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Helen lag bis spät in die Nacht hinein wach. Sie weinte nicht, denn Schehanna war bei ihr in ihrem Herzen. Noch nie war sie ihr so nah gewesen, es war, als ob sie flüsterte: wir werden uns nie mehr trennen. Und in ihrem Innern war ein dämmerndes Licht. In ihren halbwachen Träumen meinte sie, das Licht sprieße aus einem Lichtkorn, das in der Nacht in der Wüste in ihr Gemüt gelegt worden war. Dort hatte es die ganze Zeit gelegen, bis Schehannas Segen es gehoben und Dasturan Dasturs Hand die Keimblätter zur Entfaltung gebracht hatte; und jetzt lag es wie ein kleiner leuchtender Keim auf dem Grunde ihrer Seele.
Am dritten Abend nach Schehannas Tod schickte Dasturan Dastur Helen die Mitteilung, daß die Seele den toten Körper verlassen und ihre Wanderung auf der schmalen Brücke begonnen habe, wo Diven und Darvanden schwärmen, die die Seele zu sich ins Dunkel herabzuziehen versuchen. Sie wandere an der Hand des Erzengels auf die goldene Wage der Gerechtigkeit zu, auf der ihre Gedanken, Worte und Taten gewogen werden sollten, bevor der hohe Richter Mithra sie nach Bihisht, dem Reich des Lichts, führen konnte, wo die Guten wohnen. Am nächsten Morgen um zehn Uhr sollte die Leiche zum Turm des Schweigens gebracht werden, und Helen sollte zur Pforte in der weißen Mauer kommen, wenn sie Schehanna die letzte Ehre erweisen wollte.
Helen fuhr zu der Malabar-Anhöhe hinaus, die ihre Tempel und Bungalow-Gärten über die blaue Bucht erhob.
Sie fuhr den Zickzackweg zwischen Anlagen und blühenden Büschen zur Mauer des Tempelgartens hinauf, wo hohe Zypressen zum Himmel strebten, wie Seelen nach Licht, während Dunkelheit ihre Wurzeln umklammert hält.
Der Wagen hielt am Ende einer breiten Allee und Helen stieg aus.
Eine weiße Mauer schlängelte sich vom Fuß der Anhöhe herauf, kreuzte die Allee und führte in sanfter Steigung zu dem offenen Tor auf der Spitze der Anhöhe, wo das Dach des weißen Adaran zwischen Palmen und Zypressen sichtbar wurde.
Bei einem kleinen Holzpavillon wartete ein alter Mann in Mobedtracht.
Er verneigte sich vor Helen und sagte, daß er sie in den Tempelgarten geleiten sollte, wo Dasturan Dastur sie erwarten würde, wenn die Leiche vorbeigetragen und die heilige Handlung vorbei sei, der sie nicht beiwohnen dürfe.
Er führte Helen nach rechts, wo die Mauer am niedrigsten war. Von hier konnte sie den Weg des Todes hinabblicken, der sich zwischen weißen Mauern mit breiten, niedrigen Stufen zur Anhöhe zog.
Sie hatte noch nicht lange gewartet, als der Leichenzug bei einer Biegung weiter unten auftauchte.
Vier Nasr-Salars, Totenträger in weißen Gewändern, trugen eine lange, schmale Bahre auf ihren Schultern, auf der die Leiche ausgestreckt lag, von Scheitel bis Fuß in blendende, weiße Tücher gehüllt. Nach ihnen kamen zwei alte graubärtige Männer und nach ihnen wieder Darab und ein anderer junger Mobed, alle weiß gekleidet; das war das ganze Gefolge.
Plötzlich merkte Helen eine Unruhe in der Luft über ihrem Kopf. Sie sah in die Höhe; zwei große Geier hatten sich von den hohen Bäumen auf der andern Seite der Mauer erhoben und kreisten über der Bahre, indem sie ihre kahlen, gelblichen Köpfe herabstreckten; bald legten sie den Kopf auf die eine, bald auf die andere Seite, und aus den gebogenen Schnäbeln klang ein knarrendes Flüstern, als zankten sie sich über das, was sie sahen.
Es durchschauerte sie; sie blickte zur Seite und begegnete Darabs Blick.
Der Leichenzug erreichte die letzten Stufen und den Torrahmen, schwenkte um die Ecke und verschwand hinter der Tempelmauer.
»Erst wird gebetet,« sagte der Alte, als Helen Miene machte, zu folgen.
Einige Minuten vergingen, da erklangen drei klare Glockenschläge. Der Alte an Helens Seite faltete die Hände auf der Brust und wandte sich der Sonne zu. Wieder erklangen drei Schläge und kurz darauf noch drei, die zitternd in der stillen Luft verklangen. Bei jedem Glockenschlag murmelte der Alte sein Gebet, und Helen erriet, daß es die bösen Gedanken, bösen Worte und bösen Taten waren, die mit Glockenschlägen und Gebeten fortgemahnt wurden.
Sie warteten noch eine Weile, bis oben auf Fliesen Schritte ertönten. Der Alte öffnete die Pforte der Mauer, ging zum Tor hinauf, guckte hinein und winkte ihr, daß sie kommen sollte.
Helen stand in dem offenen Torrahmen und blickte in den großen stillen Garten hinein – mehr ein Garten des Lebens als des Todes – wo die Parsen hingehen, um in dem Schatten ewig grüner Bäume die Seelen zu treffen, die der Tod von der Fessel der Dunkelheit befreite – wo sie hingehen, um an der Seite des Teuren zu sitzen und der Stille zu lauschen, die ihrem Herzen etwas von dem Leben zuflüstert, das durch den Tod geboren worden ist.
Gerade vor ihnen führte die Allee zu den Türmen hinauf, sie war mit Kies belegt und von Unkraut und Staub gereinigt. Jetzt bog der Leichenzug von einem Seitengang in die Allee ein und bewegte sich langsam und schweigend, bald im Schatten, bald in der Sonne, so daß die weißen Gewänder leuchteten. Helen blickte zum Tempel hinauf. Dort stand Dasturan Dastur auf der obersten Stufe, die zu dem Vorhof des Adaran hinaufführten – er nickte ihr zu, und während er auf sie zuging, warf Helen einen Blick auf den heiligen Ort.
Links war ein Brunnen, eine hohe Kumme mit einer Marmorstufe, wo ein junger Herbad im Begriff war, Wasser aufzuwinden; an jeder Seite des langen, viereckigen Vorhofes saßen weißgekleidete Parsen längs der Mauer, in stille Gebete vertieft.
Am Ende des Hofes war die Tür zum Tempel geöffnet; in der Tiefe desselben, hinter einer Gittertür, sah sie die hohe Feuervase auf ihrem Steinfuß, die Feuerkrone hing von einer Kuppel auf sie herab. Der Zot ging lautlos hin und her, mit Handschuhen an den Händen, den weißen Padanschleier vor Nase und Mund. Aus der Tür wogte der duftende Rauch von Sandelholz, das der Zot bei der Totenmesse mit einer Silberzange auf das heilige Feuer gelegt hatte.
Dasturan Dastur nahm ihre Hand in seine und führte sie durch eine Blumenanlage mit schmalen, zierlichen Fußwegen zu einer niedrigen Steinmauer, die den Garten abschloß. Vor ihnen, einige hundert Schritte jenseits der Mauer, erhob sich der größte der fünf Türme des Schweigens, von hohen, schlanken Palmen umgeben; er war rund und weiß, mit kahlen, lotrechten Wänden, wie ein zweistöckiges Haus. Ringsherum war die Erde ausgehöhlt, nur gerade in der Mitte führte ein Erdweg zwischen zwei niedrigen Mauern von Stein zu einer viereckigen Oeffnung, die wie ein schwarzer Fleck mitten in der Mauer saß.
Dasturan Dastur sagte nichts, fuhr nur fort, ihre Hand in der seinen zu halten, während er zum Turm hinüberblickte.
Auf der Mauerzinne saßen ein paar alte Geier und wackelten müde mit den Köpfen, die sie zwischen den Schultern geduckt hatten; ein dritter ordnete seine verfilzten Federn mit Schnabel und Krallen. Von einer Palme flog ein anderer durch die hohe, klare Luft quer über den Turm, und jetzt entdeckte Helen, daß ringsherum in den Bäumen Scharen von großen Vögeln zwischen den Blättern saßen.
Der Leichenzug bog jetzt von der Allee links ab. Während Darab und der andere junge Mobed zwischen den Bäumen stehenblieben, gingen die vier Totengräber mit der Bahre auf den Turm zu, von den beiden Alten gefolgt.
Als die Bahre mit der weißen Leiche in der Sonne auftauchte, erhoben die Totenvögel sich aus ihrem Versteck in den Bäumen; sie schlugen mit den mächtigen Flügeln und umkreisten den Turm mit gestreckten Hälsen. Indem die Bahre die Oeffnung in der Mauer erreichte, ließen die Vögel sich in einer Reihe auf dem Mauerrand nieder, ohne Geschrei und Streit, als hätte jeder seinen vorherbestimmten Platz, junge und alte durcheinander.
Die vier Nasr-Salar stellten die Bahre auf den Rand der Oeffnung, schoben sie in das Dunkel hinein und traten zurück, während die beiden Alten zu der Luke hinaufkrochen und sie zuzogen.
Als Schehannas Leichnam in der Dunkelheit des Turmes verschwand, war es mit Helens Selbstbeherrschung vorbei. Als würde es ihr erst jetzt richtig klar, was mit dem zarten Körper geschehen sollte, begann sie plötzlich zu zittern; die Knie versagten ihr und das Herz hämmerte in ihrer Brust. Am liebsten wäre sie davongelaufen, aber sie fühlte sich zu schwach dazu, und Dasturan Dasturs Hand hielt sie zurück.
Die großen Vögel bewegten sich unruhig. Sie stießen sich gegenseitig und breiteten die Flügel aus, um das Gleichgewicht zu bewahren, während sie sich über den Mauerrand reckten, um in das Innere des Turmes hinabzusehen.
»Jetzt wickeln sie die Leichentücher ab,« sagte Dasturan Dastur, und Helen sah es vor sich, wie die beiden Männer den Leichnam hoben und die Tücher entfernten.
»Jetzt geben sie den Körper der Dunkelheit zurück, nackend wie aus Mutters Leib. Auf dem schmalen Rundgang tragen sie ihn zu dem Platz, der zwischen weißen Knochen für ihn ausersehen ist, – sieh, jetzt liegt das, was Schehannas Behausung war, auf dem Rost unter dem Auge des Himmels.«
Helen schloß die Augen, aber es half nichts; als ob es weder Dunkelheit noch eine trennende Mauer gäbe, sah sie den nackten Körper ausgestreckt, den Kopf mit dem langen, losen Haar zur Seite geneigt, wie im Schlaf.
»Sieh, wie die Todesvögel den Hals nach ihrem Futter recken!«
Kalter Schweiß trat auf Helens Stirn, das Herz tat ihr weh, aber Dasturan Dastur ließ ihre Hand nicht los.
Die Falltür ging in die Höhe, die beiden Männer kamen zum Vorschein und sprangen zur Erde.
Im selben Augenblick erhoben die Vögel sich, ein Gewirr von Riesenflügeln überschattete den Turm, seltsame, halb lüsterne, halb klagende Laute klangen durch die Luft. Die Männer zogen die Luke hinter sich zu, und in dem Augenblick, wo sie mit einem Knall zufiel, falteten die Vögel ihre Flügel zusammen, stürzten sich mit heiserem Jubelgeschrei hinab und verschwanden unter der Zinne.
Die Männer gingen fort, ohne zurückzusehen, der eine trug das Leichentuch, der andere die Bahre.
Sie sah das Gesicht, das sie liebte, – die Augen, die noch in ihrem Herzen leuchteten, den zarten, unschuldigen Körper, den kein unreiner Gedanke jemals befleckt hatte, wehrlos den lüsternen Schnäbeln preisgegeben. Sie rang nach Atem und stöhnte bei der Vorstellung.
Dasturan Dastur faßte ihre Hand fester und sagte:
»Das blasse Antlitz war nur der leere Spiegel ihrer Seele. Der Glanz ihrer Augen war nur der Tau von dem reinen Atemhauch ihres Herzens. Das Auge selbst war das Auge der Dunkelheit. Sieh, jetzt nimmt der Totenvogel das linke, – er löst es mit einem einzigen Hacken seines Schnabels, und sieh, sein Weibchen nimmt das rechte. Dort tauchen sie über der Zinne auf – sie fliegen zu dem großen Baume dort drüben, um den Kleinen im Nest das Beste zu bringen.«
Helen weinte; sie versuchte ihre Hand aus seiner zu ziehen, Dasturan Dastur aber zog sie näher zu sich heran und hielt sie fest.
»Warum weinst du? – Hat nicht die Dunkelheit ein Recht auf das, was des Dunkels ist, und das Licht auf das, was des Lichtes ist?«
Wieder blickte er mit leuchtenden Augen hinüber, als durchdringe er Mauer und Dunkelheit.
»Siehst du den, der seine Krallen in ihr Haar gegraben hat, sieh, jetzt beißt er ihre Kehle durch – und der, der seine Klauen in ihre weiße Brust geschlagen hat, er sucht nach dem toten Klumpen, der einst ihr Herz war.«
Helen schloß die Augen, es war, als ob ihr das Herz in der Brust erstarrte.
»O nein,« bat sie, während ihr die Tränen über die Backen liefen; sie lehnte sich an ihn, um nicht umzusinken.
Er drückte ihre Hand, um ihr Kraft zu geben und sagte:
»Warum weinst du? – Sieh, Schehanna steht ja an deiner Seite.«
Da war es, als ob eine Hand um ihr Herz faßte und ihr Leben von ihrer Wärme gäbe; es war, als fühlte sie Schehannas Atem auf ihrer Wange, als flüstere ihre sanfte Stimme ihr ins Ohr, sie schlug die Augen auf und begegnete Dasturan Dasturs leuchtendem Blick. Sie atmete tief in unsagbarer Rührung, matt nach dem großen Schmerz, der so plötzlich von ihr genommen war, und ihre Tränen versiegten.
Als er sah, daß sie nicht mehr bebte, daß ihr Herz sie nicht mehr schmerzte, lächelte er und drückte ihre Hand.
»In einer halben Stunde ist es vorbei. Dann hat die Dunkelheit genommen, was der Dunkelheit gehört, und Schehannas Ferved ist in dem Reich des Guten, das hier und dort ist, in dir und in mir, das überall dort eindringt, wo die Dunkelheit hinausgedrängt wird.«
Sie gingen durch den Garten zurück. Helens Herz war zu erfüllt von dem Erlebten, als daß sie sprechen konnte. Als sie aber am Tore standen, und Dasturan Dastur ihre Hand ergriff, um ihr Lebewohl zu sagen, da blickte sie über den Weg des Todes, der längs des Hügels auf die Welt und die unbekannten Wege, die ihrer harrten, zuführte, und eine Angst so plötzlich und so heftig überfiel sie, daß sie seine Hand preßte und sagte:
»Was soll ich tun? – Wo soll ich hingehen? – Ich bin ja ganz allein.«
Dasturan Dastur blickte ihr lange und fest in die Augen; um seine schmalen Lippen unter dem weißen Bart lag das seltsame Lächeln, das sie bereits an Schehannas Totenlager gesehen hatte.
»Gehe deinen Weg nur ruhig weiter,« sagte er, »folge dem Licht, das in deinem Herzen dämmert, trage die Bürde der Dunkelheit ohne Bitterkeit und Zorn, und du wirst den Gott finden, den du suchtest, als du in die Welt reistest. Wer den einzig richtigen Pfad wandert, dem wird es des Guten wegen besser ergehen.«
Sie nahm den Trost seiner Worte in ihrem Herzen auf, gleich darauf aber dachte sie: wenn ich nur nicht so allein wäre, niemand, für den ich leben, niemand, den ich lieben kann – und ihre Gedanken suchten schmerzlich Ralph.
Dasturan Dastur sah, was sie dachte und sagte:
»Komm morgen vormittag zu mir ins Panchayat, dann werde ich dir etwas mit auf den Weg geben, was dir helfen wird.«
Als Helen am nächsten Morgen erwachte, war ihr Gemüt nach einem festen Schlaf zur Ruhe gekommen; aber sie war matt und ihr Körper war wie zerschlagen, als habe sie tags vorher einen langen Weg gemacht und sich todmüde zur Ruhe gelegt.
Beim Portier erkundigte sie sich nach dem Fahrplan; sie wollte nicht länger in Bombay bleiben, wo alles sie an die Angst und den Schmerz, den sie durchlitten hatte, erinnerte, sondern noch am selben Abend weiter nach Agra reisen, wohin sie bereits in Colombo bei Cook ein Billett gelöst hatte.
Sie versuchte zu erraten, was es wohl sein könnte, was Dasturan Dastur für sie habe, und sobald sie gefrühstückt hatte, fuhr sie zum Panchayat hinaus.
Sie wurde in dasselbe halbdunkle Zimmer geführt, wo sie schon einmal gewesen war. Der alte Mann hinter dem Pult erhob sich, aber diesmal fragte er nicht, er wußte von ihrem Kommen und ging ins Nebenzimmer, um sie zu melden.
Während Helen wartete, erlebte sie von neuem die Angst und Spannung, die sie das letztemal hier ausgestanden hatte. Es waren nur elf Tage her. Wie war alles verändert. Wie hatte sie sich selbst verändert! Die Sorge um Schehanna war nicht mehr eine offene Wunde, sondern eine heilige Wehmut, mit einer seltsam unbestimmten Sehnsucht vermischt. Obgleich sie oft in einer plötzlichen Wärmeaufwallung Schehanna bei sich fühlte, blieb dennoch ein leerer Platz neben ihr. Keine Hand, die der ihren in einem warmen Druck begegnete, wenn sie sie ausstreckte, kein Ohr, in das sie hineinflüstern, kein tiefes, feuchtes Auge, in das sie ihren Blick senken konnte.
Die Tür ging auf und Dasturan Dastur stand im Zimmer, aber er war nicht allein; an jeder Hand hielt er ein kleines Parsenmädchen, in feinen, reinen Musselinkleidern, mit Seidenschleiern über den dunklen Köpfen. Sie waren kaum drei Jahre alt und glichen einander auf ein Haar.
»Es sind Zwillinge,« sagte er, »die ihre Mutter vor einem Monat verloren haben, ihr Vater starb im vorigen Jahr. Sie sind aus dem uralten Stamm der Sanjana, demselben, dem auch Schehanna angehörte. Sie sollen zum Orphanat in Kalkutta. Liegt das nicht auf deinem Wege?«
Die Kleinen verschlangen Helen mit weit aufgerissenen Augen, während sie sich gegen Dasturan Dasturs Knie drückten.
»Nimm sie mit dir auf deiner Reise und bringe sie der Vorsteherin des Parsen-Orphanats. – Ich will dir einen Brief an sie mitgeben – willst du?«
Helen erinnerte sich der Kinder, die sie zu Hause zurückgelassen hatte, und der ganze mütterliche Drang ihres Herzens, denen zu helfen, die Hilfe not hatten, glühte wieder in ihr auf. Sie kniete neben den Kleinen nieder und vergaß zu antworten. Und sieh, die eine streckte ihr eine kleine runde Hand entgegen, die dieselbe helle Olivenfarbe hatte wie Schehannas. Als die andere es sah, tat sie das gleiche, und Helen lag auf den Knien, mit zwei kleinen, warmen, klopfenden Pulsen dicht an ihrem Herzen.
Wie er in meinem Sinn zu lesen versteht, dachte sie, er kennt mich besser, als ich mich selbst kenne.
Sie sah zu ihm auf und dankte ihm mit einem Blick.
»Sei Vater und Mutter für sie,« sagte er, »und sie werden Vater und Mutter für dich sein.«
Helen dachte: wenn ich mich von ihnen trennen muß, wird es einen neuen Herzenskummer geben; vielleicht ist es besser für mich und sie, wenn ich es abschlage.
Sie erhob sich und fragte in einer plötzlichen Eingebung:
»Kann ich sie nicht ganz behalten?«
»Nein, sie gehören zu uns und wir wollen keinen von den Unsern hergeben.«
»Was kann es dann nützen,« sagte Helen mißmutig.
Dasturan Dastur sah sie an und antwortete:
»Ihr Licht ist dein Licht, denn du und sie seid eins.«
Helen verstand nur unklar, was er meinte, die klaren Kinderaugen aber zogen sie an. Sie beugte sich wieder herab und drückte die beiden dunklen Köpfe gegen ihre Brust.
Dasturan Dastur sagte, daß die eine Astva hieße und die andere Anahita. Astva und Anna will ich sie nennen, dachte Helen. Er bot ihr an, daß er ihr ein parsisches Kindermädchen für die Reise verschaffen wolle, Helen aber schlug es ab, sie wollte sie selbst hüten, und erzählte von dem Hospital ihres Vaters, von der Tätigkeit, die sie in ihrer Heimat zurückgelassen hatte.
Dasturan Dastur nickte, als ob er es schon lange gewußt hätte. Hatte Schehanna es ihm erzählt, oder war es wirklich möglich, daß das Licht dieser Augen das durchdringen konnte, was in ihrem Gemüt verborgen war, daß er wie in einem Buch zu lesen vermochte, was mit sichtbaren Zeichen in der Erinnerung geprägt stand?
Als Helen von dem Priester Abschied nahm, legte er seine Hand auf ihre Stirn und flüsterte einige Worte, ein Gebet oder einen Segen, den sie nicht verstand.
Die Kleinen nahm sie gleich mit sich, ihre Habseligkeiten und den Brief an die Vorsteherin wollte er ihr noch vor Abend ins Hotel schicken. In der Tür wandte Helen sich noch einmal um, von dem Blick angezogen, den sie über sich leuchten fühlte.
»Auf Wiedersehen am Ziel der Reise!« sagte er.
Helen zögerte; sie verstand ihn nicht, wagte aber nicht zu fragen. Sie ruhte in seinem Blick und vergaß Zeit und Ort, bis seine Stimme sie wieder zur Besinnung rief.
»Ich komme, wenn du recht von Herzen rufst.«
Da durchrieselte es sie von Kopf bis Fuß, von der Tiefe ihres Wesens bis in alle feinsten Fäden desselben, dieselbe befreiende Freude wie in jener Nacht, als sie weinend an Schehannas Leichnam gesessen und seine Hand sich tröstend auf ihren Nacken gelegt hatte.
* * *