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In einer Beziehung war Lew Hervey nicht vorschnell gewesen. Shorty und Joe kamen gerade rechtzeitig bei der Koppel an, um Marianne zu erwischen, als sie ihr Pony herausführte. Sie sagten ihr höflich, aber entschieden, daß das Pferd in die Koppel zurück müsse, und als sie die Männer abweisen wollte, nahmen sie ihr zu ihrer Verblüffung einfach das Leitseil weg, um das Pferd zurückzuführen. Marianne lief ins Haus und warf sich in einem Krampf von Angst, Hilflosigkeit und Scham aufs Bett. Sie schämte sich, weil sie aus einigen kurzen Bemerkungen Little Joes schloß, daß Hervey den Leuten ihr Geständnis nicht verschwiegen hatte. – Aber Scham und Furcht waren plötzlich vergessen. Sie setzte sich mit weit aufgerissenen Augen auf die Bettkante und wiederholte immer und immer wieder mit zitternder Stimme: »Ich muß zu ihm! Ich muß zu ihm!« Doch Hervey hatte ihre Hände zu fest gebunden. Sie hatte keine Möglichkeit, Perris zu warnen oder zu ihm zu kommen.
Früh am Nachmittag wurden die Pferde gesattelt und bestiegen. Dann ritten Hervey, Little Joe, Shorty, Macintosh und Scotty nach Osten ab. Kaum hatte es Marianne gesehen, als sie über den Hof vor das Haus lief. Die Gestalten der einzelnen Reiter waren bereits in Staubwolken verschwunden. Als sie sich wieder umwandte, sah sie links McGuire und Hastings in der Nähe der Koppel herumlungern. Mit vollendetem Geschick hatte Hervey die beiden seiner Leute ausgesucht, die als die ältesten und härtesten am wenigsten gefährdet schienen, Mariannens Überredungskünsten zu erliegen.
Hoffnungslos blickte sie zur Koppel. Offenbar waren die Männer übereingekommen, daß es nicht nötig sei, in der Sonnenhitze herumzustehen, um Marianne zu hindern, sich ein Pferd zu holen. Hastings hatte den Rücken gewandt und war auf dem Wege zum Haus. McGuire saß auf einem Baumstumpf, rollte sich eine Zigarette und grinste zu ihr hinüber.
Es würde nicht leicht sein, diesen Mann herumzukriegen, aber jedenfalls war jetzt mehr Hoffnung als vorhin. Ein Mann war nicht so schwer zu behandeln wie zwei, wenn jeder den anderen in seiner Gleichgültigkeit bestärkte. Marianne ging langsam auf McGuire zu und drehte sich noch einmal herum, um die Staubwolke über einem entfernten Hügel verschwinden zu sehen.
In dieser Staubwolke mäßigte Hervey das Tempo zu einem leichten Trabe, indem sie Meilen und Meilen zurücklegten, bis der Tag sich neigte und die lebhafte Unterhaltung der Reiter allmählich erstarb. Sie kamen jetzt in gefährliche Gegend. Es war einfach unmöglich, sich vorzustellen, daß Perris dem Befehl, die Gegend sofort zu verlassen, gehorcht hatte. Er hatte schon einmal ihren vereinten Kräften Trotz geboten und würde dies sicher noch einmal tun. Ehe alles vorüber war, mußte vielleicht viel Blut fließen.
So war es eine ziemlich feierliche Prozession, die im Schatten der Bäume den Hügel hinanritt, bis die Reiter endlich auf Herveys Befehl absaßen, ihre Pferde anbanden, wo es ein wenig Gras gab, das sie davon abhalten sollte, nervös zu werden oder zu wiehern. Und dann machten sich die Männer zu Fuß wieder auf den Weg.
Nun übernahm Hervey die Führung. Es hatte ihm niemals an persönlichem Mut gefehlt; nun ging er mit dem langen Revolver in der Hand den Pfad hinauf und war bereit, zu schießen, um zu töten. Ein oder zwei leise Geräusche ließen ihn unsicher zögern; aber bald ging er stetig weiter, bis sie an die Ecke der kleinen Lichtung kamen, in der Jims Hütte stand. Nichts Lebendiges ließ sich blicken: die Hütte schien verlassen. Finsternis füllte Tür und Fenster, obgleich die Lichtung immer noch im Widerschein des Abendrotes schwach leuchtete.
»Er ist nicht da«, sagte Little Joe leise und trat an die Seite des Inspektors.
»Sei nicht so sicher«, sagte der andere, »ich traue diesem Perris so wenig wie einer Klapperschlange in einem Zimmer von sechs Fuß. Vielleicht ist er drin und lauert nur darauf, über die Lichtung auszubrechen. Das wäre so das richtige für den roten Jim. Der verdammte Hund!«
Little Joe sah auf die ängstlichen Gesichter der andern zurück, wie sie im Gänsemarsch den Pfad heraufkamen. Es war ihm nicht recht, einem so großen Trupp anzugehören, der auf einen einzelnen Mann losging. In der Tat war Joe ein ganz guter Kämpfer, dessen Ruf in den Bergen weitverbreitet war.
»Nun«, sagte er, »wir wollen ihm eine Chance geben. Wenn er kein Kämpfer ist, sondern nur ein Mörder, dann soll er es uns zeigen.« Mit diesen Worten trat er kühn aus der Deckung und der Dunkelheit der Bäume vor und ging auf die Hütte zu. Seine Gestalt erschien groß und furchterregend im Zwielicht.
Lew Hervey folgte ihm sogleich. Er konnte sich nun, da die Krisis nahte, von keinem seiner Leute an Mut übertreffen lassen. Aber trotzdem er sich beeilte, hatte Joe mit langen Schritten bereits das Tor der Hütte lange vor ihm erreicht und verschwand im Dunkel. Gleich darauf tönte seine Stimme: »Er ist nicht hier. Glatt verschwunden.«
Im nächsten Augenblick waren alle in der Hütte versammelt.
»Wohin mag er gegangen sein?« fragte der Inspektor und kratzte sich den Kopf.
»Vielleicht ist er gar nicht so großartig wie seine Worte«, sagte Shorty, »vielleicht ist er über das Gebirge ausgerissen.«
»Mach mal einer Licht«, befahl der Inspektor, drei oder vier Streichhölzer flammten zu gleicher Zeit auf. Das ganze Innere der Hütte war in düsteres Licht getaucht, während ein Mann nach dem anderen das brennende Holz über irgendeinen Gegenstand hielt, den er entdeckt hatte.
»Hier sind seine Decken. Ganz zerwühlt.«
»Hier seine Stiefeln – hier die Bratpfanne und der Ofen.«
Sie gingen hin und her und zündeten neue Hölzer an, bis Little Joe sagte: »Es hat keinen Sinn, Jungens, Perris ist fort. Es war ganz klug von ihm. Er hat gesehen, daß er nichts auszurichten vermag, und man kann ihm noch nicht einmal einen Vorwurf daraus machen.«
»Ob er vielleicht auf der Jagd nach dem verdammten Pferd ist?« fragte der Inspektor mit unsicherer Stimme.
»Er kann doch Alcatraz nicht im Dunkeln jagen«, sagte Little Joe.
»Wir wollen uns auf den Weg machen«, sagte Hervey nach einer Pause, »ihr könnt immer vorausreiten. Ich will hier noch einmal alles durchsuchen.«
In Wahrheit wünschte er nur allein zu sein, und war es ganz zufrieden, als er hörte, wie sie durch den Wald davonritten, während ihre Stimmen immer undeutlicher wurden, bis er die Hufe der Pferde auf dem harten Steppenboden klappern hörte. Das letzte, was Hervey vernahm, war ein helles Lachen, das ihn ärgerte. Es kam ihm vor, als mache sich jemand über ihn lustig. Und in der Tat fühlte er sich ziemlich ungemütlich. Wie groß sein Mißerfolg war, konnte er so schnell gar nicht übersehen; er brauchte ein wenig Ruhe, um alles zu überdenken.
Zunächst einmal hatte er sich das Mädchen für immer zum Feinde gemacht, und damit, daß er sie beleidigte, nicht einmal ihrem Vater einen Dienst erwiesen, denn Perris, der gewaltsam von der Ranch vertrieben worden war, würde nun sicher zurückkommen, um volle Bezahlung für die Behandlung zu fordern. Die ganze Sache war hoffnungslos verwirrt. Hervey hatte seinen Plan auf seine Geschicklichkeit gebaut, Perris zu fassen und zu vernichten, um so die ganze Dankesschuld auf Oliver Jordans Schultern zu häufen, die der Rancher niemals auszugleichen imstande war. Aber nun, da Perris verschwunden schien, bedeutete er eine Gefahr nicht nur für Oliver Jordan, sondern für Hervey selbst. Die Falle hatte sich geschlossen, aber sie war leer. Die Zukunft mußte alle seine Hoffnungen zerstören.
Die düsteren Gedanken beschäftigten Hervey so sehr, daß er das Trappen von Pferdehufen nicht hörte, das sich unter den Bäumen näherte. Erst als Pferd und Reiter auf der Lichtung erschienen, fuhr Hervey aus seiner Grübelei auf. Er erkannte auf den ersten Blick an der Größe und an der Art, wie das herankommende Pony den Kopf aufwarf, das Pferd des roten Jim.