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Es ist Weihnachten! Es ist Weihnachten!
Die Kinder.
Wie kalt, wie dunkel es ist! Eis bedeckt die Fensterscheiben. Die Morgendämmerung geht düster dahin, um sich mit der Abenddämmerung zu vermählen, und bald baut die Nacht ihr Grabgewölbe über den ganzen Tag. In Norrland hat die Mittagsstunde noch einige lichte Augenblicke, die Sonne noch einige matte Strahlen, aber sie versinken bald wieder, und es wird finster. Weiter hinauf weiß man Nichts mehr vom Tage. Die Nacht dauert Monate lang.
»Die Natur schläft,« sagt man im Norden; aber dieser Schlaf gleicht dem Tode, er ist kalt und unheimlich, wie dieser, und würde des Menschen Herz verfinstern, wenn nicht zur gleichen Zeit ein anderes Licht aufginge, ein warmer Schooß sich ihm öffnete und es mit seinem Leben belebte. In Schweden kennt man es sehr gut, und wenn in der Natur Alles verstummt, sich verfinstert und hinstirbt, so beginnen in allen Häusern alle Herzen und Hände sich zu rühren, um ein Fest zu bereiten. Ihr wißt davon, ihr sinnreichen Töchter des Hauses, die ihr unter Nachtwachen und Scherzen bei langdochtigen Lichtern eure Finger und Augen anstrengt, um eure Geschenke fertig zu machen. Ihr wißt davon, ihr Söhne des Hauses, die ihr euch die Nägel zerkaut, um zu ersinnen, was in aller Welt ihr zu Weihnachtsgeschenken auswählen sollt. Du weißt es, fröhliches, kleines Kind, das keine Sorge hat, als die weniger ernste, der Weihnachtsbock möchte fehlgehen und sich nicht in deinem Hause einfinden. Ihr wißt davon, ihr Väter und Mütter, mit leeren Beuteln und freudevollen Herzen. Ihr Tanten und Cousinen von dem unsterblichen Stickerei- 268 und Tapisseriegeschlechte, ihr verzogenen und verziehenden Onkel, ihr wißt es wohl und kennt diese Zeit der geheimnißvollen Gesichter, des verrätherischen Gelächters und der fröhlichen Sorgen! Im Hause des reichen Mannes bereitet man fette Braten, den wunderlichen Laugenfisch; die Würste schäumen, die Torten schwellen, und es findet sich keine so arme Hütte, in der nicht um diese Zeit ein kleines Ferkel herumhüpfte und quiekte, das, ein fichtenreisgenährtes Opfer, sieh meistens von seinem guten Humor mästen muß.
Ganz anders steht es um diese Zeit mit den Elementen. Der Geist der Kälte hat sich zum Despoten gemacht, er hält jedes Leben in der Natur gefesselt, hemmt jedes Aufwallen der Meeresbrust, erstickt jedes aufsprießende Hälmchen, verbietet den Gesang der Vögel und den Tanz der Mücken, und nur sein Minister, der gewaltige Nordwind, donnert frei in dem graugewordenen Raum und sieht darauf, daß Alles sich stumm und todt hält. Nur die Spatzen – die kleinen Optimisten der Luft – bleiben munter und scheinen mit ihrem Gezwitscher das Nahen besserer Zeiten verkünden zu wollen. Jetzt kommt die finsterste Zeit des Jahres, die Mitternachtsstunde der Natur, und mit einem Male strahlen Lichter aus allen Wohnungen und wetteifern mit den Sternen des Himmels. Die Kirche öffnet ihren Schooß voll Klarheit und Lobgesang, die Kinder erheben ihre Stimmen mit dem Freudenruf: »Es ist Weihnachten! Es ist Weihnachten!« Die Erde sendet ihr Halleluja empor.
Und warum diese Lichter, diese Freuden, diese Lobgesänge? »Ein Kind ist geboren!« Ein Kind? In nächtlicher Stunde, in niedriger Krippe ist es geboren worden, und Engel haben dazu gesungen: »Friede auf Erden!« Dieß ist das Fest, das gefeiert wird. Und wohl mögt ihr, ihr kleinen geliebten Kinder, euer Freudengeschrei ertönen lassen. Begrüßet, wenn auch unbewußt, die Stunde, da euch dieser Freund, dieser Bruder 269 geboren worden, der euch durch das Erdenleben führen und selbst im Tode vor euren Blicken Licht machen wird, der allen euren schönen Kindheitsträumen dereinst Wirklichkeit verleihen, der euch Armuth, Dunkelheit und Sorgen verklären und die tiefsten Fragen des Lebens lösen helfen wird. Jubelt ihr glücklichen Kleinen, die er gesegnet hat! Jubelt und folget ihm nach! Er ist gekommen, um euch und uns Alle zu Gott zu führen.
Es gibt Gedanken, unerschöpfliche, liebliche, wunderbare, entzückende Gedanken, in welche zu versinken man nicht müde wird. In diesen badet sich die kranke Seele wie in einem Bethesda und findet Genesung; die gesunde findet darin ein erhöhtes Leben. Von dieser Art sind die Gedanken über dieses Kind, diese Armuth, diese Niedrigkeit und diese Herrlichkeit.
Schön und weise ist die Einrichtung, daß das Leben der Kirche sich am reichsten in der Zeit entwickelt, wo die Natur todt ist! Habe Dank auch für diese Sorge, gütiger Vater.
So dachte die stille Klara, als sie mit ihren Freunden langsam die Hügel hinanfuhr, die durch finstere Fichtenwälder zu der Höhe führten, wo von Gräfin Nataliens dermaliger Residenz Lichter strahlten. Wir nennen sie Umenäs. Klara blickte in die graukalte Dämmerung hinaus, die alle Gegenstände einhüllte. In dieser Finsterniß erschienen die Lichter auf der Höhe doppelt angenehm, und Klaras Augen hefteten sich unwillkürlich darauf, während freundliche Gefühle ihre Seele belebten. Sie freute sich, Nina wieder zu sehen, für welche sie immer eine herzliche Theilnahme gehegt hatte. Sie fragte unwillkürlich: »Hat auch dein Leben einiges Licht erhalten, wodurch es erwärmt und erleuchtet wird, du bleiches, schönes, gutes, so reichbegabtes Mädchen? warum sollst du weniger glücklich sein, als die unbedeutende Klara?«.
»Kaffee!« rief Baron H. im Schlafe. 270
»Sogleich!« antwortete seine Gemahlin, die nicht schlief.
»Was?« fragte der Baron erwachend.
»Wir sind bald an Ort und Stelle.«
»Unmöglich!«
»Gewiß!«
»Unmöglich!«
»Aber, mein bester Freund, ich versichere dich.«
»Aber, meine beste Freundin, ich glaube es dir nicht.«
»Wir sehen schon Licht!«
»Ich sehe kein Licht!«
»Ja, das glaube ich; wenn man schläft . . .«
»Man schläft nicht, man sieht bloß keine Erscheinungen! Man hat bloß hellere Augen, als Andere!«
»Es ist mir unbegreiflich,« sagte die Baronin Etwas hitzig, »wie du in der Schlaftrunkenheit bestreiten willst, was zwei wachende Menschen sehen. Der Nebel auf dem Fenster macht dich blind. Sieh jetzt einmal!« Und sie streckte die Hand aus, um das Fenster herabzulassen, allein diese wurde im Vorbeikommen von dem Baron confiscirt, der sie hielt, herzlich küßte, an seine Augen drückte und versicherte, er sehe jetzt Licht, auch wo Andere keines sehen. Die Baronin disputirte jetzt nicht mehr, und im zärtlichsten Frieden oder Streit – denn es ist merkwürdig, wie diese beiden Gegensätze manchmal Eins sind – hielten die Reisenden bald darauf vor der Thüre des Gebäudes an, welches die Baronin ein Haus nannte, Gräfin Natalie aber Schloß genannt wissen wollte.
Wir möchten jetzt gerne über den Zustand daselbst Bericht abstatten, allein wir erblicken eine Feder in der Hand der Baronin H., und finden es angenehmer, dem Leser einen Auszug aus dem Briefe zu geben, den sie einige Tage nach ihrer Ankunft auf Umenäs an eine vertraute Freundin schrieb.
». . . . . . . . . . Doch genug jetzt von der Reise und ihren matten Abenteuern. Die Ankunft war sehr angenehm. Es sah in Nataliens Haus keineswegs 271 lappländisch aus. Ein schöner, hübschbeleuchteter Salon, neue Möbel, Teppiche, Kaminfeuer! Es wird Natalie schwer, sich und andern Leuten weiß zu machen, daß sie hier das Leben eines entsagenden Eremiten führe. Und die Leute in dieser prachtvollen Eremitage? Du weißt, daß ich im Allgemeinen überall zuerst nach den Menschen sehe. Natalie, von Pracht umgeben, seheint auf ihrem Bergschloß die Rolle einer Fee spielen zu wollen. Sie hat sich verjüngt, sie kleidet sich elegant, spielt die Harfe, und will alle Welt entzücken. Ich bin überzeugt, daß es ihr gelingt. Ninas Anblick hat mir wahre Freude gemacht; sie hat sich erstaunlich verschönt, und fängt endlich an, wie ein Mensch mit Fleisch und Blut auszusehen. »Das kommt von der hiesigen Luft!« sagte Natalie. Es muß eine wahre Zauberkraft in dieser Norrlandsluft liegen, daß sie die Menschen verjüngen und verschönen kann. Es ist mir deßwegen recht lieb, daß ich hieher gekommen bin: ich wäre gar nicht abgeneigt, meinem guten H. zu liebe auch ein Bischen jünger und schöner zu werden. Als ich vor etwa vier Monaten Nina zum letztenmal sah, da glich sie einer Taube, der man die Flügel abgeschossen hat, so kreideweiß und matt sah sie aus; jetzt ist Leben und Farbe in sie gekommen. Gott weiß übrigens, ob an diesem Allem nur die Luft schuldig ist. Ich habe meine eigenen Gedanken. Du weißt, daß ich nicht diejenige bin, die sich Ideale vormacht und im Leben Engel und Gottheiten sieht; im Gegentheil sehe ich die Menschen so ziemlich, wie sie wirklich sind; – deßwegen wirst du vielleicht ein wenig über die Beschreibung staunen, die ich jetzt zu machen im Begriff bin, allein du darfst mich keiner Exaltation zeihen, denn dieß kann ich nicht ertragen, und es wäre auch höchst ungerecht. Doch zur Sache!«
»An dem Abend, da wir nach Umenäs kamen, trafen wir einige Herrn im Salon bei Natalie. Ich heftete die Augen sogleich auf einen von ihnen und konnte sie nachher kaum mehr von ihm abwenden. Nicht, daß 272 er so ausgezeichnet schön wäre oder eine glänzende Rolle gespielt hätte, nein, aber er war so ganz eigenthümlich. Etwas Einfacheres und Liebenswürdigeres erinnere ich mich nicht jemals in der Männerwelt gesehen zu haben. Das ist eine Stirn und Augen, die du malen solltest. Seine Gesichtsfarbe ist ungewöhnlich braun, aber klar und frisch. In seinem Wesen liegt die angenehmste Vereinigung von Ruhe und Lebhaftigkeit, von Milde und Kraft. Er hat Etwas von Johannes und Paulus zugleich. Ich erinnere mich nicht, je so schnell mit einem Menschen bekannt geworden zu sein und mich so sehr über eine Bekanntschaft gefreut zu haben. Natalie sprach lang und viel zu seinem Lob und sagte, er spiele die Harfe, wie König David selbst. Ich sehe, daß du anfängst, Etwas ungeduldig über meine Beschreibung zu werden und zu fragen: ›Aber, wer ist denn dieser Phönix? was ist er? wie heißt er?‹ Dieser herrliche Mann ist Pastor der hiesigen Gemeinde und heißt Eduard Hervey. Ist das nicht ein ächter Romanname? Was seine Augen, seine Worte und sein Harfenspiel außer der Landluft zur Auferweckung Ninas von den Todten beigetragen haben mögen, lasse ich dahingestellt sein.«
»Glaube vor allen Dingen nicht, daß ich damit im Mindesten etwas Böses meine. Es ist ja eine Gnade und ein Segen des Herrn, daß die Menschen einander zur Erweckung und zum Heile dienen können. Man braucht nicht gleich an Entführungen und heimliche Vermählungen zu denken. Dieß paßt nicht für unsere Zeit. Auch sieht Pastor Hervey schlechterdings nicht, wie ein Romanheld, sondern wie ein sehr ernsthafter, aber dabei heiterer Mann aus. Meiner Ansicht nach kann man dieß sehr gut von ihm sagen. Ich muß dir auch berichten, daß, wenn seine Augen sehr oft wie zwei klare Wächter über Nina leuchteten, sie auch meine stille Klara aufmerksam betrachteten, und dieß gefiel mir gar nicht übel. Ich habe nie so schwarze Augen mit einem so milden Ausdruck gesehen – mitunter etwas melancholisch – doch 273 ist eine gewisse strahlende Klarheit des Vorherrschenden – – aber ich bin, glaube ich, in diese Augen vernarrt! Ich muß mich zerstreuen. Ich will jetzt die meinigen umherwerfen und dir sagen, was sie außer dem Hause erblicken, denn ich sitze eben am Fenster und kann die Gegend in der Nähe und Ferne überschauen. Abscheulich häßlich! Kohlschwarze Wälder, hohe Berge – lauter Wildniß. Weiterhin das Meer, dessen Brausen man hört, wenn es stürmt. Zur Linken der Umefluß, der sich ins Meer ergießt –dort soll ein schönes Thal sein. Ich habe es noch nicht gesehen und gedenke es auch nicht so bald in Augenschein zu nehmen, denn es gelüstet mich ganz und gar nicht, im Winter auszugehen. Das Haus liegt auf einem Berge, und alle Winde heulen rings herum. Es ist merkwürdig, wie es drinnen so angenehm sein kann. Wir feuern aber auch unaufhörlich. Daher kommt es, daß die Aussicht auf den Wald nicht so ganz uninteressant ist. Im Meer liegen wunderliche Klippen, sämmtlich mit wunderlichen Namen; eine heißt der Bauer, oder der schwarze Mann und sieht ganz gespensterhaft schauerlich aus.«
»Jetzt wirst du wohl auch Etwas von einem gewissen neuvermählten Paare wissen wollen? Dieß soll dir werden. Mann und Frau befinden sich im Ganzen recht gut beisammen. Die Frau ist mitunter Etwas herb, so daß der Mann seinen Augen kaum traut. Sie hat große Lust, die Herrschaft im Hause zu behalten, allein sie fürchtet von Tag zu Tag mehr, daß der Mann mit seiner ausgezeichneten Güte und seinem unbegreiflichen Verstand ihre Macht gänzlich vernichten und sie so zahm und nachgiebig machen werde, wie ein andres Menschenkind. Indeß haben die beiden Gatten einen Schutzengel, den sie auf ihren Händen tragen, und stimmen in Nichts so vollkommen überein, als darin, daß sie die heilige Klara lieben und auf ihren Rath achten. Mit ihrer Hülfe ist gute Hoffnung vorhanden, daß sie den Weg in den Himmel nicht verfehlen werden. Inzwischen 274 wandeln wir vor der Hand noch auf der Erde, um süße Grütze zu essen und die Weihnachten zu feiern. Ich freue mich wirklich auf Eduard Herveys Predigt. Er muß da aussehen, wie ein Apostel. Ich habe noch hinzuzufügen, daß mein guter H. eben so sehr von ihm eingenommen ist, wie ich.«
»Vielleicht bleiben wir länger hier, als wir im Anfang beabsichtigt hatten. Natalie möchte uns gerne den ganzen Winter behalten; mein Mann erkundigte sich mit wässerndem Munde nach den hier gebräuchlichen Jagdpartieen und ich werde mich als gute Hausfrau wohl nach seinen Vergnügungen einrichten müssen. Ich müßte lügen, wenn ich sagen wollte, daß es mir in diesem Falle sauer ankomme, aber das kleine Paradies war auch ein herrliches Plätzchen.«
»Ich muß dich jetzt verlassen, denn mein Mann ruft mich, um die Weihnachtsfreude zu theilen.«
So viel aus dem Briefe der Baronin H.
Die Weihnacht hat ihre Friedens- und Freudengesänge ertönen lassen, und jetzt ist Freude auf Erden, und Tanz und Spiel und Licht in den Wohnungen der Menschen. Man tanzt im Schloß bei Wachskerzen und rauschender Musik; man tanzt in der Hütte und Scheune beim Schein von Oellämpchen und dem Getöne der Geige. Prachtvolle Schlittenzüge mit klingelnden Glocken, mit Damen und Herren fliegen durch die Städte, und das stattliche Spiel nachahmend, sieht man den zerlumpten Knaben den glatten Hügel hinab auf seinem Bergschlitten seine kleine baarfüßige Dame fahren und zuweilen auch umwerfen.
Auf Umenäs ist es dieß Jahr lebhafter, als seit Menschengedenken. Die Gräfin läßt illuminiren und spielen und tanzen, daß es eine Lust ist. Sie würde mit ihren Geschenken und Veranstaltungen auch in den Hütten der Bauern Luxus einführen, wenn sich nicht Hervey so bestimmt und ernst dagegen setzte. 275
»Sie haben keine Mittel,« sagt er, »sich mehr Licht und bessere Musik anzuschaffen. Man mache sie nicht lüstern nach dem, was sie jetzt nicht vermissen, und sie sind auch ohne dieß vergnügt. Diese Lichter bewahre man ihnen zu Nachtwachen bei Kranken auf – dann werden sie manchen finsteren Schatten verscheuchen.«
Inzwischen schritt der Winter in lauter Behaglichkeit und Heiterkeit vorwärts. Die Gräfin und die Baronin H. erklärten, nie einen vergnügteren erlebt zu haben. Nina war es zu Muthe, als finge sie jetzt erst an zu leben.
Diese angenehme Stimmung, dieses vergnügte Leben im ganzen Orte verdankte man hauptsächlich einem Manne. Wir wollen ihn Etwas näher ins Auge fassen.