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Erstes Kapitel

Der Wind fuhr über die Adlerberge, reinigte sich über den immergrünen Hängen des Gebirges, blies über die Hügel an dessen Fuße und die meilenweiten Felder, bis er endlich dem Hengst einen Hauch von Kühle und den bezaubernden Geruch der Ferne brachte. Gerade als er seinen Kopf hob und die Brise in Schweif und Mähne spielte, hielt Marianne Jordan ihr Pony an und tat entzückt einen tiefen Atemzug. Denn sie hatte die vollendete Rasse des Fuchshengstes auf der Koppel vor ihr sofort erkannt, und ihre scharfen Augen zeigten ihr sogleich die arabische Abstammung des Pferdes, an die sie wie an das Evangelium glaubte.

Der Scheik spricht: »Ich habe meine Stute aufgezogen, seit sie ein Fohlen war; aus Liebe zu mir würde sie ihr Leben lassen. Aber wenn ich am Morgen zu ihr trete, wenn ich ihr Futter und Wasser gebe, so blickt sie über mich hinweg, hinaus in die Wüste. Sie wartet auf den einen, sie wartet auf ihren wahren Herrn und Meister, der aus der Weite erscheinen wird!«

Marianne hatte Vollblüter seit ihrer Kindheit gekannt; nachdem sie in den Westen zurückgekommen, war sie mit »Pferdefleisch« ganz und gar vertraut geworden, doch heute fühlte sie zum ersten Male, daß das Pferd von der Natur nicht zum Diener des Menschen bestimmt ist, daß seine Schnelligkeit ihm seine heilige Freiheit sichern soll. Einen Augenblick später aber wunderte sie sich, wie sie auf solche Gedanken gekommen war. Der Eindruck der Vollendung, den das Pferd noch eben auf sie gemacht hatte, mußte eine Täuschung gewesen sein, nur durch die Haltung und den Ausdruck des Tieres entstanden; als der Hengst nun den Kopf sinken ließ, kam die Wahrheit an den Tag: entweder war dies das Wrack eines jungen Pferdes oder die traurige Ruine eines edlen Tieres, das nun alt geworden war. Es war ein ruppiges Geschöpf mit stumpfen Augen und hängender Unterlippe. Kein Kamm hatte seit langer Zeit die Zotteln der Mähne und des Schweifes gelöst; kein Striegel hatte sein Fell weich gemacht. Es war einst ein Rotfuchs von üppiger Farbe gewesen, kein Zweifel, jetzt aber war die Farbe ausgebleicht in der Sonne wie Sand. Der Hengst war mager. Das fleischlose Rückgrat und der Widerrist stachen peinlich hervor; jede Rippe konnte Marianne zählen. Und doch war sein Körper noch nicht so zerbrochen wie sein Geist. Der hängende Kopf machte den Eindruck, als suche der Hengst einen Platz, um sich niederzulegen; es schien, als habe ihn sein Herr aus Grausamkeit hier gelassen, damit er verhungere und in der weißglühenden Hitze der Koppel sterbe – ein einsames Los, das er offenbar auch als ganz gerecht hinnahm, da er in der Welt zu nichts mehr nütze war.

Die Haltung des Tieres schien Marianne der Resignation eines Menschen zu gleichen; in der Tat zeigte der Fuchs mehr Persönlichkeit als viele Menschenwesen. Einst war er eine Schönheit gewesen; der Eindruck des Vollendeten, der Marianne zuerst so in Erstaunen gesetzt hatte, war wie ein Spuk aus ferner Vergangenheit. Sein Kopf, an dem sich Alter oder Hunger weniger zeigten, war immer noch ohne jede Frage sehr fein. Die Ohren waren kurz und edel geschnitten, die Augen standen gut. Die Entfernung zum Kinnbacken war weit – es war eben der kurze Kopf von schmaler Bildung mit breiter Stirn, der für den Vollblüter charakteristisch ist. Als sie ihr erfahrenes Auge über den Rest des Körpers gleiten ließ, seufzte sie bei dem Gedanken, daß ein so edles Geschöpf zu einem solchen Ende bestimmt sei. Kein Zeichen von Leben war in ihm; nur die Haut zuckte manchmal, um eine Fliege zu verscheuchen.

Auf keinen Fall konnte dies das Pferd sein, das sie ansehen wollte; sie schickte sich bereits an, vorbeizureiten, als sie fühlte, daß aus dem tiefen Schatten eines Gebüsches neben der Koppel ein Paar Augen sie beobachteten. Dann erkannte sie einen schlanken, gelbhäutigen Burschen, der seinen Rücken gegen die Koppelumzäunung lehnte und in seiner Haltung eine so völlige Entspannung erkennen ließ, wie sie nur ein Mexikaner zeigen kann. Ein kurzer schwarzer Schnurrbart war genau bis zum oberen Rande der roten Lippe geschnitten und betonte auf seltsame Weise sein jugendliches Aussehen. Körper und Gesicht hatten die weibliche Zartheit, welche die gröber gebauten Angelsachsen nicht lieben; obgleich Marianne keineswegs allzu kräftig war, faßte sie sofort eine heftige Abneigung gegen den Menschen. Gerade deshalb aber lächelte sie – vollendete Dame bis zu den Spitzen ihrer schlanken Finger – herzlicher jetzt, als nötig war.

»Ich erwarte Manuel Cordova«, sagte sie.

»Bin ich«, antwortete der Mexikaner und brachte es fertig, zu sprechen, ohne seine Zigarette aus dem Munde zu nehmen.

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen«, antwortete sie, »ich bin Marianne Jordan.«

Nach diesen Worten geruhte Manuel Cordova, seine Zigarette aus dem Mund zu nehmen, ohne auf die Asche zu achten, die in den glockenförmigen Ärmel seiner Jacke fiel. Denn ein Mexikaner hält es für sehr schlechten Stil, der Zigarettenasche auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Ob diese auf seinem Kinn oder auf seiner Weste landet, ist ganz gleich; sie bleibt dort liegen, bis der Wind sie fortbläst.

»Das Vergnügen ist ganz meinerseits«, sagte Cordova mit melodischer Stimme und machte langwierige Vorbereitungen, sich zu erheben. Sie begriff sofort, daß die dazu nötige Anstrengung ihm seinen ganzen Morgen verderben würde. So bat sie ihn dringend, zu bleiben, wo er war, worauf er mit der Grazie eines Filmstars lächelte und eine gleichmäßige Reihe weißer Zähne entblößte.

»Kann ich es Ihnen kurz erklären«, fuhr Marianne fort, »ich bin zur Messe nach Glosterville gekommen, um für meine Ranch ein paar Zuchtstuten zu kaufen; natürlich sind die einzigen, die ich haben möchte, die Colesschen Pferde.«

Er nickte.

»Diese Pferde aber«, fuhr sie wieder fort, »werden erst nach dem Rennen heut nachmittag zum Kauf angeboten. Sie sind alle genannt und sind ja sichere Sieger. Kein anderes Pferd kommt an ihre Klasse heran, und wenn sie im Finish sind, wird wahrscheinlich jeder anwesende Ranchbesitzer auf sie bieten wollen. Das würde den Preis so hoch treiben, daß er für mich nicht mehr in Frage kommt. So kann ich nur beten, daß ein Wunder geschieht – nämlich daß ein Pferd erscheint, das sie schlagen könnte. Ich habe mich erkundigt, und mir wurde gesagt, daß Manuel Cordovas Alcatraz beste Aussichten habe. Ich bin also mit recht viel Hoffnung zu Ihnen gekommen, Señor Cordova, und würde Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie mich Ihren Crack sehen ließen.«

»Sehen Sie ihn sich nur nach Herzenslust an, Señorita«, antwortete der Mexikaner und streckte eine schmale, müde Hand in die Richtung des vor sich hindösenden Hengstes aus.

»Wie denn«, rief das Mädchen, »man hat mir doch von einem wirklichen Rennpferd erzählt –«

Sie sah noch einmal kritisch zu dem verblaßten Fuchs hinüber. Man hatte ihr von einem Vierjährigen gesprochen, während dieses dürre Vieh wenigstens wie fünfzehn aussah. Immerhin ist es etwas anderes, nur einen allgemeinen Eindruck zu bekommen oder sich etwas genau anzusehen. Nun bemerkte Marianne die große Schulterfreiheit, den kurzen Rücken, die gut gestellten Beine. Natürlich mußte Unterernährung die Augen trübe und das Fell struppig und glanzlos werden lassen.

»Es ist wohl nicht viel an ihm dran, wie?« schnurrte Cordova leise. Je länger sie das Pferd betrachtete, desto mehr sah sie. Die Magerkeit des Hengstes machte es leichter, seine Muskeln deutlich zu erkennen; sie schätzte auch den Brustumfang ab, dessen Größe einen gewaltig langen Atem bedeutete.

»Das ist also Alcatraz?« murmelte sie.

»Das ist er«, sagte Cordova freundlich.

»Darf ich in die Koppel gehen und ihn ganz aus der Nähe betrachten? Ich weiß, daß ich mir erst dann über ein Pferd klar bin, wenn ich es angefaßt habe.«

Sie war im Begriff, abzusitzen, als sie bemerkte, daß der Mexikaner zögerte. So setzte sie sich wieder im Sattel zurecht und errötete vor Unwillen.

»Nein«, sagte Cordova, »das würde kein gutes Ende nehmen. Sie werden es gleich sehen!«

Wieder lächelte er, stand auf, schlenderte zum Koppelzaun, drehte sich herum und lehnte seine Schultern an die oberste Latte, so daß er dem Hengst den Rücken zudrehte. Sogleich spitzte Alcatraz die Ohren, was ihm bei dem stumpfen Ausdruck der Augen ein besonders törichtes Aussehen gab.

»Jetzt werden Sie gleich was erleben, Señorita«, kicherte der Mexikaner.

Es kam ohne Warnung. Alcatraz drehte sich mit der Geschwindigkeit einer durch die Luft sausenden Peitschenschnur um sich selbst und sauste genau auf den Platz zu, an dem sein Herr stand. Mariannes Warnungsruf war überflüssig: Cordova war bereits vorwärts gesprungen, aber auch so konnte er sich kaum retten. Der Fuchs raste zum Zaun, und seine Zähne schnappten wenige Zentimeter hinter dem Rücken seines Herrn vorbei. Der mißlungene Angriff schien Alcatraz jede Besinnung zu rauben. Er erinnerte Marianne an eine Katze, die im Spiel mit einer Maus ihr Opfer ein wenig zu weit laufen ließ und nun die erhoffte Beute in einem Loch verschwinden sieht. So lief der Hengst in einer Staubwolke um die Koppel, sprang zur Seite, schlug mächtig aus, ergriff eingebildete Dinge mit den Zähnen und riß sie in Fetzen. Als sich seine Wut legte, begann er an dem Zaun auf und ab zu gleiten. Eine katzenhafte Grazie lag in seinen langen Schritten und in der Schärfe seines Blickes, mit dem er Cordova beobachtete, so daß Marianne an einen Tiger denken mußte, den der Zoologische Garten neu erworben hatte.

Endlich machte der Hengst halt, blickte aber weiter haßerfüllt auf seinen Herrn. Dieser gab den Blick mit doppelter Kraft zurück, strich sich über sein Gesicht und schnarrte: »Na, du roter Teufel? Hast mich wieder mal verfehlt? Aber wart' nur, ich werde dich schon treffen!«

Es war nicht, als ob er mit einem vernunftlosen Tier redete, denn über Cordovas gefährlichen Ernst konnte kein Zweifel bestehen. Nun bemerkte das Mädchen, daß er eine lange weiße Narbe liebkoste, die von der Schläfe bis zum Kiefer ging. Marianne sah verlegen zur Seite, wie es Menschen tun, wenn ein anderer plötzlich eine dunkle und versteckte Seite seines Charakters enthüllt.

»Meinen Sie nicht?« sagte Cordova, »Sie würden sich mit ihm in der Koppel nicht sehr glücklich fühlen, wie?«

Mit diesen Worten drehte er sich lächelnd eine Zigarette, hielt aber die ganze Zeit den brennenden Blick auf den Fuchs gerichtet. Es war Marianne, als sei er halb Kind, halb alter Mann, aber beide Teile seien böse, so daß sie die ganze Geschichte erraten konnte. Cordova reiste durch das Land und ließ sein Pferd in den Rennen, die während der Jahrmärkte abgehalten werden, laufen, damit Wetten auf den Hengst abgeschlossen werden. Aus zwei Gründen hielt er sein Pferd ständig im Zustand der Unterernährung: erstens erzielte er dadurch bessere Odds, zweitens aber vertraute er sich nur einem durch Hunger geschwächten Alcatraz an. Das nahm Marianne weiter nicht wunder, da sie bei einem Tier noch niemals eine solche fast menschliche Tücke des Temperamentes gesehen hatte.

»Was das Rennen betrifft, Señorita«, fuhr Cordova fort, »manchmal läuft er sehr gut – ja sehr gut. Wenn er aber nicht bei Laune ist, kann man ihn auch mit Sporen nicht vorwärts kriegen.«

Er wies auf ein Netzwerk von Narben an der Flanke des Hengstes hin; Marianne biß sich auf die Lippen und fühlte, daß sie sich sofort entfernen müßte, wenn sie nicht ihrem Zorn und ihrer Verachtung Luft machen wollte.

Sie hatte bereits eine Meile auf der Straße zurückgelegt und war in die Hauptstraße von Glosterville eingebogen, ehe ihr Ärger verrauchte. Sie entschied, daß es am besten sei, sowohl Alcatraz als auch seinen Herrn zu vergessen. An teuflischer Gesinnung gaben sich beide nichts nach. Ihre letzte Hoffnung, die Stuten geschlagen zu sehen, war dahin und mit ihr jede Möglichkeit, diese zu einem vernünftigen Preise zu kaufen, denn einerlei was der Hengst zu leisten vermochte, in seinem jetzigen verhungerten Zustand konnte er mit den Stuten nicht verglichen werden. Sie dachte daran, wie das Sonnenlicht über die Schultermuskeln »Lady Marys« glitt. Bestimmt würde Alcatraz im Rennen sich nicht einen Augenblick in ihrer Nähe halten können.


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