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Ehe ich das an sich sehr spärliche Ergebnis mitteile welches die spätere gerichtliche Erhebung des Nachlasses des Verstorbenen ermittelte, sei mir gestattet, eine kurze Kritik des merkwürdigen Lebens zu geben, wie ich sie, auf dem Grund ungetrübter Wahrnehmungen und noch ohne Hilfe, aber auch unbeirrt von dem mehr neben als über den Verstorbenen ermittelten objektiven Thatbestand, mir zurechtlegte und unmittelbar nach dem Tode des Einsiedlers niederschrieb. Die Versuchung, Hypothesen aufzustellen, ist um so größer, je weniger ihnen eine sichere Grundlage gegeben ist. Und so drängt diese Versuchung auch hier sich um so mehr auf, je dunkler die Geschichte selbst ist, die erklärt werden soll.
Ein Mann von Geist und Welt, der ohne erkennbares Motiv vierzig Jahre lang mit nie wankender Konsequenz sich gegen die Welt abschließt, – eine Frau neben ihm, die zweiunddreißig Jahre lang sich in ihr Zimmer verschließt, in dieser ganzen Zeit nur zweimal zu einer andern Person, als zu dem Gefährten ihrer Einsamkeit, spricht, dies ist eine so außerordentliche Erscheinung, daß sie zu ihrer Erklärung auch die außerordentlichsten Vermutungen gestattet sein müssen. Es ist aber die Wahl gelassen, entweder eine gewaltsame äußere Nötigung, oder eine das Leben durchdringende innere Nötigung als Grund dieser Welt- und Menschenentsagung anzunehmen.
Soll eine äußere Nötigung angenommen werden, so kann sie nur darin gesucht werden, entweder daß eine große politische Bedeutung, oder daß ein großes allgemein verfolgtes Verbrechen auf den Personen geruht hat. Will man aber eine Nötigung annehmen, so kann, da wir von der Gewalt einer Geistesverwirrung oder Schwärmerei nirgends eine Spur finden, nur noch übrig bleiben, das Gebot eines durch sittliche Vergehungen zur Buße getriebenen Gewissens zu vermuten.
Nur nach diesen drei Wegen hin scheint die Vermutung Anhaltspunkte zu finden. Immer aber wird man dabei den eigentlichen Grund des Geheimnisses in der Person der Dame zu suchen haben.
Nimmt man zuvörderst ein zwingendes Gewissen als Motiv der Zurückgezogenheit an, so kann vielleicht am natürlichsten daran gedacht werden, daß die Dame aus einem Kloster entwichen, das Gelübde gethan hatte, den Bruch des Klostergelübdes durch das strengste klösterliche Leben zu sühnen, d. h. dieses Leben nur zu teilen mit – ihrem Geliebten. Doch liegt allerdings ein Widerspruch darin, daß ein Weib, die den Mut hatte, das Klostergelübde zu brechen, nicht auch, zumal an der Seite eines freigeistigen Mannes, hinreichende geistige Freiheit gewonnen haben sollte, um ihr Gewissen mit diesem Bruch selbst zu versöhnen, oder auch durch offenen Übertritt zur protestantischen Kirche und durch Eingehung einer gesetzmäßigen Ehe den möglichen Verfolgungen ihrer Glaubensgenossen sich zu entziehen. Zwar könnte eine Äußerung des Unbekannten darauf gedeutet werden, daß er sich strengen katholischen Grundsätzen der Dame accommodiert habe; denn als einst seine Aufwärterin ihn besonders festlich gekleidet fand, sagte er scherzend: »Wißt Ihr, warum ich so geputzt bin? Wir feiern heute das Fest aller Seelen.« – Aber einer katholischen Bigotterie der Dame widerspricht wieder, daß dieselbe nach Beichte und Absolution niemals verlangt, ganz ohne öffentlichen Gottesdienst gelebt hat, und daß, so viel ich weiß, zwar ein katholisches Gebetbuch, aber Kruzifixe, Rosenkränze und dergl. im Nachlaß der Unbekannten nicht gefunden worden sind.
Will man aber die weitere Möglichkeit annehmen, nämlich die, daß Furcht vor der Entdeckung eines Verbrechens den Umgang mit Menschen verboten habe, so treten in der Erscheinung der Unbekannten auffallende Gegengründe hervor. Niemand in der ganzen Umgegend kannte die, jedenfalls aus weiter Ferne Eingewanderten. Sie liefen also gar keine Gefahr, wenn sie, bei mäßiger Zurückgezogenheit, in Verkehr mit ihrer nächsten Umgebung traten. Im Gegenteil mußte ihnen die Klugheit sagen, daß gerade das Auffallende ihrer Zurückgezogenheit den Verdacht, den sie vermeiden wollten, erst erregen müsse. Das einzig Denkbare wäre die seltsame Annahme, daß die Dame auf der Stirne gebrandmarkt gewesen wäre. Daraus ließe sich dann die Äußerung der Dame (wenn diese echt ist), erklären, daß der Mann sie »aus großer Gefahr und Unglück gerettet habe;« daraus ließe sich dies ängstliche Verbergen des Antlitzes erklären, ein Verbergen, welches mit solcher Konsequenz durchgeführt wurde, daß noch sechs bis zehn Jahre nach der Ankunft der Dame in ihrer nächsten Umgebung die Meinung festsaß, die Dame habe einen Schweinerüssel. Aber wie dann die grüne Brille erklären? und wie, daß nach dem Tode der Dame mehrere sie sahen, ohne ein solches Brandmal zu bemerken? Oder war vielleicht die Stirn der Toten bedeckt? Oder war das Märchen, es sei eine Wachspuppe begraben worden, eine Wahrheit?
Statthafter scheint die dritte Annahme, daß in den Mauern des Schlosses ein großes politisches Geheimnis sich verborgen habe. Und zwar giebt die Betrachtung der äußeren Erscheinung zunächst die Vermutung an die Hand, daß der Unbekannte die Gefangenschaft einer Dame von großer politischer Bedeutung bewacht habe. Nur ungemeine Zwecke scheinen den Aufwand von außerordentlichen Mitteln rechtfertigen zu können – die Aufopferung eines ganzen Menschenlebens, die großen Summen, die nach und nach vergeudet wurden, in vierzig Jahren doch wenigstens dreihunderttausend Fl. – Aus der Besorgnis, daß die Dame den ersten Menschen, der ihr nahe, zur Befreiung aus ihrer Gefangenschaft anrufen werde, scheint äußerlich genommen, die ängstliche Absperrung der Dame erklärt werden zu können. Aber die Blicke, die wir in das innere Leben des Unbekannten haben thun lassen, scheinen einen solchen Verdachte zu widersprechen – obgleich dabei allerdings erwogen werden muß, daß wir den Charakter des Unbekannten fast allein nach den eigenen Äußerungen desselben und in der Voraussetzung, daß diese aufrichtig gewesen seien beurteilen.
Es finden aber dieselben Umstände auch ihre Erklärung bei Annahme einer mehr oder weniger freiwilligen Gefangenschaft, immer wieder vorausgesetzt, daß die Gefangenschaft eine Person traf, die politisch in ausgedehnten Kreisen bekannt, vielleicht durch deutliche Spuren von Familienähnlichkeiten leicht erkennbar war. Manche Gründe lassen sich für eine solche Annahme aufbringen.
Es ist zuvörderst beachtenswert, daß man im Jahre 1803 oder 1804 in Ingelfingen bei der Dame eine auffallende Ähnlichkeit mit der Tochter Ludwigs XVI. zu finden glaubte, daß man geneigt war, sie selbst dafür zu halten, und daß der Unbekannte, der ohne Zweifel von dieser Vermutung Kenntnis erhielt (denn darauf scheint seine Äußerung im Jahre 1837 »man hat mir sogar den Titel Monseigneur gegeben,« hinzudeuten), alsobald die Stadt verließ, durch eine erdichtete Todesnachricht seine Spur von der Erde zu verwischen suchte und von nun an wie während seines ganzen Aufenthalts in unserer Gegend, das Gesicht der Dame mit weit größerer Ängstlichkeit verbarg und überhaupt in weit strengerer Zurückgezogenheit lebte, als in Ingelfingen.
Im Zusammenhalte mit jener Vermutung der Ingelfinger erscheint die Wahrnehmung des Herrn v. B. merkwürdig, der, ohne je von ähnlichen Vermutungen gehört zu haben, in dem Gesichte der Dame eine auffallende Ähnlichkeit mit den Bourbonen fand.
Es ist ferner bemerkenswert, daß der Geistliche in Eishausen, der ebenfalls von einem frühern Aufenthalte des Unbekannten in Ingelfingen und von den Vermutungen, die sich dort an die Dame knüpften, durchaus nichts wußte und überhaupt eine vorgefaßte Meinung von einer politischen Bedeutung der Dame nicht hatte, dennoch später, aber schon lange vor der Wahrnehmung des Herrn von B., ebenfalls, zunächst durch das oben erwähnte Siegel mit den drei Lilien auf die Spur der Bourbonischen Familie geleitet wurde. Dasselbe Siegel hat in weit späteren Jahren, neben hundert charakterlosen, auch die Witwe des Geistlichen einmal auf einem an sie gerichteten Briefe gesehen. Die drei Lilien waren deutlich zu erkennen; auch die Krone schien bemerkbar, doch nicht mit Sicherheit zu erkennen. Es liegt der Gedanke sehr nahe, daß der Unbekannte in seinem langen Leben in dem stets unzugänglichen Schlosse es nicht versäumt habe, über oder unter der Erde, in Wänden oder unter den Dielen, verborgene Behälter anzulegen, in welchen auch für den Fall einer plötzlichen Überrumpelung und selbst noch für den Fall seines Todes die Dokumente seines Geheimnisses (Briefe, Petschafte, bezeichnende Schmucksachen ec.) vollkommen gesichert sein konnten. – Als nach dem Tode des Grafen der Nachlaß der Gräfin öffentlich versteigert wurde, fand man darunter mehrere Hemden, deren eingenähtes Zeichen in drei Blumenstengeln bestand, die man für nichts anderes als für drei Lilienstengel halten kann. Bei dieser Entdeckung wird man notwendig an jene Erklärung des Grafen nach dem Tode der Gräfin erinnert: »Ich würde den ganzen Nachlaß der Dame zum Besten der Armen überlassen haben, mit Ausnahme von einigen Hemden und Roben.«
Ich erkenne sehr wohl, daß ich das Vertrauen zu der Nüchternheit meiner Kritik gefährde, wenn ich den abenteuerlichen Spuren, welche zu der Höhe eines Königthrons zu führen scheinen, noch einige Schritte weiter nachgehe. Indes selbst auf diese Gefahr hin soll es geschehen. Ich will daher noch bemerken, daß, während der Geistliche die Entdeckung an den Siegeln nirgends verlauten ließ und überhaupt in unserer Gegend der Gedanke an eine fürstliche Geburt der Dame, so viel ich weiß, nirgends Grund faßte, im Jahre 1824 oder 1825 eine französische Zeitung (ich erinnere mich leider nicht mehr, welche) die mysteriöse Notiz enthielt: man habe in einem verborgenen Winkel von Thüringen die Spur einer längst verschwundenen französischen Prinzessin entdeckt, möge aber wohl Gründe haben, diese Spur nicht zu verfolgen. Diese Notiz verdanke ich einem zuverlässigen Manne, der gerade zu jener Zeit, als das Blatt erschien, sich in Geschäften des Königs von Württemberg in Paris befand, und dem man die eben erwähnte Zeitung, Erklärung suchend, vorlegte. Es ist übrigens auch denkbar, daß jene Zeitungsnachricht von einem solchen herrühren konnte, der in Deutschland von den Unbekannten in Eishausen erfahren und in Paris eine Lösung des Geheimnisses ausgedacht hatte. In Paris vermutete man übrigens, die Nachricht deute auf eine Prinzessin von Condé. – Eine solche Annahme würde das respektvolle Benehmen des Herrn gegen die Dame erklären, die Wichtigkeit, die er selbst auf das Geheimnis der Dame legte, seine Äußerung gegen den Arzt: »Die Dame würde Opfer von Ihnen verlangt haben; Sie wissen gar nicht, welche Verantwortung Sie auf sich genommen hätten, wenn ich Sie zu dieser Dame geführt hätte.« – Auch die Bemerkung des Grafen: »Sie war eine arme Waise,« und selbst die: »Sie hatte kein Vermögen,« ließen sich für diese Vermutung ausdeuten. – Das Alter der Dame, wie es der Graf angab (achtundfünfzig Jahre im Jahre 1837), würde mit dem der Tochter Ludwigs XVI. zusammenstimmen, und es würde einem Romandichter nicht schwer werden, eine Intrigue zu erfinden, wodurch diese echte Königstochter, halb mit Gewalt, halb freiwillig ins Schloß nach Eishausen verbannt und eine untergeschobene Herzogin von Angoulême an ihre Stelle gesetzt würde. Doch bin ich der Letzte, der einen solchen Roman dichten will. – Auch für die Annahme einer Prinzessin Condé ließen sich vielleicht einige Daten aufbringen, wenigstens die Teilnahme, die der Graf bei dem Tode des Prinzen von Coudé äußerte, und die Versicherung, die er gegen seine Korrespondentin aussprach: »man thue großes Unrecht, wenn man dem Prinzen zutraue, daß er sich selbst ums Leben gebracht habe.« (Er war bekanntlich erhängt gefunden worden.)
Soll man vielleicht aus dem hohen Stande der Dame auch noch die Annahme herleiten, daß der Unbekannte mit derselben in keinem vertrauteren Verhältnisse gestanden habe? Diese Frage wird unter allen Fällen interessant sein. Es ist wenigstens seltsam: damals, da beide in dem blühendsten Lebensalter standen, höchst wahrscheinlich erst sehr kurze Zeit verbunden waren, äußerte der Graf mit Wehmut: »Daß ich doch so glücklich wäre, Kinder zu besitzen!« Aber es ist auch schon darauf aufmerksam gemacht worden, daß die Erfüllung eben dieses Wunsches, die doch unter gleichen Verhältnissen sehr natürlich zu erwarten war, die Schranken des Geheimnisses mit einem Male niedergerissen haben würde, und es ist und bleibt immer sehr merkwürdig (wenn nicht bedenklich), daß ein vertrautes Verhältnis, wie es doch wohl anzunehmen ist, eben da kinderlos blieb, wo Kinderlosigkeit notwendige Bedingung zur Erreichung des Lebenszweckes war.
Es braucht übrigens kaum erst erwähnt zu werden, daß die Gründe, die wir für die Annahme einer fürstlichen Herkunft der Dame angeführt haben, zu einem Beweise durchaus unzureichend sind, und daß eben dieser Annahme die schlichte Bezeichnung der Dame: »Sophia Botta, ledig, bürgerlich, aus Westfalen,« wie sie der Graf gab, geradezu widerspricht, wenn anders man geneigt ist, diese Angabe für Wahrheit zu halten.
Wenn aber auch, was ich keineswegs für unmöglich halte, die Dame ohne alle politische Bedeutung war, so ist doch gewiß, daß auf ihr das eigentliche Geheimnis ruhte. Und auf diesen Umstand und auf das rein psychologische Interesse des Gegenstandes wünsche ich die nüchterne Kritik der Leser auch für Auffassung des Nachfolgenden zurückzulenken.