Fredrika Bremer
Nina
Fredrika Bremer

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Nina an Klara.

»Hast du eine Schwester gehabt, Klara? Eine Schwester dir gleich an Jahren, mit der du von Geburt an Alles getheilt – Mutterbrust, Wiege, Spiele, Liebkosungen, Unterricht, – und ist sie dir frühe entrissen worden, und hat sich dann Oede über dein Leben und dein Herz gelagert? O dann weißt du auch meiner Kindheit Seligkeit und Schmerz.«

»Ich kann mir kein schöneres Leben denken, als das zweier Schwestern, die Hand in Hand durchs Leben gehen; die mit einander für seine Genüsse erwachen, die ihre Gefühle, ihre Gedanken theilen; die bei demselben Schmerz weinen und sich über dasselbe Fest freuen, sei es nun ein Mittsommerfest oder ein heiliges Abendmahl. Sie stehen beisammen im Leben, wie zwei junge Bäume, und jeder neue Frühling, jedes neue Laub verflicht ihre Zweige fester miteinander. Die Glücklichen! Wie innig müssen sie nicht mit einander bekannt werden! Wie gut müssen sie einander verstehen und in einander schauen können, wie in klare Spiegel! Kann das Leben je finster und leer für eine von ihnen werden? Wenn die eine leidet, so hat ja die andre den Schlüssel zu ihrem Herzen; – sie kann in ihre Trauerkammer hineingehen – sie kennt jeden Winkel darin und kann den verschlossenen Raum den Strahlen des Tages öffnen.«

»Auch ich hatte eine Schwester – eine Zwillingsschwester – eine kleine, geliebte Freundin. Wir theilten Leben und Spiele. Wir hatten bloß Ein Herz, Einen Gedanken, Einen Willen. Sieben Jahre waren wir glücklich beisammen gewesen, da bleichte sie hin und starb von mir weg. Dieß war mein erster Kummer; – doch empfand ich ihn nicht, wie einen Kummer. Es war ein betäubender Schlag. Es war mir, als sei die Hälfte meines Lebens weggenommen – ich zehrte ab und schwand dahin – endlich folgte ich ihr – ja ich starb – starb dem eigenen Gefühle nach, starb auch nach der Meinung 429 aller Andern; – was – wer – mich auf der geheimnißvollen Gränze aufhielt und mir befahl, umzukehren und zu vollenden, weiß ich nicht; – o mein Gott, du allein weißt es! Ich schien todt; – man legte mich in einen kleinen Sarg. Die heiße Zeit nahte heran und ich wurde in ein finsteres und kühles Zimmer gebracht.«

»Höre jetzt, Klara, was ich noch heute nicht ohne Schauder erzählen kann!«

»Ich lag in meinem Sarge und Alles war finster und leer und still um mich herum, und ich schlief tief, tief – wie die Todten schlafen. Auf einmal fühlte ich einen Frost, eine Qual; . . . . es war das Leben! Meine Augenlieder waren schwer; mühsam schlug ich sie auf – und sah bloß die Nacht. Ich hatte immer das Dunkel gefürchtet und auch jetzt schreckte es mich so, daß ich mehr zum Bewußtsein kam. Meine kleinen Hände tasteten umher. Sie fühlten das Silberbeschläge an dem Sarge. Ich hatte ein solches an der Bahre meiner kleinen Schwester gesehen. Ich lauschte; Alles war stille; – da glaubte ich, ich wohne im Grabe. Die Kraft zu rufen oder zu sprechen fehlte mir ganz und gar. Ich hörte die Ratte am Fuße des Sarges nagen; – es kroch etwas über mein Gesicht, ich dachte an die Würmer, die mich verzehren würden. Ach so klein und so schwach ich war, so empfand ich doch in diesem Augenblick ein Entsetzen und eine Qual, die keine Jahre und keine Seligkeit aus meiner Erinnerung zu tilgen vermögen. Ich glaubte, ich werde so im Grabe fortleben, in der Finsterniß, in der Kälte und . . . .. Doch lange empfand ich diese Qual nicht – ich wurde betäubt und schlief wieder ein.«

»Höre jetzt Klara, an was ich nie ohne eine wunderliche Mischung von Freude und Schmerz zurückdenken kann.«

»Ich gewahrte einen Schein, der stärker und stärker wurde; ich hörte eine Bewegung – sie kam mir näher; ich empfand eine Wärme – sie wurde immer inniger, 430 sie machte mein Herz schlagen. Heiße Thränen fielen auf mein Gesicht, ach sie riefen mich ins Leben zurück. Ich erwachte, ich schlug meine Augen auf. Sie begegneten denen Edlas, die über mir weinten. Ich lag an Edlas Brust – dort schöpfte die meinige Wärme und Leben.«

»Der Tag nach dieser Nacht war zu meiner Beerdigung festgesetzt; – Edla hatte in der Nacht der kleinen, dahingegangenen Schwester noch einen Abschiedsbesuch machen wollen; – sie trug mich auf ihren Armen aus dem Bette des Todes und in ihr Zimmer, das ich nicht mehr verließ.«

»Von der Zeit, die zunächst auf dieses Ereigniß folgte, weiß ich nicht Viel. Man hat mir gesagt, ich sei gegen zwei Jahre lang verwelkt und matt in meinem Bette gelegen, mehr dahin siechend, als lebend. Ich hatte den Sarg meiner kleinen Schwester gesehen und meinen weinenden Vater sagen gehört: ›Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, der Name des Herrn sei gelobt.‹ Ich hatte selbst den Tod in der Nähe gesehen und seine Schauder, seine Entsetzen empfunden. Dieser Anblick, dieser Eindruck und diese Worte schwebten mir beständig vor der Seele; vergebens suchte man mir fröhlichere Gefühle beizubringen, vergebens versuchte man es, mir in einer kleinen Gespielin meine Minna zurückzugeben. Ich konnte nicht das geringste Geräusch, die geringste Unruhe um mich her ertragen, die kleine Fremde war mir bloß zur Last und mußte wieder entfernt werden. Eine Art Todesfrost hatte mein Leben ergriffen und während ich in meiner langen Erstarrung da lag, erinnere ich mich deutlich nur eines einzigen bleibenden Eindrucks vom Leben. Ich kam mir selbst wie ein Schatten, wie ein Traum vor; – ich konnte mich nicht als etwas Wirkliches begreifen und die Gegenstände um mich her hatten nicht mehr viel Wirklichkeit für mich. Alles war so neblicht, so dunkel, so leblos. Es war mir, als flösse Alles wie ein langsamer 431 Strom dahin – und ich läge in einem Sarge und flösse mit hinab zu einem gränzenlosen Meere, in welchem Alles sich verlor. Dieses: ›Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen,‹ hatte für mich bloß eine dunkle und düstere Bedeutung – und frühe schon ahnte ich den Schöpfer als eine unendliche Tiefe, von welcher Alles ausgehe und in welche Alles zurückkehre; dieß jedoch nicht im Sinne der christlichen Lehre. Ueber meiner Kindheit schwebte dieselbe Erscheinung, wie über der Wiege des Menschengeschlechtes – die einer blinden, Alles hervorbringenden, Alles verehrenden Macht.«

»Aber Edla saß an meinem Krankenlager. Ich hörte täglich ihre sichere milde Stimme, sah ihren ruhigen Blick, ihr stilles Wesen, ihre ordnende Wirksamkeit: ich genoß ihrer Pflege, ihrer stärkenden Nähe. Nach und nach empfand ich die Wirkung davon; meine Augen, meine Gedanken hefteten sich auf sie; ich fing gleichsam durch sie an zu leben; ein Tropfen von ihrer Kraft floß leise durch meine Adern; ich erwachte, ich erhob mich an Leib und Seele. Ich war ein verzärteltes, eigensinniges Kind gewesen. Edla lehrte mich gehorchen und ich wandte mich bald nicht mehr ab von den Arzneien und den Speisen, die ihre Hand mir bot. Edla war nie streng gegen mich, weder in Wort, noch That, aber sie hat eine wunderbare Macht über mich ausgeübt. Es ist mir nie eingefallen, daß man ihrem Willen nicht gehorchen könne. Die ersten Aeußerungen meines neugeweckten Lebens waren eine übermäßige Reizbarkeit des Gefühls. Die geringste Gemüthsbewegung, die geringste Freude, die geringste Widerwärtigkeit entlockte mir Ströme von Thränen; – ja sie strömten oft ohne alle Ursachen. Mein Leben hätte sich, glaube ich, in Thränen auflösen können – aber jedesmal, so oft ich zu weinen anfing, ging Edla von mir weg und aus dem Zimmer. Kein Rufen, kein Bitten konnte sie zurückhalten und dieses strafende Weggehen vermochte ich nicht zu ertragen. Um Edla bei mir zu erhalten, 432 unterdrückte ich meine Thränen und die convulsivischen Erschütterungen, welche diese Bemühungen oft in meinem ganzen Körper hervorbrachten.«

»Die Weichheit, die Wärme meines Herzens äußerte sich in einem großen Bedürfniß zu liebkosen. Ich näherte meine Lippen denen Edlas – ich hätte ganze Stunden damit zubringen können, ihre Hand zu küssen; aber sie erlaubte es nicht – sie küßte mich nie. Ach warum that sie es nicht? Es war so bitter für das kindliche Herz, seine Zärtlichkeit verschmäht zu sehen. Ich kann nicht beschreiben, wie Edla auf mich wirkte. Sie war mein Gesetz, mein Glaube, meine Vorsehung, mein Alles. Ich lebte bloß durch sie – ich wollte nur für sie leben. O hätte Edla es erlaubt – hätte sie mir erlaubt, sie zu lieben – hätte sie meiner Zärtlichkeit bedurft, ich wäre glücklich gewesen! Edla war mir eine Mutter – und doch weiß ich nicht, ob sie mich liebt – ja ich zweifle beinahe daran. Ach die liebenswürdigen Schwachheiten der Erde sind nicht für Edla; – ein Mensch gilt wenig für sie; sie liebt nur die Tugend, nur das Unsterbliche; ihre große Seele umfaßt die Welt, umschließt die Menschheit.«

»Mit erwachter Kraft und hungernd nach Zärtlichkeit lag ich in meinem Bette; – da bot mir Edla eine andere Nahrung an, und ich griff begierig darnach; – ich empfand Leere, ich verlangte Fülle. Edla wurde meine Lehrerin; sie gab mir Kenntnisse, und ich sog ihre Worte ein und folgte ihren Winken. So lebte ich Jahre lang an ihrer Seite. ›Lehre! lehre!‹ war meine einzige Bitte; – mein bester Lohn war Edlas Zufriedenheit. Diese Beschäftigungen, der Umgang mit Edla, ihre Gespräche, Bewegung in der freien Luft, Alles dieß stärkte mich nach und nach an Seele und Leib. Freude hatte ich eigentlich nicht an dem, was ich lernte; es war mir immer, als verstände ich die Bedeutung der Worte und Dinge nicht, und nie fühlte ich den der Jugend so eigenthümlichen Genuß – den Genuß zu 433 leben. Zuweilen durchfuhr mich ein wunderliches Gefühl einem Blitze ähnlich; – es war eine bebende Ahnung von Leben und Freude, eine Ahnung, daß auch ich einmal die Welt von einer andern Seite auffassen und das Glück des Daseins verstehen werde. Allein dieß waren nur Augenblicke, dann wurde Alles wieder trübe und neblig. Es begegnete mir oft, daß ich mit Verwunderung meine Hand, meinen Fuß, oder mein Gesicht im Spiegel betrachtete, und fragte, ob es wirklich mir gehöre, ob dieß wirklich Ich sei? Ach mein Herz verstand ich noch weniger. Oft legte ich die Hand auf meine Brust und verwunderte mich, was sich so unruhig darin bewege. Zuweilen ergriff mich eine unaussprechliche Wehmuth und mit derselben eine Sehnsucht, die ich unmöglich beschreiben kann, nach meiner kleinen, dahingegangenen Schwester. Ich hätte gerne zu ihr gehen mögen, nur nicht durch den Tod. Meine sonderbare Bekanntschaft mit dem finstern Engel hatte mir einen Schrecken vor Tod und Grab eingeflößt, wovon ich noch nicht frei bin – doch weiß ich jetzt, wie er vergehen kann. – Diese Wehmuth war von ängstlichen Ahnungen wegen meines künftigen Lebens, sowie von einer Mattigkeit und Gleichgültigkeit begleitet, die sich über Alles um mich her ausbreitete. Mein Zustand beunruhigte Edla und sie hörte nie gerne, was ich von meinen ängstlichen Ahnungen und meinen stillen Qualen äußerte; – sie schien dieselben als Ausgeburten einer schwachen Seele, einer krankhaften Phantasie zu verachten. Dieß gab mir Kraft, sie zu unterdrücken, d. h. zu verbergen; denn frei war ich nie davon; – und noch jetzt, Klara, noch jetzt, da sich so Vieles in mir verändert und ein neues Leben sich meiner Seele eröffnet hat – noch jetzt kehren diese Gefühle, diese Ahnungen manchmal so mächtig zurück; – dann kommt es mir vor, als lebe ich hier bloß ein Scheinleben, und eine geheime Stimme sagt mir, daß ich hienieden niemals glücklich 434 werden und daß mein Leben auf Erden nicht von langer Dauer sein werde. Doch verschwinden diese Ahnungen jetzt schneller wieder aus meiner Seele. Herveys heller Blick hat die Macht, alle Nachtgedanken zu verscheuchen.«

»Der Religionsunterricht wirkte wohlthuend auf mich; er erhob meine Seele und gab mir einen Gegenstand zum Lieben – Gott. O Klara, bin ich würdig, so zu sagen? – Konnte ich den Allvollkommenen lieben, konnte ich ihn verstehen – Ich konnte es nicht. Mein Gefühl war ein Seufzer zu ihm empor; mehr nicht: doch war auch dieses gut. Durch Edla blickte ich zu ihm hinauf. Durch Edla lernte ich die Tugend bewundern, das Laster und die Schwachheit verabscheuen – Alles nur durch sie. Graf Ludwig wirkte nicht gut auf mich; er ließ mir die Tugend hart erscheinen, in ihm lernte ich sie beinahe fürchten. Durch Edla hatte ich sie bewundern, verehren gelernt; Hervey allein hat mich sie lieben gelehrt. Ich bewunderte Edla – wer konnte umhin, es zu thun, wenn er ihre stille, ununterbrochene Wirksamkeit sah, ihre Entsagung, die Wohlthaten, die sie in der Stille ausführte, und die Sorgfalt, womit sie Alles verschwieg, was ihr von ihren Mitmenschen Lob hätte eintragen können? Edlas Inneres war ein strenges Heiligthum.«

»Ich war neunzehn Jahre alt, als mein Vater sich mit der Gräfin M. vermählte. Unser stilles Haus, wo ich lange unter Edlas Händen Ordnung und Behagen hatte blühen gesehen, ward wie durch einen Zauberschlag umgewandelt.«

»Eine gewisse Schwäche, die auf meinen kränklichen Zustand gefolgt war, hatte es mir viele Jahre lang unmöglich gemacht, das Gesellschaftsleben zu ertragen. Das Getöse von Stimmen, die vielen Leute, die Lichter und die Bewegung verursachte mir eine schmerzliche Qual und oft heftiges Kopfweh. Ich befand mich am besten allein mit Edla. Allmälig verschwand jedoch diese Schwäche immer mehr, und zur Zeit, da mein 435 Vater zum zweiten Mal heirathete, war ich beinahe frei davon. Ach diese Heirath hatte nicht bloß äußere, sondern auch innere Veränderungen zur Folge, die mich tief schmerzten. Man erlaubte mir nicht mehr, viel bei Edla zu sein, und ich glaubte, Edla werde kalt gegen mich. Sie äußerte jedoch nie einen Wunsch, daß es anders sein möchte und widmete sich mit Eifer den ernsten Beschäftigungen, von denen ich wußte, daß sie ihr lieb waren. Vielleicht war Edla nicht unzufrieden über meine Entfernung; sie gewann dadurch mehr Zeit für sich selbst; – ach ich weiß nicht – aber über diesen Beschäftigungen schien sie mich zu vergessen. Es that mir wehe, allein ich wagte nicht zu klagen. Auch kann ich nicht läugnen, daß das neue Leben, das ich führte, mir schmeichelte und viel Vergnügen machte, und ich suchte Edlas Zurückhaltung und Kälte darin zu vergessen. Einige Zeit nach der Vermählung meines Vaters verließ uns Edla.«

»Warum that sie das? Warum ließ sie mich so jung und so unerfahren allein in einer Welt voll Verführung? Vielleicht wollte Edla mich prüfen. Ach sie glaubte mich stärker, als ich war. Mit ihr war meine Kraft dahin. Ich blieb jetzt in der Gesellschaft meiner Stiefmutter und ganz ihrer Leitung überlassen. Du weißt es, Klara, du hast selbst eine Zeit lang all das Entzückende erfahren, was in ihrem Wesen und in ihrer Zärtlichkeit liegen kann. Sie bewies mir eine große und lebhafte Zärtlichkeit; und nicht bloß sie, sondern auch ihre ganze Umgebung widmete mir eine Art Verehrung. Es war mir angenehm, mich geliebt zu sehen, mich loben zu hören; – ich war einen Augenblick wie berauscht von diesem neuen Genusse. Meine Tage wurden eitlen Vergnügungen und nichtigen Genüssen gewidmet.«

»Pracht und Eleganz herrschte in meiner Stiefmutter Haus. Ihre Cirkel bestanden aus Künstlern, Kunstliebhabern, und aus dem Glänzendsten und Angenehmsten, was die Hauptstadt besaß; Schönheit, Geist, 436 Talente fanden hier ihren Sammelplatz. Ich sah mich den Mittelpunkt in diesem entzückenden Kreise; sah mich den Gegenstand aller Blicke, aller Lobpreisungen. Ich ließ mich vom Strome hinreißen und genoß. Ich kann zwar nicht sagen, daß ich mein Leben wirklicher fühlte, als früher, aber mein Traum war jetzt so angenehm. Ich überließ mich dem müßigen Leben, das meine Mutter mir aus Zärtlichkeit bereitete; ich las eine Menge von den neueren Romanen. Sie entzückten mich, riefen aber unklare und wilde Phantasien in mir hervor. Die Leute, die ich um mich sah, trugen noch mehr dazu bei, meine gar zu schwache Seele zu verwirren. Wenn ich sie betrachtete, erkannte ich die charakteristischen Merkzeichen von Tugend und Laster nicht mehr; Alles schien mir unklar, zusammengeworfen. Was war wirklich, was war wahr und beständig? Hätte ich einen Satan gesehen und er hätte mich versucht, so hätte ich die Kraft gehabt, zu ihm zu sagen: »Hebe dich weg von mir!« Allein ich sah bloß gute, liebenswürdige, angenehme Menschen um mich her; – zwar Alle voll Fehler – ja ich wußte, daß Viele von ihnen ein höchst unordentliches Leben führten; – allein sie gestanden ihre Fehler selbst ein – und diese hinderten sie nicht, gut zu sein, sich vom Schönen entzücken zu lassen, schöne Handlungen zu verrichten, liebenswürdig zu sein und geliebt zu werden. Sie selbst ertrugen die Fehler Anderer, ohne sie zu tadeln. Man hatte also kein Recht, strenge gegen sie zu sein. Ueberhaupt herrschte in diesem Kreise eine Art angenehmer, dem Anscheine nach harmloser Leichtsinn; eine Milde in der Beurtheilung aller Menschen und aller menschlichen Fehler. Der Markstein zwischen dem Guten und Bösen wurde mir immer undeutlicher.«

»Edla hatte mir das Böse und Gute in deutlich ausgesprochenen Gestalten gezeigt; sie hatte mich die beiden Pole des Lebens kennen gelehrt. Die unzähligen Grade dazwischen hatte sie mich nicht gelehrt und hätte es auch nicht können; dieß kann nur das Leben selbst 437 und der Umgang mit Menschen. Ich hatte bisher Tag und Nacht betrachtet, nicht aber die Dämmerung; ich hatte ein Gemälde ohne Zwischennüancen gesehen. Jetzt aber war ich in diesen gefangen, und in dem unklaren Spiel von Schatten und Licht verlor ich meinen Weg.«

»Und welche Grundsätze hörte ich nicht täglich aussprechen! Es waren die einer bis zur Schlaffheit getriebenen Toleranz und einer durchgängigen Zweifelsucht. Ich hörte Alles in Frage stellen, was ich als heilig zu betrachten gelernt hatte. Witz und Spott flogen wie Pfeile darüber hin und her. Es war kein bestimmt verneinender Geist; nein, eher eine lächelnde Anerkennung, ein seufzender Zweifel, eine leichte Ironie, oft auch eine flüchtige Huldigung – und dann lebte Jeder wieder für den Augenblick, für sein Vergnügen, seine Lust, oder seinen Eigennutz. Ein großes Entsetzen hegte man in diesem Kreise vor Allem, was man Schwärmer nannte, oder vor den Menschen, welche Systeme idealischer Vortrefflichkeit aufstellen, denen man unmöglich nachleben könne. Ich hörte, wie man Edla flüsternd als eine dieser enthusiastischen Seelen bezeichnete, die in der Welt der Phantasie leben und für das wirkliche Leben nicht taugen.«

»Das wirkliche Leben – was ist es denn? So fragte ich mich. Sollte die Wirklichkeit nichts Anderes sein, als jene sonderbare Mischung von Schwäche und Güte, von Tugenden und Fehlern, von Freude und Leid, von allen Meinungen, allen Möglichkeiten, allen Verirrungen, die ich um mich her erblickte? War nichts Gewisses, nichts Vortreffliches im Leben? War Alles bloß zufällig, bloß vergleichungsweise gut? Man sagte mir das. Man wiederholte mir bis zum Ueberdruß, jede Zeit habe ihr Gutes und ihr Böses; eben so auch jeder Mensch; dieß hänge von der Natur und von Zufälligkeiten ab; – Gott verurtheile Niemand deßhalb: es gebe keine Hölle u. s. w.; lauter Worte und Begriffe eben so halb, eben so unklar, wie meine Seele. Diese Ansichten und 438 diese Menschen machten einen wunderlichen, verwirrenden Eindruck auf mich. Indeß faßte ich diesen Eindruck damals nicht so klar auf, wie jetzt. Ich vermochte mir ihn nicht deutlich zu machen, und meine angeborene Trägheit machte, daß ich mich scheute, meine Gedanken darüber anzustrengen. Ich wandte meinen Blick von den schwersten Fragen ab und sank tiefer in mein Leben hinein. Ein gewisses Verlangen nach Genuß, nach einer Fülle des Daseins, welcher Art es auch sein möchte, bemächtigte sich meiner Seele immer stärker. Ich war gleichsam auf der Insel der Kalypso und wurde immer mehr bezaubert und immer schwächer, ohne selbst zu wissen, wie. Edla schrieb oft, immer zärtlich, klug, warnend. Aber eine Verblendung lag über meinen Augen, und Edlas Worte thaten nicht ihre gewöhnliche Wirkung.«

»Wie kam es, Klara, daß ich mich in dieser Zeit dir nicht näherte? Ich erinnere mich doch noch so deutlich des milden Eindrucks, den dein ruhiges, heiligengleiches Wesen auf mich gemacht, und wie du so ruhig, so abgeschlossen, so gleichgültig gegen das wilde und weiche Leben um dich her dasaßest. Aber damals standen so Viele zwischen uns, und ich verdiente deine Freundschaft nicht.«

»Ich sah täglich Graf Ludwig. Ich wußte, daß er eine Verbindung mit mir wünschte, wußte, daß diese Verbindung Edlas höchster Wunsch war. Ach ihretwegen hätte ich gewünscht, ihn lieben zu können! Aber seine Nähe hatte für mich immer einen Zwang, einen Frost im Herzen zur Folge. In seinen Worten verrieth sich oft eine bittre Verachtung gegen die Menschen, ja selbst gegen ihre Tugenden. Man begegnete ihm allgemein mit ausgezeichneter Hochachtung; geliebt schien er nicht zu sein. Ich sah Manchen sich tief vor ihm verbeugen; – nie sah ich Jemand offen und herzlich ihm die Hand reichen. Er schien mir hoch und kalt, wie ein schneebedeckter Alpenberg; mich fror in seiner Nähe. Ich wußte viel Gutes von ihm – ich kannte 439 Edlas innige Freundschaft für ihn, und deßhalb machte ich mir die Gefühle, die ich gegen meinen Willen hegte, zum Vorwurf«

»Klara, jetzt komme ich auf eine Zeit, an die ich nicht ohne Scham und Schmerz denken kann. Laß mich uns Beide dadurch schonen, daß ich sie nur flüchtig berühre. Du weißt das Meiste. Du kennst die Art von Macht, die sich ein Unwürdiger über meine geschwächte Seele erwarb – aber du weißt nicht, wie nahe mich meine strafbare Unvorsichtigkeit zur Erniedrigung führte. Ich liebte ihn nicht, mein Wille war rein – und doch ließ ich ihn meine Seele und meine Sinne mit seiner unreinen Liebe, mit seinen Tönen entzücken! . . . . Bitter habe ich diese Zeit meines Lebens beweint, wo ich Herveys, wo ich Edlas so unwürdig war.«

»Edla kam zurück. Entsetzliche, gesegnete Stunde! Entsetzlich, denn ich war tief gesunken – gesegnet, denn sie rettete mich! – Aber wie wurde es mir erst, als ich die reine, hohe Edla mich verachten, als ich sie über mich weinen sah, und ich mein Auge nicht zu ihr erheben und sagen konnte, Ich bin unschuldig! Nein, das konnte ich nicht. Aber mich demüthigen, erkennen, bereuen, das konnte ich, und das that ich. Es war mein Heil, daß ich meine Schwachheit noch verachten, und das Gute, das Reine, von dem ich abgefallen war, zu erkennen vermochte. Mit Edla kehrte mein besseres Selbst, mit ihr meine reinere Liebe, meine Bewunderung zurück. Sie schien mir besser und edler, als je. Um ihr stilles Wesen hatte die Tugend ihre Glorie gebreitet. Ach, sie verbreitete auch über mich Gefallene ihren reinigenden Glanz, und ich sehnte mich zu Edlas klarem Himmel hinauf. Ich fühlte das tiefe Bedürfniß, mich von ihr leiten zu lassen, mich in Allem ihrem Willen, ihrem Beschlusse zu unterwerfen. Edlas Macht über mich wurde ausschließlicher, als je. Wäre sie bei mir geblieben, hätte ich in ihrer Nähe und unter ihrem Einflusse leben dürfen, dann hätten vielleicht keine neuen 440 Erschütterungen meine Seele getroffen, sie hätte sich durch ihre Kraft geordnet, und ich hätte, wenn auch nicht Glückseligkeit, doch wenigstens Ruhe gewonnen. Aber eine höhere Macht beschloß es anders. Du kennst Graf Ludwigs edles Benehmen in Ramlösa, und wie er meine Hand begehrte zu einer Zeit, wo mein Ruf – und mit Recht – durch zweideutiges Gerede gelitten hatte. Du weißt auch, was hernach erfolgte – meine Einwilligung, die Erkrankung meines Vaters und der Aufschub meiner Verlobung. Edla reiste ab; Oede ergriff abermals mein Leben, aber um Edlas willen, aus Pflichtgefühl und um meine eigene Achtung wieder zu gewinnen, schloß ich mich freundlich an Graf Ludwig an, und ergab mich in mein Schicksal. Aber auch er verließ mich. Ich empfand Freude darüber. Ach damals fühlte ich, daß ich ihn nie würde lieben können. Und dieses Gefühl machte mich unglücklich.«

»Ich folgte meiner Mutter in diese Gegend, wo sie ein Jahr zuzubringen beschlossen hatte. Ich war froh darüber. Ich wollte es versuchen, mich in der Einsamkeit zu sammeln, und wo möglich mehr Klarheit, mehr Ruhe zu gewinnen.«

»Ruhe und Klarheit wurden mir nicht zu Theil. Ein tiefer Unfriede keimte in meiner Brust. Mit Edla war meine Stärke dahin. Die Spannkraft, die sie in meiner Seele hervorgerufen, wollte wieder erschlaffen. Ich beschwor die geliebten Bilder aus früherer Zeit wieder herauf – allein der Spiegel meiner Seele war getrübt worden, er gab Nichts mit Klarheit zurück. O, es ist schwer, den einmal befleckten wieder zu reinigen. Ich empfand eine Art Selbstüberdruß; ich däuchte mir so ohne allen eigenen Werth. Ich hatte das Interesse an meinem Leben verloren. Wenn ich morgen stärbe, wer würde dadurch ärmer werden? Ich war so gering und fühlte mich ohne Zukunft. Es lag gleichsam ein Schleier über mir und meiner Welt.«

»Das Düstere in der Jahreszeit und der Natur um 441 mich her vermehrte noch diese Gemüthsstimmung. Die finsteren, unendlichen Nadelwälder, die Felsen, das brausende Meer, der Nordwind, der beständig darüber hinsauste, die kurzen, trüben Tage – die Finsterniß, die Kälte! – meine Brust ward beklemmt, meine Gesundheit litt. Edla liebte das Große und Kraftvolle im Leben und in der Natur. Bei einer weiten Aussicht, beim Anblick des Meeres, unter dem offenen Sternengewölbe, hatte ich ihren Blick oft sich gleichsam erweitern und vor Freude strahlen gesehen. Sie liebte auch die wilden Scenen der Natur, die Gewitter, die Stürme; ja, denn sie gaben ihren starken Flügeln erhöhten Schwung. Wie ganz anders empfand nicht ich! Alles Große, Starke und Gränzenlose war eine Art Qual für mich. Das Meer mit seinen unendlichen Wogen, die sich in der Unendlichkeit verloren, glich für mich einem Abgrunde; Augen und Gefühl fanden keine Ruhe darin. Ich verlangte nach einem Ufer; – mein Lebenskahn war dazu gemacht, seinen ruhigen Buchten zu folgen. Es war mir Bedürfniß, das Leben innig, warm, zärtlich zu fühlen, beschränkt, aber schön. Ach! Sonne, Ruhe, Blumen, Vogelgesang, ein stilles Haus und Liebe darinnen, das war meine Welt! Ich war von Kindheit an eine Tochter der Nebel. Nur unter einem beständigen und milden Sonnenschein konnte ich wieder Leben erhalten!«

»An einem kalten Novembertage fuhr ich mit meiner Mutter zur Kirche. Ein Reif bedeckte den Boden und die Bäume; ein dicker Nebel lag über der ganzen Gegend. Schnell rasselte der Wagen hindurch, und Bäume und Berge und Hütten flogen gespensterartig an uns vorbei. Stärker als je ergriff mich in diesem Augenblick das Gefühl, das in der Tiefe meines ganzen Lebens geruht hatte.«

»Wie Alles dahinfährt – dachte ich – wie Alles dahinfließt, gleich einem Strom, gleich einem Schatten! . . . . Tage, Jahre, Ereignisse, Dinge, alle Gefühle, alle Gedanken, fahren und fließen wie Nebel dahin – 442 das Leben ist der große Traum, der Alles trägt. Ach, es fährt dahin, wie ein sausender Wind, wie eine Woge, und die Menschen alle, große und kleine, gute und böse, folgen nach; sie steigen, sie sinken mit seiner brausenden Welle – sie werden aus Nebeln geboren und verschwinden im Nebel. Wer kennt sich selbst? Wer den Andern? Wir gehen an einander vorbei, vorbei; – ach das ist so kalt! Wer kann an sein, wer an eines Andern Herz glauben? Wer kann an sein Leben glauben, wer kann von seiner Zukunft sagen: »Es wird so werden!« Wir sehen durch den Nebel, wir gehen durch den Nebel . . . . wie es fließt – wie es dahinfährt! . . . . Und es ist so kühl und dunkel . . . . Aber schlafen thut gut – ich will schlafen!«

»Eine unendliche, unbeschreibliche Gleichgültigkeit gegen das Leben hatte mich erfaßt. Die Worte Morgen, Freude, Leben, Freunde, Gott, waren für mich nicht mehr. Es war mir, als ob alle Wünsche, alle Gefühle in meiner Seele erlöschen, und ich selbst, wie ein Nebel, hinschwebte und mich wie ein Dunst im Raume verlöre. Eine große Mattigkeit überkam mich. Ich legte meinen Kopf in die Wagenecke. Alles schwindelte vor meinen Sinnen; Alles verlor sich in einen tiefen, finstern Nebel – aber eine Art Friede war in meiner Seele, und meine Zunge suchte die Worte auszusprechen: »Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, der Name des Herrn sei gelobet!«

»Die Bemühungen meiner Mutter riefen mich zum Bewußtseyn zurück. Ich war in Ohnmacht gefallen. Die Luft, die kalt und scharf durch die herabgelassenen Wagenfenster hereinströmte, brachte mich wieder zur Besinnung. Unruhig über meinen Zustand, wollte meine Mutter nach Hause zurückfahren, allein ich vermochte sie, davon abzustehen. Wir waren ganz nahe bei der Kirche. Mit betäubten Sinnen stieg ich aus dem Wagen und ging in unsern Stuhl hinein. Er stand einige Schritte von der Kanzel und dem Altar gerade gegenüber. Das 443 Altargemälde stellte die Auferstehung vor; Engel hoben den Stein vom Grabe hinweg, aus welchem der Erlöser strahlend stieg; die Morgenröthe färbte den Horizont und schien auf Golgatha. Ich sah das schöne Gemälde an, ohne es zu verstehen. Meine Sinne waren todt; die Sonne, die den Nebel durchbrochen hatte, schien jetzt durch die Kirchenfenster und beleuchtete die Auferstehungsscene, als hätte sie sagen wollen: »Schaue!« Ein Strahl ruhte auch auf mir. Ich fühlte ihn nicht. Man sang das Lied; ich sang mit, ohne daran zu denken. Eine unbeschreibliche Last lag auf mir. Als aber das Sündenbekenntniß abgelesen wurde, durchdrang mich ein tiefes Gefühl meiner Schwäche, meines Nichts. Ich sank mit Thränen auf die Kniee, ich betete nicht – wenigstens nicht mit Worten – aber meine ganze Seele, mein ganzer Zustand in diesem Augenblicke war nichts Anderes, als ein: »Herr erbarme dich meiner.«

»Es wurde stille. Ein leises Gesäusel ging über die Bäume auf dem Kirchhof und wurde auch in der Kirche gehört. Es war mir, als ginge dieser Hauch über meine Seele. Ich schlug die Augen auf. Eduard Hervey stand mit ernstem und strahlendem Blick auf der Kanzel. Von dem Augenblick an, wo er zu reden anfing, hing meine Seele an seinen Lippen. Ich lauschte, ich verstand, wie ich noch nie gelauscht und verstanden hatte.«

»Er sprach von dem Leben, das der Urgrund von Allem ist, worin alle Geschöpfe einander in Freude wieder finden; von dem Leben, das die Welt und das Leben und Streben jedes Menschen verklärt; von dem Leben, ohne welches Alles finster und krank ist; von dem Leben, das Alles vereinigt und erleuchtet; – von der Liebe! Er zeigte auf sie, als auf das Erste und Letzte, bildend in jedem Keime, duftend in jeder Blume, die Schönheit und Klarheit von Allem. Mit einem Feuerblick sah er ins Menschenherz hinab, und sprach zu jedem Einzelnen und zu Allen. Er strafte die Schlaffheit, die 444 Alles duldet, wie die Härte, die Alles verurtheilt. Er forderte Alle zur Reinigung, zur Klarheit, zur innern Heiligung auf; zu der Kraft, welche die Güte bildet, zu der Güte, welche die Kraft heiligt; er forderte Alle auf, in der eigenen Brust Versöhnung mit dem Himmel zu schließen; dann würden die Menschen bald in einem heiligen Staate, in einer verklärten Welt leben.«

»Glaubet nicht – sagte er – glaubet nicht, meine Freunde, daß die Erde ein Jammerthal sei. Glaubet nicht, daß diese Welt nur ein Ort der Prüfung und Qualen sei. Gott will es nicht so. Hat nicht die unendliche Liebe selbst sie zu einer Wohnung für sich eingeweiht und darin das Geheimniß ihres Reiches, die Fülle ihres Wesens geoffenbart? Lasset uns unter einander lieben, gleich wie Er uns geliebet hat, und wir werden dieses Geheimniß, diese Fülle verstehen. Lasset uns Gott, lasset uns einander lieben, und wir werden sehen, wie das Leben erglänzt, wie die Mühen leicht werden, wie lieblich es wird zu leben; Sorgen, Krankheiten und Tod werden nur wie Wolken über unsern Himmel dahinschweben, – und wir werden nicht unglücklich sein können auf der Erde. Möge Jeder sich fragen, was sein bitterstes Leiden verschuldet hat, und er wird es in dem Mangel an Liebe bei sich selbst, oder bei den Andern finden. Im Boden der Lieblosigkeit keimen Neid, Groll, Haß, Rache – die bittersten Giftpflanzen des Lebens; – hier beginnt die Hölle. Aber heilige dein Streben in Liebe, erkenne liebevoll das der Andern. Es gibt keine Kraft, die nicht an sich gut ist; kein Pfund, das nicht Freude und Nutzen gewähren kann. Umfasse Alles mit Theilnahme, laß allem Guten Ehre wiederfahren. Lege keiner reinen menschlichen Anlage Zwang an. Laß jedes sich in Liebe entwickeln. Das Leben hat Raum für Alle und bedarf Aller. Dann, meine Freunde, wird allmählig Freude und Friede in den Hütten der Sterblichen herrschen. So wollte es 445 Gott. Der Gott der Liebe ist auch der Gott der Freude; denn Liebe ist Freude, ist unendliche Seligkeit.«

»Ich wiederhole es: Lasset uns einander lieben, wie Gott uns geliebt hat; und es wird Freude sein auf Erden, und Freund wird sich an Freund schließen, Niemand wird allein dastehen im Leben, und das Leben wird für uns Alle gut werden; die schöne, ärndtereiche Erde wird besser genossen werden; denn alle Werke der Natur verklären sich in dem reinen Auge, in dem liebenden und glücklichen Herzen. So laßt uns leben, so laßt uns miteinander wandern durch den Tag der Erde, und wenn sein Abend kommt, so laßt uns die Felder segnen, wo wir als Kinder der Unsterblichkeit gespielt haben; wir haben unsere Stunden dort geschlossen, und indem wir der Stimme, die uns abruft, gehorchen, werden wir sagen: »O Vater, Geber alles Guten und aller Freude, mächtiger, liebevoller Gott! Ich preise dich für das Glück, das ich auf der Erde genossen habe. Du rufst mich von ihr ab. Ich komme freudig, mein Vater. Ich weiß, daß deine Liebe ewig ist, wie du, und die Gaben, die von dir sind, meine unschuldige Freude, meinen Freund, meinen Wirkungskreis, hast du mir in der schönen Heimath aufbewahrt, wo ich dich noch besser kennen und lieben lernen werde.«

»Schwach – ich weiß es – habe ich die schönen Worte wieder gegeben, wie sie noch in meinem Gedächtnisse stehen. Aber welche Beschreibung vermöchte die Macht der Stimme und des Blickes wieder zu geben und den Ausdruck des durchdrungenen Herzens, das in jedes Wort einen lebendigen Geist legte!«

»Ach diese Lehre der Liebe und Freude, so von Herveys Lippen ausgesprochen, von einer Seele, deren innerstes Wesen sie war, erfaßte die meinige in ihrer innersten Tiefe. Ein wunderbares Licht durchdrang mein Herz; eine noch nie gefühlte Freude schwebte über meiner Seele und in dieser welcher Friede, welches Leben, welche unnennbare Seligkeit! So tagt einmal der 446 Morgen des ewigen Lebens für die auferstandenen Kinder der Erde. Ich senkte meinen Kopf in meine Hände und ließ meine Thränen fließen. Noch nie waren sie von einem so süßen Schmerze geflossen. Es war die Hoffnung eines neuen Lebens, es war die Ahnung einer nicht gekannten Seligkeit, es war Anbetung in meinen Thränen. Ich saß gleichsam in diese Gefühle verloren da, als über mir ein Halleluja emporstieg, so lieblich, so stark, als hätte es eines Engels Stimme gesungen. Hervey stand vor dem Altare und pries Gott. Der Himmel lächelte blau und klar durch die hohen Kirchenfenster herein. Die Engel auf dem Altargemälde schienen gegen mich zu lächeln und Freude! Freude! zu flüstern. Und freudig stand ich mit der Versammlung auf, um zu danken und zu preisen. Meine ganze Seele war ein Halleluja! Als ich mich wieder gebeugt hatte und Herveys Stimme mich und Alle segnen hörte, da fühlte ich mich in Wahrheit gesegnet, fühlte, daß der Herr sein Angesicht über mich hatte leuchten lassen.«

»Von diesem Tage an ging eine große Veränderung in mir vor. Die ganze Welt war gleichsam vor meinen Blicken verwandelt. Es war nicht bloß die tiefe Bewegung, die ein Augenblick hervorgerufen hatte; Herveys Gegenwart, seine Rede, sein Einfluß war es, was dieß bewirkte. Das Leben, die Welt klärte sich mir auf – meine Seele bekam Leben und Licht. Ich erwachte aus meinem langen Traume, um zu lieben und anzubeten. Zu lieben – ja! – ich liebte Hervey und durch ihn Gott, die Natur und das Leben. Aber es währte lange, bis ich begriff, daß die Liebe zu ihm es war, was meine Welt verschönte, was mein Inneres aufklärte. Dieses Gefühl ging in mir auf, wie das Leben selbst. Ich wünschte, er wäre mein Bruder und ich ein Mitglied seines Hauses gewesen – dieses Hauses, wo ich ihn so geliebt, so angebetet sah; dieses Hauses, wo Frömmigkeit, Kenntnisse und Freude das Leben so reich machten, wo jeder Tag seine Bedeutung, seinen freundlichen Sonnenschein 447 hatte und Morgen und Abend wie seine heiligen Wächter ruhig und anbetend dastanden. O dieses stille, einfache, heilige und so freudige Leben, das war es, was meine Seele bedurfte, das war die rechte Heimathluft meines Wesens.«

»Ich will nicht bei der Beschreibung der wechselnden Gefühle verweilen, die meine Seele beherrschten bis zu dem Augenblick, da es mir klar wurde, daß unsre Wesen nur Eines ausmachen, daß wir ewig einander angehören. Ich habe zwischen der tiefsten Verzweiflung und höchsten Seligkeit gezittert – jetzt bin ich ruhiger – denn ich weiß doch Eines – und in diesem Einen liegt Ruhe und Klarheit und Seligkeit genug; – ich weiß, daß er mich liebt und daß keine Trennung, kein Tod unsre Herzen scheiden wird. Edla wird mein Schicksal bestimmen. Sowohl Hervey als ich haben beschlossen, vor ihrer Rückkehr und ohne ihren Beifall uns durch kein Versprechen zu binden. Aber kein Anderer als Hervey soll mich Gattin nennen. Graf Ludwig ist mir Nichts mehr, ich kann ihm Nichts sein, er wird in mir bloß ein halblebendiges Wesen, bloß einen Schatten von Nina haben. Hervey hat mein Leben hervorgerufen, ihm gehört es an. Ach ich fühle, daß es mehr sein, als mein ist. O Klara! mit ihm und durch ihn würde ich ein Gott angenehmes und meinen Mitmenschen nützliches Wesen werden. Ich würde gleich ihm die Herzen der Menschen fröhlich machen, würde an den Schmerzenslagern der Kranken sitzen, würde die kleinen Kinder lehren gut zu sein und die ewige Liebe zu lieben, die sie und Alle umfaßt; die Arbeit würde mir angenehm, die Mühe leicht sein; Sorgen und Noth würde ich kraftvoll ertragen; – Alles um seinetwillen, für ein Wort des Beifalls, für einen Blick von ihm. Mein nebliges traumgleiches Leben würde dann verschwinden; ich würde Menschenwerth gewinnen.«

»Hervey soll die bürgerliche Stellung, die er sich erwählt hat, nicht aufgeben, Er hat sie aus Neigung 448 gewählt und liebt sie. Ihn auf diesem Weg zu begleiten ist das einzige Loos, das ich wünsche – ach das beste, das höchste. Kein Rang, keine Stellung ist höher, als die, ihm eine würdige Gattin zu sein. Wie lieblich, einen Anhang seines Lebens zu bilden! Wie gerne möchte ich nur die Lampe sein, die seine Arbeit beleuchtet, nur der Wind, der seine Stirne erfrischt! Was werde ich an Herveys Seite vermissen können? Er hat Liebe und Weisheit genug, um eine ganze Welt glücklich zu machen! Sein Haus, mein Haus, die täglichen, ihm und seinen Geliebten theuren Beschäftigungen darin – wie lieblich werden sie nicht meine Tage ausfüllen! Weh mir, wenn ich bei einem solchen Leben Mangel empfinden könnte, wenn nicht jeder Abend, jeder Morgen, den er gesegnet, ein warmes Dankopfer meines Herzens für den Reichthum meines Looses hervorrufen sollte! Möget ihr dann dahinrollen, Tage und Jahre des Lebens! Was für Prüfungen, was für Sorgen ihr bringen könnet, ich fürchte sie nicht! Er wird mir nahe sein, wird mich lieben und nur den Himmel zeigen. Wenn er an meinem Sterbelager steht und mir mit seinem Blicke leuchtet, dann fürchte ich keinen finstern Gedanken. Ich werde ihn sehen und den Gott, den er sieht. Er wird mein Grab segnen – und ich fürchte nicht mehr seine düstre Umhüllung; mit ihm ist Licht und Leben, mit ihm der Himmel! Ewigkeit! Unendlichkeit! Vor deiner Tiefe schwindle ich nicht mehr; mich tragen seine Schwingen, mich schützt seine Brust . . . .«

»Doch halt! was habe ich gesagt? Wohin führt nicht der Seligkeitstraum? Edla! Meine hohe reine Edla, wirst du mich daraus erwecken? wirst du dein Kind unglücklich machen? O nein Edla, das kannst, das wirst du nicht thun. Klara! Edla weiß noch nichts von meiner Liebe. Ich habe es nicht gewagt ihr davon zu schreiben. Edla hat mich so schwach gesehen, sie würde mich und meine Gefühle jetzt nicht verstehen. Edla muß Hervey kennen lernen. Dann wird sie ihn lieben, Ihre 449 Seelen sind dazu geschaffen einander zu verstehen. Edla wird unser Glück wollen. Sollte sie nicht! . . . Gütiger Gott! Meine Hand zittert, mein Auge wird trübe bei dem Gedanken, daß Edla nicht wollen könnte. Klara! Ich fühle mitunter ein Bedürfniß nach Liebe und Glück, ein unbeschreibliches Verlangen, das Leben so zu leben, wie ich weiß, daß ich es leben könnte. Aber wenn es sich bloß darum handelte, diesem zu entsagen, wenn es sich bloß um mein eigenes Glück handelte, so glaube ich, ich könnte mich darein ergeben und mit dir sprechen: »Was thuts denn auch, wenn ein Mensch leidet?« Aber Hervey! Hervey! O wie ist es mir, als riefen mir tausend Stimmen diesen geliebten Namen zu! Hervey liebt mich! Es handelt sich auch um sein Glück. Mein Herz bebt bei dem Gedanken an einen Kampf gegen Edlas Willen, aber Eduard Hervey kann ich nicht entsagen. Allmächtiger Gott! Leite mich und neige Edlas Herz ihm zu, der mein Leben ist. Vielleicht naht der Augenblick schnell, wo Alles sich entscheiden soll – Leben oder Tod für mich. Aber ich kann die Hoffnung nicht aufgeben, wenigstens jetzt nicht, da ich Hervey noch sehe. Ich muß glauben, muß auf Leben und Glückseligkeit hoffen. Wer könnte Eduard Hervey nicht lieben? Edla wird mein Glück wollen.«

»Ich habe deinen Wunsch erfüllt, Klara, ich habe bloß von ihm und von mir gesprochen; ich habe nicht über dich mit dir gesprochen. Laß mich aber doch ein Wort sagen – es kommt aus dem Innersten meines Herzens. Ich fühle, daß du hoch, sehr hoch über mir stehst und dieß stärkt meine Seele, es thut mir wohl an dich zu denken. O Klara, du Gute, Holde. Sollte ich hart geprüft, sollte ich verurtheilt werden, allen Freuden des Lebens und Daseins zu entsagen – willst du mich dann stützen? Willst du dann kommen zu deiner

Nina?« 450

 


 


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