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2. Die Unbekannten in Ingelfingen.

Erst in der neuesten Zeit ist es gelungen, die Spur des Unbekannten rückwärts bis zum Jahre 1803 oder 1804 zu verfolgen. Die nachfolgende Mitteilung aus Ingelfingen verdankt man einer Dame, der Tochter des Geheimrats K., die zu der angegebenen Zeit selbst in Ingelfingen lebte. Sie ist durch einige Personen, namentlich die (kürzlich verstorbene) Fr. v. B. in Ludwigsburg bestätigt. Um jene Zeit erschien in dem Städtchen Ingelfingen im Württemberg'schen ein Unbekannter, der sich Graf oder Baron nannte, und lebte daselbst einige Zeit in rätselhafter Dunkelheit. Er hatte eine Mietwohnung bezogen, zugleich mit einer Dame, die er selbst seine Gemahlin genannt haben soll, oder die man wenigstens allgemein dafür hielt. Die vornehme Einfachheit seiner Lebensweise ließ den hohen Rang, seine Zurückgezogenheit von der Welt ließ reiche Welterfahrung durchblicken. Er hatte eigene Equipage; sein einziger Diener der zugleich Kutscher war, teilte die Abgeschiedenheit seines Herrn und zeigte in seiner noblen Haltung eine weit über seinen Stand gehende Bildung. Eine weibliche Dienerin war unter der Verpflichtung der Verschwiegenheit angenommen worden; sie durfte nur zu gewissen Stunden die Wohnung der Fremden betreten. In die Nähe der Dame aber ist selbst diese Dienerin nie gekommen. Der Graf war das einzige menschliche Wesen, mit welchem die Unbekannte in Berührung kam. Niemand in Ingelfingen hat sie gesprochen, oder auch nur sprechen hören. Wenn sie Tritte auf der Treppe hörte, flüchtete sie in ihr innerstes Gemach, das sie hinter sich verschloß. Sie soll viel geweint haben. Wenn sie am Arme ihres Gemahls spazieren ging, oder wenn sie mit ihm ausfuhr, war sie verschleiert oder trug eine grüne Brille; doch wollten damals Personen die sie sahen, behaupten, daß sie eine auffallende Ähnlichkeit mit der Tochter Ludwigs XVI. zeige.

Der Graf mied nicht allen Umgang. Er kam z. B. öfters zu dem Apotheker, in dessen Haus er wohnte, interessierte sich für dessen chemische Arbeiten und sprach mit ihm einsichtsvoll über medizinische Gegenstände. Die wenigen, die mit dem Grafen in nähere Berührung kamen, priesen mit Entzücken die Liebenswürdigkeit seines Charakters, sein edles, gemütvolles Wesen, seine wissenschaftliche Bildung, seine tiefen Kenntnisse politischer Verhältnisse und bedeutender Personen.

Man erinnerte sich, daß er einst auf die Frage, ob er Kinder habe, mit tiefer Wehmut antwortete: »Wenn ich so glücklich wäre!« Und doch war damals der Graf ein blühender Mann, höchstens ein Vierziger, und die Dame, die er begleitete, stand in der ersten Jugendblüte!

Der Graf interessierte sich sehr für die politischen Gesinnungen der Vornehmen in Ingelfingen; er selbst zeigte Sympathie für die rechtmäßige Dynastie in Frankreich. Zeitungen in verschiedenen Sprachen hielt er für seine Person; von fernen Posten kamen häufige Briefe an ihn. In Ingelfingen war man allgemein der Meinung, daß er ein französischer Prinz sei; viele hielten ihn für den Herzog von Angoulême selbst.

Eines Morgens waren die Unbekannten plötzlich verschwunden; für einige Bekannte hatte der Graf wertvolle Geschenke zurückgelassen. Gleich darauf kam die Nachricht, daß der Herzog von Enghien auf badischem Gebiet aufgegriffen und nach Paris abgeführt worden sei (März 1804). Man war in Ingelfingen allgemein der Meinung, daß der Graf, von diesem Vorfall zeitig benachrichtigt, sich einem ähnlichen Schicksale durch die Flucht habe entziehen wollen. Einige Monate später aber las man im Schwäbischen Merkur die Nachricht von dem Tode eines französischen Emigranten von Bedeutung, der sich einige Zeit in Ingelfingen aufgehalten habe. Die Beschreibung des Verstorbenen paßte Zug für Zug auf den Grafen. Seitdem hielten die Ingelfinger ihren Unbekannten für tot, und er war fast vergessen, als im Jahre 1845 die öffentlichen Nachrichten über den Geheimnisvollen in Eishausen in den wenigen noch Lebenden die Erinnerung an ihn wieder weckten.

So weit unsere Mitteilung aus Ingelfingen.

Die Vermutung liegt nahe, daß der Zeitungsartikel von dem Tode des Emigranten fingiert war und die Absicht hatte, die Spur des Unbekannten von der Erde zu verwischen. Außer allem Zweifel steht es, daß dasselbe Geheimnis, welches den Augen der Ingelfinger entschwunden war, drei oder vier Jahre später von einem Grafen Vavel de Versay in Hildburghausen eingeführt wurde. Es ist dieselbe einsiedlerische Dame mit Schleier und grüner Brille, es ist derselbe seltsame Diener, der zugleich Kutscher war, und der Graf Vavel scheint nach allem der aus dem Grabe erstandene Mann von Ingelfingen; die Beschreibung seiner äußeren Erscheinung und seiner Lebensweise, wie wir sie von Ingelfingen erhielten, spricht für die Identität der Person. War der Geheimnisvolle von Ingelfingen wirklich gestorben, so war es sein Doppelgänger, der in Hildburghausen erschien, – so war es ein Mann, der die Rolle jenes Geheimnisvollen in demselben Augenblick aufnahm, als sie dem Sterbenden aus der Hand fiel, und sie bis zu seinem eigenen Tode fortspielte. Gegen das Ende unserer Erzählung wird diese Frage der Identität, die hier ziemlich müßig erscheinen mag, in höchster Bedeutung wieder hervortreten.


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