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Es dauerte zwei Tage, bevor alles zur Abreise bereit war.
Shankar, der nicht mit auf die Jagd wollte – er sagte, daß er den Hof seines Vaters besuchen möchte, in Wahrheit aber zitterte er ebenso vor Schießwaffen wie vor wilden Tieren – Shankar reiste selbst nach Conoor, um Zelte, Konserven und andere notwendige Dinge, die Ralph aufgeschrieben hatte, zu besorgen – es zeigte sich, daß in Conoor alles merkwürdig teuer war. Dienerschaft sammelte er in Kotagiri, wo er mit dem Tahsildar beratschlagte, der einen Shikari (Jäger) zu schaffen versprach, der Wichtigste von allen, der Weg und Steg kennen und außerdem Dolmetscher sein mußte. Es war ein großer, schlanker und geschmeidiger Sudra, mit einem angenehmen, treuherzigen Gesicht und festgeschlossenen Lippen unter dem dünnen Schnurrbart. Er brachte Büchsen zur Auswahl mit, sowohl für » large game« wie » small game«. Ralph entschied sich für letzteres. Teils des Diebstahls, teils Davis' wegen, wollte er nicht zu lange fort bleiben. Eine Jagd auf Großwild, an der sie beide teilnehmen konnten, mußte auf ein späteres Mal verschoben werden, mit einer besseren Ausrüstung als hier zu beschaffen war.
Ralph wählte sich eine Büchse, und nachdem er mit Shankar verabredet hatte, wie er ihm eine Botschaft zukommen lassen konnte, falls Davis eine Mitteilung schicke, oder Ralphs Anwesenheit des Diebstahls wegen notwendig werden sollte, konnte die Abreise endlich stattfinden.
Sie ritten an einem schäumenden Fluß entlang, der bald von Unterholz und verworrenen Lianen verdeckt wurde, so daß nur das Brausen des Wassers über dem Steinboden seine Anwesenheit verriet – bald mit Silberschein zwischen jungen Bambusschößlingen blitzte, bald weiß und hochbusig bis an den Pfad stieg, so daß ein Fehltritt des Ponys sie in den Schaumwirbel gestürzt haben würde.
»Sieh dort!« sagte der Shikari, der voran ritt; er hielt sein Pferd an und zeigte auf einen fernen Bergrücken, wo die Höhen, von dunkelgrünen Wäldern bekleidet, sich wie Kulissen hintereinander schoben, bis sie sich im Hintergrunde zu einer blassen Bergmasse vereinigten, aus der sich ein weißer Gipfel fast lotrecht zu dem dunkelblauen Himmel hinaufhob.
»Das ist der Mukurti Peak, das Heiligtum der Todas. Sein Anblick allein befreit sie von Sünde.«
Nachdem sie eine knappe Stunde geritten waren, stand die Sonne bereits so tief, daß die Felswand, die sich zur Rechten neben dem schmalen Pfad erhob, in dunklem Schatten lag; nur der Gipfel flimmerte noch in güldenrotem Glanz.
Während Ralphs Augen auf der schönen Beleuchtung ruhten, erhoben sich plötzlich über den kahlen Kamm zwei Menschengestalten, ein Mann und ein Weib. Wie eine Offenbarung aus einem höheren und reineren Dasein standen sie dort, mit schimmerndem Glanz auf ihren schönen, länglichen Köpfen, die keinen anderen Schutz gegen die Sonne hatten, als ihr volles, dunkles Haar, das in einem Kranz um die hohe Stirn des Mannes lag, und dem Weibe frei an der weichen, runden Wange hinabfloß. Sie standen unbeweglich wie Bildsäulen in ihren langen, weißen Gewändern, auf ihre Stäbe gestützt, während sie auf die Fremden herabblickten. Ihre Gesichtszüge waren regelmäßig, die Haut hell und von europäischem Gepräge, ihre Haltung frei und die Gestalten harmonisch, mit jener natürlichen Stattlichkeit, die alten und reinen Rassen eigen ist.
Ralph hielt erstaunt sein Pferd an.
»Das sind Todas,« sagte der Shikari.
Ralph war noch in ihren Anblick versunken, als sie sich langsam und würdig einen Weg über den steilen Abhang bahnten.
Der Shikari erklärte, als ob Ralph gefragt hätte:
»Die Todas benutzen keine Pfade. Sie gehen immer den geraden Weg, wie hoch sie auch klettern und wie tief sie auch herabsteigen müssen; daran werden sie von klein auf gewöhnt.«
Als die beiden Todas den Pfad erreicht hatten, führten sie die Hand grüßend zur Stirn, und betrachteten die Fremden mit unbekümmerter Aufmerksamkeit in den großen Bergaugen.
Der Shikari, der sich notdürftig in der Sprache der Todas verständlich machen konnte, erfuhr, daß ihre Mad (Stadt) kaum eine Stunde hinter dem Berg in einem weißen Tal lag, wo sie ihre Weiden hatten.
Ralph ließ fragen, ob er auf ihren Ebenen sein Lager aufschlagen und einen Tag bei ihnen bleiben dürfe, um ihre Tempel und heiligen Kühe zu sehen.
Der Mann breitete seine Arme wie zu einer Umarmung aus, und der Shikari erklärte, daß die Todas ihrer Gastfreiheit wegen bekannt seien.
Die Sonne war schon längst untergegangen, als sie auf dem Pfad die Ebene erreichten. Ringsherum wurde der Horizont von der schweren, schwarzen Masse der Berge verschlossen. Ueber ihnen aber funkelte der Himmel in der kalten Nacht wie von Tausenden von blitzenden Lanzenspitzen.
Todas eilten heim zu ihrem Dorf. Sehen konnte Ralph das Dorf nicht in der Nacht, aus dem ungeduldigen Brüllen eines Ochsen aber schloß er, daß es ganz nah sei. Bevor die Zelte noch errichtet waren, hatte der Koch Feuer gemacht und das Essen gewärmt. Ralph war ermüdet nach dem langen Ritt in der starken Bergluft und begab sich gleich nach der Mahlzeit zur Ruhe.
Beim ersten Morgengrauen erwachte er, kleidete sich an und ging hinaus. Vor ihm lag das Tal in einem Becken von dunklen Bergen, nur über den östlichen Gipfeln begann der Himmel zu erblassen. Ueber der Ebene war der feuchte Morgennebel in wogender Bewegung, als ob ein unruhiges Leben darunter nach Befreiung strebte. Eine Kuh begann zu brüllen, eine andere antwortete, und zarte Kälberstimmen erklangen aus geschlossenen Ställen. In Ralphs Lager aber schlief noch alles.
Da hörte er das Geräusch von Schritten, der Nebel vor ihm teilte sich, und dort stand der Toda von gestern zwischen zwei jüngeren, die ihm an Augen und Stirn so ähnlich waren, als ob sie seine Söhne seien. Ralph grüßte und zeigte lächelnd auf die Zelte, wo die anderen noch schliefen.
Als die Sonne überm Berge aufstieg, wandten die Todas sich ihr zu, verneigten sich tief, führten die Hand mit gespreizten Fingern zur Stirn und riefen »Swami« (Herr und Gott). Der Alte betrachtete Ralph verwundert fragend; aus seinen großen morgenklaren Augen sprach deutliche Mißbilligung, daß er nichts tat, um den Herrn des Lebens zu ehren. Die Ursprünglichkeit ihres Wesens ergriff Ralph stark. Er fand, daß sie recht hatten und fühlte sich geringer als sie.
Die Nebeldecke zerrann unter dem hervorbrechenden Licht und fiel wie klare Tauperlen auf das frische Gras, das in wogenden Flächen das Tal bedeckte. Dort lagen die Hütten und schimmerten in der Sonne mit ihren runden, strohgeflochtenen Dächern, die an zwei Seiten bis zur Erde reichten.
Vor den Hütten standen Männer und Frauen, die Hand schützend vor den Augen und starrten die Fremden an. Von einem eingefriedigten Platz hinter einem kreisrunden Steinwall in halber Manneshöhe, erklang das ungeduldige Gebrüll der Kühe. Ralph konnte ihre aufwärtsgebogenen Hörner und dunklen Mäuler über dem Zaun sehen. Aus einem länglichen Schuppen mit einem Dach auf Pfählen, brüllten Kälber durcheinander; jedes konnte die Stimme seiner Mutter erkennen und beantwortete ihren Ruf.
Indem Ralph an den Hütten vorbeiging, wurde er von allen mit der Hand auf der Stirn, auf dieselbe gelassene würdige Weise gegrüßt wie gestern. Es gab kein Gekicher, kein Geflüster, es war, als ob ihn eine Schar Kronenhirsche aufmerksam, mit blanken Augen ansahen. Eine Bande von jungen Burschen, bis an den Leib entblößt, standen etwas abseits, frierend, jeder mit einem Bambusgefäß in der Hand.
Jetzt kam ein Greis mit langem, weißem Bart aus der größten Hütte, grüßte die Sonne und verweilte einen Augenblick, um seine Augen ans Licht zu gewöhnen. Dann ging er langsam und schwankend weiter. Ein Weib, das ihm auf seinem Weg begegnete, kniete nieder und hob mit beiden Händen seinen Fuß zu ihrer Stirn hinauf; und desgleichen tat jede Frau, die ihm auf seinem Weg begegnete. Die Männer dagegen verneigten sich und führten die Hand mit gespreizten Fingern zur Stirn, wie sie die Sonne begrüßt hatten.
Als der Alte den Rundplatz zwischen den Hütten erreicht hatte, gab er den wartenden Burschen ein Zeichen. Sofort liefen sie auf die Einfriedigung der Kühe zu. Sobald die Kühe ihrer ansichtig geworden waren, brüllten sie wie besessen. Die Pforte wurde geöffnet, und die dunkelbraunen Tiere drängten herbei, alle auf einmal, so daß sie weder vorwärts noch rückwärts kommen konnten, während die langen Hörner sich ineinander verfilzten. Die Burschen, die für jede einzelne einen Namen hatten, mußten sie mit ihren Stöcken auseinandertreiben. Kaum waren sie frei, als sie im Galopp über die Ebene rasten, so daß der Dampf ihnen aus den erhobenen Mäulern rauchte. Sie machten nicht halt bevor sie eine Wiese erreichten, die bis an den kleinen Fluß ging, der das Tal durchfloß. Dort drängten sie sich ans Ufer, um zu trinken. Die Burschen folgten ihnen bedächtig mit ihren Gefäßen; bevor sie aber die Wiese erreicht hatten, hallte die Luft von einem gellenden Chor wider – vom zartesten Gewimmer bis zum lauten Blöken, das bereits wie Brüllen klang. Es waren die Kälber aus dem länglichen Schuppen, der bereits geöffnet worden war; sie kamen angestürzt, hüpfend, mit gekrümmten Rücken, erhobenen Schwänzen, mit den Beinen zappelnd, die kleinsten wurden beim Wettlauf umgerannt und blökten kläglich, bis auch sie schließlich mitkamen und ihre Mutter fanden, die ihren Kopf vom Fluß nach ihnen umwandte und, das Maul von Wasser triefend, mit einem zärtlichen Gutenmorgen zu sich herangrunzte.
Als Ralph und sein Gefolge die Wiese erreicht hatten, war das Melken bereits in vollem Gange. Von den Kälbern umschnuppert, die auch heranwollten, lagen die Burschen auf den Knien, die Bambusgefäße unter den gespannten Eutern und melkten. Drüben auf dem anderen Ufer des Flusses standen mehrere Stiere und sahen zu, brummend und zornig.
Ralph fühlte sich seltsam bewegt. Es war ihm, als ob die »Blauen Berge«, die seit dem Morgen der Zeiten dieses stille Tal von der übrigen Welt abgeschlossen, es auch über jede Zeit hinweggehoben hatten. Aug in Aug mit Sonne, Mond und Sternen, ohne andere Ereignisse als den Pulsschlag, der niemals aufhört: Tag und Nacht, Frühling und Herbst, war es ein Ort geworden, wo nur das Ursprüngliche und Einfache gedieh. Er fühlte sich in dem funkelnden Morgen, der über dem fruchtbaren Wellenland lag, von einem seltsamen Heimatgefühl ergriffen. Er erinnerte sich an Barnetts Worte, und dachte, ob es wirklich der letzte ungemischte Rest seiner arischen Vorfahren war, der hier wie vor Jahrtausenden lebte? Er fand, daß er nie dem Wertvollen und Wesentlichen näher gewesen war als jetzt, und wünschte einen Augenblick, daß er zeit seines Lebens hier bleiben könnte, – aber nicht allein. Die Erinnerung an Helen legte sich wie ein nagender Schmerz auf sein Gemüt.
Nachdem Ralph sich von den Todas verabschiedet hatte, verbrachte er einen ganzen Tag damit, Vogelwild im Bergwald zu jagen. Er und der Shikari waren voran, Chundri folgte ihnen mit Zelten und Pferden. Wo der Weg zum heiligen Berg sich mit dem Weg zum Wasserfall vereinigte, den Ralph auf Chundries Anraten unbedingt sehen mußte, wollten sie wieder zusammentreffen.
Als Ralph und der Shikari den Ort erreichten, wo der Paikarafluß sich schäumend mit dem Pavakbach vereinigt, begegnete ihnen ein armer Jogi, der auf bloßen Füßen durch den Sand trabte, mit seinem Stab in der Hand und einer Kumme am Gürtel. Er trat zur Seite und blieb stehen, um zu betteln. Ralph warf ihm eine Münze zu. Der Jogi verbeugte sich mit vielen Danksagungen, machte aber keine Miene, weiterzugehen. Der Shikari begriff, daß er noch etwas auf dem Herzen hatte, und winkte ihn heran.
»Das ist ein Golla,« sagte der Shikari und wandte sich zu Ralph. »Er hat einen Brief für Sahib von Shankar in Kotagiri.«
Der Golla gab ihnen zu verstehen, daß er sie allein sprechen müsse. Sie ritten so weit vor, bis keiner vom Gefolge sie mehr hören konnte. Da erzählte der Jogi, daß er mit der Eisenbahn von Madura nach Kotagiri gekommen sei, um Sahib einen Brief zu bringen. In Kotagiri habe er Shankar getroffen. Da er aber den Brief keinem anderen als Sahib selbst übergeben dürfe, habe Shankar ihm angewiesen, wie er ihn finden könnte. Er öffnete einen der großen Rudrakshakerne seines Rosenkranzes, der ihm in einer doppelten Kette um den Hals hing, und nahm ein zusammengerolltes Stück Briefpapier heraus. Als Ralph ihn fragte, von wem es sei, heftete er seine großen scheuen Augen auf ihn und reichte ihm das Papier, als ob er sagen wollte: Lies es, dann weißt du Bescheid!
Ralph gab es dem Shikari zum Uebersetzen.
Darauf stand:
»Rette deinen Freund, Sahib. Er ist von den Brahmanen gefangengenommen worden.«
»Hast du dieses Papier von einer Frau?« fragte Ralph durch den Shikari.
Der Golla nickte.
»Einer Dewadasi?«
Der Golla legte zwei Finger auf den Mund und antwortete nicht.
Ralph ließ sich einen Pferdejungen mitgeben, der ihm den Rückweg zeigen und den nötigen Proviant tragen sollte. Dann ritt er so schnell die Ponys es vermochten nach Kotagiri, während der Shikari mit den andern folgte. Er ritt den ganzen Tag und fast die ganze Nacht; sie schliefen nur einige Stunden und hielten abwechselnd Wache. Im Laufe des Vormittags ritten sie in die Stadt ein, und Ralph traf Shankar, der ihn im Hotel erwartete.
Als Ralph nach Madura kam, suchte er sofort Barnett auf, um ihn in alles Geschehene einzuweihen.
Der Engländer war sehr bedenklich und verurteilte Davis' Benehmen mit stärkeren Ausdrücken, als man seinem zurückhaltenden Wesen zugetraut hätte.
Er riet aufs bestimmteste davon ab, was auch Shankar getan hatte, die Polizei in die Sache einzumischen. Er meinte, daß Davis auf dem Gebiet des Tempels selbst, wo die englische Obrigkeit nichts zu sagen hatte, verborgen gehalten würde. Der Madura-Tempel hatte seine eigene Gerichtsverfassung, die ausschließlich in den Händen der Brahmanen lag. Kränkte man ihr Recht, kam man in Gefahr, daß Davis aus dem Weg geräumt würde, ohne irgendeine Spur zu hinterlassen. Das klügste würde sein, den Versuch zu machen, mit dem Absender des Briefes in Verbindung zu kommen.
Ralph telegraphierte an den Shikari, und dieser antwortete, daß es ihm geglückt sei, dem Golla zu entlocken, daß er den Brief von einer Dewadasi seiner eigenen Kaste bekommen habe; dieser hatte sie eines Morgens beim Kali-Tempel getroffen, wo sie ihn für denselben Abend neben den südlichen Gopuram bestellt hatte.
Ralph begab sich wieder zu Barnett, der ihm mitteilte, daß er bei Ramalingam gewesen sei. Der Brahmane war freundlich und entgegenkommend gewesen, hatte sich aber ganz unwissend gestellt und ihn an den Oberbrahmanen verwiesen. Auch ihn hatte Barnett aufgesucht. Der alte Weise hatte wissen wollen, was es für ein Verbrechen sei, das in dem heiligen Tempel begangen wäre, da man den Rat verdächtigte, solch ernste Vergeltung geübt zu haben. Das hatte Barnett nicht zu verraten gewagt, aus Furcht der Sache mehr zu schaden als zu nützen.
Ralph verlor die Geduld und schwur, daß er den ganzen hohen Rat von gedungenen Banditen einfangen und als Geiseln behalten wollte, bis sie Davis ausgeliefert hätten. Darüber wäre Shankar fast auf den Rücken gefallen, aber auch Barnett riet auf das bestimmteste von jeder Art Tempelschändung ab. Nicht allein, daß Davis dadurch unschädlich gemacht werden konnte, sondern das Leben aller übrigen Weißen in der Umgebung würde auch in Gefahr kommen. Es gab keinen anderen Ausweg als List.
Wieder vergingen einige Tage, ohne daß Ralph dem Ziel einen Schritt näher gekommen wäre. Er war zu Barnett ins Kollegium gezogen, da er nicht im Bahnhofsgebäude wohnen bleiben konnte, dessen Zimmer, den Bestimmungen zufolge, nur Durchreisenden vorbehalten waren.
Eines Morgens erschienen zwei feierliche Sikhs im Kollegium, mit einer Vorladung für Ralph vor den Richterstuhl des Bezirks, wegen seiner gestohlenen Handtasche. Die ganze Korava-Bande war verhaftet und von dem Tahsildar in Conoor dem Gericht in Madura übergeben worden, damit dort in Ralphs Anwesenheit ein Verhör stattfinden konnte.
Shankar wollte sich damit entschuldigen, daß er seine Studien im Kollegium nicht versäumen könne, Barnett aber gab ihm frei, und wie ungern er es auch wollte, mußte er Ralph zu dem Schloß des alten Königs Tirumala begleiten, wo sich die Gerichtsräume der Stadt befanden. Durch ein gewölbtes Granittor fuhren sie in einen viereckigen Schloßhof, der von hohen Säulengängen mit reich geschnitzten Kapitälen umgeben war. Eingeborene bewegten sich zwischen den Säulengängen, wie in dem Vorhof eines europäischen Gerichtsgebäudes; da waren Advokaten mit ihren Klienten, Richter und Bevollmächtigte, die zu ihrem Kontorstuhl eilten, Zeugen, Schreiber und Boten, und eine Ordenspolizei von schlanken, ernsten Sikhs, mit großen hellbraunen Turbanen über hochgewölbten Stirnen und wehmütig blickenden Augen.
Shankar bebte am ganzen Körper und warf seine Blicke umher. Und als sie durch den Säulengang die Tür erreicht hatten, die zu dem achteckigen, gewölbten Gerichtssaal führte, war es mit seiner Fassung vorbei.
Der Türwächter hatte die Flügel bereits zur Seite geschlagen, und Ralph blickte in einen hohen, gewölbten Raum mit Oberlicht. Auf einer Art Katheder saß ein eingeborener Richter mit einer großen, runden Hornbrille, den flachen Kahlkopf mit dem feisten Nacken über einen Haufen Akten gebeugt. Auf einer Bank vor ihm saß eine Reihe ernster, weißgekleideter Eingeborener, aufmerksam, wie Schüler in einem Hörsaal: das war die Jury. Neben dem Katheder saßen eingeborene Schreiber an kleinen Tischen, mit Bergen von Akten vor sich, und im Hintergrund saß eine Reihe eingeborener Männer und Frauen längs der runden Wand, die angstvollen Tieraugen auf die kahlköpfige Gottheit oben auf dem Katheder geheftet. Einige von ihnen hatten Handeisen mit Fesseln an Händen und Füßen; Ralph erkannte beim ersten Blick sowohl den Schlangenbändiger, wie die runzlige Hexe, die ihm hatte wahrsagen wollen.
Das alles hatte auch Shankar gesehen. Er trat hastig zur Seite und war nicht zu bewegen, mit hineinzugehen. Ralph zog ihn mit sich in den Säulengang, und hier bekannte Shankar, daß er Furcht habe. Wenn er sich im Gerichtssaal zeigte und gegen die Bande aussagte, würde er ein zu Tode Verurteilter sein. Er würde eines Abends, wenn er im Garten des Kollegiums ging, einen Dolchstich in den Rücken bekommen, oder von hinten durch einen Schlangenbiß vergiftet werden. An Weiße wagten sie sich nicht heran, aber ein Eingeborener, der sie verraten hatte, konnte ihrer Rache sicher sein.
Shankars Hände zitterten und sein Blick flackerte unruhig; es war kein Zweifel, daß er die Wahrheit sprach. Da bekam Ralph einen guten Einfall, den er sofort verwirklichte.
Er faßte Shankar am Rockkragen und sah ihm in die Augen mit einem Blick, der wie Stahl funkelte.
»Ich will Ihnen etwas sagen, Shankar: entweder sorgen Sie dafür, daß Davis seine Freiheit wiedererlangt, und dann sollen Sie fünfhundert Rupien bekommen, außer der Summe, die Davis Ihnen geben wird – oder ich lasse die Korava-Bande wissen, daß Sie es sind, der sie bei dem Tahsildar verraten hat. Sie haben also die Wahl.«
Shankar wand sich kläglich. Wer war er, daß er das Siegel der Brahmanen brechen konnte? Der Bursche tat Ralph leid und er räumte in seinem Herzen ein, daß er brutal gegen ihn handelte, aber es war der einzige Ausweg, der ihm blieb, und er ließ nicht nach, bevor Shankar sich ergeben hatte.
Shankar verfiel auf eine List, um Davis zu befreien. Er stellte sich wie ein Bußfertiger, der das Gelübde getan hat, den ganzen Tag mit Beten im Tempel zu verbringen, um eine Sünde zu sühnen, die er auf seiner Reise begangen hatte. Sobald das Tempeltor geöffnet wurde, kam er, den Arm voll großer gelber Tempelblumen, die er rings herum bei den Altären verteilte, bei Sundareshvars, der Fischäugigen, und bei Ganesh, am meisten aber opferte er vor der großen Siva-Statue, die Ralph ihm beschrieben hatte, – jenem Altar, vor dem sie die Dewadasi tanzen gesehen und wo sie ihren Tali verloren hatte. Er wanderte durch die langen, schwülen Gänge, bis der Schweiß ihm vom Körper rann, saß mit gebeugtem Kopf und gekreuzten Beinen am Eingang zum »Teich der goldenen Lilien«, anscheinend wie ein Jogi in Schauen versunken, in Wirklichkeit aber dem Gespräch der Tempelwärter, Tempelfeger, Elefantenwärter, Lichtreiniger und aller anderen, die durch das breite Tor ein- und ausgingen, lauschend. Er bekam auch die Dewadasen zu Gesicht, sowohl die, die rechter wie linker Hand angetraut waren, wenn sie von ihrem Morgenspaziergang heimkehrten und durch die Gänge zu ihren Zimmern gingen. Nach Ralphs Beschreibung aber war es ihm nicht möglich, festzustellen, wer die richtige war, und sie anzureden war eine Unmöglichkeit.
Eines Abends sah er eine alte graugekleidete Daja nach Hause gewankt kommen, kurz bevor der Tempel geschlossen werden sollte. Sie schluchzte und trocknete sich die Augen. Shankar hielt sie an und fragte, ob sie ihm nicht sagen möchte, wie er aus dem Tor herausgelangen könne, nachdem es geschlossen sei; denn er sei mit der Anzahl von Gebeten, die ihm zur Buße vorgeschrieben seien, noch nicht fertig, und müsse am nächsten Morgen zeitig, bevor das Tempeltor geöffnet würde, weiterreisen. Er wolle ihr geben, was sie verlange, und er zeigte ihr seinen Beutel mit vielen blanken Rupien. Die Daja forderte ihn auf, ihr durch den Fledermausgang zu folgen, und zeigte ihm eine Tür, wo er anklopfen könne, wenn er fertig sei. Dann wolle sie kommen und ihn hinauslassen. Er fing ein Gespräch mit ihr an und fragte sie, warum sie so traurig sei. Erst wollte sie nicht mit der Sprache heraus, schließlich aber machte sie ihrem Kummer Luft und vertraute ihm an, daß sie das einzige Wesen verloren habe, das ihr teuer sei. Ihre geliebte kleine Dewadasi, die sie aufgezogen hätte, sei aus dem Tempel entflohen, niemand wüßte wohin. Er wagte nicht weiter in sie zu dringen, er konnte ihr ansehen, daß sie fürchtete, bereits zuviel gesagt zu haben. Nach einer Weile aber begann sie wieder klagend: Wie groß das Unglück auch sei, so hoffe sie doch, daß sie nie zurückkehren würde; denn wenn sie es täte, würden die Brahmanen ihr Ohren und Nase abschneiden lassen. Denn so wäre die Strafe für eine Dewadasi, die das Lager des Gottes beschmutzt, indem sie sich einem kastenlosen Fremden hingegeben habe. Shankar versuchte sie nach dem Fremden auszuforschen, über ihn aber ließ sich die Daja kein Wort entlocken. Dann begleitete sie Shankar hinaus; er gab ihr zwei blanke Rupien, sah aber im selben Augenblick, daß er zu freigebig gewesen war, denn mitten in ihren Danksagungen traf ihn ein mißtrauischer Blick aus den betrübten, grauen Augen.
Die Hoffnung, die Ralph genährt hatte, daß sie durch Hilfe der Dewadasi, die Davis' Geliebte gewesen war, ihn befreien konnten, war also zunichte geworden. Jetzt konnten sie auf niemand anders bauen, als auf sich selbst.
Wenn Barnett recht hatte, daß Davis innerhalb des ungeheuren Tempelraumes verborgen gehalten würde, mußte zwischen der Dienerschaft des Tempels jemand sein, der den Gefangenen bewachte und ihm Nahrung brachte. Darum faßte Ralph im Verein mit Barnett den Entschluß, daß Shankar und er sich verkleidet eine oder zwei Nächte im Tempel verbergen wollten, um die Wache auszuspionieren und dadurch zu erfahren, wo das Gefängnis war.
Wenn auch dies mißglückte, wollte Ralph nicht länger zögern, sondern gleich nach Madras reisen, um persönlich dem Gouverneur von allem Mitteilung zu machen, obgleich er dann nicht umhin konnte, zu verraten, wie tief Davis religiöse Gefühle gekränkt hatte, die von der englischen Regierung geschützt wurden, und dadurch im Grunde nur den verdienten Lohn geerntet hatte. Was aber blieb ihm anderes übrig?
Ralph begab sich, als wohlhabender Sudra verkleidet, zur Abendzeit mit Shankar in den Tempel. Sie versteckten sich in der Halle der tausend Säulen, bis sie hörten, daß das große Tempeltor zugeschlagen wurde. Ralph hatte für alle Fälle seinen Revolver bei sich und eine elektrische Taschenlampe, die Barnett ihm verschafft hatte.
Er tastete sich durch die Säulen vorwärts, während Shankar ihm zitternd folgte; der arme Vellala ahnte in jedem raschelnden Laut das Spiel der Dämonen, und sagte die halb vergessenen Beschwörungen seiner Kindheit vor sich hin.
Der schwache Luftdruck aus der schmalen Oeffnung unter dem Dach verriet, daß sie endlich den langen Korridor erreicht hatten. Da hörten sie ferne, schleppende Schritte. Shankar klammerte sich an Ralphs Arm, überzeugt, daß es der Gewaltige selbst sei, der von seinem Altar herabgestiegen sei, um sie zu vernichten. Ralph aber war sich bald darüber klar, daß es das Stampfen der heiligen Elefanten im Stall sei, das zwischen den Säulen widerhallte.
Ralph machte sich Bewegung, um nicht vom Schlaf übermannt zu werden. Da er die elektrisch Laterne nur im Notfall zu benutzen wagte, tasteten sie auf Strumpffüßen längs der Mauer und zwischen Säulen umher, ohne zu ahnen, wo sie sich befanden.
Endlich dämmerte der erste bleiche Morgen durch die Oeffnung unterm Dach. Die ungeheuren Spinngewebe an der Mauer traten aus der Dunkelheit hervor; Säulen tauchten auf, wie in Flor gehüllt, bis das Licht die schwellenden Hüften und runden Beine der tanzenden Göttinnen, die aufgerissenen Rachen und großen leeren Augenhöhlen der Greife entschleierte.
Shankar hatte sich bei dem zunehmenden Licht mehr und mehr beruhigt, als ein seltsamer Laut, ein taktfestes Klopfen in der Ferne von geheimnisvollen, schleppenden Schritten gefolgt, sein Ohr erreichte und ihn von neuem zusammenfahren ließ. Der Laut kam immer näher. Sie traten hinter die Säulen; nachdem sie eine Weile gewartet hatten, sahen sie den heiligen Krüppel, der sich über Davis' falsche Rupie erbost hatte, am Ende des Fledermausganges im Halbdunkel auftauchen.
Es war, als ob eine der verzerrten Figuren von der herabsickernden Dämmerung ins Leben gerufen worden sei, sich aus der Umarmung der Säule gelöst habe und jetzt wie ein leibhaftiger Dämon mit verkrüppelten Beinen, den lahmen Unterkörper hinter sich herschleppend, halb noch Stein, auf sie zukäme. Das taktfeste Klopfen, das ihnen ins Ohr gedrungen war, rührte von den Krücken her. Die knochenmageren Schultern schoben sich unter dem Gewicht des lahmen Körpers, den die Stöcke trugen, bis an die Ohren, während der große Kopf wie eine schwere Blume auf einem dünnen Stengel beim Gang hin und her wackelte; in dem seltsamen Glanz der Augen leuchtete es wie aus einer anderen Welt, und auf dem leichenfarbigen Gesicht lag ein Lächeln von solch machtvoller Bosheit, wie nur der lächeln kann, der fühlt, daß sein irdisches Elend einen Gott dazu verlockt hat, ihn zum Werkzeug seiner Rache zu machen.
Der Krüppel bog nach links ab und verschwand in der Dunkelheit des erzenen Tores. Als kein Laut mehr zu hören war, wagte Ralph sich hinter der Säule hervor; Shankar versuchte vergeblich, ihn zurückzuhalten, und da er nicht allein zu bleiben wagte, sah er sich genötigt, ihm zu folgen. Sie erreichten das Tor und blieben wieder stehen, um zu lauschen.
Alles war still. Ralph schlich sich in den dunklen Torraum, von wo sie die innere Halle ganz bis zu dem Heiligtum der Fischäugigen übersehen konnten. Nichts Lebendes war zu sehen und zu hören; es war, als ob der Krüppel in die Erde gesunken sei. Hier mußte also eine Treppe zu einem Tempelkeller sein. Ralph wagte nicht seine Lampe anzuzünden, er ging an der Mauer entlang und fühlte mit den Füßen, ob nicht irgendwo eine Treppe nach unten führte.
Da erklang ein seltsam gurgelnder Laut über ihren Köpfen, verstummte und begann von neuem, und löste sich schließlich in ein menschliches Gelächter voll übermütiger Bosheit aus. Da wurde es Ralph klar, daß der große weiße Vorraum, wo sie standen, der Aufgang zu einem der mächtigen Gopurams war, die ihre zehn Stockwerke zum Himmelsnabel erhoben; und gleichzeitig wurde es ihm klar, daß der Gefangene nicht unter der Erde, sondern in einem geheimen Raum des Turmes gesucht werden müsse. Ihm ahnte, wer der Lacher war und was das Lachen bedeutete. Und als er einen Laut hörte, wie von einem kranken Tier, das sich in seine Höhle hinunterschleppt, einen Laut, der sich dem Ort näherte, wo sie standen, faßte er im selben Augenblick einen Entschluß. Er folgte dem Geräusch und entdeckte, indem er sich vorwärts tastete, eine Türöffnung in der Mauer, hinter der breite, schleimige Steinstufen zu pechschwarzer Dunkelheit hinaufführten. Er schob Shankar hinter die Tür und stellte sich selbst daneben.
Der schleppende Laut erreichte jetzt die Türöffnung und der Krüppel taumelte heraus, die Krücken hinter sich herziehend. Dann hörten sie, wie er sich mit Beschwer erhob, die Krücken unter die Armhöhle schob, um den Weg zurückzuhumpeln, den er gekommen war. Er erreichte die Türöffnung und stand dort, sich wie eine phantastische Silhouette gegen das Licht der Halle abhebend. Da sprang Ralph hervor und griff mit beiden Händen von hinten um seinen dünnen Hals. Ein Schauder durchfuhr ihn, als er den Adamsapfel unter seinen Fingern zurückweichen fühlte; er brauchte nicht fest zuzudrücken, denn die Gestalt sank unter einem leisen Röcheln zusammen, während die Krücken die Arme in die Höhe schoben, als ob sie sich betend zum Himmel streckten. Ralph stopfte dem Krüppel sein Taschentuch als Knebel in den Mund und band ihm die Hände auf den Rücken, mit den Enden seines eigenen Lendentuches. Shankar mußte bei dem Krüppel Wache halten und versteckte sich in der Dunkelheit hinter ihm, damit die leuchtenden Augen ihn nicht mit ihrer Bosheit treffen, oder davon Kenntnis nehmen sollten, wer es war, der sich gegen das heilige Werkzeug der Götter vergangen hatte.
Ralph tastete sich die schleimige Wendeltreppe hinauf; indem er die Hand an der Mauer entlanggleiten ließ, fühlte er eilig flüchtendes Getier unter seinen Fingern und zog sie schaudernd zurück. Als er die dreißigste Stufe erreicht hatte, fiel Licht von oben herab; und als er noch einige zwanzig Stufen hinaufgestiegen war, stand er mitten im Morgenlicht vor einem viereckigen Guckloch, das Ausblick auf die Stadt bot, zwischen zwei riesenhohen Statuen von Sivas Frau, Parvati. Er konnte das Dach des Bahnhofes hinter den Tamarinden erkennen, und einen Schimmer vom Fluß im Westen; der Mond schwamm wie eine Schneeflocke auf dem noch blassen Himmel.
Er untersuchte die Mauer, fand aber weder Luke noch Tür. Er stieg die Treppe weiter hinauf, die jetzt keine Wendeltreppe mehr war, sondern in viereckigen Absätzen um den Kern des Turmes anstieg. Als er zwanzig Stufen gestiegen war, stand er abermals vor einem Guckloch, diesmal auf der entgegengesetzten Seite des Turmes, nach Osten gewandt. Das blendende Licht der aufgehenden Sonne hinderte ihn, die einzelnen Gegenstände in dem mächtigen Tempelviereck, in das er hinabsah, zu unterscheiden: dort waren Dächer und wieder Dächer an den Ecken mit Statuen geschmückt, ein offener Hof, wo er ruhende Kamele zu sehen meinte, und ein Bassin zwischen hohen Säulengängen, in dem er den »Teich der goldenen Lilien« erkannte. Ein schwer stöhnender Seufzer der erwachenden Stadt stieg zu ihm herauf, ein Seufzer, der der Bürde des Lebens galt, die abermals getragen werden und die Summe der Leiden um den Schmerz eines neuen Tages vergrößern sollte. Ein Gefühl, als ob er selbst von dem zunehmenden Licht zu Boden gedrückt würde, ließ ihn den Kopf beugen; ein seltsames Gefühl des Mitleids, unbestimmt und dennoch stark ergreifend, brachte sein Herz zum Zittern. Im selben Augenblick war es ihm, als ob der Seufzer in seiner unmittelbaren Nähe erklänge – der Seufzer eines lebenden Wesens dicht neben seinem Ohr.
Er ging noch einige Schritte nach links, und entdeckte in der Mauer ein viereckiges Loch, nicht größer als eine gewöhnliche Fensterscheibe, die mit Eisen vergittert war. Darunter befand sich eine Pritsche von Stein, und im selben Augenblick begriff er, daß der Krüppel hier gesessen und sich an der Not des Gefangenen ergötzt hatte. Neben dem Loch, mitten in der Mauer, war eine metallene Tür, die mit zwei schweren Eisenriegeln verschlossen war.
* * *