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8. Das Geheimnis des Grafen bedroht. Der Graf erhält das Ehrenbürgerrecht.

Es wird wahrscheinlich im Verlaufe der Erzählung dem Leser wiederholt die Frage sich aufgedrängt haben, wie es denn möglich gewesen sei, daß nie irgend ein Zufall den Schleier des Geheimnisses der Unbekannten gelüftet und daß selbst die Regierung nie Hand angelegt habe, diesen Schleier zu heben.

Ich will auf diese Frage mit der Erzählung einiger Fälle antworten, welche das Geheimnis des Grafen allerdings bedrohten, aber so wenig als irgend ein Zufall zur Enthüllung führten.

Zur Zeit der Truppendurchzüge in den Jahren 1812 und 1813 hatte der Graf einige Male Einquartierung in die untere Etage des Schlosses aufnehmen müssen, in welchem damals noch der herrschaftliche Verwalter wohnte. Keiner der Einquartierten hat den Grafen gesehen. – erst im Jahre 1814 oder 1815 wurde er von einem Soldatenbesuche bedroht. Damals nämlich, bei Gelegenheit der Durchzüge russischer Truppen, lag einst ein russischer Hauptmann, ein geborner Ostpreuße, ein finsterer, harter Mann, drei Tage lang im Pfarrhause im Quartier. Dieser erkundigte sich vielfach nach dem unbekannten Bewohner des Schlosses und verlangte endlich, ins Schloß geführt zu werden, oder daß man ihm wenigstens Gelegenheit gebe, den Unbekannten zu sehen; es sei möglich, daß er einen Bekannten in ihm wiederfinde, und er müsse darüber klar werden. Der Pfarrer hatte alle Mühe anzuwenden, um den Zudringlichen abzuhalten, und es gelang endlich nur dadurch, daß auf Einleitung des Pfarrers gerade an Nachmittage, wo der Sturm aufs Schloß versucht werden sollte, der Pfarrer H. vom benachbarten Stressenhausen erschien und den Hauptmann dringend zu einer Versammlung von Offizieren nach Stressenhausen einlud. Mit Widerstreben setzte der Mann sich zu Pferd, kam Abends etwas berauscht zurück und am andern Morgen mußten die Truppen aufbrechen.

Zweiundzwanzig Jahre später äußerte der Graf gegen den Arzt: »damals (bei den Truppendurchzügen) war ein Mann hier, der mein Geheimnis kannte und, wenn er mich gesehen hätte, mein Schicksal entschieden haben würde.« Ob aber damit auf eine russische oder französische Einquartierung gedeutet war, ließ sich nicht bestimmen.

Weit ernstlicher wurde das Geheimnis des Grafen im Jahre 1826 bedroht. Nachdem im Herbste dieses Jahres in Folge der Gothaischen Erbteilung der herzogliche Hof von Hildburghausen seinen bisherigen Sitz verlassen hatte und das Herzogtum Hildburghausen an das S. Meiningsche Haus übergegangen war, forderte die neue Regierung zwar schonend, aber bestimmt, Legitimation des Unbekannten. Dieser erklärte, daß seine Papiere bereit lägen, daß er aber, wenn er gezwungen werden sollte, sie vorzulegen, sofort das Land verlassen werde, um in einem Winkel der Welt unbekannt zu leben. Man gab darauf dem Grafen an die Hand: der regierende Herzog sei bereit, die Legitimation des Grafen persönlich anzunehmen und werde das Geheimnis, das man ihm anvertraue, bewahren und die Verantwortlichkeit dafür persönlich übernehmen, wenn es zu verantworten sei. Aber auf diese Konnivenz ging der Graf nicht ein.

Nun blieb der Regierung nur die Wahl übrig, entweder ein seit fast zwanzig Jahren unbescholtenes und sich durch Wohlthaten für das Land äußerndes Leben als Legitimation anzunehmen, oder auf Herausgabe einer papiernen Legitimation zu dringen und dadurch dieses Leben selbst für das Land zu verlieren. Man entschied sich für das Erstere. Der Graf blieb ungestört im Besitze seines Geheimnisses. Es mag diese Nachsicht der Regierung den Herren von der Polizei und der Justiz und anderen, die am Ende einer Sache klüger sind, als beim Anfange, unbegreiflich und unverantwortlich erscheinen. Ich muß aber hier wiederholt auf die Umstände hinweisen, unter denen der Unbekannte zuerst in das Land trat, Umstände, die denselben eben so unverdächtig erscheinen ließen, als hundert andere Emigranten. Ich muß ferner darauf hinweisen, daß der Unbekannte den Entschluß eines bleibenden Aufenthalts nie erklärte, vielmehr lange zu verschleiern wußte, daß seine Ungefährlichkeit für das Land sich bald eben so sicher herausstellte, wie seine grandiose Wohlthätigkeit, und daß die neue Regierung billig Bedenken tragen mußte, bei ihrer Besitzergreifung des Landes sogleich einen Mann daraus zu vertreiben, der, nächst dem herzoglichen Hause, mit dessen Wegzuge eine Menge voll Nahrungsquellen versiegten, für die Umgegend von größtem materiellen Nutzen war und dabei in der öffentlichen Meinung den Ruf eines ehrenhaften Mannes behauptete. Wenn man dies erwägt, so wird man meine Versicherung begreifen, daß die Nachsicht der neuen Regierung den ungeteilten Beifall des Publikums erhielt, und daß der Argwohn, der sonst überall lauert, und die Neugierde, die das geheimnisvolle Instrument lieber zerschlagen, als seine Mechanik unerforscht lassen will, es auch in jener Zeit nicht wagte, an die verschlossenen Pforten des Eishauser Schlosses zu klopfen.

Einige Jahre später ging eine weitere Bedrohung der Ruhe des Grafen spurlos an demselben vorüber. Es war nämlich in einem berühmten Polizeibeamten eines Nachbarlandes der Verdacht aufgestiegen, daß das Geheimnis des rätselhaften Kaspar Hauser vielleicht in dem geheimnisvollen Schlosse zu Eishausen seinen Ursprung habe. Der Gedanke war sehr natürlich. So weit das Polizeiauge über die deutsche Erde hinsah, fand es alle menschlichen Wohnungen und deren Insassen bis zu den Tieren herab polizeilich registriert. Fünfzig Meilen weit im Umkreis von Nürnberg konnte jede Polizeibehörde dafür einstehen, daß in ihrem Kreise keine Kammer sei, in der ein Mensch achtzehn Jahre lang vor jedem menschlichen Auge hätte eingesperrt leben und verkümmern können. Und in jedem Dorfe – und von einem solchen schien doch K. Hauser gekommen zu sein – hätte eine solche Marterkammer selbst vor den Augen der Nachbarn nicht verheimlicht werden können. Das Schloß in Eishausen allein war, wie gewiß kein anderes Haus in Deutschland, für die Wissenschaft der Polizei unzugänglich. In seinen weiten Räumen konnte mehr als eine Kammer sein, von der aus nie eines Menschen Stimme hinaus an ein menschliches Ohr dringen konnte, und in das Schloß herein trat ja ohnedies nie ein unberufener Fuß. Noch gewichtiger war der Gedanke, daß gerade in diesem Schlosse das Leben eines Kindes, zu dessen Ursprung doch in dem Zusammenleben des Unbekannten mit der Dame eine sehr naheliegende Veranlassung gegeben war, lästig wie nirgends anderswo werden, ja die ganze Basis der Existenz der beiden Einsiedler, nämlich ihr Geheimnis, vernichten mußte. Aber so nahegelegt der Verdacht war, fand er doch keine Bestätigung. Der erwähnte Polizeibeamte führte zwar den Nürnberger Findling in der Stille nach Eishausen und in die Umgebung des Schlosses, um zu versuchen, ob der Anblick dieser Umgebung irgend eine Erinnerung in dem Unglücklichen erwecke; – aber er fand seine Erwartung getäuscht. Hauser erklärte, daß er diese Gegend nie gesehen habe.

Das Urteil der öffentlichen Meinung über das Verhalten, welches die Regierung im Herbste 1826 gegen den Grafen beobachtete, bekundete die Stadt Hildburghausen durch einen deutlich sprechenden Akt. Sie verlieh dem Grafen das Ehrenbürgerrecht der Stadt. Der Graf erwiderte die Freundlichkeit damit, daß er ein, in der Nähe der Stadt, dem Spital gegenüber gelegenes Haus, das eben jetzt, in Folge des Wegzugs des herzoglichen Hofs verlassen stand, kaufte. Das Haus, das mehrmals die Wohnung eines Geheimerats gewesen war, wurde von Innen und Außen neu und elegant hergerichtet und durchaus möbliert; zu dem am Hause befindlichen Garten wurde noch ein weit größerer Garten käuflich hinzugezogen; das Ganze wurde mit einer hohen dichten Bretterverzäunung umgeben; ein Hofraum mit hohen Verschlägen wurde hergestellt und nun wurde ein eleganter Wagen von Frankfurt verschrieben, vier Postpferde wurden von Hildburghausen bestellt und der Graf und die Gräfin fuhren, aus einem Umwege die Stadt vermeidend, nach ihrer neuen Besitzung und stiegen im verschlossenen Hofraume ab, um sich – einige Stunden in ihrem Garten aufzuhalten. Der Besuch wurde in jedem Sommer vier oder fünfmal wiederholt.

Auf diesen Fahrten haben einige Personen auch die Gräfin gesehen, selbst unverschleiert, aber mit einer grünen Brille versehen. Auf jenem Seitenwege (der Marienstraße), auf welchem die Unbekannten zu ihrem Landhause in Hildburghausen zu fahren pflegten, führte einst (im Jahre 1827 oder 1828) der Zufall die gräfliche Equipage gerade au einem Ort, wo sie langsam zu fahren genötigt war, einem Manne entgegen, der die Bourbonische Familie kannte. Dieser, der Geheimerat von B. in Meiningen, war betroffen, in dem Gesichte der Dame eine auffallende Ähnlichkeit mit der charakteristischen Gesichtsbildung der Bourbonischen Familie zu finden. Von einer gleichen Wahrnehmung der Ingelfinger war diesem Beobachter durchaus nichts bekannt. Auch scheint er seine eigene Wahrnehmung nur in vertrauten Kreisen mitgeteilt zu haben; wenigstens ist mir selbst dieselbe erst in neuester Zeit (aus dem Munde eines Enkels des Genannten) mitgeteilt worden.

Bald nach jenem ersten Hauskauf erwarb der Graf noch zwei Häuser in der Umgegend von Hildburghausen. Das eine war ein unbedeutendes, aber dem größern Hause des Grafen ziemlich nahe gelegenes Haus (in Walrabs), – es wurde zum Witwensitz der Frau »Schmidt« bestimmt. Das zweite war ein schönes Gartenhaus mit einem Bergarten; auch dieses hat er später der Familie Schmidt geschenkt. Im größern Gebäude wohnten die alten »Schmidts«, solange sie lebten, und nach ihrem Tode der eine Sohn und seine Frau. Dieser, obschon er täglich zum Dienste nach Eishausen ging, hat den Grafen in den letzten Jahren nie gesehen. Ob dies in Folge einer Abneigung gegen den Mann geschah, weiß ich nicht. Doch ist hier der passende Ort, eine Anekdote einzuschalten, die dem Unbefangenen sehr lächerlich, aber dein Argwohn von größter Bedeutung erscheinen dürfte.

Jener Schmidt nämlich hat mir bald nach dem Tode seines Vaters, in dessen Dienst bei dem Grafen er eingetreten war (wenn ich nicht irre im Jahre 1832), einmal zu verstehen gegeben: der gnädige Herr sei eifersüchtig auf ihn. Die Äußerung des jungen Menschen amüsierte mich damals sehr. Als er aber meine Ungläubigkeit bemerkte, rückte er weiter heraus: Bei einem der Besuche, die der Graf und die Gräfin in ihrer neuen Besitzung zu Hildburghausen gemacht, sei er, der junge Schmidt, in einem Winkel des Gartens beschäftigt gewesen, – allerdings ohne Vorwissen des Grafen, der wohl den Garten leer geglaubt hätte. Da sei aus einem Gange des Gartens heraus die Gräfin getreten, habe ihn erblickt und sei, wie es schien, anfangs erschrocken, bald aber mit hastigen Schritten auf ihn zugeeilt und habe fast atemlos gesagt: Lieber Schmidt, ich möchte Sie gern sprechen, ich ... In dem Augenblick aber sei der Graf aus dem Gange getreten, wie wütend herbeigerannt und habe die Gräfin am Arme fortgeführt. Er selbst (Schmidt) sei seit jenem Vorfall immer ferngehalten und der Garten sei ihm ganz verboten worden, als später die Gräfin einen zweiten Versuch gemacht habe, ihn zu sprechen. Der junge Mann erzählte mir diese Geschichte mit manchen Nebenumständen und mit der Selbstbefriedigung, die sehr natürlich in dein Bewußtsein lag, der heimliche Geliebte einer verwunschenen Gräfin zu sein. Ich selbst hielt damals die ganze Geschichte für das Ergebnis eines komischen Mißverständnisses: So arglos erschien mir das Leben der Geheimnisvollen, daß ich den Gedanken, ob nicht die Unglückliche den jungen Menschen zu ihrer Rettung aus der Gefangenschaft habe anrufen wollen, nur als eine müssige Vermutung in mir aufkommen ließ.

Nach dem Tode des Geistlichen und vielleicht eben durch das Gefühl des Verlassenseins bewogen, hatte sich der Graf entschlossen, wieder eine männliche Person in das Schloß zu nehmen. Er nahm einen unverheirateten, nicht mehr jungen, braven und durchaus eingezogenen Mann. Dieser hatte um unbedeutenden Gehalt und mit unendlicher Mühe und Arbeit bei dem Kammergutspächter als Verwalter gedient. Jetzt erhielt er die doppelte Einnahme, Kost und Wohnung aufs Beste, und hatte keine andere Arbeit, als die, das Schloß und den Garten zu beaufsichtigen, und die Pflicht, aus dem Bereiche beider sich nicht viel zu entfernen. Nach einem halben Jahre aber erklärte der Mann, daß er ein solches Leben nicht aushalten könne, und verließ den Dienst des Grafen.


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