strotzig ist strotzig,« sagte der Wirth, der sich daran ergötzte, den Pfarrer in Verwirrung zu bringen. »Unser Stadtbüttel zum Beispiel ist trotzig und Mrs. Avenel ist strotzig.«

»Sie ist aber doch eine sehr achtungswerthe Frau,« erwiderte der Pfarrer in etwas verweisendem Tone.

»Freilich, Sir, das sind alle strotzigen Leute. Sie bilden sich gar viel auf ihre Achtbarkeit ein und sehen auf ihre Nebenmenschen herab.«

Pfarrer (noch immer philologisch beschäftigt). – »Strotzig – strotzig. Ich denke, ich erinnere mich des Zeitwortes von der Schule her – doch nicht, daß ich es von dem Lehrer gehört hätte. Strotzen bedeutet stolziren.«

Wirth (hartnäckig). – »Ein anderes ist Strotzen und ein anderes strotzig sein. Wenn ich von Jemand sage, er sei strotzig, so meine ich – obschon dies ordinär klingt – daß er sich nicht für Dünnbier halte. Verstehen Sie nicht?«

»Ich denke wohl,« erwiderte der Pfarrer halb lächelnd. – »Wenn ich nicht irre, so haben die Avenels nur noch zwei Kinder am Leben – eine Tochter, welche Mark Fairfield heirathete, und einen Sohn, der nach Amerika ging.«

»Ja, und dieser hat dort sein Glück gemacht und ist wieder zurückgekommen.«

»Wirklich! Das freut mich sehr. Hat er sich in Lansmere niedergelassen?«

»Nein, Sir. Wie ich höre, hat er sich weit von hier ein Besitzthum gekauft. Aber er kömmt ziemlich häufig, um seine Eltern zu besuchen, wie mir John erzählt – denn ich kann nicht sagen, daß ich ihn je gesehen habe. Ich denke mir, er mag sich nicht gern vor Leuten blicken lassen, die ihn noch in der Gosse spielen sahen.«

»Das ist nicht unnatürlich,« sagte der Pfarrer entschuldigend. »Aber da er seine Eltern fleißig besucht, ist es doch wohl ein guter Sohn, nicht wahr?«

»Ich habe nichts gegen ihn einzuwenden. Dick war ein wilder Bursche, ehe er fort ging. Ich hätte nie gedacht, daß er sein Glück machen werde; aber die Avenels sind ein gescheidter Schlag. Erinnern Sie sich der armen Nora – der Rose von Lansmere, wie man sie nannte? Doch nein, ich glaube, sie kam nach London schon vor Ihrer Zeit.«

»Hm,« versetzte der Pfarrer trocken. »Ich denke, Sie können jetzt abräumen. Es wird bald dunkel werden, und ich will mich noch ein wenig draußen umsehen.«

»Es kömmt aber noch eine schöne Torte, Sir.«

»Danke – ich esse nichts mehr.«

Der Pfarrer setzte seinen Hut auf und eilte auf die Straße.

Er betrachtete die Häuser zu beiden Seiten mit jenem gedankenvollen, wehmüthigen Interesse, womit wir im mittleren Lebensalter die Schauplätze unserer Jugendlust und Jugendfreude zu besuchen pflegen und alte Erlebnisse und entschwundene Gefühle in der Erinnerung an uns vorüberziehen lassen.

Die lange Hauptstraße, die er verfolgte, begann jetzt ihren geräuschvollen Charakter zu verlieren und in die innere Vorstadtstraße überzugehen. Links hörten die Häuser ganz auf und machten der Umzäunung von Lansmere-Park Platz; rechts waren die Häuser durch Gärten getrennt und erhielten dadurch das hübsche Ansehen von Villen, wie sie Gewerbsleute, die ihr Geschäft aufgegeben haben, oder deren Wittwen – alte Jungfern oder pensionirte Offiziere für den Abend ihres Lebens auszuwählen pflegen.

Mr. Dale betrachtete diese Landhäuser mit der entschlossenen Aufmerksamkeit eines Mannes, der alle Kraft seiner Erinnerung anzustrengen sucht, und blieb dann vor einem der letzten stehen, welches grade dem großen Rasenplatze gegenüber lag, der an das Pförtnerhäuschen von Lansmere Park stieß. In der Nähe stand eine alte gestutzte Eiche, in deren Zweigen sich ein heiseres, mißtöniges Geschrei vernehmen ließ, das von hungrigen jungen Raben herrührte, welche mit Ungeduld die verspätete Rückkunft der Eltern erwarteten. Mr. Dale griff sich an die Stirne, blieb einen Augenblick stehen, ging dann eiligen Schrittes durch den kleinen Garten und klopfte an die Thüre. Im Wohnzimmer brannte ein Licht und Mr. Dale konnte durch das Fenster den unbestimmten Umriß von drei Gestalten erkennen. Offenbar hatte sein Klopfen im Innern Unruhe erregt. Eine der Gestalten erhob sich und verschwand. Ein sehr geziertes, hübsches Dienstmädchen von mittlerem Alter erschien an der Thüre und fragte unfreundlich nach des Fremden Begehren.

»Ich wünsche Mr. oder Mrs. Avenel zu sprechen. Sagen Sie, daß ich viele Meilen gereist sei, um sie zu sehen, und tragen Sie diese Karte hinein.«

Das Mädchen nahm die Karte und machte die Thüre halb zu. Es vergingen wohl drei Minuten, ehe sie wieder erschien.

»Missis sagt, es sei schon spät, Sir; aber treten Sie ein.«

Der Pfarrer folgte dieser nicht eben sehr freundlichen Einladung, schritt durch den kleinen Hausflur und trat in die Wohnstube.

Der alte John Avenel, ein sanft aussehender Mann, der etwas gelähmt schien, erhob sich mühsam von seinem Lehnstuhle. Mrs. Avenel in einer sehr steifen, aber schneeweißen Haube und einem grauen Kleide, an welchem jede Falte von Achtbarkeit und kaltem Anstand zeugte, war in der Mitte des Zimmers stehen geblieben und heftete nun einen kalten, forschenden Blick auf den Geistlichen, indem sie sagte:

»Sie erweisen unseres Gleichen eine große Ehre, Mr. Dale. Nehmen Sie Platz. Es führt Sie ein Anliegen hierher?«

»Von welchem ich Sie schon brieflich in Kenntniß gesetzt habe, Mr. Avenel.«

»Mein Mann ist sehr leidend.«

»Ein armes Geschöpf,« sagte John mit matter Stimme, gleichsam voll Mitleid mit sich selbst. »Ich kann nicht mehr umhergehen, wie sonst. Aber es ist jetzt doch nicht Wahlzeit, Sir?«

»Nein, John,« erwiderte Mrs. Avenel, den Arm des Gatten in den ihrigen legend. »Du mußt dich jetzt ein wenig niederlegen, während ich mit dem Herrn rede.«

»Ich bin ein guter, ächter Blauer,« sagte der arme John, »aber ich bin nicht mehr der Mann, der ich war!« und sich schwerfällig auf seine Frau stützend, verließ er das Zimmer, nachdem er sich auf der Schwelle noch einmal umgewendet und mit großer Höflichkeit gesagt hatte: »Kann ich mit etwas dienen, Sir?«

Mr. Dale war sehr bewegt. Er hatte John Avenel als den hübschesten, thätigsten und heitersten Mann von Lansmere gekannt; in fröhlicher Gesellschaft beim Ballspiel – in reiferen Jahren bei Versammlungen der Kirchengemeinde – endlich und hauptsächlich bei den Wahlen – überall war er der Erste gewesen.

»Die letzte Scene,« murmelte der Pfarrer. »Und wohl möchte man mit dem ungläubigen Philosophen ausrufen: ›Arme, arme Menschheit!‹« Wahrscheinlich spielt hier Mr. Dale auf Lord Bolingbroke's Ausrufung an, als er neben dem Sterbebette Popes stand. Sein Gedächtniß läßt ihn jedoch etwas im Stiche – die Worte sind nicht ganz richtig. [ Anm.d.Verf. – Das Gedächtnis hat die Übersetzer des 19. Jh. an dieser Stelle ebenfalls im Stich gelassen: unser Winterfeld, der von ihm zur Vorlage genommene Carl Kolb und Otto von Czarnowski (1852), übersetzen »the dying Pope« mit »sterbendem Papst« o.ä. – Zwar hat Henry St. John, 1st Viscount Bolingbroke, die Rebellion des katholischen Jakob Stuart von 1715 unterstützt, aber aus politischen Gründen. Er hat sich sogar in der Zeit danach immer stärker aufklärerischen Positionen angenähert. Aus welchem Grund sollte er beim Tod ausgerechnet eines Papstes anwesend sein? – In Wahrheit handelt es sich natürlich um den englischen Dichter Alexander Pope, bei dessen Verscheiden er in der Tat zugegen war … Die ›Anmerkung des Verfassers‹ wurde in diesem Sinne berichtigt.]

Nach wenigen Minuten kehrte Mrs. Avenel zurück. Sie setzte sich in einiger Entfernung von dem Pfarrer auf einen Stuhl, stützte sich mit der einen Hand auf die Lehne desselben, während sie mit der andern das steife Gewand glatt strich, und sagte:

»Nun, Sir?«

In dem Ton dieser Worte lag etwas Finsteres und Feindseliges, was der schlaue Pfarrer mit seinem gewohnten Takte sogleich erkannte. Er rückte seinen Stuhl näher zu Mrs. Avenel, legte seine Hand auf die ihrige und sagte:

»Wohlan denn, lassen Sie uns wie ein Freund zum andern reden.«


Dreizehntes Kapitel.

Mr. Dale hatte sich schon über eine Viertelstunde mit Mrs. Avenel besprochen, allein anscheinend nur geringe Fortschritte in Betreff des Zweckes seiner diplomatischen Reise gemacht; denn als er jetzt langsam die Handschuhe anzog, sagte er:

»Es betrübt mich, sehen zu müssen, wie sehr Sie Ihr Herz verhärtet haben. Sie müssen mir verzeihen – es ist mein Beruf, ernste Wahrheiten auszusprechen. Sie können mir nicht vorwerfen, daß ich mein Ihnen gegebenes Wort gebrochen hätte, allein ich muß Sie nun auch daran erinnern, wie ich mir ausdrücklich das Recht vorbehielt, bei spätern Gelegenheiten, wenn es des Kindes Interesse verlangen sollte, nach eigenem Ermessen zu handeln. Auf dieses Uebereinkommen hin gaben Sie mir das Versprechen, welches Sie jetzt zu umgehen suchen – nämlich für den Jüngling sorgen zu wollen, wenn er herangewachsen wäre.«

»Ich sage ja, daß ich für ihn sorgen will – daß Sie ihn in irgend einer entfernten Stadt in die Lehre thun können, und wir ihm mit der Zeit einen Laden einrichten wollen. Was können Sie mehr verlangen von Leuten, wie wir, die auch einen Kleinhandel gehabt haben? Was Sie verlangen, ist nicht vernünftig, Sir.«

»Meine liebe Freundin,« versetzte der Pfarrer, »ich verlange ja für jetzt nichts weiter von Ihnen, als daß Sie ihn sehen, ihn freundlich aufnehmen, ihn sprechen hören und dann selbst urtheilen sollen. Wir können ja nur einen gemeinsamen Zweck haben – daß Ihr Enkel es zu etwas bringe im Leben und Ihnen Ehre mache. Ich bezweifle aber sehr, ob wir dieses Ziel erreichen, wenn wir einen Krämer aus ihm machen.«

»Hat ihn denn Jane Fairfield, die einen gewöhnlichen Zimmermann heirathete, gelehrt, die Krämer zu verachten?« rief Mrs. Avenel aufgebracht.

»Behüte der Himmel! Mehr als ein bedeutender Mann in England ist ein Krämerssohn gewesen. Aber wollen Sie es denn ihnen oder ihren Eltern als ein Verbrechen anrechnen, wenn sie durch ihre Talente zu einem Range und einer Berühmtheit gelangten, um welche der stolzeste Herzog sie beneiden dürfte? England wäre nicht England, wenn ein Mensch da stehen bleiben müßte, wo sein Vater begann.«

»Gut,« sagte oder grunzte vielmehr eine beifällige Stimme, die aber weder Mrs. Avenel noch der Pfarrer vernahm.

»Das ist alles ganz schön,« versetzte Mrs. Avenel derb. »Aber einen Knaben, wie diesen, auf die Universität zu schicken – woher soll das Geld kommen?«

»Meine liebe Mrs. Avenel,« sagte der Pfarrer – schmeichelnd, »für meinen kleinen Collegen von Cambridge sind die Kosten nicht so groß, und wenn Sie die eine Hälfte übernehmen wollen, so bestreite ich die andere. Ich habe selbst keine Kinder und kann es daher wohl erschwingen.«

»Das ist sehr hübsch von Ihnen, Sir,« versetzte Mrs. Avenel etwas gerührt, obwohl noch immer ungnädig. »Allein das Geld ist nicht der einzige Punkt.«

»Ist er erst in Cambridge,« fuhr Mr. Dale eifrig fort, »wo er sich hauptsächlich in der Mathematik ausbilden kann, für welche er entschiedenes Talent hat, so zweifle ich nicht, daß er sich auszeichnen wird. Und in diesem Fall kann er bei seinem Abgang eine sogenannte Collegiatur Das sog. fellowship; als fellow wird man zum Zwecke der Forschung und/oder Lehre finanziell unterstützt. erhalten, das heißt, er bekommt eine akademische Würde mit einem Einkommen, das ihn ernährt, bis er sich in der Welt Bahn gebrochen hat. Sie sind wohlhabend, Mrs. Avenel, und haben keine näheren Verwandten, die Ihrer Unterstützung bedürfen. Wie ich höre, hat Ihr Sohn großes Glück in Amerika gehabt.«

»Sir,« unterbrach Mrs. Avenel den Pfarrer, »wenn mein Sohn Richard uns Ehre macht – wenn er ein guter Sohn ist und sich ein Vermögen erworben hat, so ist dies kein Grund, ihm das zu entziehen, was wir ihm hinterlassen können, um es an einen Jungen zu verschwenden, der uns trotz allem, was Sie sagen, doch keine Ehre machen kann.«

»Warum? Das sehe ich nicht ein.«

»Warum?« rief Mrs. Avenel heftig – »warum? Sie wissen wohl, warum! Nein, ich will nicht, daß er sich auszeichne; ich will nicht, daß die Leute wegen seiner spioniren und fragen! Ich finde es sehr gewissenlos, daß man ihm solche schöne Dinge in den Kopf gesetzt hat, und ich bin überzeugt, es ist nicht von meiner Tochter Fairfield ausgegangen. Und nun von mir zu verlangen, ich solle meinen Sohn Richard berauben um eines Jungen willen, der ein Gärtner oder ein Ackerknecht oder dergleichen etwas gewesen ist und einem Gentleman, der seine eigene Equipage hat, wie mein Sohn Richard, Schande machen würde – nein, Sir, daß Sie es nur wissen, das werde ich nicht thun, und damit hat die Sache ein Ende!«

Während der letzten zwei oder drei Minuten und gerade bevor das beifällige »Gut« auf die volkstümliche Gesinnung des Pfarrers geantwortet hatte, war eine Thüre, welche nach einem Innern Zimmer führte, leise geöffnet worden und halb offen stehen geblieben, ohne daß es die Sprechenden bemerkt hätten. Jetzt aber wurde die Thüre keck vollends aufgerissen, und der Fremde, den Mr. Dale im Wirthshause getroffen, trat auf ihn zu und sagte:

»Nein, damit hat die Sache noch nicht ein Ende! Sie sagen, der Knabe sei ein scharfer, kluger Bursche?«

»Richard, hast du gehorcht?« rief Mrs. Avenel.

»Nun, schätz' wohl, ja – die letzten fünf Minuten.«

»Und was hast du gehört?«

»Ei, daß dieser ehrenwerthe Gentleman um der guten Meinung willen, die er von dem Sohne meiner Schwester Fairfield hegt, die Hälfte seines Unterhalts im College zu bestreiten sich erbietet. Sir, ich bin Ihnen sehr verbunden, und hier ist meine Hand, wenn Sie einschlagen wollen.«

Hoch erfreut sprang der Pfarrer auf und schüttelte mit einem triumphirenden Seitenblick auf Mrs. Avenel herzlich die dargebotene Hand.

»Und nun,« sagte Richard, »nehmen Sie Ihren Hut und lassen Sie uns ein wenig spazieren gehen und die Sache geschäftsmäßig besprechen. Mit Weibern ist nicht gut von Geschäften reden – sie verstehen nichts davon.«

Mit diesen Worten zog Richard eine Cigarrenbüchse aus der Tasche, wählte sich eine aus, zündete sie am Lichte an und verließ das Zimmer.

Mrs. Avenel hielt den Pfarrer zurück. »Sir, Sie werden gegen Richard auf der Hut sein. Gedenken Sie an Ihr Versprechen.«

»Er weiß also nicht alles?«

»Er? O nein! Und Sie dürfen glauben, er hat nicht mehr gehört, als er sagt. Ich bin überzeugt, Sie sind ein Ehrenmann und werden Ihr Wort nicht brechen.«

»Ich gab mein Wort nur bedingungsweise; aber ich verspreche Ihnen, zu schweigen, so lange mich kein triftiger Grund zum Gegentheil zwingt.«

»Kommen Sie noch nicht, Sir?« rief Richard, indem er die Hausthüre öffnete.


Vierzehntes Kapitel.

Der Pfarrer holte Mr. Richard Avenel auf der Straße ein.

Es war eine schöne, mondhelle Nacht.

»Also die arme Jane, die stets der Aschenbrödel in der Familie war, hat ihren Sohn so gut erzogen,« fügte Mr. Richard gedankenvoll. »Und ist der Junge wirklich so, wie Sie sagen – könnte er eine Rolle in einem College spielen?«

»Ich bin davon überzeugt,« erwiderte der Pfarrer, Mr. Avenels dargebotenen Arm annehmend.

»Ich möchte ihn wohl sehen,« sagte Richard. »Hat er gute Manieren? Ist er fein und anständig, oder ein bloßer Bauerntölpel?«

»Ich versichere Sie, er weiß sich so gut auszudrücken und hat so viel, ich möchte sagen, bescheidene Würde an sich, daß mancher reiche Gentleman stolz auf einen solchen Sohn wäre.«

»Sonderbar,« bemerkte Richard, »welche Verschiedenheit sich oft in einer Familie findet. Da ist zum Beispiel Jane, die weder lesen, noch schreiben kann – paßte gerade für einen Handwerker und hatte nie einen Gedanken über ihren Stand; und wenn ich an meine arme Schwester Nora denke – Sie können es kaum glauben, Sir, aber sie war das eleganteste Geschöpf von der Welt – ja, schon als Kind (sie war noch ein Kind zur Zeit, da ich nach Amerika ging). Und als ich empor kam im Leben, sagte ich oft zu mir selbst: ›Meine kleine Nora soll doch noch eine Lady werden!‹ Aber das arme Ding – hat so früh sterben müssen!«

Richards Stimme klang unsicher bei diesen Worten.

Der Pfarrer drückte freundlich den Arm, auf den er sich lehnte, und sagte nach einer Pause:

»Nichts wirkt so veredelnd aus uns, als die Erziehung. Ihre Schwester Nora hat, glaube ich, sehr guten Unterricht genossen und besaß Talente, welche dadurch entwickelt wurden. Dasselbe ist bei Ihrem Neffen der Fall.«

»Ich will ihn sehen,« sagte Richard, mit dem Fuße fest auf den Boden stampfend, »und wenn er mir gefällt, will ich so gut als ein Vater für ihn sein. Sehen Sie, Mr. – wie ist Ihr Name, Sir?«

»Dale.«

»Sehen Sie, Mr. Dale, ich bin ein lediger Mann. Vielleicht werde ich mich verheirathen, vielleicht auch nicht. Ich habe keine Lust, mich wegzuwerfen. Wenn ich eine Dame von Stand bekommen kann, wohl und gut – doch das thut nichts zur Sache. Indessen wäre ich froh, einen Neffen zu haben, dessen ich mich nicht zu schämen brauchte. Sehen Sie, Sir, ich bin ein neuer Mann Bulwer verwendet »new man« hier im Sinne des lateinische homo novus, »Emporkömmling«., der Schöpfer meines Glücks; und obschon ich mir während meines Emporkletterns etwas Bildung aufgelesen habe, ich weiß selbst nicht recht, wie – so merke ich doch gar wohl, seitdem ich wieder nach Altengland zurückgekehrt bin, daß ich es mit diesen verwünschten Aristokraten nicht aufnehmen kann, und mich in einem Salon nicht so vorteilhaft ausnehme, wie ich es wünschte. Wenn ich Lust hätte, könnte ich in's Parlament kommen, aber da fürchte ich, mich lächerlich zu machen. Alles dies wohl erwogen, denke ich, mit einem jüngern Associé, der die feinere Arbeit übernähme und die Waaren zur Schau stellte, dürfte das Haus Avenel und Comp. den Britischen Britishers: Briten. zur Ehre gereichen. Sie verstehen mich, Sir?«

»O ja, sehr wohl,« antwortete Mr. Dale mit einem ernsten Lächeln.

»Nun,« fuhr der neue Mann fort, »ich schäme mich nicht, daß ich mich durch meine eigenen Verdienste emporgeschwungen habe, und ich verberge nicht, was ich gewesen bin. Wenn ich in meinem prächtigen Hause sitze, sage ich gerne: ›Ich landete in New-Park mit zehn Pfunden im Beutel, und jetzt sitze ich hier!‹ Es ginge aber nicht an, die alten Leute bei mir zu haben. Ist Einer reich, so nehmen ihn die Leute mit allen seinen Fehlern, aber die Familie wollen sie nicht so leicht mit verschlucken. Und wenn ich meine eigenen Eltern nicht zu mir nehme, die ich doch so herzlich lieb habe und so gern an meinem Tische sehen möchte, mit meinen Bedienten hinter ihren Stühlen, so könnte ich meine Schwester Jane noch viel weniger brauchen. Ich erinnere mich ihrer ganz wohl, und sie wird mit den Jahren schwerlich feiner geworden sein. Deßhalb muß ich Sie dringend bitten, sie mir nicht über den Hals zu schicken; denn dies würde durchaus nicht angehen. Sagen Sie ihr lieber gar nichts von mir, sondern lassen Sie den Jungen hierher zu seinem Großvater kommen, wo ich ihn dann ungestört sehen kann. Sie verstehen mich?«

»Ja; aber es wird ihr schwer fallen, sich von dem Knaben zu trennen«

»Pah! Alle Eltern müssen sich von ihren Kindern trennen, wenn sie in die Welt hinaus sollen. So, das wäre abgemacht. Nun möchte ich Sie aber noch etwas fragen. Ich weiß, die alten Leute haben Jane immer hart angelassen – die Mutter wenigstens. Mein armer guter Vater ist gegen Keines von uns hart gewesen. Vielleicht hat die Mutter nicht ganz recht gegen Jane gehandelt. Allein wir dürfen sie nicht sehr darum tadeln; die Sache ging ganz natürlich zu. Wir waren ein ziemliches Häuflein, während die Eltern einen Laden in der Hauptstraße hatten; so mußte für Jedes von uns auf irgend eine Weise gesorgt werden. Da nun Jane sehr brauchbar und thätig war, so kam sie schon als kleines Mädchen in einen Dienst und hatte keine Zeit zum Lernen. Später wollte das Glück, daß mein Vater nach einer Wahl, in welcher er viel für die Blauen gethan hatte (denn er war ein berühmter Mann bei den Wahlumtrieben), die Kundschaft des Lord Lansmere bekam. Die gnädige Frau stand bei Nora zu Gevatter, und nachdem der größte Theil meiner Geschwister gestorben war, gab mein Vater das Geschäft auf. Als er aber Jane aus dem Dienst zurücknahm, war sie so ungebildet, daß meine Mutter sich nicht enthalten konnte, Vergleichungen zwischen ihr und Nora anzustellen. Sehen Sie, Jane's Kindheit fiel in die Zeit, da meine Eltern noch kleine Krämer waren, welche Mühe hatten, den Kopf über dem Wasser zu halten; Nora aber wurde geboren, nachdem sie als wohlhabende Leute das Geschäft aufgegeben hatten und anständig lebten. Das macht einen großen Unterschied. Meine Mutter sah Jane nicht recht als ihr eigenes Kind an. Doch war Jane auch selbst mit daran Schuld; denn das Verhältniß zwischen Mutter und Tochter würde gewiß noch ein ganz gutes geworden sein, wenn Jane den Sohn unseres Nachbars, des reichen Leinwandhändlers, der um sie warb, zum Mann genommen hätte; allein sie wollte durchaus Mark Fairfield, einen gemeinen Zimmermann, heirathen. Eltern lieben in der Regel diejenigen ihrer Kinder am meisten, die es am weitesten in der Welt bringen. Natürlich! Auch um mich bekümmerten sie sich nicht, bis ich als der Mann zurückkehrte, der ich jetzt bin. Doch um wieder auf Jane zu kommen – ich fürchte, sie ist sehr vernachlässigt worden. Wie sind ihre Verhältnisse?«

»Sie verdient sich ihren Lebensunterhalt und ist arm, aber zufrieden.«

»Wollen Sie die Güte haben, ihr dies zu geben?« (und Richard nahm eine Banknote von fünfzig Pfunden aus seinem Taschenbuch.) »Sie können ihr ja sagen, die alten Leute schickten es ihr, oder es sei ein Geschenk von Dick – ohne hinzuzusetzen, daß ich von Amerika zurück bin.«

»Mein bester Sir,« sagte der Pfarrer, »ich kann dem Himmel nicht dankbar genug sein, daß ich Ihre Bekanntschaft gemacht habe. Das ist ein sehr großmüthiges Geschenk; aber es würde das Beste sein, wenn Sie es durch Ihre Mutter senden wollten; denn ich möchte Ihr Vertrauen um keinen Preis täuschen, und würde doch nicht recht wissen, was ich Mrs. Fairfield antworten sollte, wenn sie mich nach ihrem Bruder fragte. Ich habe in meinem ganzen Leben nur ein einziges Geheimniß zu bewahren gehabt, und ich hoffe, es wird auch das einzige bleiben. Geheimnisse und Lügen sehen sich sehr ähnlich.«

»So, Sie hatten also ein Geheimniß in Verwahrung?« bemerkte Richard, indem er die Banknote wieder einsteckte. Er mochte wohl in Amerika das Neugierigsein gelernt haben, denn er fragte ganz unverhohlen: »Was war es denn?«

»Ei,« erwiderte der Pfarrer mit erzwungenem Lachen, »das was es nicht mehr sein würde, wenn ich es Ihnen sagte – ein Geheimniß!«

»Nun freilich, wir sind in einem freien Lande. Thun Sie, was Ihnen beliebt. Ich wette, Sie halten mich für einen recht närrischen Kauz, weil ich in dieser offenen Weise aus meiner Schale herauskomme. Aber Sie gefielen mir schon, als wir im Wirthshause zusammen trafen. Und es freute mich vorhin ungemein, daß Sie, obgleich Sie ein Pfarrer sind, einen Menschen, der etwas in sich hat, nicht mit der Nase an den Ladentisch binden wollen. Sie sind keiner von den Aristokraten –«

»Wahrhaftig,« versetzte der Pfarrer mit unvorsichtigem Eifer, »es ist nicht die Sache der englischen Aristokratie, das Volk drunten zu halten. Sie machen einem Jeden in ihrer Mitte Platz, welcher Abkunft er auch sein möge, sobald er Talent und Energie genug besitzt, sich zu ihnen emporzuschwingen. Das ist ja eben der Ruhm der britischen Constitution.«

»So, glauben Sie das wirklich!« erwiderte Mr. Richard, den Pfarrer mit finsterer Miene ansehend. »Und das sind wohl auch die Ansichten, in welchen Sie den Jungen erzogen haben. Da mögen Sie ihn nur für sich behalten und die Aristokratie für ihn sorgen lassen.«

Die edle, patriotische Wärme des Pfarrers verflog sehr schnell, als diese plötzliche kalte Zugluft die Unterhaltung traf. Er bemerkte, daß er einen sehr ungeschickten Fehler gemacht hatte, und da ihm für den Augenblick weniger daran lag, die brittische Verfassung zu verfechten, als Leonard Fairfield einen Dienst zu erweisen, so gab er mit der ängstlichsten und schmachvollsten Eile die Sache der Aristokratie preis und rief, indem er Mr. Avenel's Arm, den dieser ihm entzogen hatte, wieder ergriff:

»In der That, Sir, Sie befinden sich in einem großen Irrthum; ich habe niemals versucht, die politischen Ansichten Ihres Neffen zu beeinflussen. Ganz im Gegentheil – wenn man sich in seinem Alter überhaupt eine Meinung gebildet haben kann, so fürchte ich sehr – das heißt, ich glaube, daß seine Ansichten nicht ganz richtig – das heißt, nicht constitutionell sein dürften. Ich meine – ich meine –«

Und der arme Pfarrer hielt in kläglicher Ideenverwirrung inne, indem er sich bemühte, ein Wort zu suchen, das seinen Begleiter nicht beleidigen könnte.

Mr. Avenel ergötzte sich eine Weile mit einem bittern Lächeln an der Verlegenheit des Pfarrers und sagte alsdann:

»Nun, er wird wohl ein Radikaler sein, denke ich mir. Natürlich genug, so lange er keinen Sixpence zu verlieren hat – das wird sich schon machen. Ich bin kein Radicaler, wenigstens kein zerstörungslustiger – viel zu klug dazu, hoffe ich. Aber ich wünschte vieles ganz anders zu sehen, als es ist. Glauben Sie ja nicht, daß ich das gemeine Volk, das nichts besitzt, aufhetzen möchte, sich über bessere Leute Gewalt anzumaßen, nur weil ich nicht sehen mag, wie eine Handvoll Leute, die man Lords und Squires nennt, das Regiment führen will. Männer, wie ich, Sir, sollten auf dem Gipfel des Baumes sitzen! Das ist meine Ansicht von der Politik. Was sagen Sie dazu?«

»Ich habe nichts dagegen einzuwenden,« versetzte der muthlose Pfarrer mit schmählicher Nachgiebigkeit. Doch müssen wir, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, beifügen, daß er nicht im geringsten wußte, was er sagte.


Fünfzehntes Kapitel.

Nichts ahnend von dem seinem Schicksal bevorstehenden Wechsel, den die Diplomatik des Pfarrers zu bewirken strebte, genoß Leonard Fairfield die erste jungfräuliche Süßigkeit des Ruhmes. In der Hauptstadt des Bezirkes hatte man nämlich, dem immer mehr um sich greifenden Zeitgeiste huldigend, eine Gewerbeschule errichtet, und einige angesehene Personen, die sich für die Gründung dieses Provincialathenäums Athenäum, eigentlich Heiligtum der Göttin Athene (Göttin der Weisheit), dann aber eine von Kaiser Hadrian um 135 in Rom errichtete Unterrichtsstätte für die Fächer der allgemeinen Wissenschaften. interessirten, hatten einen Preis für die beste Abhandlung über die »Verbreitung des Wissens« ausgesetzt – – ein sehr abgedroschener Gegenstand, über welchen schon unendlich viel gesagt worden ist, und über den gleichwohl noch immer viel zu sagen bleibt. Diesen Preis hatte Leonard Fairfield unlängst gewonnen. Seine Abhandlung war öffentlich belobt, auf Kosten der Gesellschaft gedruckt und mit einer silbernen Medaille belohnt worden, welche den Apollo, das Verdienst krönend, darstellte. (Das arme Verdienst hatte keinen Fetzen auf dem Leibe; aber freilich, wenn es nur der Fürsorge Apollo's anheimgegeben ist, wird es nie ein guter Kunde für den Schneider sein!) Auch verkündigte die Grafschaftszeitung, daß Großbritannien ein neues Wunder hervorgebracht habe in der Person von Doctor Riccabocca's antodidactischem Gärtner.

Jetzt wurde man auch auf Leonard's mechanische Arbeiten aufmerksam. Der stets auf Verbesserungen bedachte Squire hatte einen Ingenieur kommen lassen, um das Bewässerungssystem des Jünglings zu prüfen, und der Mann von Fach erstaunte, mit welch' einfachen Mitteln eine bedeutende technische Schwierigkeit überwunden worden war. Die benachbarten Pächter nannten jetzt Leonard »Mr. Fairfield« und luden ihn als ihres Gleichen in ihre Häuser ein. Selbst Mr. Stirn hatte, als er ihm auf der Landstraße begegnete, an den Hut gegriffen und gesagt, »er hoffe, Mr. Fairfield hege keinen Groll gegen ihn.«

Dies alles, sage ich, war die erste Süßigkeit des Ruhmes, und wenn Leonard Fairfield je in reifern Jahren ein berühmter Mann wird, so zweifle ich doch sehr, ob ihm die späteren Früchte ebenso süß schmecken werden.

Dieser glänzende Erfolg war es denn auch gewesen, der den Pfarrer zu dem oben erzählten, schon längst reiflich von ihm erwogenen Schritte veranlaßt hatte. Denn seit einem Jahre ungefähr war das alte, trauliche Einvernehmen zwischen dem Geistlichen und der Familie Fairfield wieder hergestellt, und mit großer Hoffnung, aber auch nicht ohne Besorgniß hatte er die rasche Entwicklung eines Verstandes beobachtet, welcher kühn und unharmonisch gegen die Niedrigkeit der ihn umgebenden Verhältnisse abstach.

Am Abend nach seiner Rückkehr von Lansmere begab sich der Pfarrer nach dem Casino. Er steckte Leonard Fairfield's Preisschrift in die Tasche; denn er fühlte, daß er den Jüngling nicht ohne vorbereitende Ermahnung in die Welt hinausziehen lassen dürfe, und beabsichtigte somit, das arme Verdienst mit denselben Lorbeerkranze zu geißeln, den es eben erst von Apollo empfangen hatte. Dazu bedurfte er jedoch Riccabocca's Beistand, oder vielmehr – er fürchtete, wenn es ihm nicht gelänge, den Philosophen auf seine Seite zu bringen, so möchte dieser alles wieder verderben, was der Pfarrer etwa gut gemacht hätte.


Sechzehntes Kapitel.

Süße Töne drangen durch die Orangenzweige zu den Ohren des Pfarrers, als er langsam die kleine Anhöhe erstieg – Töne so süß und silberhell, daß er entzückt stehen blieb, um zu lauschen. Der Unglückliche ahnte noch nicht, daß er damit papistischem Irrthum sein Ohr lieh! Immer sanfter und süßer klangen die Worte » Ave Maria« zu ihm hernieder – Violante sang die Abendhymne an die heilige Jungfrau. Endlich ging dem guten Pastor ein Licht auf über den Sinn der Worte, und als orthodoxer Protestant schüttelte er mißbilligend das Haupt, entriß sich dann muthig dem Zauber, der ihn gefesselt hielt, und schritt rüstig weiter. Auf der Terrasse fand er die ganze Familie unter einem Zeltdache versammelt. Mrs. Riccabocca strickte, ihr Gatte hatte seine Arme über der Brust gekreuzt; das Buch, in welchem er vor wenigen Minuten noch gelesen, war seinen Händen entfallen, und er schaute mit seinen sanften, dunkeln Augen träumerisch vor sich hin. Violante, die jetzt ihre Hymne geendet hatte, saß zwischen beiden Gatten auf dem Boden und ließ das Haupt aus dem Schooße ihrer Stiefmutter ruhen, während ihre Hand auf dem Knie des Vaters lag, und ihr Blick mit inniger Zärtlichkeit an seinen Zügen hing.

Mit einem freundlichen »Guten Abend!« begrüßte der Pfarrer die Familie. Violante schlich sich sogleich zu ihm heran und flüsterte ihm leise zu: »Reden Sie mit Papa und suchen Sie ihn aufzuheitern – er ist traurig!« Dann schlüpfte sie hinweg und schien eifrig beschäftigt, die Blumen zu begießen, welche auf Gestellen geordnet das Zelt umgaben. Dabei blieben jedoch ihre feuchten, glänzenden Augen noch immer nachdenklich auf ihren Vater gerichtet.

»Wie geht es Ihnen, mein lieber Freund?« begann der Pfarrer in herzlichem Tone, indem er seine Hand auf die Schulter des Italieners legte. »Sie müssen keine Niedergeschlagenheit bei ihm aufkommen lassen, Mrs. Riccabocca!«

»Es wäre eine große Undankbarkeit gegen meine Gattin, wenn ich niedergeschlagen sein wollte,« sagte der arme Italiener mit seiner gewohnten Galanterie. Manche gute Frau, die es als einen Vorwurf ansieht, wenn ihr Gatte einmal ›verstimmt‹ ist, würde sich bei dieser mehr höflichen als offenherzigen Rede beleidigt abgewendet und so das Uebel noch verschlimmert haben. Allein Mrs. Riccabocca drückte zärtlich die dargebotene Hand ihres Gatten und sagte naiv:

»Sie sehen, ich bin so unverständig, Mr. Dale; ich wußte nicht, wie sehr ich es bin, bis ich verheirathet war. Aber ich freue mich, daß Sie gekommen sind. Sie können nun ein gelehrtes Gespräch mit ihm anknüpfen, dann vermißt er vielleicht weniger schmerzlich sein –«

»Was?« unterbrach sie Riccabocca fragend.

»Sein Vaterland. Glaubst du, ich könne nicht zuweilen deine Gedanken errathen?«

»Gewiß, sehr oft. Dieses Mal aber nicht. Die Zunge stößt an, wo der Zahn schmerzt; allein der beste Zahnarzt kann den Zahn nicht errathen, wenn man den Mund nicht öffnet. – Basta! Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten – eigenes Gewächs, Mr. Dale? Er ist unverfälscht.«

»Ich möchte mir lieber eine Tasse Thee ausbitten,« versetzte der Pfarrer hastig.

Mrs. Riccabocca, vergnügt, sich als Hauswirthin nützlich machen zu können, eilte in's Haus, um den Nationaltrank der Engländer zu bereiten. Der Pfarrer ließ sich auf ihrem Stuhle nieder, indem er sagte:

»Sie sind also niedergeschlagen? Pfui! Wenn es eine Tugend in der Welt gibt, nach der wir beständig trachten sollen, so ist es die Heiterkeit.«

»Ich will dies nicht bestreiten,« erwiderte Riccabocca mit einem tiefen Seufzer. »Allein obgleich ein Grieche, den, wie ich glaube, Ihr Liebling Seneca Lucius Annaeus Seneca (1. Jh.), römischer Politiker, Schriftsteller und Philosoph des Stoizismus. anführt, behauptet hat, ein weiser Mann trage sein Vaterland an seinen Fußsohlen mit sich herum, so vermag er doch nicht auch seinen Sonnenschein mit sich zu führen.«

»Ich will Ihnen sagen, woran der Fehler liegt,« fuhr der Pfarrer etwas derb heraus. »Sie würden das Glück viel lebhafter empfinden, wenn Sie die Philosophie etwas mehr bei Seite ließen.«

»Cospetto!« rief der Doctor, aufspringend. »Wollen Sie mir dies näher erklären?«

»Weckt nicht das Forschen nach Weisheit Wünsche, welche in dem kleinen Kreise, auf den Ihr Leben beschränkt ist, keine Befriedigung finden? Es ist nicht sowohl das Vaterland, nach dem Sie sich sehnen, als vielmehr der Spielraum für Ihre Intelligenz, Beschäftigung für Ihre Gedanken und ein Ziel für Ihre Bestrebungen.«

»Sie haben den Zahn errathen, welcher schmerzt,« entgegnete Riccabocca mit Bewunderung.

»Das war so schwer nicht,« erwiderte der Pfarrer. »Die Weisheitszähne kommen zuletzt und verursachen am meisten Schmerz. Wenn Sie nur den Geist ein wenig hungern lassen und dafür das Herz besser nähren wollten, so würden Sie vielleicht ein schlechterer Philosoph, aber ein desto –«

Der Pfarrer hatte die Worte »besserer Christ« auf der Zunge; allein er unterdrückte dieselben, da sie in solchem Zusammenhange leicht hätten verletzen können, und setzte dafür die unelegante Antithese – »ein desto glücklicherer Mann sein.«

»Ich lasse immer und bei allem dem Herzen seinen Antheil,« sagte der Doctor.

»Nicht doch! Ein Mann mit einem Herzen, wie das Ihrige, sollte nie den Mangel des Sonnenscheins fühlen. Mein Freund, wir leben in einem Zeitalter übertriebener Geistesbildung und vernachlässigen zu viel das gesunde, einfache äußere Leben, das so viel positive Freuden bietet. Während wir uns der Welt in unserm Innern zukehren, werden wir blind für die Schönheiten der äußern Welt; indem wir das eigene Ich studiren, vergessen wir beinahe, gen Himmel zu blicken und am Lächeln Gottes zu erwarmen.«

Der Philosoph zuckte mechanisch die Achseln, wie er immer zu thun pflegte, wenn ein Anderer als er, moralisirte, und besonders, wenn dieser Andere ein Geistlicher war; aber es lag keine Ironie in seinem Lächeln, als er gedankenvoll erwiderte:

»Es ist etwas Wahres in dem, was Sie sagen. Ich gebe zu, daß wir zu viel leben, als ob wir nur aus Gehirn bestünden. Das Wissen hat seine Strafen und Schmerzen so gut, wie seine Belohnungen.«

»Das ist es gerade, was ich Sie bitten wollte, Leonard zu sagen.«

»Haben Sie den Zweck Ihrer Reise erreicht?«

»Ich will Ihnen davon erzählen, wenn Sie mich nach dem Thee zu ihm hinunter begleiten wollen. Jetzt bin ich zu sehr mit Ihnen selbst beschäftigt.«

»Mit mir? Der Baum ist ausgewachsen – versuchen Sie es, den jungen Zweig zu biegen!«

»Bäume sind Bäume, und Zweige sind Zweige, »versetzte der Pfarrer dogmatisch; »aber der Mensch wächst fort bis er in's Grab sinkt. Wenn ich nicht irre, so haben Sie mir einmal gesagt, daß Sie einst sehr nahe daran gewesen, in ein Gefängniß geworfen zu werden.«

»Ja, sehr nahe.«

»Nun, so stellen Sie sich jetzt vor, Sie befänden sich in jenem Gefängniß und eine Fee zaubere Ihnen die Aussicht auf diese ruhige Heimath in einem sichern Lande vor; Sie erblicken die blühenden Orangebäume und fühlen, wie der Abendwind Ihre Wange fächelt; Sie sehen Ihr Kind heiter oder traurig, je nachdem Sie lächeln oder die Stirne furchen. In dieses Traumgesicht einer Heimath mischt sich das Bild einer Frau – vielleicht dem Ideal Ihrer jugendlichen Phantasie nicht ganz entsprechend, aber treu und wahr, jeder Schlag ihres Herzens nur Ihnen geweiht. Würden Sie da nicht aus der Tiefe Ihres Kerkers rufen: ›O gütige Fee, ein solcher Tausch wäre ein Paradies!‹ Undankbarer Mann! Was Sie für Ihren Geist vermissen, sollte Ihr Herz Ihnen alles ersetzen!«

Riccabocca schwieg gerührt.

»Komm hierher, mein Kind,« fuhr Mr. Dale fort, indem er sich nach Violante umsah, welche noch immer in einiger Entfernung unter den Blumen stand, so daß sie zwar nichts hören, aber alles beobachten konnte. »Komm hierher,« rief er und breitete die Arme aus.

Violante eilte herbei und schmiegte sich an die Brust des wackern Mannes.

»Sprich, Violante – wenn du allein bist im Feld oder Garten, nachdem du eben erst deines Vaters Antlitz ruhig und heiter gesehen hast, so daß keine Sorge um ihn dein Herz bedrückt – wenn du ganz allein bist, die Blumen zu deinen Füßen und die singenden Vögel über deinem Haupte – erscheint dir dann das Leben an sich selbst als Glück oder als Leid?«

»Als Glück!« antwortete Violante, halb ihre Augen schließend und mit gedämpfter Stimme.

»Kannst du uns sagen, welche Art von Glück es ist?«

»O nein, unmöglich! Auch bleibt es sich niemals gleich. Zuweilen ist es so still, so still – und zuweilen so stürmisch, daß ich Flügel haben und mich zu Gott aufschwingen möchte, um ihm zu danken!«

»O Freund,« sagte der Geistliche, »dies ist die wahre Sympathie zwischen Leben und Natur, und so würden wir stets fühlen, wenn wir mehr Sorge trügen, uns die kindliche Frische und Unschuld zu bewahren. Es steht geschrieben, daß wir wie die Kinder werden müssen, um in's Himmelreich einzugehen; und mich däucht, wir müssen auch wie die Kinder werden, um die Wonne zu erkennen, die schon auf Erden unser Erbtheil ist!«


Siebzehntes Kapitel.

Jackeymo befand sich auf dem Felde und so brachte das Dienstmädchen den Tisch unter das Zelt und stellte neben dem unerläßlichen englischen Thee noch andere, ebenso wohlfeile und angenehme Getränke für die warme Jahreszeit – Getränke, welche Jackeymo den Gebräuchen des Südens entnommen und hier eingeführt hatte, ungeistige, aus Früchten gepreßte, mit Honig versüßte und mit Eis angenehm gekühlte Säfte – denn das Eis darf nichts kosten in einem Lande, in welchem man das halbe Jahr hindurch eingefroren ist! Auch hatte Jackeymo als Beigabe zu unserm guten, festen, englischen Brode viel leichteres und besser verdauliches Gebäck aus Waizenmehl und jene gerösteten Hippen bereitet, die sich darüber zu freuen scheinen, daß sie gegessen werden, so lustig krachen sie zwischen den Zähnen.

Für den Pfarrer war es immer ein besonderer Genuß, in dem Casino Thee zu trinken; denn das einfache Mahl auf dem Tische des Verbannten zeigte eine Anmuth und Eleganz, welche sowohl das Auge, als den Gaumen auf das Angenehmste berührten. Sogar die Geräthe, obschon sie nur aus Wedgwoodthon Porzellan der Firma Josiah Wedgwood and Sons. Josiah Wedgwood (1730-1795) war ein englischer Unternehmer, dem die Industrialisierung des Töpferhandwerkes zugeschrieben wird. Die Wedgwood Porzellanmanufaktur existiert als Teil des Firmenkonsortiums WWRD United Kingdom Ltd. bis heute. bestanden, hatten so einfache, classische Formen, daß selbst Mrs. Hazeldean's altes indisches Steingut, und Mrs. Dale's bestes Worcesterporzellan Royal Worcester, traditionelle, englische Porzellanmarke aus Worcester und königlicher Hoflieferant. flitterig und barbarisch dagegen aussah. Denn Flaxman John Flaxman (1755-1826), britischer Bildhauer und Zeichner, einer der führenden Künstler im britischen und europäischen Neoklassizismus. hatte die Zeichnungen zu dem Wedgwood gefertigt und die Erzeugnisse dieser ersten und geschmackvollsten aller Porzellanfabriken (wenn man von dem bloßen Material absieht) sind auch den wenigsten Begüterten Hier scheint vor »wenigsten« ein »am« ausgefallen zu sein. Die richtige Übersetzung würde an dieser Stelle jedoch lauten: … »sind auch denen zugänglich, die am meisten auf Sparsamkeit achten müssen« (»is in the reach of the most thrifty«). zugänglich.

Das kleine Mahl verlief anfangs ziemlich schweigsam; bald jedoch warf Riccabocca seine trübe Stimmung ab und wurde heiter und lebhaft. Mrs. Riccabocca lächelte und nöthigte ihre Hippen auf; Violante vergaß ihr stattliches Wesen, lachte und spielte dem Pfarrer Possen, indem sie ihm, während er sich abwandte, seine Tasse mit warmen Thee wegnahm und dafür geeisten Kirschensaft hinstellte. Dann sprang der Pastor auf und lief ihr nach; allein Violante wußte ihm so allerliebst auszuweichen, daß der Pfarrer zuletzt ermüdet um Frieden bat und zu seinem Kirschensaft zurückkehrte. So entschwand die Zeit, bis man endlich auf der fernen Kirchenuhr schlagen hörte, und Mr. Dale mit dem Rufe aufsprang:

»Wir werden zu spät zu Leonard kommen! Geh, du böses, kleines Mädchen und hole deines Vaters Hut!«

»Und Schirm!« setzte Riccabocca, zu dem wolkenlosen, mondhellen Himmel aufblickend, hinzu.

»Einen Schirm gegen die Sterne?« fragte lachend der Pfarrer.

»Die Sterne sind nicht meine Freunde,« versetzte Riccabocca, »und man weiß nie, was kommen kann.«

Freundschaftlich wanderten der Philosoph und der Geistliche mit einander fort.

»Ihre Worte haben mir wohl gethan,« sagte Riccabocca, »aber ich hoffe, ich bin nicht immer so unvernünftig melancholisch, wie Sie zu vermuthen scheinen. Freilich kommen die Abende einem Manne, dessen Gedanken an die Vergangenheit beinahe seine einzigen Gesellschafter sind, bisweilen etwas lange und trübselig vor.«

»Seine einzigen Gesellschafter? – und Ihre Tochter?«

»Sie ist noch so jung.«

»Und Ihre Gattin!«

»Sie ist so –« der höfliche Italiener schien hier ein anstößiges Eigenschaftswort zu unterdrücken und setzte mild hinzu: »so gut, ich bestreite dies nicht; aber Sie müssen mir zugeben, daß wir nicht viel mit einander gemein haben können.«

»Ich gebe nichts dergleichen zu. Sie haben Ihr Haus, Ihre Interessen, Ihr Glück und Ihr Leben mit einander gemein. Wir Männer sind so anspruchsvoll; wir erwarten, ideale Nymphen und Göttinnen zu finden, wenn wir uns herablassen, eine Sterbliche zu heirathen; und hätten wir wirklich jene Nymphe oder Göttin gefunden – nun, so würden ohne Zweifel unsere Hühner zu Kohle verbrennen und unsere Hammelskeulen eiskalt auf den Tisch kommen.«

» Per Bacco, Sie sind ein Orakel,« sagte Riccabocca lachend. »Allein ich bin nicht so skeptisch wie Sie. Dazu verehre ich das schöne Geschlecht viel zu sehr. Es sind viele Frauen, welche das Ideal der Männer verwirklichen – bei den Dichtern zu finden!«

»Meine eigene liebe Frau zum Beispiel,« nahm der Pfarrer wieder das Wort, indem er Doctor Riccabocca's sarkastisches Kompliment gegen das schöne Geschlecht unbeachtet ließ, sich vorsichtig umschaute und seine Stimme dämpfte – »meine liebe Frau zum Beispiel ist die beste Seele von der Welt – ich möchte sagen, ein Engel, wenn das Wort nicht so oft entweiht würde; aber –«

»Aber?« wiederholte der Doctor ernsthaft.

»Aber auch ich könnte sagen, daß ›wir nicht viel mit einander gemein haben,‹ wenn ich blos Geist mit Geist vergleichen und jedesmal, wenn meine arme Carry etwas spricht, das vielleicht nicht so tief ist, als wenn es auf dem Munde der Madame de Stael gekommen wäre, von der Höhe meiner Logik und klassischen Bildung herab verächtlich sie belächeln wollte. Denke ich aber an all' die kleinen Sorgen und Freuden, die wir mit einander getheilt haben, und wie einsam ich ohne sie gewesen wäre – o, dann wird mir augenblicklich klar, daß wir etwas unendlich Innigeres und Besseres mit einander gemein haben, als wenn wir durch dieselben Stadien denselben Ideenkreis gewonnen hätten und ich stets zu einem geistigen Kampfe gewappnet sein müßte, wie dies der Fall ist, wenn ich mit einem so hartnäckigen Philosophem wie Sie sind, zusammentreffe. Ich will nun freilich nicht behaupten, daß Mrs. Riccabocca eine Mrs. Dale ist,« setzte der Pfarrer mit stolzer Aufrichtigkeit hinzu – »es gibt nur Eine Mrs. Dale in der Welt; aber doch haben Sie einen Treffer in der Ehestandslotterie gezogen. Denken Sie an Sokrates; er war zufrieden sogar mit seiner – Xantippe!«

Doctor Riccabocca dachte an Mrs. Dale's »kleine Launen« und freute sich im Stillen, daß es keine zweite Mrs. Dale gab, die ihm hätte zu Theil werden können. Seine ruhige Jemima gewann durch die Vergleichung. Nichtsdestoweniger war er eigensinnig genug, zu erwidern:

»Sokrates ist zu allen Zeiten unerreicht geblieben! – und doch glaube ich, daß sogar er seine Abende selten zu Hause zubrachte. Allein revenons à nos moutons Kehren wir wieder zu unseren Schafen zurück.! Wir sind schon ganz nahe bei Mrs. Fairfield's Hause und noch haben Sie mir nicht gesagt, was Sie in Bezug auf Leonard ausgerichtet haben.«

Der Geistliche blieb stehen, faßte Riccabocca an seinem Rockknopfe und theilte ihm in wenigen Worten mit, daß Leonard nach Lansmere reisen solle, um dort einige Verwandte kennen zu lernen, die, wenn es am guten Willen nicht fehlte, Vermögen genug besäßen, um seinen Fähigkeiten eine entsprechende Bahn zu eröffnen.

»Die Hauptsache indessen wäre es,« setzte Mr. Dale hinzu, »ihn ein wenig über das aufzuklären, was er – ›Aufklärung‹ nennt.«

»Ah!« versetzte Riccabocca, sich vergnügt die Hände reibend, »ich werde mit großem Interesse zuhören, was Sie ihm über diesen Gegenstand zu sagen haben.«

»Nicht nur zuhören, sondern Sie müssen mir auch beistehen; denn der erste Schritt in dieser modernen Aufklärung läßt den armen Pfarrer dahinten; und wenn er ruft: ›Halt, seht auf den Wegweiser!‹ so eilt der Wanderer nur um so rascher vorwärts, indem er bei sich selbst sagt: ›Pah, das ist nur das Geschrei des Pfarrers!‹ Allein wenn mein junger Herr auch mir nicht glaubt, so wird er doch Ihnen Gehör schenken – Sie sind ein Philosoph!«

»Also können wir Philosophen bisweilen selbst den Geistlichen nützlich werden!«

»Wenn Sie nicht ohnehin schon so eingebildete, arme, verblendete Geschöpfe wären, so würde ich ›Ja‹ sagen,« antwortete der Pfarrer großmüthig, nahm sodann des Doctors Regenschirm und bediente sich des messingnen Griffes, um damit an die Thüre der Hütte zu klopfen.


Achtzehntes Kapitel.

Der Durst nach Wissen ist sicherlich ein rühmliches Fieber! Und es gibt in der moralischen Welt kaum einen erhabeneren Anblick als den, welchen manches Dachstübchen darbieten würde, wenn Asmodeus Dämon aus der jüdischen Mythologie; hier im Sinne von »dienstbarer Geist«. – Die Vorstellung des Abdeckens von Dächern verbunden mit dem Blick ins Innere der Häuser spielt Bulwer poetisch eindrucksvoll in »Die Caxtons«, Vierzehnter Abschnitt, Zweites Kapitel, durch. die Dächer abheben und uns einen Blick in das Innere der Häuser werfen lassen wollte – ich meine den Anblick eines tapferen, geduldigen, eifrigen menschlichen Wesens, welches sich durch die ehernen Mauern des Mangels mühsam Bahn bricht in das herrliche Unendliche, das von sternartigen Seelen erglänzt.

So sitzt Leonard, der Autodidact, allein in der kleinen Hütte; denn obgleich kaum die Stunde geschlagen hat, um welche die vornehmen Leute zu speisen pflegen, so ist es für die Geringen doch schon an der Zeit, sich schlafen zu legen, und Mrs. Fairfield hat dies auch bereits gethan, indeß Leonard noch in seine Bücher vertieft ist.

Er hat den Tisch an das Gitterfenster gestellt und blickt von Zeit zu Zeit von der Arbeit auf, um sich des stillen Mondscheins zu erfreuen. Ein Glück für ihn, daß als Ersatz für diese der Nacht entwendeten Stunden seine harte, körperliche Thätigkeit mit der Morgenröthe wieder beginnt. Die Gelehrten würden nicht immer an so mancherlei Beschwerden leiden, wenn sie so viel im Freien arbeiteten, wie unser wißbegieriger Bauernknabe. Doch selbst bei ihm konnte man bemerken, daß das eifrige Lernen angefangen hatte, an seinen Kräften zu zehren. Wer den Geist anstrengt, muß mit dem Körper dafür bezahlen. Es würde in der That schlimm um diese Alltagswelt aussehen, wenn es nur emsig studirende Bücherwürmer darin gäbe, die sich den Henker um ihr Gangliensystem bekümmern!

Erstaunt sprang Leonard auf, als er das Klopfen an der Thüre vernahm, doch beruhigte ihn des Pfarrers wohlbekannte Stimme bald wieder, und er öffnete den späten Besuchern mit einiger Ueberraschung die Thüre.

»Wir kommen, um mit dir zu reden, Leonard,« sagte Mr. Dale, »allein ich fürchte, wir könnten Mrs. Fairfield stören.«

»O nein, Herr Pfarrer! Die Thüre zur Treppe ist geschlossen, und meine Mutter hat einen festen Schlaf.«

»Was, das ist ja ein französisches Buch! Verstehst du denn Französisch, Leonard?« fragte Riccabocca.

»Ich habe das Französische nicht schwer gefunden. Hat man nur einmal die Grammatik überwunden, so wird die Sprache so klar. Sie scheint ganz wie zum Beweisen und Disputiren gemacht.«

»Ganz richtig,« bemerkte Riccabocca. »Voltaire sagt nicht mit Unrecht: ›Was nicht klar ist, ist nicht französisch.‹«

»Ich wollte, man könnte dasselbe von der englischen Sprache sagen!« bemerkte der Pfarrer.

»Aber was ist das? Auch Latein? – Virgil?«

»Ja, Sir. Aber ich finde, daß es damit nicht recht vorwärts gehen will ohne Lehrer. Ich fürchte, ich werde es wohl aufgeben müssen,« setzte Leonard seufzend hinzu.

Die beiden Herren warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu und setzten sich. Der junge Landmann blieb bescheiden stehen. Es lag etwas in seiner Miene und Haltung, was das Herz rührte, indem es das Auge ansprach. Er war nicht mehr der schüchterne Knabe, der sich vor Mr. Stirn's finsterem Blicke verbarg, noch die rohe Verkörperung blos physischer Kraft, die, zu ungeregelter Tapferkeit angespornt, auf dem Gemeinderasen von Hazeldean eine so kränkende Niederlage erlitten hatte. Auf seiner Stirne lagerte die Macht des Gedankens – freilich noch etwas unstet, aber doch mild und ernst. Die Züge hatten jene edle Feinheit angenommen, welche man oft für ein Geschlechtsabzeichen hält, die aber in Wirklichkeit von der Schönheit der Ideen herrührt, sie mögen nun ein Erbtheil der Eltern oder aus Büchern gelernt sein. In seinem reichen braunen Haar, welches kunstlos von den Schläfen zurückgestrichen in natürlichen Locken fast bis auf die Schultern herabwallte – in seinem großen blauen Auge, das von den langen dunkeln Wimpern beschattet sich zur Farbe des Veilchens vertiefte – in der Festigkeit der Lippe, die von dem Ringen mit Schwierigkeiten zeugte, lag eine eigentümliche Schönheit, allein nicht mehr die Schönheit des einfachen Landmanns. Und doch trug das ganze Antlitz noch immer jenen Ausdruck von Güte und Reinheit, welchen ein Maler gern seinem Ideal von einem ländlichen Liebhaber verleiht – etwa wie ihn sich Tasso in dem Aminta Siehe Anm. 37. – »Aminta« ist ein Hirtenspiel von Torquato Tasso in fünf Akten; Uraufführung 1573, Buchausgabe 1580. gedacht haben mochte, oder wie ihn Fletcher an die Seite der treuen Schäferin Mit dem Schauspiel »The Faithful Shepherdess« (Uraufführung vermutlich 1608, Buchausgabe im folgenden Jahr) begründete John Fletcher (1579–1625) seine Karriere als Schriftsteller. gestellt haben würde.

»Du mußt dir einen Stuhl holen und dich zu uns setzen, Leonard,« sagte der Pfarrer.

»Wenn Jemand ein Recht zu sitzen hat,« bemerkte Riccabocca, »so ist es Derjenige, welcher eine Predigt anhören soll, während die Pflicht des Stehens Demjenigen zukommt, der die Predigt halten will.«

»Du brauchst nicht zu erschrecken, Leonard; es handelt sich nur um eine Kritik, nicht um eine Predigt,« sagte der Pfarrer freundlich, indem er Leonard's Preisschrift aus der Tasche zog.


Neunzehntes Kapitel.

Pfarrer. – »Du hast zu deinem Motto den Aphorismus gewählt: › Wissen ist Macht.Bacon« Dieser Aphorismus wurde Lord Bacon wahrscheinlich auf die bloße Autorität des Registers seiner Werke zugeschrieben. Er gehört also dem Registermacher an, keineswegs aber dem großen Meister der inductiven Philosophie. Allerdings hat sich Bacon mehrfach über die Macht des Wissens verbreitet, jedoch mit einer solchen Menge von Erläuterungen und Unterscheidungen, daß man ihm kein größeres Unrecht zufügen kann, als in einem einzigen Satz zusammendrängen zu wollen, was zu erklären ihn einen ganzen Band gekostet hat. Wenn er zum Beispiel auf einer Seite Wissen mit Macht gleichbedeutend zu nehmen scheint, so stellt er sie auf einer andern in schroffster Weise einander gegenüber, wie in folgenden Worten: »Adeo, signanter Deus opera potentiae et sapientiae discriminavit.« Allein es wäre ebenso ungerecht gegen Bacon, wollte man den Satz, der zwischen Wissen und Macht unterscheidet, als einen Aphorismus aufstellen, als es ungerecht ist, wenn man dies mit den Sätzen thut, welche Wissen und Macht mit einander vermengen. [ Anm.d.Verf. – Das lateinische Zitat stammt aus Bacons Werk »De Augmentis Scientarum«, Buch I, Kapitel 6; die Übersetzung lautet: »ein solches Zeichen des Unterschiedes beliebte Gott, den Werken der Macht und den Werken der Weisheit aufzuerlegen« (»such a note of difference it pleased God to put upon the works of power and the works of wisdom«).]

Riccabocca. – »Von Bacon sollte dieser Aphorismus sein? Er wäre der letzte Mann in der Welt gewesen, eine so dreiste und seichte Behauptung aufzustellen.«

»Wollen Sie damit sagen, Sir, daß dieser Aphorismus nicht von Lord Bacon herrühre? Ich habe ihn doch fast in allen Zeitungen und Reden, welche die Volkserziehung befürworten, als von ihm sich herschreibend angeführt gefunden.«

Riccabocca. – »So laß dir dies zur Warnung dienen, daß du nicht wieder in den Fehler verfallest, ein Citat aus zweiter Hand zu gebrauchen. Lord Bacon hat ein dickes Buch geschrieben, um zu zeigen, inwiefern Wissen Macht sei, wie diese Macht abgegrenzt werden müsse, und worin dieselbe fehlgreifen könne. Und glaubst du wohl, ein so kluger Mann würde sich die Mühe gegeben haben, ein so großes Buch über diesen Gegenstand zu schreiben, wenn er alles, was er darüber zu sagen hatte, in das Westentaschen-Dogma ›Wissen ist Macht‹ hätte zwängen können? Pah! In allen Schriften Bacon's von der ersten bis zur letzten Seite findet sich kein solcher Aphorismus.«

Pfarrer (aufrichtig). – »Ich muß gestehen, daß auch ich glaubte, er rühre von Lord Bacon her; aber es freut mich, zu hören, daß er der Weihe seiner Autorität entbehrt.«

Leonard (sich von seiner Ueberraschung erholend). – »Aber warum dies?«

Pfarrer. – »Weil dieser Aphorismus entweder viel zu viel oder – gar nichts sagt.«

Leonard. – »Der Satz scheint mir wenigstens unbestreitbar, Sir.«

Pfarrer. – »Nun wohl, angenommen, er sei unbestreitbar – was beweist er alsdann zu Gunsten des Wissens? Ist nicht die Unwissenheit auch eine Macht?«

Riccabocca. – »Und noch dazu eine Macht, die meistens den dicksten Stab in Händen hat.«

Pfarrer. – »Jedes Uebel ist eine Macht und wird es durch seine Macht im geringsten besser?«

Riccabocca. – »Der Fanatismus ist eine Macht – und zwar eine Macht, die oft schon mit Sturmesgewalt das Wissen weggefegt hat. Der Muselmann verbrennt die Bibliothek einer Welt und nöthigt mit dem Schwerte den Schulen den Koran auf von Byzanz bis nach Hindostan.«

Pfarrer (mit einer neuen illustrirenden Kolonne anrückend). – »Der Hunger ist eine Macht. Die Barbaren, durch ihre eigene unstete Bevölkerung dem Hunger preisgegeben, verlieren all' ihre frühere Energie, überschwemmen Italien und vernichten die Wissenschaften. Wie entartet die Römer auch sein mochten, so besaßen sie doch wenigstens mehr Wissen als die Gallier und Westgothen.«

Riccabocca (die Nachhut in's Treffen führend). – »Und selbst in Griechenland, als die Griechen einander gegenseitig befehdeten, wurden die Athener – unsere Lehrmeister in allen Wissenschaften – von den Spartanern geschlagen, welche die Gelehrsamkeit verachteten.«

Pfarrer. – »Du siehst hieraus, Leonard, daß, wenn auch das Wissen Macht ist, es doch nur eine Macht ist, wie manche andere in der Welt; daß es ebenso starke, ja noch viel stärkere gibt, und daß dieser Satz entweder nur eine einfache Binsenwahrheit enthält, die nicht werth ist, so oft wiederholt zu werden, oder daß er etwas sagen will, das sich sehr schwer beweisen läßt.«

Leonard. – »Eine Nation kann von einer andern geschlagen werden, welche mehr physische Kraft und militärische Zucht besitzt; aber diese letztere ist, wenn ich so sagen darf, Sir, auch eine Art Wissen –«

Riccabocca. – »Ja; aber die Gelehrten unserer Zeit (oder die es wenigstens sein wollen) fordern uns auf, die militärische Zucht und alle Eigenschaften, welche dieselbe befördern, aus der Liste der nützlichen Künste zu streichen. Ja, in deiner Abhandlung stellst du selbst das Wissen dar als eine Macht, welche die Armeen auflöst und aller militärischen Zucht feindlich gegenübersteht.«

Pfarrer. – »Lassen Sie den jungen Mann fortfahren! Du sagst, Nationen können von andern, die weniger unterrichtet und gebildet sind, geschlagen werden.«

Leonard. – »Aber das Wissen erhebt eine Klasse. Ich fordere die Glieder meines eigenen niedrigen Standes auf, nach Wissen zu streben, weil dieses ihnen zur Macht verhelfen wird.«

Riccabocca. – »Was sagen Sie dazu, Mr. Dale?«

Pfarrer. – »Erstlich fragt es sich, ob die Klasse, welche das meiste Wissen besitzt, auch immer die größte Macht hat? Ich glaube, Philosophen, wie mein Freund, Doctor Riccabocca, sind der Meinung, daß bei ihnen das Wissen vorzugsweise zu finden sei. Allein, in welchem Zeitalter haben die Philosophen die Welt beherrscht? Murren sie nicht im Gegentheil beständig darüber, daß man sie nicht beachtet?«

» Per Bacco,«‹ rief Riccabocca, »wenn man auf uns geachtet hätte, so müßte es jetzt ziemlich possierlich in der Welt aussehen!«

Pfarrer. – »Wohl möglich. Allein als allgemeine Regel kann man sagen, daß Diejenigen das meiste Wissen besitzen, die sich vorzüglich darum bemühen. Lassen wir die Philosophen (die oft nur geistreiche Narren sind) aus dem Spiele, und richten wir unser Augenmerk blos auf Gelehrte vom Fach, Schriftsteller, Professoren, Hofmeister und Collegiaten. Ich denke, das erste, beste Parlamentsmitglied würde uns sagen, daß keine Klasse von Menschen weniger Einfluß auf die öffentlichen Angelegenheiten habe als die genannten. Sie besitzen allerdings mehr Kenntnisse als Fabrikanten, Rheder, Gutsherrn und Pächter, aber findest du, daß sie auf die Regierung oder die Parlamentswahlen mehr Einfluß haben als diese?«

»Wenigstens sollte dies der Fall sein,« entgegnen Leonard.

»Sollte es?« wiederholte der Pfarrer. »Wir wollen später hierauf zurückkommen. Inzwischen darfst du deinem eigenen Satze, ›Wissen ist Macht‹ (nicht sollte Macht sein), nicht ausweichen. Jedoch selbst, wenn wir deine Folgerung, daß die Macht einer Klasse im Verhältniß zu ihren Kenntnissen stehe, annehmen – glaubst du denn, daß, während dein Stand sich bemüht, Kenntnisse zu sammeln, alle übrigen Angehörigen des Gemeinverbandes in ihrer Ausbildung stille stehen werden? Wirke, so viel du kannst, zur Verbreitung der Kenntnisse – du wirst dennoch niemals Gleichheit des Wissens herbeiführen. Diejenigen, welche am meisten Zeit, Fleiß und Gaben zum Lernen haben, werden es am weitesten darin bringen. Ja, es liegt in der Natur der Sache, daß, je allgemeiner der Geschmack für Kenntnisse sich verbreitet, desto mehr auch die zunehmende Concurrenz Diejenigen begünstigt, welche durch Umstände und Anlagen befähigt sind, sich auszuzeichnen. In unsern Tagen ist in der menschlichen Gesellschaft weit mehr Wissen verbreitet als in den Zeiten des Mittelalters. Besteht aber nicht ein noch größerer Abstand zwischen dem hochgebildeten Edelmann und dem intelligenten Handwerker, als ehemals zwischen dem unwissenden Baron, der nicht einmal seinen Namen schreiben konnte, und dem Bauern, der hinter dem Pfluge einher ging? – zwischen dem vollendeten, in allen Zweigen der Geschichte wohlbewanderten Staatsmanne und dem Wähler, dessen politische Ansichten aus seiner Zeitung geschöpft sind, als seiner Zeit zwischen dem Gesetzgeber, der die Hexenprozesse einführte, und dem Bürger, welcher seine Gilde gegen die Angriffe des Adels verteidigte? – oder endlich zwischen dem aufgeklärten Mann der Wissenschaft und dem Einfaltspinsel von heute, als zwischen dem klösterlichen Alchymisten und dem Dummkopf von ehedem? Die Handwerker, Wähler und Einfaltspinsel unserer Zeit sind freilich klüger als der Bauer, Bürger und Dummkopf des zwölften Jahrhunderts. Aber die Edelleute, Staatsmänner und Gelehrten des heutigen Tages bilden zum wenigsten einen ebenso günstigen Gegensatz zu den Alchymisten, Hexenverbrennern und Baronen des Mittelalters. So wird die Aufklärung immer in gleichem Verhältniß fortschreiten. Das Wissen gleicht dem Kapital; je mehr sich davon in einem Lande befindet, desto ungleicher ist es unter die Menschen vertheilt. Wenn daher die arbeitenden Klassen an Kenntnissen sich bereichern, so werden die andern nicht zurückbleiben; und wenn die ersteren auf friedlichem und gesetzlichem Wege zur Macht gelangen, so ist eine solche Machterweiterung nicht nur im Verhältniß zu ihrer eigenen Bildung gerecht, sicher und weise, sondern auch im Verhältniß zu der Bildung der übrigen Klassen der Gesellschaft.«

Leonard, der sich zwischen den Pfarrer und den Philosophen in die Mitte genommen sah, fühlte wohl, daß seine Lage der Entfaltung seiner Streitkräfte nicht sehr günstig war, und rückte deßhalb unwillkürlich seinen Stuhl etwas zur Seite, indem er traurig sagte:

»Ihrer Ansicht nach wäre also die Herrschaft des Wissens nicht besonders förderlich für die Freiheit und Wohlfahrt der Menschen?«

Pfarrer. – »Laß uns die Sache bestimmter erklären. Verstehst du unter Wissen die geistige Ausbildung? und unter der Herrschaft des Wissens die Herrschaft der gebildeten Geister?«

Leonard (nach einer Pause). – »Ja.«

Riccabocca. – »O unbesonnener junger Mann, das ist ein unglückliches Zugeständniß; denn die Herrschaft der gebildetsten Geister wäre eine schreckliche Oligarchie!«

Pfarrer. – »Vollkommen wahr! Und nun antworten wir auf deinen Ausruf, daß Männer, welche von Berufswegen am meisten Wissen besitzen, mehr Einfluß haben sollten, als Gutsbesitzer und Kaufleute, Pächter und Handwerker. Bedenke wohl, daß alles Wissen, das wir Sterbliche erwerben können, kein positives und vollkommenes, sondern nur ein verhältnißmäßiges, allen menschlichen Irrthümern und Leidenschaften ausgesetztes Wissen ist. Angenommen nun, du könntest zu den einzigen Leitern der öffentlichen Angelegenheiten Diejenigen einsetzen, welche die meiste Geistesbildung besitzen, meinst du wohl, sie würden sich in dieser Macht nicht viel zu sehr gefallen, um nicht alle Mittel ihrer geistigen Ueberlegenheit aufzubieten, dieselbe für sich allein zu behalten? Dieser Versuch wurde vor Alters von den egyptischen Priestern gemacht; und noch heutzutage wählt man in China die Aristokratie aus der Zahl Derjenigen, die sich in den gelehrten Schulen am meisten ausgezeichnet haben. Wenn ich mich aber als ein Mitglied der großen Körperschaft, welche man ›Volk‹ nennt, betrachten darf, so will ich doch lieber ein Engländer sein und mich über die Trägheit der Minister und die Mißgriffe der Parlamente ärgern, als ein Chinese unter dem Regiment der auserlesensten Weisen des himmlischen Reiches. Mein lieber Leonard, zum Glück werden Nationen noch von vielen andern Dingen, außer dem sogenannten Wissen gelenkt, und die größten praktischen Minister, die, wie Themistokles Athenischer Staatsmann und Feldherr (um 525-459 v.u.Z.) während der Bedrohung Griechenlands durch die Perser (Perserkriege); Sieger der Seeschlacht von Salamis (480), Wegbereiter der attischen Demokratie. kleine Staaten groß gemacht haben, und die herrschsüchtigsten Stämme, die wie die Römer von einem Dorfe aus ihren Scepter über den halben Erdball verbreiteten, haben sich durch verschiedene Eigenschaften ausgezeichnet, über die ein Philosoph spotten, und die ein Weisheitskrämer als ›traurige Vorurtheile‹ und ›beklagenswerte Verirrungen der Vernunft‹ bezeichnen würde.«

Leonard (bitter). – »Sir, Sie benützen das Wissen selbst als Waffe gegen das Wissen.«

Pfarrer. – »Ich benütze meine geringen Kenntnisse, um die Thorheit der Abgötterei zu beweisen. Nicht gegen das Wissen selbst kämpfe ich, sondern gegen die Anbetung desselben. Denn ich sehe aus deiner Abhandlung hier, daß du das menschliche Wissen nicht allein zu einer Art göttlichen Allmacht erheben, sondern es auf gleiche Stufe mit der Tugend stellen willst. Deiner Ansicht nach brauchte man nur die Kenntnisse einiger Wenigen unter der großen Mehrzahl zu verbreiten, um das Ziel zu erreichen, dem wir Prediger nachstreben. Ja, noch mehr. Während wir armen Prediger nie uns erdreisteten, gleich den heidnischen Stoikern zu behaupten, die Tugend müsse hienieden schon sicher zum Glücke führen (obgleich sie der beste Weg dazu ist), so sprichst du es ganz offen aus, dein Wissen verleihe nicht nur die Tugend eines Heiligen, sondern auch die Seligkeit eines Gottes. Vor den Fußstapfen deines Götzen verschwinden die Uebel des Lebens. Deiner Aussage nach brauchte man nur ›zu wissen,‹ um aller Sünden und Kümmernisse der Unwissenden überhoben zu sein. Ist dies aber jemals so gewesen? Angenommen, du verbreitest alle Kenntnisse, welche je von den Wenigen erreicht wurden, unter die Menge – ist die kleine Zahl der Weisen wirklich immer frei von Irrthum geblieben und glücklich gewesen? Du glaubtest dein Motto Lord Bacon entnommen zu haben. Was war aber Bacon selbst? Der Dichter sagt es dir:

›Der Menschen glänzendster,
voll Weisheit, voll Gemeinheit!‹ Alexander Pope bezieht sich mit diesen Versen in Epistel IV, V. 281f., seines »Essay on Man« auf Sir Francis Bacon.

Darfst du dir schmeicheln, der großen Masse deiner Standesgenossen den glänzenden Verstand dieses ›Lord-Kanzlers der Natur‹ mitzutheilen? Und wenn auch – welche Bürgschaft wäre dies für die Tugend und das Glück, welche du für die steten Begleiter dieser Gabe hältst? Betrachte Bacon selbst – welch' schwarzer Undank – welch' erbärmliche Selbstsucht – welch' elende Kriecherei – welch' verächtlicher, jämmerlicher Geist! Weit entfernt also, Tugend und Glück in seinem sichern Gefolge zu haben, findet sich das menschliche Wissen selbst in seiner höchsten Ausbildung nicht selten mit großer sittlicher Verderbniß gepaart.« (Bei Seite zu Riccabocca: »Wollen Sie nicht jetzt fortfahren?«)

Riccabocca. – »Man kann diese Erscheinung sowohl an Zeitaltern, wie an Individuen beobachten. Petronius enthüllt uns inmitten einer Gesellschaft, welche sicherlich auf einem höhern Grade intellectueller Bildung stand, als diejenige, aus der ein Romulus oder die Horatier Titus Petronius Arbiter (um 14-66), römischer Senator und der Autor des satirischen Romans Satyricon. – Romulus ist einer der beiden sagenhaften Gründer Roms. – Die Horatier sind eine der ältesten Familien des Römischen Reichs, die jedoch bereits im 5. Jh. v.u.Z. ausstarb. hervorgingen, einen Zustand moralischer Versunkenheit, über den ein ganz gewöhnlicher Teufel erröthen würde. Und in dem modernen Italien waren es gerade die Epochen der größten Gelehrsamkeit, in welchen die Laster den gräßlichsten Höhepunkt erreichten.«

Leonard (sich erhebend und die Hände zusammenschlagend). – »Ich kann nicht mit Ihnen streiten, da Sie gegen mein geringes und rohes Wissen einen Schatz von Kenntnissen entfalten, der mir bisher verschlossen war. Allein ich fühle dennoch, daß dieser Schild noch eine andere Seite haben muß, obwohl Sie seinen Werth so sehr heruntersetzen. Ach, wenn Sie so von dem Wissen reden, warum haben Sie mich alsdann ermuntert, Kenntnisse zu sammeln?«


Zwanzigstes Kapitel.

» O mein Sohn!« sagte der Pfarrer, »glaubst du, ich würde meinen Zweck erreichen, wenn ich, um den Werth der Religion zu beweisen, den Satz zum Motto wählte – ›Religion ist Macht‹? Wäre dies nicht eine niedrige und gemeine Auffassung ihrer Vorzüge? und würdest du nicht Denjenigen, der die Religion als eine Macht ansieht, im Verdachte haben, als hege er die Absicht, sie im Geiste des Pfaffenthums auszubeuten?«

»Wohl gesprochen!« bemerkte Riccabocca.

»Einen Augenblick nur lassen Sie mich nachdenken! Ja, ja – ich sehe, Sir!« sagte Leonard.

Pfarrer. – »Eine heilige Sache darf nicht in der gemeinen Wagschale des Marktes gewogen werden; wenn ihr Endzweck ein friedlicher ist, so bedarf sie nicht der Waffen des Kampfes; wenn die Bande der Gesellschaft fester: durch sie verknüpft werden sollen, so muß man sie nicht als den Triumph einer Klasse über die andere rühmen.«

Leonard (freimüthig). »Sie haben mich edel zurecht gewiesen, Sir. Wissen ist Macht – aber nicht in dem Sinne, in welchem ich den Satz ausgelegt habe.«

Pfarrer. – »Ja, das Wissen ist eine der mancherlei Gewalten in der moralischen Welt – aber eine von denen, welche in ihren unmittelbaren Folgen dem Besitzer nicht immer die größten weltlichen Vortheile sichert. Seine Wirksamkeit ist sehr langsam, dafür aber um so nachhaltiger. Es kann tausend Jahre anstehen, bevor ein Gedanke zur Macht wird, und der Denker, von dem er ursprünglich ausgegangen, kann in Lumpen oder Fesseln gestorben sein.«

Riccabocca. – »Ein italienisches Sprüchwort sagt: ›Der Lehrer gleicht der Kerze, welche andern leuchtet, während sie sich selbst verzehrt.‹«

Pfarrer. – »Wen daher der wahre Ehrgeiz des Wissens beseelt, der sollte nur die Macht seiner Idee, nicht aber die Macht, welche sie seiner Person verleihen könnte, im Auge haben. Sie muß in dem Bewußtsein liegen und darf gleich diesem keinen sichern Lohn diesseits des Grabes erwarten. Und weil das Wissen sich ebenso wohl mit dem Bösen, wie mit dem Guten verträgt, wäre es nicht besser, wenn man sagte: ›Wissen ist ein anvertrautes Gut?‹«

»Sie haben Recht,« versetzte Leonard erfreut; »ich bitte, fahren Sie fort!«

Pfarrer. – »Du fragst, warum wir dich ermuntert haben, dir Kenntnisse zu sammeln? Erstlich, weil (wie du selbst in deiner Abhandlung sagst) das Wissen, abgesehen vom Gewinn, an sich ein Genuß ist, und noch etwas weit Höheres sein sollte. Freilich kann es, gleich der Freiheit und Religion, mißbraucht werden; allein ich habe ebenso wenig das Recht, dem Armen das Wissen abzusprechen, als ich ein Recht habe, zu sagen, nur der Reiche solle frei und blos die Geistlichkeit befugt sein, die Wahrheit des Evangeliums kennen zu lernen. Du hast in deiner Abhandlung ganz richtig bemerkt, das Wissen erschließe uns weit höhere Genüsse, als die Sinnengenüsse, und ein anderes Leben als das Leben des Augenblicks. Unsere Ansichten unterscheiden sich nur darin, daß du vergissest, wie diese Bildung, welche uns neue Freuden eröffnet, auch neuen Leiden uns aussetzt. Die harte Hand des Landmannes fühlt nicht den Stich der Brennnessel, welche der feinen Haut des Gelehrten große Schmerzen verursacht. Auch hast du vergessen, daß das, was den Kreis unserer Wünsche erweitert, auch neue Versuchungen herbeiführt. Eitelkeit, Ruhmsucht, Stolz, Selbstüberhebung, nagender Mißmuth, wenn die Ueberlegenheit keine Anerkennung findet, krankhafte Reizbarkeit, die alle neuen Gefühle zu begleiten pflegt, die Geringschätzung einfacher Freuden, sobald sie nicht auch einen geistigen Genuß bieten, das Jagen der oft unmäßig gesteigerten Phantasie nach Dingen, die hienieden unerreichbar sind – alle diese Momente gehören sicher zu den ersten Versuchungen, welche den Zugang zu dem Wissen belagern.«

Leonard bedeckte sein Gesicht mit der Hand.

»Darum,« fuhr der Pfarrer wohlwollend fort, »weit entfernt, zu glauben, daß wir schon alles Nöthige gethan haben, um uns als Menschen zu vervollkommnen, wenn wir nur den Verstand ausbilden, sollten wir nie vergessen, daß wir dadurch fortwährend den Kreis unserer Wünsche und damit auch den unserer Versuchungen erweitern. Deßhalb müssen wir uns zu gleicher Zeit bestreben, auch jene Gefühle des Herzens zu pflegen, durch welche der Unwissende so gut als der Gelehrte sich als ein Kind Gottes erweist, und die sittlichen. Eigenschaften zu entwickeln, wodurch die Menschen groß und gut wurden, als man kaum etwas vom Lesen und Schreiben wußte – nämlich Geduld und Standhaftigkeit unter Armuth und Leiden, Demuth und Wohlthätigkeit in Reichthum und Größe, und als Gegengewicht jener Selbstsucht, welche jede Ueberlegenheit, mag sie nun geistiger oder weltlicher Art sein, einzuflößen geeignet ist, die Gerechtigkeit, von der alle gediegeneren Tugenden stammen, gemildert durch die christliche Liebe, welche ich deren Mutter nennen möchte. In solchem Geleite wird das Wissen in der That zu einer herrlichen Krone der Menschheit – nicht zum herrschsüchtigen Despoten, sondern zum edeln und weisen Lenker der Seele.«

Hier hielt der Pfarrer inne, Leonard näherte sich ihm und faßte schüchtern, aber mit der dankbaren Innigkeit eines Kindes seine Hand.

Riccabocca. – »Und wenn dich die vortrefflichen Erklärungen unseres Pfarrers noch nicht befriedigt haben, Leonard, so brauchst du nur zu lesen, was Lord Bacon selbst über den wahren Zweck des Wissens gesagt hat, um zu begreifen, wie ungehalten der arme große Mann, den Mr. Dale so hart behandelt, auf Diejenigen sein mußte, welche seine mit so viel Fleiß ausgearbeiteten Unterscheidungen und vorsorglichen Warnungen in jenen läppischen kleinen Aphorismus zusammendrängten und dadurch allem, was er über die Notwendigkeit und die Macht des Wissens zu beweisen beabsichtigte, eine falsche Deutung gaben. Denn –« fuhr der Philosoph fort und blickte dabei mit der Miene eines Mannes, der sein Gedächtniß anstrengt, in die Höhe – »wenn ich mich recht erinnere, so spricht Lord Bacon zuerst davon, daß es der größte Irrthum sei, den Zweck des Wissens zu verkennen Oder ihm eine falsche Stellung anzuweisen, und sagt hierauf, nachdem er die verschiedenen Gründe, aus welchen es gemeiniglich gesucht wird, aufgezählt hat – ›das Wissen ist kein Laden für den Gewinn oder Verkauf, sondern ein reiches Vorrathsmagazin zur Ehre des Schöpfers und zum Wohle der Menschheit.‹ Doch der größte aller Irrthümer ist es, wenn man den Endzweck des Wissens falsch auffaßt oder ihm eine unrichtige Stellung anweist. Denn die Menschen fühlen aus verschiedenen Gründen ein Verlangen nach Gelehrsamkeit und Wissen; das einemal aus natürlicher Neugierde und angebornem Forschungstrieb, das anderemal, weil sie ihren Geist auf eine angenehme und mannigfaltige Weise beschäftigen möchten; bisweilen ist der Wunsch, sich auszuzeichnen und zu glänzen, die Triebfeder dazu und nicht selten soll die Gelehrsamkeit beim Wettstreit des Witzes den Sieg verleihen – meistens aber gibt man sich von Berufswegen und um des Gewinnes willen damit ab.« (Diesen Punkt haben Diejenigen hauptsächlich im Auge, welche das Motto »Wissen ist Macht« beständig im Munde zu führen pflegen.) »Nur selten sucht man die Gaben der Vernunft treulich und aufrichtig zu Nutz und Frommen der Menschheit anzuwenden. Vielmehr sollte man oft meinen, das Wissen sei ein Ruhebett für einen rastlosen, formenden Geist, oder eine Terrasse mit angenehmer Aussicht zum Ergehen für einen veränderlichen Sinn, oder ein Thurm, auf den ein stolzes Gemüth emporsteigen, oder eine Veste, worin es sich vertheidigen könnte, oder ein Laden zum Verkauf und Gewinn – aber nicht ein reiches Vorrathsmagazin zum Ruhme des Schöpfers und zum Wohle der Menschheit.« – Fortschritt der Gelehrsamkeit. (Buch l.) [ Anm.d.Verf. – In Winterfelds Übersetzung ist nur der erste Satz dieser Passage als Anmerkung gesetzt, der Rest in die wörtliche Rede Riccaboccas übernommen. Da dies offenbar ein Fehler des Setzers ist, wurde die originale Anordnung wiederhergestellt. – Bei »Fortschritt der Gelehrsamkeit« handelt es sich um das in Anm. 243 genannte Werk Bacons.]«

Pfarrer (reumüthig). – »Sind dies wirklich Lord Bacon's Worte? Dann thut es mir in der That herzlich leid, daß ich so hart über sein Leben geurtheilt habe. Ich muß doch neue Nachforschungen darüber anstellen. Vielleicht finde ich jetzt Gründe zu seiner Entschuldigung, die ich früher übersah, als ich mein Urtheil über ihn bildete. Ich war damals noch ein ungestümer Oxforder Student. Doch du hast noch etwas auf dem Herzen, Leonard – ich sehe es dir an.«

Leonard. – »Sie haben Recht, Sir. Ich wollte fragen, ob wir nicht gerade durch das Wissen zu den Vorzügen und Tugenden gelangen, welche Sie so schön zu schildern verstehen, die Sie aber aus andern, dem Wissen völlig fremden Kanälen abzuleiten scheinen?«

Pfarrer. – »Wenn du unter dem Worte ›Wissen‹ etwas ganz Anderes verstehst, als das, was du in deiner Abhandlung dafür ausgibst, und was Diejenigen darunter begreifen, die für geistige Ausbildung ohne Rücksicht auf Religion und Moral kämpfen – dann hast du ganz Recht; aber bedenke wohl, daß wir übereingekommen sind, unter dem Worte ›Wissen‹ rein geistige Bildung zu verstehen.«

Leonard. – »Ganz richtig.«

Pfarrer. – »Wenn also der große Lord Bacon irrte, so könnte man sagen, er habe aus Mangel an Wissen geirrt, nämlich aus Mangel an jenem Wissen, das man von Moralisten und Predigern lernen kann. Allein Lord Bacon hatte alles gelesen, was Moralisten und Prediger über diesen Gegenstand gesagt hatten, und er irrte sicher nicht aus Mangel an intellectueller Bildung. Bedenke, mein Kind, daß Der, welcher das menschliche Herz und seine ewige Bestimmung am besten kannte, die intellectuelle Bildung nicht zu einem unumgänglichen Erforderniß für die Tugenden machte, die unser irdisches Wohl und unser ewiges Heil begründen. Wäre geistige Bildung nothwendig, so würde der Allweise nicht arme, unwissende Fischer zu Verkündigung seiner Lehre ausgesandt, sondern unter dem römischen Portikus oder auf der Athenischen Academie seine Jünger gesammelt haben. Und diese Thatsache, welche das Evangelium so auffallend von der Ethik heidnischer Philosophie unterscheidet, die das Wissen als eine notwendige Bedingung der Tugend darstellt, beweist, wie wenig die heidnischen Weisen im Vergleich mit unserm Heiland die menschliche Natur kannten; denn stünde es nicht schlimm um uns Alle, Hohe wie Niedere und Reiche wie Arme, wenn Wissen und Gelehrsamkeit oder eine beschauliche Philosophie der einzige Weg zu Frieden und Erlösung wären, da hier unten in diesem Prüfungsstande, welcher rüstige Thätigkeit erheischt, stets nur eine sehr kleine Zahl sich rein geistigen Interessen widmen kann? Christus stellt uns den Himmel nicht als ein Collegium für Gelehrte dar; deßhalb hat auch der himmlische Gesetzgeber seine Regeln für die Einfältigen so klar gemacht, wie für die tiefsten Denker.«

Riccabocca. – »Und was ein Plato und Zeno, ein Pythagoras und Socrates nicht vermochten, das haben einfache Männer vollbracht, deren Unwissenheit in den Schulen der Griechen ein Gegenstand des Spottes gewesen wäre. Sie haben die Götter des großen Haufens vom Throne gestürzt und die Gestalt der Welt verwandelt. Dieser Gedanke mag uns wohl das Geständniß abnöthigen, daß es noch mächtigere Hebel gibt, als das bloße Wissen, und zu der Frage veranlassen, welche Aufgabe eigentlich das Wissen zu erfüllen habe?«

Pfarrer. – »Die heilige Schrift gibt uns auch hierüber Aufschluß; denn nachdem sie die Wahrheit festgestellt hat, daß Gelehrsamkeit zum Glück und Heil der Menschen nicht notwendig sei, zeigt sie den erhabenen Antheil, den das Wissen an der Darlegung und Verkündigung des geoffenbarten Wortes hat. Als zur Ausführung der göttlichen Absichten ein Werkzeug von ungewöhnlicher Intelligenz erforderlich war – als das von einfältigen Fischern gepredigte Evangelium von einem scharfsinnigen Denker erklärt, durch einen energischen Willen eingeschärft und den zweifelnden Heiden mitgetheilt werden sollte, gesellte der allerhöchste Wille zu dem Eifer der ersten Apostel die Gelehrsamkeit und den Geist eines Paulus – der nicht heiliger war, als die Andern – der sich den Geringsten unter ihnen nannte, obgleich er mehr gearbeitet, als sie Alle, und sich bestrebt hatte, Allen Alles zu sein, um ihrer Etliche zu gewinnen. Der Unwissende kann aber so sicher gerettet werden, wie der Weise; hier aber hilft der Weise selbst am großen Rettungswerke. Und wie wird dasselbe durch den kühnen Muth und die unbesiegbare Energie dieses Mannes gefördert! ›Oft auf Reisen, in Gefahr zu Wasser, in Gefahr unter den Mördern, in Gefahr unter den Juden, in Gefahr unter den Heiden, in Gefahr in den Städten, in Gefahr in der Wüste, in Gefahr auf dem Meere, in Gefahr unter den falschen Brüdern.‹ Sieh, mein Sohn, bezeichnet hier nicht der Höchste selbst das wahre Urbild des Wissens – eine unermüdliche Thätigkeit, rastloses Handeln, unbesiegbare Willenskraft, ein alles überwindender Glaube? Eine Macht in der That – ohne eine Spur von Selbsterhebung – eine Macht, welche Demjenigen, der sie besitzt und mittheilt, nichts bringt, als ›Mühe und Arbeit, in viel Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost und Blößen‹ – aber eine von äußeren Umständen gänzlich unabhängige Macht, die von ihm ausströmt, wie die Strahlen von der Sonne – getragen durch die Luft und sie in Licht kleidend – in die Erde dringend und eine reiche Ernte hervorrufend! Bete nicht das Wissen – bete nicht die Sonne an, o mein Kind! Laß die Sonne ihren Schöpfer verkündigen und das Wissen den Dienst des Herrn verherrlichen!«

Der gute Mann schwieg, überwältigt von dem eigenen tiefen Ernste; sein Haupt sank auf die Brust des jungen Studenten, und die Stille in dem kleinen Gemache ward lange Zeit nicht unterbrochen.


Einundzwanzigstes Kapitel.

Was auch der Witz der Aufgeklärten an Mr. Dale's Abhandlung Lächerliches finden mag, so brachte sie jedenfalls einen bedeutenden und, wie ich glaube, wohltätigen Eindruck auf Leonard Fairfield hervor, was den Leser vielleicht weniger überraschen wird, wenn er sich erinnert, daß Leonard nicht an's Disputiren gewohnt war und noch viele Vorurtheile seiner ländlichen Erziehung beibehalten hatte. Ja, er hielt es sogar für möglich, daß Doctor Riccabocca und Mr. Dale, welche Beide noch einmal so alt waren, als er, und gewiß nicht nur doppelt so viele Bücher gelesen, sondern auch Gelegenheit gehabt hatten, in weiteren Lebenskreisen sich Erfahrungen zu sammeln – er hielt es für möglich, sage ich, daß dieselben eine richtigere Ansicht von den Eigenschaften und Unterschieden des Wissens haben könnten, als er. Jedenfalls kamen die Worte des Pfarrers zur rechten Zeit, um Leonard in die Gemüthsstimmung zu versetzen, welche Mr. Dale hervorzubringen gewünscht hatte, bevor er ihm die aufregende Kunde mittheilte, daß er Verwandte besuchen solle, die er noch gar nicht kannte, und von denen er nur wenig gehört, und daß er möglicher Weise von ihnen die Mittel zu seiner weitern Ausbildung und zu Erreichung einer höhern Stufe in der Gesellschaft erhalten werde.

Ohne eine solche Vorbereitung würde Leonard, fürchte ich, mit sehr übertriebenen Begriffen von seinen Fähigkeiten und mit noch viel überspannteren Erwartungen von der Macht, welche sein Wissen ihm verschaffen müsse, in die Welt hinausgezogen sein. So aber nahm er, als Mr. Dale ihm die Kunde von seiner bevorstehenden Probereise mittheilte, und ihn zugleich warnte, sich nicht allzu kühnen Hoffnungen hinzugeben, diese Nachricht mit ernster Demuth und in einer edeln, feierlichen Stimmung auf.

Als die Thüre sich hinter seinen Besuchern geschlossen hatte, blieb der Jüngling einige Zeit unbeweglich in tiefes Nachsinnen versunken; dann öffnete er dieselbe wieder und schlich leise in's Freie hinaus. Die Nacht war schon weit vorgerückt, und das ganze Heer der Sterue funkelte am Himmel.

»Ich glaube,« sagte Leonard, als er in spätern Jahren von diesem Wendepunkt seines Geschickes redete – »ich glaube, damals war es, als ich so einsam dastand und mich von zahllosen Welten umringt sah, daß ich zum ersten Mal den Unterschied zwischen Geist und Seele begriff.«

»Meinen Sie wohl,« sagte Riccabocca, ehe er sich von Mr. Dale verabschiedete, »wir würden Frank Hazeldean bei seinem Eintritt in's Leben dieselbe Vorlesung über die Grenzen und den Endzweck des Wissens gehalten haben, welche uns bei Leonard Fairfield angebracht schien?«

»Mein Freund,« erwiderte der Pfarrer nicht ohne einen Anflug menschlicher Eitelkeit, »ich habe schon verschiedene Pferde geritten und weiß, daß die einen durch den Zügel geleitet, andere durch die Sporen angetrieben werden müssen.«

» Cospetto!« rief Riccabocca; »Sie wissen doch aus jeder Erfahrung Nutzen zu ziehen, sogar aus Ihrer Reise auf Mr. Hazeldean's Stute. Und nun begreife ich auch, wie es Ihnen möglich wurde, in der kleinen Welt dieses Dorfes das Leben im Allgemeinen so gut kennen zu lernen.«

»Haben Sie White's Naturgeschichte von Selborne The Natural History and Antiquities of Selborne, or just The Natural History of Selborne des englischen Naturforschers und Ornithologen Gilbert White erschien zuerst 1789. gelesen?«

»Nein«

»Thun Sie es, und Sie werden finden, daß man gar nicht weit zu gehen braucht, um die Lebensweise der Vögel kennen und eine Rauchschwalbe von einer Thurmschwalbe unterscheiden zu lernen. Beobachten Sie den Unterschied in einem Dorfe, so kennen Sie ihn, wo nur irgend Rauchschwalben und Thurmschwalben durch die Lüfte ziehen.«

»Rauchschwalben und Thurmschwalben ja; aber Menschen –«

»Haben wir das ganze Jahr in unserer nächsten Nähe – was mehr ist, als sich von den Schwalben behaupten läßt.«

»Mr. Dale,« sagte Riccabocca, mit großer Förmlichkeit seinen Hut abnehmend, »wenn ich je wieder in eine Verlegenheit kommen sollte, so werde ich mir bei Ihnen anstatt bei Machiavelli Raths erholen.«

»Ah!« rief der Pfarrer, »könnte ich doch nur ein Stündchen ruhig mit Ihnen über die Irrthümer der papistischen Rel–«

Aber wie ein Pfeil war Riccabocca verschwunden.


Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Am folgenden Tage hatte Mr. Dale eine lange Unterredung mit Mrs. Fairfield. Anfangs kostete es ihn einige Mühe, ihren Stolz zu überwinden und sie zu bewegen, die Anerbietungen ihrer Eltern, von denen sie und Leonard so lange vernachlässigt worden waren, anzunehmen. Selbst von den für Leonard zu erwartenden weltlichen Vortheilen wollte die gute Frau nichts hören.

Als jedoch Mr. Dale beinahe mit Strenge zu ihr sagte: »Ihre Eltern sind alt und Ihr Vater ist gebrechlich; ihr geringster Wunsch sollte für Sie so bindend sein, wie ein Befehl,« da beugte die Wittwe ihr Haupt und sagte:

»Gott segne die alten Leute! Es war recht sündhaft von mir, Herr Pfarrer. ›Ehre Vater und Mutter.‹ Ich bin freilich keine Gelehrte; aber ich weiß die zehn Gebote. Lenny mag hingehen. Aber er wird mich bald vergessen und vielleicht lernen, sich meiner zu schämen.«

»Da traue ich ihm denn doch etwas Besseres zu,« erwiderte der Pfarrer, dem es nun leicht gelang, sie zu beruhigen und zu trösten.

Erst als dies alles im Reinen war, zog Mr. Dale einen ungesiegelten Brief aus der Tasche, welchen ihm Richard Avenel seinem Winke gemäß im Namen von Lenny's Großeltern übergeben hatte.

»Dies ist an Sie und enthält einen Einschluß von Werth.«

»Wollen Sie mir vorlesen, Herr Pfarrer? Wie ich schon vorhin sagte, ich bin keine Gelehrte.«

»Aber Leonard ist einer; er wird Ihnen den Brief vorlesen.«

Als Leonard am Abend nach Hause kam, zeigte ihm Mrs. Fairfield das Schreiben; es landete folgendermaßen:

»Liebe Jane!

Mr. Dale wird dir mittheilen, daß wir wünschen, Leonard möchte uns besuchen. Es freut uns, zu hören, daß du gesund bist. Wir senden dir durch Mr. Dale eine Banknote von fünfzig Pfunden, welche dir dein Bruder Richard schickt. Für jetzt nichts weiter von

deinen

dich liebenden Eltern        
John und Margarethe Avenel.«

Der Brief war von einer steifen Frauenhand geschrieben und Leonard bemerkte, daß zwei oder drei orthographische Fehler mit einer andern Feder oder von einer andern Hand verbessert worden waren.

»Der liebe Bruder Dick – wie gut von ihm!« rief die Wittwe. »Als ich sah, daß Geld darin sei, dachte ich gleich, es müsse von ihm kommen. Wie gern möchte ich ihn einmal wieder sehen! Aber ich vermuthe, er ist noch immer in Amerika. Nun, dafür können wir dir Kleider anschaffen.«

»Nein, Mutter, das mußt du alles behalten und in der Sparkasse anlegen.«

»So einfältig werde ich nicht sein,« rief Mrs. Fairfield verächtlich und steckte die Fünfzigpfundnote in eine zerbrochene Theekanne.

»Da darf das Geld aber nicht bleiben, wenn ich fort bin. Du könntest bestohlen werden, Mutter.«

»Ach, du mein Himmel! das ist wahr. Aber was fange ich nur damit an? Wozu brauche ich auch das Geld? Der Tausend! Wenn sie es mir lieber nicht geschickt hätten! Ich werde nicht mehr ruhig schlafen können. Du mußt es in deine Tasche stecken und sie recht fest zuknöpfen, mein Junge.«

Leonard lächelte und nahm die Banknote; allein er brachte sie zu Mr. Dale und bat ihn, das Geld für seine Mutter in der Sparkasse anzulegen.

Am folgenden Tage ging er nach dem Casino, um von seinem Herrn, von Jackeymo, von dem Springbrunnen und dem Garten Abschied zu nehmen.

Allein nachdem er zuerst Jackeymo Lebewohl gesagt, wobei dieser arme Mann seinen Kummer durch alle jene lebhaften Geberden ausdrückte, die einen großen Theil der Beredsamkeit seiner Landsleute ausmachen, und dann mit von Weinen aufgeschwollenen Augen davon rannte, fühlte sich Leonard selbst so ergriffen, daß er nicht sogleich nach dem Hause zu gehen vermochte, sondern bei dem Springbrunnen stehen blieb und mühsam seine Thränen zurückhielt.

»Du hier, Leonard – und du willst uns verlassen!« klang es in sanften Tönen an sein Ohr; und seine Thränen flossen noch heftiger, als er Violanten's Stimme erkannte.

»Weine nicht,« fuhr das Kind mit einer Art zärtlichen Ernstes fort. »Du gehst; aber Papa sagt, es wäre selbstsüchtig von uns, darüber zu trauern; denn es sei zu deinem Besten, und wir sollten uns vielmehr freuen. Aber ich bin doch selbstsüchtig und gräme mich darüber. Ich werde dich sehr vermissen.«

»Sie, mein junges Fräulein! Sie mich vermissen!«

»Ja; aber ich weine nicht, Leonard; denn ich beneide dich. Ach, wäre ich doch ein Knabe und könnte es machen, wie du!«

Das Mädchen schlug die Hände zusammen und richtete ihre schlanke Gestalt mit einer gewissen leidenschaftlichen Würde in die Höhe.

»Sie wollten es machen, wie ich, und sich von Allen trennen, die Sie lieben?«

»Du thust es, um Denen zu dienen, die du liebst. Eines Tages wirst du zu der Hütte deiner Mutter zurückkehren und sagen: ›Wir haben das Glück bezwungen!‹ O könnte ich doch auch fortziehen und heimkehren, wie du es thun wirst! Allein mein Vater hat keine Heimath, und sein einziges Kind ist ein nutzloses Mädchen!«

Während Violante so sprach, hatte Leonard seine Thränen getrocknet; über ihrer Aufregung hatte er seine eigene vergessen.

»Ach!« fuhr Violante fort, indem sie wiederum stolz ihr Köpfchen erhob, »welches Glück, ein Mann zu sein! Das Weib seufzt: ›ich möchte‹; aber der Mann kann sagen: ›ich will!‹«

Schon bei früheren Anlässen, besonders in der letzteren Zeit, hatte Leonard an der kleinen Italienerin aufzuckende Blitze einer großen, heroischen Natur wahrgenommen, welche um so auffallender hervortraten durch den Contrast mit ihrer äußerst zarten weiblichen Gestalt und ihrem liebenswürdigen Gemüth, das sogar ihren Stolz sanft erscheinen ließ. Allein jetzt sprach das Kind mit der Majestät einer Königin – ja beinahe mit der Begeisterung einer Muse.

Der Jüngling fühlte sich von einem neuen, seltsamen Muthe beseelt und murmelte kaum hörbar:

»Möchte ich stets dieser Worte eingedenk bleiben!«

Das Mädchen wandte sich zu ihm und betrachtete ihn mit ihren großen Augen, deren Glanz durch die Feuchtigkeit, in der sie schwammen, noch erhöht wurde. Dann reichte sie ihm mit einer raschen Bewegung ihre Hand hin, und während er sich mit einer Anmuth, welche die Innigkeit seines Gefühls ihm eingab, darüber hinbeugte, sagte sie:

»Wenn dies der Fall ist, so werde ich, obgleich ich noch ein kleines Mädchen bin, das Bewußtsein in mir tragen, ein muthiges Herz zu dem großen Kampfe um Ruhm und Ehre ermuntert zu haben.«

Noch einen Augenblick zögerte sie, lächelte, wie über sich selbst, und verschwand dann zwischen den Bäumen.

Nach einer langen Pause, während welcher sich Leonard allmählig von der Ueberraschung und Aufregung erholte, in die ihn bei seiner schon vorher erregten Stimmung Violanten's Abschied versetzt hatte, ging er langsam dem Hause zu. Allein Riccabocca war abwesend. Mechanisch trat der Jüngling auf die Terrasse hinaus und beschäftigte sich dort mit den Bäumen. Aber Violanten's dunkle Augen schwebten vor seinem Geiste, und ihre Stimme klang in seinen Ohren.

Endlich erschien Riccabocca auf der Landstraße, von einem Taglöhner begleitet, der einen undeutlichen Gegenstand unter dem Arme trug.

Der Italiener forderte Leonard auf, ihm in das Wohnzimmer zu folgen, und sprach hier lange und freundlich mit ihm, indem er einen beträchtlichen Vorrath von Lebensweisheit in die tragbare Form von Aphorismen und Sprüchwörtern so zu sagen einzupacken suchte. Nachdem ihn hierauf der Doctor wenige Augenblicke allein gelassen, kehrte er, einen kleinen Reisesack in der Hand, mit seiner Gattin in das Gemach zurück.

»Wir können leider nicht viel für dich thun, Leonard, und Geld eignet sich am allerwenigsten zu einem Andenken. Aber meine Frau und ich, wir haben uns mit einander berathen und eine kleine Ausstattung für dich besorgt. Giacomo, den wir mit in's Geheimniß zogen, versichert, daß dir die Kleider passen werden; ich glaube, er hat dir zu diesem Zweck einen Rock gestohlen. Ziehe sie an, wenn du zu deinen Verwandten gehst. Es ist erstaunlich, wie verschieden die Leute über uns urtheilen je nach dem Schnitt unserer Kleider. So, wie ich hier bin, dürfte ich mich in London nicht sehen lassen, und nichts ist wahrer als die Behauptung, daß der Schneider oft den Mann macht.«

»Die Hemden sind von ganz guter, holländischer Leinwand,« sagte Mrs. Riccabocca, im Begriff, den Reisesack zu öffnen.

»Lassen wir die Einzelheiten, meine Liebe,« rief der Philosoph. »Hemden begreift man unter dem allgemeinen Namen von Kleidungsstücken. Und als ein besonderes Andenken nimm diese Uhr, Leonard. Ich habe sie manches Jahr getragen, als die Zeit noch ein wichtiger Gegenstand für mich war, und manches bedeutendere Geschick als das meinige, von einem Augenblick abhing. Wir versäumten den rechten Moment oder mißbrauchten ihn, und nun bin ich hier – ein Flüchtling auf der fremden Erde. Mich dünkt, ich habe nichts mehr mit der Zeit zu schaffen«

Mit diesen Worten legte der Italiener in Leonard's widerstrebende Hand eine Uhr, bei deren Anblick ein Alterthümler entzückt gewesen wäre, ein Stutzer aber sich entsetzt hätte. Sie war ungemein dick und hatte ein doppeltes Gehäuse, das äußere von Email, das innere von Gold. Zeiger und Zahlen waren ursprünglich von Brillanten gebildet gewesen; allein die Edelsteine waren schon längst verschwunden. Jedoch auch noch in diesem beraubten Zustand stimmte die Uhr weit mehr mit dem Charakter des Gebers als mit dem des Empfängers überein; für Letzteren paßte sie so wenig, wie etwa der rothseidene Regenschirm.

»Sie ist zwar altmodisch,« sagte Mrs. Riccabocca; »allein sie geht besser als alle Thurmuhren in der ganzen Grafschaft. Ich glaube wirklich, sie wird bis an's Ende der Welt dauern.«

» Carissima mia,« rief der Doctor, »ich hoffe, dich überzeugt zu haben, daß die Welt noch keineswegs auf ihren letzten Füßen steht.«

»Ach, ich meinte nichts dabei, Alphonso,« sagte Mrs. Riccabocca erröthend.

»Und das ist es immer, was wir meinen, wenn wir von Dingen reden, von denen wir nichts wissen können,« entgegnete der Doctor mit weniger Galanterie als gewöhnlich; denn es verdroß ihn, daß Jemima seine Uhr altmodisch genannt hatte.

Leonard war, wie wir sehen, die ganze Zeit stumm geblieben; er konnte nicht sprechen – wörtlich und wahrhaftig, er vermochte es nicht. Wie er seine Verlegenheit überwand und wie er endlich aus dem Zimmer kam, war er nie im Stande, genügend zu erklären. Allein wenige Minuten später sich man ihn rasch die Straße hinabeilen. Riccabocca und seine Gattin standen am Fenster und schauten ihm nach.

»Das Herz dieses Jünglings hat eine Tiefe, die das größte Fahrzeug flott machen könnte,« sagte der Philosoph.

»Der arme, liebe Junge! Ich hoffe, wir haben alles in seinen Reisesack gepackt, was er möglicher Weise brauchen kann,« versetzte die gute Mrs. Riccabocca nachsinnend.

Der Doctor (in seinem Selbstgespräch fortfahrend). – »Sie sind stark, aber nicht sogleich bemerkbar.«

Mrs. Riccabocca (das ihrige wiederaufnehmend). – »Sie liegen zu unterst im Reisesack.‹

Der Doctor. – »Sie werden lange dauern.«

Mrs. Riccabocca. – »Wenigstens ein Jahr, wenn sie bei der Wäsche gehörig geschont werden.«

Der Doctor (betroffen). – »Bei der Wäsche geschont werden! Wovon in aller Welt redest du denn, Jemima?«

Mrs. Riccabocca (sanft). – »Von den Hemden natürlich, mein Lieber! Und du?«

Der Doctor (mit einem tiefen Seufzer). – »Von den Gefühlen, liebe Frau!« Nach einer Pause ergreift er liebevoll seiner Gattin Hand und setzt hinzu: »du hast aber ganz recht, an die Hemden zu denken. Mr. Dale sagte sehr richtig –«

Mrs. Riccabocca. – »Was sagte er?«

Der Doctor. – »Daß wir sehr vieles mit einander gemein haben – selbst wenn ich an Gefühle denke und du an – Hemden.«


Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Mr. und Mrs. Avenel saßen in der Wohnstube; Richard stand vor dem Kamin und pfiff den Yankee Doodle.

»Der Pfarrer schreibt, daß der Junge heute ankommen werde,« sagte Richard plötzlich: »Laß mich den Brief noch einmal sehen – ja, heute. Wenn er bis N. mit der Postkutsche gefahren ist, so kann er den übrigen Theil des Weges in zwei bis drei Stunden zu Fuß zurücklegen. Dann sollte er nächstens ankommen. Ich habe große Lust, ihm entgegen zu gehen. Dies wird ihn verhindern, Nachfrage zu halten und etwas über mich zu erfahren. Ich kann auf dem hintern Weg aus der Stadt und auf die Landstraße gelangen.«

»Du wirst ihn aber nicht erkennen,« meinte Mrs. Avenel.

»Ei, das wäre! Einen Avenel nicht erkennen! Wir haben Alle den gleichen Schnitt des Gesichts – nicht wahr, Vater?«

Der arme John lachte so herzlich, daß ihm die Thränen über die Wangen rollten.

»Wir sind immer eine wohlgebildete Familie gewesen,« sagte John, sich wieder fassend. »Da war Lucas – aber er ist todt; und Harry – aber der ist auch todt; und Dick – aber der ist in Amerika – doch nein, er ist ja hier; und Nora, mein Liebling – aber –«

»St!« unterbrach ihn Mrs. Avenel. »St, John!«

Der alte Mann starrte sie mit großen Augen an und führte seine zitternde Hand an die Stirne.

»Und Nora ist auch todt,« sagte er dann im Tone des tiefsten Kummers, während er seine beiden Hände auf seine Kniee fallen ließ und sein Haupt auf die Brust herabsank.

Mrs. Avenel erhob sich, küßte ihren Gatten auf die Stirne und trat an das Fenster. Richard ergriff seinen Hut und wischte mit seinem Taschentuch sorgfältig die Haare glatt; aber seine Lippen zitterten.

»Ich will nun gehen,« sagte er plötzlich. »Aber merke dir wohl, Mutter, für's Erste kein Wort von Onkel Richard; wir müssen zuvor sehen, wie wir einander gefallen; und,« setzte er flüsternd hinzu, »nicht wahr, du wirst dich bemühen, dies auch dem Vater begreiflich zu machen?«

»Ja, Richard,« erwiderte Mrs. Avenel ruhig.

Richard setzte seinen Hut auf und ging zur Hinterthüre hinaus. Er schlich an den Feldern hin, welche die Stadt umgaben, und hatte nur einmal die Straße zu kreuzen, ehe er die Landstraße erreichte. Hier wanderte er fort, bis er den ersten Meilenstein erreichte, auf den er sich niedersetzte und, eine Cigarre rauchend, seinen Neffen erwartete. Es war um die Zeit des Sonnenunterganges, und der Weg vor ihm führte nach Westen. Die Augen mit der Hand beschattend, blickte Richard von Zeit zu Zeit die Straße hinab, bis endlich, gerade als die Sonnenscheibe zur Hälfte hinter dem Horizont verschwunden war, eine einsame Gestalt des Wegs daher kam. An einer Krümmung der Straße tauchte sie plötzlich auf, während die Atmosphäre um sie her von den röthlichen Strahlen gefärbt war. Einsam und schweigend schien sie aus einem Lande des Lichtes zu kommen.


Vierundzwanzigstes Kapitel.

» Sie haben einen weiten Weg gemacht, junger Mann?« sagte Richard Avenel.

»Nein, Sir, keinen sehr weiten. Dies ist wohl Lansmere, was hier vor mir liegt, nicht wahr?«

»Ja, es ist Lansmere. Sie wollen dort verweilen, denke ich mir.« Leonard nickte bejahend und ging einige Schritte weiter. Als er bemerkte, daß ihm der Fremde, der ihn angeredet hatte, noch immer zur Seite blieb, sagte er:

»Wenn Sie in der Stadt bekannt sind, Sir, so haben Sie vielleicht die Güte, mir zu sagen, wo Mr. Avenel wohnt?«

»Ich kann Sie auf dem kürzesten Pfad durch die Felder führen; dies bringt Sie gerade hinter das Haus!«

»Sie sind sehr gütig; aber ich möchte Sie nicht von Ihrem Wege abbringen.

»Nein, ich würde doch diese Richtung einschlagen. Sie gehen also zu Mr. Avenel? Ein guter, alter Herr.«

»So habe ich ihn immer schildern hören; und Mrs. Avenel –«

»Eine ganz vortreffliche Frau,« sagte Richard. »Wenn Sie nach sonst noch Jemand fragen wollen – ich bin mit der Familie sehr gut bekannt.«

»Nein, ich danke Ihnen, Sir.«

»Sie haben einen Sohn, glaube ich; aber er ist in Amerika, nicht wahr?«

»So viel ich weiß, ja.«

»Ich sehe, der Pfarrer hat sein Wort gehalten,« murmelte Richard vor sich hin.

»Wenn Sie mir etwas von ihm sagen könnten, so würde es mich sehr freuen,« fuhr Leonard fort.

»Warum dies, junger Mann? Mag sein, daß er irgendwo an einem Galgen hängt.«

»Am Galgen?«

»Er soll ein wilder Bursche gewesen sein, wie man mir sagt.«

»Da sind Sie sehr falsch berichtet worden,« versetzte Leonard erröthend.

»Ein sehr böser, wilder Bursche. Seine Eltern waren froh, als er auf und davon lief und nach den Vereinigten Staaten ging. Es heißt, er habe Geld gemacht; wenn es aber wahr ist, so hat er seine Verwandten schmachvoll vernachlässigt.«

»Sir, ich versichere Sie, daß Sie ganz falsch berichtet sind. Er war sehr freigebig gegen eine Verwandte, die wenig Ansprüche an ihn zu machen hatte, und ich habe seinen Namen nie anders als mit Lob und Liebe nennen hören.«

Richard begann den Yankee Doodle zu pfeifen und wanderte eine kleine Strecke weiter, ohne ein Wort zu sprechen. Dann brachte er eine leichte Entschuldigung vor, hoffte, den jungen Mann nicht beleidigt zu haben, und begann hierauf in seiner gewohnten dreisten und schlauen Weise seinem Gefährten auf den Zahn zu fühlen. Offenbar erstaunte er über den Verstand und die Klarheit, womit Leonard sich ausdrückte; mehr als einmal zog er überrascht die Augenbrauen in die Höhe und schaute dem Jüngling aufmerksam und wohlgefällig in's Gesicht. Leonard trug die Kleider, mit welchen er von Riccabocca und seiner Gattin beschenkt worden war, und die sich für einen wohlhabenden jungen Gewerbsmann vom Lande schickten. Er dachte jedoch nicht an seinen Anzug und benahm sich, ihm selbst ganz unbewusst, mit der Gewandtheit eines Gentlemans.

Jetzt kamen sie in die Felder, und Leonard blieb vor einem Streifen Land stehen, der mit Roggen angebaut war.

»Ich sollte meinen, so nahe bei einer Stadt wäre Grasland besser am Platze,« sagte er.

»Ohne Zweifel,« entgegnen Richard; »aber man ist in dieser Gegend noch schmählich zurück. Sie sehen jenen großen Park dort drüben auf der andern Seite der Straße? Der würde sich besser zum Anbau von Roggen eignen als zu Grasland; aber was sollte dann aus den Hirschen des gnädigen Herrn werden? Die Aristokratie zehrt uns auf, junger Mann.«

»Aber die Aristokratie hat doch dieses Stück Land nicht mit Roggen bepflanzt, denke ich?« versetzte Leonard lächelnd.

»Und welchen Schluß wollen Sie daraus ziehen?«

»Daß Jeder Herr auf seinem eigenen Grund und Boden ist,« erwiderte Leonard mit treffender Kürze, die er von Doctor Riccabocca gelernt hatte.

»Sie sind ein gescheidter Bursche,« versetzte Richard; »wir wollen ein ander Mal mehr über diese Dinge reden.«

Mr. Avenel's Haus wurde jetzt sichtbar.

»Sie können dort bei der alten Zwergeiche durch die Oeffnung in der Hecke steigen,« sagte Richard; »und wenn Sie dann um das Haus herum gehen, so kommen Sie an die Vorderthüre. Nun, es ist Ihnen doch nicht bange – wie?«

»Ich bin fremd.«

»Soll ich Sie einführen? Ich sagte Ihnen ja, daß ich die alten Leute kenne.«

»O nein, Sir! Ich möchte sie lieber allein begrüßen.«

»Nun, so gehen Sie und – noch einen Augenblick – hören Sie, junger Mann, Mrs. Avenel ist eine etwas kalte Frau; lassen Sie sich dadurch aber nicht einschüchtern.«

Leonard dankte dem gutmüthigen Fremden, ging über das Feld, schritt durch die Hecke und verweilte einen Augenblick unter dem spärlichen Schatten der alten ausgehöhlten Eiche. Die Raben flogen eben zu ihren Nestern zurück. Bei dem Anblick einer menschlichen Gestalt kreisten sie um den Baum und beobachteten den Fremdling aus einiger Entfernung. Aus den dichten Zweigen aber tönte das heisere Geschrei der jungen Raben hernieder.


Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Der junge Mann trat in das hübsche, reinliche Wohnzimmer.

»Du bist willkommen!« sagte Mrs. Avenel in festem Tone.

»Der junge Herr ist herzlich willkommen,« rief der arme John.

»Es ist dein Enkel, Leonard Fairfield,« erinnerte Mrs. Avenel.

Allein John, der sich mit wankenden Knieen aufgerichtet hatte, faßte ihn scharf in's Auge, fiel ihm dann um den Hals und schluchzte laut: »Nora's Augen! Er hat einen Blick in seinem Auge, gerade wie Nora.«

Mrs. Avenel näherte sich dem alten Manne und zog ihn liebreich zurück.

»Er ist ein armes Geschöpf,« flüsterte sie Leonard zu; »dein Anblick hat ihn aufgeregt. Komm mit mir, ich will dir dein Zimmer zeigen.«

Leonard folgte ihr die Treppe hinauf und kam in ein freundliches, ja sogar hübsch möblirtes Zimmer. Der Teppich und die Gardinen waren zwar von altmodischem Dessin und von der Sonne gebleicht, und das Gemach sah aus, als ob es lange nicht benützt worden sei.

Mrs. Avenel sank, sobald sie eingetreten war, auf den nächsten Stuhl nieder.

Leonard umschlang sie liebevoll mit seinen Armen und sagte: »Ich fürchte, ich mache eine arge Störung bei Euch, liebe Großmutter.«

Mrs. Avenel entzog sich hastig seiner Umarmung und ihr Antlitz zeigte große Aufregung – jede Muskel in demselben schien zu zucken; dann legte sie ihre Hand auf sein lockiges Haupt, indem sie leidenschaftlich rief: »Gott segne dich, mein Enkel!« und verließ das Zimmer.

Leonard stellte seinen Reisesack auf den Boden und blickte gedankenvoll umher. Das Gemach schien früher von einem weiblichen Wesen bewohnt worden zu sein. Auf der Commode stand ein Arbeitskästchen und darüber befand sich ein kleines Büchergestell, das an verblichenen blauen Bändern aufgehängt, durch einen mit Franzen besetzten seidenen Vorhang geschützt und da und dort mit einer Schleife oder Quaste verziert war – im Geschmack einer Frau oder vielmehr eines Mädchens, das auch den gewöhnlichsten Dingen in ihrer Umgebung Anmuth zu verleihen sucht.

Mit der mechanischen Gewohnheit eines Bücherfreundes nahm Leonard ein Paar Bände herunter, die sich noch auf dem Gestell befanden. Es waren Spenser's » FeenköniginSiehe Anm. 37. Racine's Werke in französischer und Tasso in italienischer Sprache. Auf dem weißen Vorderblatte eines jeden Bandes stand in der ihm so wohlbekannten ausgezeichnet schönen Hand der Name »Leonora« geschrieben. Er küßte die Bücher und stellte sie mit einem Gefühl, in dem sich Zärtlichkeit mit Ehrfurcht mischte, wieder an ihren Ort.

Nicht länger als eine Viertelstunde mochte er in dem Zimmer gewesen sein, als das Dienstmädchen an seine Thüre klopfte, um ihn zum Thee zu rufen.

Der arme John hatte sich wieder gefaßt und saß neben seiner Gattin, welche seine Hand in der ihrigen hielt. Der alte Mann war sogar heiter. Er that viele Fragen über seine Tochter Jane, wartete aber nie eine Antwort ab. Dann redete er von dem Squire, den er mit Audley Egerton verwechselte, plauderte über die Wahlen und die blaue Partei und drückte die Hoffnung aus, Leonard werde stets ein guter Blauer sein. Endlich richtete er seine Aufmerksamkeit auf seinen Thee und die gerösteten Brodschnitten und verhielt sich schweigend.

Mrs. Avenel sprach nur wenig, aber von Zeit zu Zeit schaute sie wie verstohlen auf Leonard, und nach jedem solchen Blicke zitterten die Nerven ihres alten, strengen Gesichtes von Neuem.

Bald nach neun Uhr zündete Mrs. Avenel eine Kerze an, gab sie Leonard in die Hand und sagte: »du wirst müde sein. Du weißt jetzt, wo dein Zimmer ist. Gute Nacht.«

Leonard nahm das Licht und küßte, wie er es bei seiner Mutter gewohnt war, Mrs. Avenel auf die Wange. Hierauf ergriff er John's Hand und küßte sie gleichfalls. Der alte Mann war halb im Schlaf und murmelte träumerisch: »das ist Nora.«

Es mochte wohl eine halbe Stunde vergangen sein, seitdem Leonard sein Zimmer aufgesucht hatte, als Richard sich leise in's Haus schlich und zu Mrs. Avenel trat.

»Nun, Mutter?« fragte er.

»Nun, Richard – du hast ihn gesehen?«

»Und er gefällt mir. Weißt du, daß er große Aehnlichkeit mit der armen Nora hat – weit mehr als mit Jane?«

»Ja, er ist hübscher als Jane jemals gewesen; aber am meisten sieht er deinem Vater gleich. John war ein sehr schöner junger Mann. Du fühlst also Zuneigung für den Knaben?«

»Ja gewiß. Sage ihm nur morgen früh, daß er seine Reise mit einem Herrn fortsetzen werde, der sein Freund sein wolle – weiter nichts. Nach dem Frühstück soll der Wagen vor der Thüre sein. Laß ihn einsteigen, und ich werde vor der Stadt auf ihn warten. Welches Zimmer hast du ihm angewiesen?«

»Dasjenige, welches du nicht nehmen wolltest.«

»Das Zimmer, in dem Nora sonst schlief? O nein, darin hätte ich kein Auge schließen können. Welch' einen Zauber das Mädchen hatte – und wie wir Alle sie liebten! Aber sie war zu gut und zu schön für uns – zu gut für diese Welt!«

»Niemand ist zu gut,« versetzte Mrs. Avenel mit großer Strenge, »und ich bitte dich, nicht so zu reden. Gute Nacht! Ich muß deinen armen Vater zu Bett bringen.«

Als Leonard am nächsten Morgen die Augen ausschlug, fiel sein Blick zuerst auf Mrs. Avenel's Antlitz, das sich zu ihm niederbeugte. Allein es währte lange, ehe er die Züge erkannte, so verändert – so zärtlich und mütterlich war deren Ausdruck. Ja, das Antlitz seiner eigenen Mutter schien ihm niemals eine so weiche, mütterliche Innigkeit verrathen zu haben.

»Ah!« murmelte er, sich halb aufrichtend und seine Arme um ihren Nacken schlingend.

Von der Ueberraschung hingerissen, erwiderte Mrs. Avenel zum erstenmal mit Inbrunst seine Umarmung; sie drückte ihn an ihre Brust und küßte ihn wieder und wieder. Endlich riß sie sich ungestüm los und ging, ihre Hände fest zusammen pressend, im Zimmer auf und ab. Als sie still stand, hatten ihre Züge wieder ihre frühere kalte Strenge und Steifheit angenommen.

»Es ist Zeit, aufzustehen, Leonard, »sagte sie. »Du mußt uns heute wieder verlassen. Ein Herr, der mehr für dich thun kann als wir, hat uns versprochen, sich deiner anzunehmen. Sein Wagen wird bald vor der Thüre sein; darum eile dich.«

John fehlte an dem Frühstückstische. Seine Frau sagte, daß er erst spät aufzustehen pflege und nicht gestört werden dürfe.

Kaum war die kleine Mahlzeit beendet, als eine zweispännige Kutsche vor dem Hause hielt.

»Du mußt nicht auf dich warten lassen – der Gentleman ist sehr pünktlich.«

»Er ist ja aber noch nicht hier.«

»Nein, er ist vorausgegangen und wird vor der Stadt draußen einsteigen.«

»Wie heißt er, und weßhalb will er sich meiner annehmen, Großmutter?«

»Das wird er dir selbst sagen. Komm jetzt.«

»Aber du segnest mich doch noch einmal, Großmutter? Ich habe dich schon so lieb gewonnen!«

»Ich segne dich,« sagte Mrs. Avenel fest. »Sei ehrlich und gut und hüte dich vor dem ersten Fehltritt!«

Mit krampfhafter Heftigkeit drückte sie seine Hand und geleitete ihn nach der Hausthüre.

Der Postillon knallte mit der Peitsche und die Kutsche rollte von dannen. Leonard beugte sich zum Wagenfenster heraus, um noch einen letzten Blick von der alten Frau zu erhaschen. Allein die Zweige der alten Eiche und ihr knorriger, morscher Stamm verbargen sie seinem Auge. Er mochte hinausschauen und sich anstrengen, so viel er wollte – er sah nichts als den trübseligen Baum.



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