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Dimitrij von Gallitzin.

Prinz Mitri war von klein auf das Sorgenkind seiner Mutter. Er schien so gar nicht die Hoffnungen erfüllen zu wollen, die sie auf ihn setzte. Sie hätte ihn gern mutig, energisch, frei und offen auftreten gesehen; er aber zeigte sich ängstlich, scheu, weichmütig, ein wenig träge und unentschlossen, jedem fremden Einfluß leicht nachgebend. Die körperlichen Abhärtungen, die sie zur Stärkung der Gesundheit und Festigung des Charakters nötig fand, waren ihm überaus lästig, und wenn es sich nur irgend machen ließ, ging er ihnen aus dem Wege. Da dies nur heimlich geschehen konnte, nahm er zuweilen seine Zuflucht zu kleinen Unaufrichtigkeiten, die von der Mutter als »Heuchelei« bezeichnet und streng bestraft wurden – war ihr selbst Wahrhaftigkeit doch neben der Nächstenliebe seit je eine der erstrebenswürdigsten Tugenden. »Gott lege Aufrichtigkeit in Dein Herz«, schrieb sie ihm am Vorabend seines achtzehnten Geburtstages, »welches Du so verdreht hast, daß es seit einiger Zeit weder ein gesundes Wahrheitsgefühl in sich zu fassen noch eine reine, wahre Äußerung von sich zu geben fähig zu sein scheint.« Aber auch das offene Geständnis eines Vergehens oder eines Irrtums befriedigte sie nicht immer: »Du hast mir wohl die Wahrheit gestanden«, heißt es in einem späteren Briefe, »aber wenn Deine Besserung nicht im Tun, sondern wieder nur unter dem Namen der Aufrichtigkeit bloß darin besteht, daß du mir die Wahrheit sagst, so wird die zweite Heuchelei größer als die erste; Du wirst fortfahren, schlecht zu sein, und Dein Gewissen damit verkleistern, daß Du es gestehst. Mitri, ich zittere für Dich und finde keine Ruhe als in Hoffnung und Gebet!« Wieder in einem andern Geburtstagsbriefe bittet sie ihn, sich doch endlich von der »sklavischen, weichlichen, trägen Untätigkeit« frei zu machen und den festen Vorsatz zur Besserung zu fassen.

Daß der Knabe nicht so schlecht war, wie man aus diesen Briefproben schließen könnte, beweisen andere Aussprüche der Fürstin selbst, die in ihrem Tagebuch sehr oft zugibt, gegen ihn ungerecht gewesen zu sein, ihn zu streng oder mit zu großer Heftigkeit behandelt zu haben, und seine Gutmütigkeit und Verträglichkeit lobt.

Je näher die Zeit kam, daß Dimitrij eine seinem Range gebührende Stellung in der Welt einnehmen sollte, um so mehr wuchs die Sorge der Mutter um ihn. Sie fand ihn noch so unreif fürs Leben, daß sie gar nicht daran denken mochte, ihn von sich zu lassen. Und doch mußte das sein. Als Sohn eines hohen Staatsbeamten war er schon als kleiner Knabe zum Fähnrich des St Petersburger Leibgarderegiments ernannt worden und hatte die Verpflichtung, sich, sobald er das vorgeschriebene Alter erreicht hatte, bei seinem Regiment zu stellen. Die Fürstin zitterte bei dem Gedanken, daß der erste Schritt in die Welt den ihrer Überzeugung nach willensschwachen, wankelmütigen Jüngling in das leichtfertige Treiben führen sollte, welches zu Zeiten der Zarin Katharina am russischen Hofe herrschte. Sie erbat daher von ihrem Gemahl die Erlaubnis, daß der Prinz zuerst unter Aufsicht eines erfahrenen Mannes als Freiwilliger bei einer andern Macht in Kriegsdienst treten dürfe; doch der Ausführung dieses Planes stellten sich allerhand Schwierigkeiten entgegen. Nun beschloß sie, Dimitrij auf einige Zeit in verläßlicher Begleitung auf Reisen zu schicken. Es traf sich günstig, daß gerade damals ein junger Priester namens Brosius, der im Drosteschen Hause Lehrer gewesen war, den Entschluß gefaßt hatte, als Missionär nach Amerika zu gehen. Die Fürstin kam mit ihrem Gemahl überein, ihren Sohn diesem ihr als fromm und gebildet bekannten Geistlichen anzuvertrauen: Dimitrij sollte etwa zwei Jahre in Amerika umherreisen, und zwar unter dem Namen Schmidt oder Smith, um durch seine vornehme gesellschaftliche Stellung nicht im genauen Kennenlernen von Land und Leuten gestört zu werden. So verließ der 22jährige Prinz denn im August 1792 Europa, nicht ahnend, daß er die Heimat nie mehr wiedersehen sollte. Der Abschied von der Mutter, die ihn bis Rotterdam begleitet hatte, gestaltete sich etwas sonderbar: Das Schiff, auf dem die Überfahrt bewerkstelligt werden sollte, lag auf der Reede vor Anker, und Dimitrij mußte sich in einem kleinen Boote zu ihm hinrudern lassen. Als er jedoch die hohen Wellen und das schwankende Fahrzeug erblickte, entschwand ihm aller Mut, und er versuchte der Mutter auseinander zu setzen, daß die ganze Reise eigentlich unnütz sei und ganz gut unterbleiben könnte. Da wandte die Fürstin sich mit flammenden Augen zu ihm und mit dem zürnenden Ausruf: »Mitri, ich schäme mich für dich!« packte sie ihn am Arm und zog ihn zum Boote hin. Im nächsten Moment lag der Prinz, so lang er war, im Wasser; ob er ausgeglitten war oder ob die Mutter ihn ins Meer gestoßen hatte, um seine Wasserscheu zu besiegen, wußte er später nicht zu sagen, jedenfalls aber saß er, von den lachenden Ruderknechten herausgezogen, gleich darauf in triefenden Kleidern im Boote und winkte der ihm ernst nachblickenden Fürstin den letzten Abschiedsgruß zu – den letzten fürs Leben.

Kaum fühlte sich der junge Prinz von der Obhut der Mutter befreit und auf eigene Füße gestellt, als mit ihm eine Wandlung vorging, die weder er selbst noch jemand aus seiner Umgebung für möglich gehalten hätte, mit Ausnahme seines Vaters vielleicht, der wiederholt zur Fürstin geäußert hatte: »Du irrst dich in seinem Charakter.« Alle Schüchternheit und Ängstlichkeit war verschwunden, der junge Mann trat trotz bescheidenen, liebenswürdigen Wesens sehr sicher auf und schien genau zu wissen, was er wollte.

Bald genug sollte die Mutter Beweise dieser Veränderung erhalten. Gleich einer der ersten Briefe, die sie von dem Sohne empfing, meldete ihr dessen Entschluß, Priester zu werden und sich dem mühseligen, mit tausend Gefahren und Beschwerden verbundenen Beruf eines Missionärs zu widmen. Es ist begreiflich, daß Fürstin Amalie diese Nachricht ohne jede Freude aufnahm; mußte sie doch nach ihren bisherigen Erfahrungen an Dimitrij, ja noch nach der im Augenblick der Abreise bewiesenen Unentschlossenheit annehmen, daß es sich nur um eine vorübergehende Laune handle, daß der Prinz nie und nimmer die Ausdauer finden werde, seinen Vorsatz auszuführen, daß er etwas beginnen wolle, was seine Körper- und Geisteskräfte weit übersteige. Doch konnte sie aus der Ferne nichts tun, als ihn in langen Briefen zu reiflicher Überlegung mahnen und Gott in heißem Gebete anflehen, er möge ihren Sohn »vor dem Unglück einer üblen Wahl erretten und vor dem noch größeren, nachher die Pflichten seines Standes schlecht zu erfüllen«. Auch hielt sie es für ihre Schuldigkeit, seine neue Umgebung auf die Fehler in seinem Charakter aufmerksam zu machen und vor seinem Wankelmut zu warnen – ein Vorgehen, das den Verdacht auf sie lud, eine lieblose, eigensinnige Mutter zu sein, die auf jeden Fall ihren Willen durchsetzen wolle. Als sie jedoch mit der Zeit die Überzeugung gewann, daß ihre Sorge unnütz gewesen, daß Dimitrij mit unerschütterlicher Willensstärke dem hohen Ziele zustrebte, welches er sich gesteckt, da fand sie ihm und ihren Freunden gegenüber nur Worte der Freude und des jubelnden Dankes gegen Gott, der ihr »verlorenes Schäfchen« auf den rechten Weg geführt hatte. »Gebenedeit sei, der da kam und der da kommen wird im Namen des Herrn!« frohlockt sie in einem Briefe an den Grafen Stolberg, nachdem sie ihm von Dimitrijs festem Entschluß erzählt hat, »Hosanna in der Höhe! Der ist es, aus dessen Atmosphäre jede wahre Freude entsproßt!« Geduldig ertrug sie die Vorwürfe ihres Gemahls, der sie beschuldigte, sie habe schon früher von den Plänen des Sohnes gewußt und die Reise nach Amerika nur vorgeschlagen, um deren Ausführung zu ermöglichen; nur sie und ihre Erziehung seien daran schuld, daß der Prinz auf eine glänzende Stellung in der Gesellschaft verzichte, um dagegen das harte Los eines armen Missionärs einzutauschen. Des Fürsten Groll währte jedoch nicht lange; sobald er nicht mehr daran zweifeln konnte, daß Dimitrij ganz aus freiem Willen gehandelt hatte und daß an dem Geschehenen nichts mehr zu ändern war, erklärte er, er könne das Vorgehen seines Sohnes weder begreifen noch gutheißen, wenn er ihn aber je wiedersehen sollte, so werde er ihn auf das beste empfangen und ihm kein unfreundliches Wort sagen; einem »Enthusiasten« sei eben mit Vernunftgründen nicht beizukommen.

Prinz Dimitrij hatte sich bald nach seiner Ankunft in Amerika nach Baltimore begeben zum Bischof Johann Carroll, dem ersten und damals einzigen Bischof der Vereinigten Staaten, an den er von der Heimat aus empfohlen worden war. Während der Schreckenszeit der Revolution hatten mehrere französische Priester zu Bischof Carroll ihre Zuflucht genommen, darunter auch Nagot, Präsident des berühmten Seminars von St Sulpice in Paris, der in Baltimore den Grund zu einer geistlichen Erziehungsanstalt zu legen suchte. Dimitrij gesellte sich zu den wenigen jungen Leuten, die Nagot in seiner Privatwohnung in Georgetown bei Baltimore als Zöglinge aufgenommen hatte, und widmete sich mit Eifer dem Studium der Theologie. Er, der sich als Knabe wegen seiner Trägheit und Bequemlichkeit so oft die Vorwürfe der Mutter zugezogen hatte, führte hier ein derart fleißiges und aszetisches Leben, daß seine Vorgesetzten zuweilen seinem Übereifer Grenzen ziehen mußten: er studierte tief in die Nacht hinein, bis ihm das Licht fortgenommen wurde; er fastete, kleidete sich in grobe Gewänder, die ihn im Winter kaum vor der Kälte schützten, und schlief auf dem Fußboden, ein großes Buch als Kopfkissen benutzend. Warnte man ihn, seine Kräfte nicht so zu vergeuden, so erwiderte er, daß er solche Abhärtungen für notwendig halte, um sich auf die ihm bevorstehenden Beschwerden des Missionärberufes vorzubereiten. Wie oft mag er jetzt der Mutter im Geiste gedankt haben, daß sie ihn von Kindheit an zu körperlichen Übungen angehalten hatte!

Im Sommer 1794 empfing der junge Gallitzin die niedern Weihen, am 21. November desselben Jahres das Subdiakonat und zu Weihnachten das Diakonat; am 16. März 1795 wurde er zum Priester geweiht und gleich ans Werk gestellt: kaum einen Monat später war er schon in Port Tobacco und Umgegend als Missionär tätig, wurde jedoch bald darauf vom Bischof nach Baltimore berufen, um als derzeit einziger deutscher Priester der Stadt die Seelsorge der deutschen Katholiken daselbst zu übernehmen. Nachdem er dann einige Jahre je nach Bedürfnis der im Lande verstreuten Gemeinden und Anordnung seiner Vorgesetzten bald hier bald dort seinem Berufe nachgegangen war, teilte er dem Bischof den Entschluß mit, sich im westlichen Pennsylvanien, auf den Höhen des Alleghanygebirges, wo bereits einzelne katholische Familien hausten, anzusiedeln, eine eigene Gemeinde zu gründen und von dort aus die benachbarten Kolonien zu pastorieren. Der Bischof gab seine Einwilligung, und im Spätsommer 1799 zog Gallitzin in die Einöde, die ihm zur neuen Heimat werden sollte. Er kaufte ein großes Stück Land, das er in kleinen Teilen an arme Gemeindeglieder abtrat, meist ohne die geringste Zahlung dafür zu erhalten. Seine Hauptsorge aber galt der Errichtung eines Gotteshauses. Schon nach wenigen Monaten erhob sich mitten im Urwalde der bescheidene, aus rohen Baumstämmen ausgeführte Bau, und in der Weihnachtsnacht 1799 konnte die Einweihung vollzogen werden, wie Gallitzins Biograph und zeitweiliger Hausgenosse P. Heinrich Lemcke berichtet. »Das Kirchlein stand da, festlich geschmückt mit Tannenzweigen, Lorbeer und anderem Immergrün und so vielen Kerzen, als unter den Umständen aufzutreiben waren, und um Mitternacht wurde der erste feierliche Gottesdienst darin gehalten, zur größten Erbauung mancher Katholiken, die seit Jahren, und zur Verwunderung einiger alter, verwilderter Jäger, die ihr Lebtag so etwas nicht gesehen hatten. Und so ereignete es sich, daß an einem Orte, wo ein Jahr zuvor noch der Urwald stand, ein Häuflein von Wanderern verschiedener Zungen und Nationen unter der Leitung eines heimatlosen Prinzen eine Heimat gefunden, und wo vordem in der schauerlichen Mitternachtsstunde nichts gehört wurde als das Heulen des Wolfes, erscholl der Lobgesang der himmlischen Heerscharen: Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden!«

Die Bevölkerung der jungen Kolonie beschäftigte sich anfangs nur mit Urbarmachung und Bebauung des Landes; allmählich, als die Bedürfnisse wuchsen, siedelten sich auch Handwerker und Kaufleute in der Gegend an, und nach einigen Jahren war ein nettes Städtchen entstanden, das Gallitzin »Loretto« nannte. Hier wirkte er in Selbstvergessenheit und Aufopferung, unter mancherlei Sorgen und Entbehrungen, vierzig Jahre lang, ohne seine geliebte Gemeinde je auf länger als wenige Tage zu verlassen; und auch das nur, wenn die Pflicht ihn in eine der Nachbarkolonien oder zu seinem Bischof nach Baltimore rief. Zwar regte sich in seinem Herzen hie und da die Sehnsucht, die alte Heimat wieder zu sehen und sich mit der Mutter auszusprechen, damit jede Erinnerung an frühere Mißverständnisse ausgelöscht werde. »Es ist mir, als ob ich durchaus Dich noch einmal sehen müßte, um ruhig und in Frieden aus dieser bösen Welt zu scheiden«, schrieb er im Sommer 1803; »... es würde mir wohltun, wenn ich mich zu Deinen Füßen hinlegen, sie mit meinen Tränen benetzen, Deinen Segen empfangen und aus Deinem Munde vernehmen könnte, daß Du mir alles verziehen habest; dies wäre mir lieber als alle Schätze der Welt. Es ist mir, als hinge die Hand Gottes schwer über mir wegen meines früheren Ungehorsams und der Außerachtlassung Deiner guten Ermahnungen.« Die Fürstin antwortete auf diesen Brief mit zärtlichen Worten; sie habe die Überzeugung, daß ihre Herzen immer übereingestimmt hätten, die Mißverständnisse seien mehr äußerlicher Natur und nicht durch ihn allein verschuldet gewesen, sie habe auch gegen sich selbst manche Anklage zu erheben. »Sorge Du nicht mehr, wenn Du mich nicht mehr betrüben willst, ob Du noch Verzeihung Deiner Sünden von mir zu erhalten hättest!« Sie gibt dann der Hoffnung Ausdruck, ihn bald in Münster begrüßen zu dürfen; denn der Tod seines Vaters, den sie ihm bereits in einem früheren Briefe angezeigt hatte (der Fürst war am 16. März 1803 zu Braunschweig, wo er seine letzten Lebensjahre verbracht hatte, verstorben), habe seine Heimkehr behufs Regelung der Erbschaftsangelegenheit notwendig gemacht. Doch Dimitrij war gleich bei der Wahl seines Berufes vom Vater darüber aufgeklärt worden, daß er durch dieselbe nach russischem Gesetze alle Ansprüche auf die Erbschaft aufgebe; er hielt daher die Reise nach Europa für unnütze Zeit- und Geldvergeudung und für allzu unwichtig, als daß er es hätte übers Herz bringen können, um ihretwillen seine Gemeinde viele Monate hindurch ohne Seelsorger zu lassen. An die Beschaffung eines Stellvertreters war aber bei dem damals in Amerika herrschenden Priestermangel nicht zu denken. Bischof Carroll, der Gallitzin anfänglich zu der Reise geraten hatte, mußte sein Bleiben billigen, und auch die Fürstin konnte nicht umhin, ihn wegen seines treuen Ausharrens auf seinem Posten zu loben. In ihrer Antwort auf seine Absage heißt es: »So wehe es meinem Mutterherzen tut, der nahen Hoffnung, den geliebten Sohn zu umarmen, entsagen zu müssen, so kann ich doch mit Wahrheit sagen, daß Dein Brief, der mir diese Nachricht ankündigte, mir den größten Trost gewährt hat, den ich auf Erden zu finden wünsche. Ganz übereinstimmend mit meinen Gesinnungen und Wünschen ist jede Zeile dieses lieben Briefes.« Gleichzeitig übersandte sie dem Sohne Geschenke für ihn und seine Gemeinde: Bücher, Bilder und Rosenkränze zum Verteilen, von ihr und andern Damen der Münsterer Gesellschaft verfertigte Kleidungsstücke für arme Kinder, ja sogar Weiße Häubchen und Kleidchen für Neugeborne. P. Lemcke erzählt: »Eine bejahrte Frau zeigte mir ein solches Kleidchen und sagte: ›Das hat dem seligen Vater Gallitzin sein frommes Mütterchen gemacht; ich bin darin getauft worden und hab's auch allen meinen Kindern nacheinander angelegt, ich bewahr's wie ein Heiligtum auch für die Enkel‹« Bei der Sendung befand sich auch ein vollständiger Meßornat, den die Fürstin, ihre Tochter und die Gräfin Stolberg eigenhändig mit großer Kunstfertigkeit gearbeitet hatten. Gallitzin hielt dieses Geschenk der Seinen stets sehr in Ehren; er legte den Ornat nur an hohen Festtagen an und bestimmte, daß man ihn dereinst im Sarge damit bekleiden solle.

So reiche Sendungen trafen in Zukunft in Loretto nicht mehr ein, denn für die Fürstin und ihre Kinder waren nach dem Tode des Familienoberhauptes Zeiten pekuniärer Sorgen eingetreten. Die Verwandten des Fürsten zogen Nutzen aus dem Umstande, daß er, der den russischen Staatsdienst bereits im Jahre 1782 verlassen hatte, während der letzten Jahre seines Lebens nur selten in seine Heimat zurückgekehrt war, daß seine Frau in Rußland ganz fremd und der Sohn katholischer Priester geworden war; sie bemächtigten sich der ihm gehörigen Ländereien und waren zur Herausgabe der Erbschaft nicht zu bewegen. Es kam zu einem verwickelten Prozeß, dessen Ende die Fürstin selbst nicht mehr erlebte. Das Vermögen, das schließlich Mimi als der Alleinerbin ausgezahlt wurde, war durch das lange Prozessieren sowie durch Verwüstung der Landgüter während des Kriegsjahres 1812 so zusammengeschmolzen, daß sie dem Bruder weniger davon zukommen lassen konnte, als sie ihm versprochen hatte. Da auch das mütterliche Vermögen, das auf Gütern in Frankreich angelegt war, infolge der Revolution verloren ging, sah sich Gallitzin in die schwierigste Lage versetzt: seine Gutmütigkeit und der Wunsch, in Loretto verschiedene gemeinnützige Unternehmungen ins Leben zu rufen, hatten ihn verleitet, Schulden zu machen, an deren Bezahlung er ohne die Hilfe der Schwester nicht denken konnte. Mimi aber vermählte sich trotz ihres vorgerückten Alters am 2. Mai 1818 mit dem Fürsten Franz Wilhelm von Salm-Reifferscheid-Krautheim und konnte nun noch weniger als früher für den Bruder tun. Da legte sich Overberg ins Mittel. Die Fürstin Gallitzin hatte ihm auf ihrem Totenbette die kostbare Steinsammlung, die Hemsterhuis ihr hinterlassen hatte, übergeben, mit der Bitte, sie zu verkaufen und das Geld nach seinem Gutdünken für wohltätige Zwecke zu verwenden. Da nun Dimitrij nicht aus Leichtsinn oder Verschwendungssucht, sondern durch seine Gutmütigkeit und Hilfsbereitschaft in eine bedrängte Lage geraten war, hielt Overberg es für geboten, ihm aus der Verlegenheit zu helfen. Er übergab die Steine dem Fürsten Salm-Reifferscheid, wogegen dieser sich verpflichtete, deren Wert zur Tilgung der Schulden seines Schwagers zu verwenden. Die Sammlung wurde dem König Wilhelm I. der Niederlande zum Kaufe angeboten und von ihm, wohl um dem Spielgefährten seiner Kindertage eine Wohltat zu erweisen, um die bedeutende Summe von 22 500 Talern erstanden. Fürst Salm-Reifferscheid, der selbst nichts weniger als reich war (Mimi war bereits am 16. Dezember 1823 gestorben), zahlte den Betrag zwar nicht auf einmal an Gallitzin aus, immerhin konnte dieser sich allmählich von den drückenden Verpflichtungen gegen seine Gläubiger befreien und es durch äußerste Sparsamkeit soweit bringen, daß er bei seinem Tode eine kleine Summe für fromme Zwecke hinterlassen konnte.

Im Jahre 1809 war Gallitzin zum Generalvikar des in Philadelphia errichteten Bischofssitzes erhoben worden. Sein Ansehen in den weiten Gebieten, die seiner Leitung unterstellt waren, wuchs dadurch mehr, als ihm recht war, denn er blieb Zeit seines Lebens ein bescheidener, einfacher Mann, der am liebsten im Verborgenen wirkte. Daher sprach er auch nie von seiner vornehmen Geburt: für die meisten seiner Gemeindeglieder war und blieb er »Vater Augustin Smith« (den Namen Augustin hatte er bei der heiligen Firmung erhalten, und als Smith war er, wie erwähnt, als junger Mann in Amerika angekommen). Nur wenn es sich um die Lehren der Kirche oder um seine priesterlichen Vorrechte handelte, trat er mit einer Würde und einem Ernst auf, die ihm von Fernstehenden zuweilen als Stolz und Hochmut ausgelegt wurden.

So gutmütig Gallitzin war und so freundlich er mit Armen und Kranken oder mit Kindern umzugehen wußte, so streng und unerbittlich zeigte er sich gegen Lüge, Unmäßigkeit, Trunksucht, Eitelkeit und Habgier. Er versäumte keine Gelegenheit, um gegen diese Laster zu kämpfen. Selbst die harmlose Putzsucht junger Mädchen war ihm ein Ärgernis, was er übrigens schon als Knabe durch die bereits erwähnte Bemerkung über die geputzten kleinen Tänzerinnen verraten hatte, und P. Lemcke weiß von manchem ergötzlichen Vorfall zu erzählen, der dem strengen »Vater Augustin« Grund gab, über Modehüte, seidene Sonnenschirme und sonstigen »städtischen Tand« zu schelten. Auch mit unnützem Luxus eingerichtete Wohnungen konnten ihm die Laune verderben. Sein eigenes Heim war nur mit dem Allernotwendigsten ausgestattet, und auf seinen Reisen ging er stets an den wohlhabenden Häusern vorüber, um in der armseligsten Hütte einzukehren und mit freundlichen Worten um einen Schluck Milch und ein Paar Kartoffeln zu bitten.

Die Entbehrungen und Mühsale, die zum Teil seinen Beruf begleiteten, zum Teil freiwillig von ihm erlitten wurden, hatten Gallitzin über seine Jahre altern gemacht. Aber trotz schnell zunehmender Schwäche und Kränklichkeit wollte er von Ruhe nichts wissen, sondern meinte, da er keine Aussicht habe, durch einen blutigen Märtyrertod die Krone des Lebens zu erringen, wünsche er wenigstens, »gleich einem abgearbeiteten Karrengaul im Geschirre umfallen zu dürfen«. Um die Osterzeit 1840 versagten seine Kräfte vollständig. Ein inneres Leiden, das ihn schon lange Jahre quälte, machte eine Operation notwendig. Als ihm das schonend mitgeteilt wurde, antwortete er: »Jetzt will ich vor allen Dingen die heiligen Sakramente empfangen, und dann tut mit mir, was ihr wollt!« – Die Operation konnte wohl vorübergehende Erleichterung, doch nicht Rettung bringen, und auf die vielen Anfragen, wie es »Vater Augustin« gehe, mußte der Arzt erwidern: »Er liegt im Sterben!« Mit Blitzesschnelle durchflog die Trauerkunde ganz Loretto und die Umgegend, und in Scharen strömten die braven Kolonisten herbei, um von ihrem treuen Führer und Beschützer Abschied zu nehmen, einen Segenswunsch, einen freundlichen Blick von ihm zu erhalten oder auch eine letzte ernste Ermahnung anzuhören, die ihre Wirkung gewiß nicht verfehlte. Am Abend des 6. Mai 1840 verschied Dimitrij Gallitzin ohne Todeskampf, während die Glieder seiner Gemeinde in der an das Sterbezimmer stoßenden Kapelle für sein Seelenheil beteten. Einer der Anwesenden meinte nach einem langen Blick auf die friedlich lächelnden Züge des Toten: »Sieht er nicht aus wie ein alter Kriegsheld, der eben einen Sieg erfochten?«

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