Fredrika Bremer
Nina
Fredrika Bremer

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Eduard Hervey.

Ein reiner und sicherer Verstand; ein starkes und gutes Herz; Gesundheit und Glück. – Das ist der Werth des Menschen.
                                            Thorhild.

Willst du den Pastor unter seinen Pfarrkindern sehen? Nichts war schöner. Er war oft unter ihnen; er liebte es, sie fröhlich zu sehen; er nahm zuweilen an ihren Tänzen Theil und führte ihre Spiele an. Für die Bauern war kein Fest vollkommen, wenn Hervey fehlte. Seine Gegenwart führte nicht den mindesten Zwang herbei und verhinderte dennoch jede Ausschweifung. Bei der geringsten Anwandlung von Rohheit oder Gewaltthätigkeit spürte der Fehlende Herveys Hand auf seiner Schulter, und vor seinem Blicke und seinem freundlichen, aber ernst warnenden: »Sachte, mein Sohn!« legte sich sogleich der unbändige Sinn. 276

Hervey war der Liebling des Kirchspiels. Der Eine pries seine richtigen Ansichten und seine Wirksamkeit für das Beste des Ortes, der Andere seine herrlichen Predigten, der Dritte seine Sorge für die Greise und seine Bemühungen für die Erziehung der Kinder, der Vierte seine Gelehrsamkeit und Bereitwilligkeit sie mitzutheilen, der Fünfte sein angenehmes Wesen, seine Milde und seine Lebhaftigkeit. Es hieß von ihm überall, was man früher von Ansgarius sagte, man habe nie einen so guten Menschen gesehen.

Die natürliche Folge davon war, daß man auch noch nie Jemand gesehen hatte, der mehr geliebt und verehrt worden wäre. Alle, Hohe und Niedrige, Reiche und Arme, wandten sich an ihn um Rath und Trost. Und er hatte für Alle Bescheid und Liebe. Nie wies er Jemand zurück, nie drückte er einen Fehlenden nieder, nie erstickte er eine keimende Anlage. Seine reiche Seele vermochte Alles aufzurichten, zu beleben, zu umfassen. Er riß die Leute unwillkürlich hin, denn sein Blick war klar, sein Wandel unsträflich, sein Wille stark und sein Herz das eines Engels.

In den sechs Jahren, die Hervey in dieser Gegend gelebt und gewirkt, hatten sich Boden und Menschen bedeutend verändert. Ein Geist der Kultur und höheren Lebens machte aus dem Schooße des ersteren Aehren und Gräser, in der Brust der letzteren frische Gefühle und Gedanken emporsprießen. Saure Wiesen und kleinmüthiges Verzagen, Moräste und Rohheit verschwanden immer mehr. Geschmack für Literatur, Sinn für Kunst, Lucerne und Klee wurzelten allmählig fest. Was Fenelon lehrte, was Oberlin that, das lehrte und that auch Eduard Hervey. Der Erste an Tugend, an Kenntnissen und Arbeitsamkeit war er in der ganzen schönen Bedeutung des Wortes der Hirte seiner Gemeinde.

Was Hervey ganz besonders Allen so lieb machte, war der Werth und die Wichtigkeit, die der Mensch an sich für ihn hatte. Was seine Aufmerksamkeit am 277 Allermeisten fesselte, war das rein Menschliche in jedem Menschenleben. Wie liebevoll betrachtete er nicht die Wirkung der Religion in dem stillen Leben, das seine Tage unbemerkt in einem Winkel der Welt dahinwebt. Die scheinbar unbedeutendsten, die am meisten in Schatten gestellten Bilder des Lebens betrachtete er eben so gern, eben so forschend wie die glanzbeleuchtetsten. Er liebte es, sie im Gespräche hervorzuziehen und in ihr rechtes Licht zu stellen. Wie mancher bedeutungsvolle Zug, wie mancher himmlische Ausdruck kam nicht da zum Vorschein! Wie groß erschien nicht das Leben oft in dem Kleinen, in dem von der Welt Uebersehenen!

Hervey gehörte der romantischen Schule an. Diese entstand in dem Augenblick, wo Gott in einem Stalle geboren wurde. Geschichten und Romane führen dieses wunderbare Thema in unendlichen Variationen aus. Wenn dabei zuweilen einige Ungeheuerlichkeiten mit unterlaufen, so ist dies blos ein menschlicher Fehler. Hervey verfiel nicht in denselben. Seine Seele war klar und er liebte es, das Rechte zu thun.

Seine ungewöhnlich einnehmende Persönlichkeit, das unbeschreiblich Milde und Wohlthuende seines Blicks, sein schönes Lächeln, die Bestimmtheit, Klarheit und Frische in seinem Wort und Wesen, Alles dieß trug dazu bei, seinen Einfluß zu vermehren. Seine Ueberlegenheit würde imponirt haben, wenn auch nicht seine Güte alle Herzen gewonnen hätte. Und doch wurde er gefürchtet, aber gefürchtet, wie es ein Mann Gottes sein soll. Man scheute einen strengen Blick, ein strafendes Wort von ihm, wie ein Unglück.

Hast du je in deinem Leben Jemand getroffen, in dessen Anwesenheit ein unnennbares Wohlbehagen sich deiner Seele bemächtigte und ein beseligendes Gefühl von Sicherheit und Behaglichkeit durch dein Wesen strömte; der machte, daß du dich gut, zufrieden mit Gott, mit dem Leben, mit deinen Mitmenschen fühltest; ein Wesen, zu welchem du unwillkürlich auf liebliche Art hingezogen 278 wurdest, wie die Blume zum Lichte, wie der Mensch zu einer starken und milden Engelsnatur? Dann hast du erfahren, welches Gefühl Hervey den meisten Menschen einflößte. Es ging gleichsam ein holder Sonnenschein von seinem wohlwollenden Herzen aus.

Wer kann sagen, wie dieses Leben und Wesen Herveys auf Nina wirkte? Eine große Veränderung begann mit ihr vorzugehen. Sie war nicht mehr die matte, beinahe leblose Schönheit, die traumähnliche Gestalt. Eine Ader von Leben und Freude schien durch ihr ganzes Wesen zu spielen. Wie ein aus tiefem Schlafe erwachtes Kind sah sie klar und lächelnd ins Leben hinaus. Sie strahlte wie eine Morgenröthe.

Aber auf der andern Seite wirkte sie mit unwiderstehlichem Zauber auf ihn. Eine geheime Anziehungskraft führte sie zu einander und ließ sie schon in ihrem gegenseitigen Anblick, in ihrer gegenseitigen Nähe Seligkeit empfinden. Der Worte bedurfte es nicht. Und dennoch, wie lieblich wurde nicht zwischen ihnen gewechselt! Wie voll, wie gut verstand sie ihn nicht! Wie schön faßte er sie nicht auf! Er war die Sonne über ihrer Erde, sie der milde Thau auf der seinigen. Sie thaten einander gegenseitig wohl; doch empfing sie am reichlichsten. Es war mehr als das Leben, oder vielmehr es war das eigentliche Leben.

So lebten sie glücklich, so lebten sie ruhig, denn Niemand, selbst der Warner in ihrer eigenen Brust nicht, dachte noch daran, sie zu beunruhigen. Sogar die scharfsinnige Baronin H. wurde allmälig sicher, denn Hervey und Nina waren so offen, so freimüthig gegen einander, und die stille Klara war beinahe immer bei ihnen und theilte Herveys Aufmerksamkeit mit Nina. Daß dieser Nina bewunderte, daß sie Wohlgefallen an ihm fand, war bloß natürlich und nothwendig. Die Baronin H. hielt es übrigens für vernunftgemäß, daß Pastor Hervey sich eher an Klara, als an die schöne Tochter Sr. Excellenz machen sollte und wollte ihm nicht das Unrecht 279 anthun, etwas Anderes zu vermuthen. Sie lernte ihn bald in seinem Werthe schätzen und je mehr sie mit ihm bekannt wurde, um so lebhafter stieg in ihr der Wunsch auf, daß Klara und Hervey ihre Herzen austauschen möchten und sie selbst in den Stand gesetzt werde, zum Glücke beider beizutragen.

Die Gräfin war über Herveys ungewöhnlichen Charakter und Bildung zuerst verwundert und dann gänzlich davon eingenommen. Sie suchte ihn ihrerseits gleichfalls anzuziehen und sein Interesse ausschließlich zu fesseln. Indessen merkte sie bald, daß er die Gesellschaft Ninas, ja sogar die der originellen Baronin H. und der stillen Klara der ihrigen vorzog. Etwas beleidigt dadurch wandte sie ihre Aufmerksamkeit von ihm ab und einem großen, schönen Obersten zu, der seinerseits seiner hübschen Nachbarin mit etwas mehr als bloßer Bewunderung huldigte.

Hervey war an den Winterabenden oft auf Umenäs. Seine Gegenwart gab jederzeit Allen eine erhöhte Lebendigkeit. Augenblicke von Schwermuth, die zuweilen über ihn zogen, wie Gewitterwolken über einen klaren Himmel, störten diesen Einfluß nicht. Sie waren bald zerstreut. Ein Blick von Nina, der Laut ihrer Stimme machte sie verschwinden, und er schien doppelt liebenswürdig unter dem Schatten von Wehmuth, den der entflohene Augenblick zurückließ. Oft war er auch vergnügt wie ein Kind und sogar tändelnd. Dann mußten alle Herzen unwiderstehlich mit ihm fröhlich werden.

Wenn Nina ihn unter den Freunden sah, die sich oft in dem Salon der Gräfin versammelten, so hatte sie nur wenigen Genuß von seiner Gesellschaft. Dann sammelten sich alle Männer um ihn, alle Hände streckten sich aus, um die seinige zu drücken, Aller Blicke schienen sich an den seinigen erfrischen zu wollen. Jeder hatte ihm Etwas zu sagen, ihn über Etwas zu Rathe zu ziehen. Mit Recht nannte man ihn den Freunde- und Friedebeglückten.

An Ninas Seite saß gewöhnlich der junge Kapitain S., 280 dessen Grafentitel und großes Vermögen gar manche Muthmaßung und Prophezeiung veranlaßte, die der Leser wohl errathen wird. Ninas halbe Verlobung mit Graf Ludwig war nämlich ein Familiengeheimniß geblieben und Niemand im Orte hatte eine Ahnung davon. Auch schien ihr Benehmen den Prophezeiungen nicht zu widersprechen. Sie hörte den jungen Kapitain so gerne, so freundlich und so aufmerksam an, und seine stattliche Figur sowie sein schönes Gesicht machten es auch denen ganz erklärlich, die nicht wußten, wovon die Rede war. Und wovon war wohl die Rede? Wovon glaubt wohl der Leser, daß der junge Mann mit dem schönen jungen Mädchen gesprochen habe? Von seinem Freunde, von Eduard Hervey, von seinem Charakter, seinen Handlungen, seiner Vortrefflichkeit. Er sprach aus seines Herzens Fülle, ohne zu ahnen, warum man ihn so gerne anhörte. Der junge S. gehörte zu den liebenswürdigen Charakteren, die ihr eigenes Ich über einem vortrefflicheren vergessen, und sich dabei glücklich fühlen.

Und jetzt – nach allen diesen Lobpreisungen eines Menschen – laßt uns auch ein Wörtchen von der Menschheit selbst sagen.

Man hat es schon oft gesagt, aber es ist so angenehm zu wiederholen, wenn man tief fühlt, daß es so ist; man findet bei den Menschen einen allgemeinen Hang, nach Oben zu blicken, zu bewundern und das Bewunderte zu lieben, und wenn es Augenblicke gibt, wo ein gemeinsames Gefühl der Brüderschaft durch die Menschheit geht, so sind es solche, in denen eine große That, oder ein edles Genie sich der Welt offenbart. Dann erhebt sich die Welt wie ein Mann und huldigt. Diese Huldigung ist eine Brüderschaft, die Alle Allen aus derselben unsterblichen Quelle zutrinken, und worin sie sich als Kinder desselben Vaters erkennen.

Mein Feind, wozu dient es, daß wir so bitter mit einander streiten? Wir müssen ja doch übereinkommen, wenn wir einmal Gott schauen dürfen. 281

 


 


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