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Neuntes Kapitel

Die graue Stute machte keine Anstalten, fortzulaufen, als Alcatraz neben ihr erschien. Sie wendete weder den Kopf, noch schlug sie mit dem Schweif nach ihm, sondern hielt ihren Blick auf die Gebirge im Westen gerichtet, denn immer noch hatte sie den fürchterlichen Geruch des Blutes in der Nase, der sie krank machte. So behielt sie ihren zweckvollen und gleichmäßigen Lauf bei. Mit dem Hengst aber stand es anders. Er blieb mit seinem gleitenden Kanter neben ihr, glaubte aber nicht an Frieden und Sicherheit vor den Menschen, die sie in den Tälern jener Berge wohl finden könnten. Er dachte an die Schlächterei am Mingosee, hörte das Krachen der Gewehre und sah seine Kameraden fallen und sterben. Es bedeutete ihm nichts, daß er die Herde erst seit dem Morgen kannte. Sie gehörten zu seiner Art, sie waren sein Volk, sie hatten sein Gesetz angenommen, und jetzt fühlte er sein Herz leer, ein König ohne Volk. Die graue Stute, die schnellste und klügste von allen, blieb ihm, aber sie schien nur ein Überbleibsel seiner verschwundenen Pracht.

Er erinnerte sich daran, wie er Cordova behandelt hatte. Ließe sich nicht ein Weg finden, auch diesen Menschen zu schaden, die ihm alles genommen? Er ging in Trab über und blieb endlich stehen, während seine Gefährtin weiterlief, bis er wieherte. Dann kam sie gehorsam zu ihm, schwang aber ihren Kopf nach oben und unten, um auszudrücken, daß sie mit dem Aufenthalt gar nicht einverstanden sei. Als Alcatraz sich umdrehte und sich dem Platz zuwandte, an dem die Cowboys die Verfolgung aufgegeben hatten, stellte sie sich ihm quer in den Weg und versuchte, ihn mit gefletschten Zähnen und schlagenden Hufen zur Umkehr zu bewegen.

Er lief einfach um sie herum, um sie zu vermeiden, hielt den Kopf hoch und legte die Ohren in einer Weise zurück, welche die Stute bei ihm noch nicht gesehen hatte. Sie konnte daraus nur entnehmen, daß sie ihm weniger als nichts bedeutete. Einmal versuchte sie, ihn zurückzuhalten, indem sie eine kurze Strecke nach Westen lief, sich dann umdrehte und ihn rief. Aber ihr Wiehern ließ ihn noch nicht einmal den Kopf bewegen. Endlich gab sie nach und schloß sich ihm widerwillig an.

Er lief schnell durch die Täler, kroch zu jeder beherrschenden Höhe hinauf, als ob er fürchtete, daß die Menschen mit ihren Gewehren gerade hinter der Kammlinie säßen, und behielt diese Taktik bei, bis die schwarzen Gestalten einiger Reiter sich vom roten Sonnenuntergang abhoben. Die Graue blieb sogleich stehen und schnaufte, denn der Anblick brachte ihr den widerlichen Blutgeruch aufs neue in die Nase, aber der Leithengst verfolgte die Cowboys ruhig weiter. Er nahm die Spur der Menschen auf!

Es war ein schwieriges Werk. Von jedem Punkt, der ihnen Deckung bot, bis zum nächsten schlichen sie weiter und wußten nie, ob der »große Feind« sich nicht umdrehen würde. Er konnte den Tod aus weiter Entfernung senden; unter dem Schutz der Hügel könnte er sich sogar wieder nahe heranschleichen.

Bei solchem Unterfangen bildete die Stute ein gefährliches Hindernis, denn obgleich sie sofort begriffen hatte, um was es sich handelte, und auch nicht das leiseste Wiehern ausstieß, würde es doch viel leichter für die Menschen sein, zwei zu entdecken als einen. Alcatraz versuchte sie zurückzutreiben, ging manchmal mit entblößten Zähnen auf sie los, manchmal stieg er, als ob er sie mit den Vorderhufen schlagen wollte; aber dann blieb sie nur stehen und sah ihn mit sanftem Erstaunen an. Sie wußte ganz genau, daß er sie nie mit Zahn oder Huf berühren würde, aber sie wußte auch, daß die Verfolgung der furchtbaren Menschen ein gefährlicher Wahnsinn sei. Wenn indessen Alcatraz nicht klug genug war, ihr zu folgen, so mußte sie ihm eben folgen trotz seines Wahnsinns.

Sie blieb ein halbes Dutzend Längen hinter ihm und zitterte vor Erwartung, denn jetzt überschritten sie die Grenze der Wüste und betraten eine von Menschen angelegte Straße, auf deren Seiten sich die hellen Zäune der Menschen erhoben. Welcher Weg der Flucht blieb ihnen offen, wenn Menschen vor und hinter ihnen die Straße sperrten? Trotzdem lief sie widerwillig mit zierlichen Schritten weiter. Alcatraz hatte sich kühn in die Nähe der Reiter gewagt, denn nun wurde die Dämmerung Dunkelheit, so daß sie die undeutlichen Gestalten vor ihnen kaum noch erkennen konnten. Zweimal blieb er stehen, zweimal ging er wieder weiter. Es lag kein wirklicher Plan in dieser Verfolgung. Er wagte sich nicht zu nahe heran und hoffte doch, ihnen etwas Böses tun zu können. Er setzte seinen Weg fort, während Furcht und Rachelust ihn erfüllten.

Er war mit den Dingen der Menschen auch in der Dunkelheit vertraut. Über den gutgewässerten Feldern der Ranch hörte er das Brüllen der Rinder und dann und wann den Chor der Schafe auf einer nahen Weide, der ertönte, wenn die Glocke des Leittieres klingelte. Alcatraz haßte diese Klänge, und jeder Schritt, den er tat, schien ihn mit mehr Wahrscheinlichkeit in die Gewalt des großen Feindes zu führen.

Trotz seiner Kühnheit verlor er die Reiter zwischen den tieferen Schatten der Ranchgebäude aus den Augen und blieb stehen, um wieder zu überlegen. Die graue Stute trat neben ihn und bat ihn mit einem Ruf, der leiser war als ein Flüstern, zurückzukehren. Aber er hob nur das Haupt höher und sah festen Blickes auf die massigen Formen der Scheunen und Tennen. Für Alcatraz bedeutete jede von ihnen eine Festung voller Gefahren, die ihn plötzlich anspringen konnten. Trotzdem dachte er nicht daran, umzukehren, nachdem er einmal so weit gekommen war. Er setzte seinen Weg fort. Die Straße öffnete sich auf einen Halbkreis, um den herum Koppeln lagen; aus einer von diesen wieherte ein Pferd, dann folgte der Klang von vielen stampfenden Hufen. Einige seiner eigenen Art spielten dort. Alcatraz vergaß seinen Haß ein wenig, er dachte nicht mehr an den Menschen, sondern lief gerade auf die Koppel zu und steckte seinen Kopf über die oberste Zaunlatte.

Sechs wundervolle Geschöpfe kamen sogleich leise schnaufend, neugierig und erschreckt auf ihn zu. Er war einer ihrer Art, so näherten sie sich ihm. Der Ruch der Wildnis war noch an ihm, so schreckten sie vor ihm zurück. Sicherlich hatte ein böser Geist Alcatraz gerade an diese Stelle geführt, von der er den wertvollsten Teil der Ranch anzugreifen vermochte, denn diese Tiere waren die sechs Zuchtstuten, für deren Ankauf Marianne Jordan ihr Bankkonto erschöpft hatte. Das wußte der Hengst nun zwar nicht, er erkannte nicht einmal seine Gegnerinnen aus dem Rennen, aber er fühlte, daß hier etwas war, an das er sich mit Vergnügen erinnerte, etwas, das ihm ganz vertraut schien. Die kühnste traute sich näher heran, und er berührte ihre Nase mit der seinen, worauf sie mit einem kleinen Quiekser herumfuhr und nach ihm schlug. Aber ihre Hufe flogen mit Willen weit am Ziele vorbei, und Alcatraz warf nur die Nase hoch: es war klar, daß sie kokettierte. Er drängte sich ein wenig näher an den Zaun und bekräftigte seine Freundschaft mit einem Wiehern, das eine Unterhaltung einleiten sollte. Die Stuten hatten nichts dagegen und kamen mit Augen auf ihn zu, die durch die Dunkelheit glänzten; manchmal gingen sie wieder zurück und kamen wieder heran, bis er ihrer aller Nasen mit der seinen berührt hatte. Die Sache machte Alcatraz außerordentlichen Spaß; er ließ sich auch im Vergnügen nicht stören, als die graue Stute kam und ihn kräftig an die Schulter stieß.

Dann ertönte eine Stimme aus dem Schuppen, der sich auf die Koppel öffnete: »Was ist denn eigentlich da unten mit den Stuten los?«

Alcatraz duckte sich und dachte an Flucht. Eine andere Stimme antwortete: »Die laufen jede Nacht erst eine Weile auf der Koppel herum, bis sie sich gewöhnt haben. Das machen diese verrückten Vollblüter immer. Sie haben ja keinen gesunden Pferdeverstand.«

Die Stimmen verschwanden. Als der Hengst ein wenig zurückgewichen war, hatten sich die Stuten ihrerseits etwas abgewandt, nun kamen sie wieder zurück und nahmen die Unterhaltung an dem Punkte wieder auf, an dem sie abgebrochen worden war. Alcatraz stellte sich mit Bedacht jeder einzelnen vor und hatte die größte Lust, über den Zaun zu springen, um mit ihnen ganz aus der Nähe zu sprechen; aber er wußte, daß es Torheit sein würde, seinen Hals in einer Gruppe von Stuten zu riskieren, ehe er genau wußte, ob sie ihm freundlich gesinnt waren. Wenn sie schlechte Laune hatten, konnten sie ihn kaputtschlagen, ehe er zu fliehen vermochte.

Seine Erkundigungen brachten ihm ein vollkommen wünschenswertes Resultat. Die Colesschen Pferde waren noch sehr jung, daher schien ihre Neugier größer als ihre Ängstlichkeit. Nach kurzer Zeit streckten alle sechs ihre Köpfe über den Zaun, und als Alcatraz ihnen den Rücken wendete, wieherten sie ungeduldig, um ihn zurückzurufen.

Wenn die Sache so war, warum sollten sie nicht springen? Er kam zurück und zeigte ihnen, wie einfach es sein würde, wenn sie wirklich entfliehen und mit ihm in den Wind hinaus und unter die freien Sterne der Gebirge kommen wollten. So ein Zaun bedeutete dem mächtigen Springer nichts. Er trat ruhig einen Schritt zurück, hob sich auf den Hinterbeinen und segelte hinüber. Die Stuten flogen erschreckt auseinander, sausten hier und da in der Koppel herum und schienen, obgleich sie nach einiger Zeit zurückkamen, nichts gelernt zu haben. Als er wieder heraussprang, folgte ihm keine einzige. Alcatraz blieb draußen stehen und sah sie mißvergnügt an. Er wußte, daß er als Jährling mehr verstanden haben würde als diese großen und schönen, aber dämlichen Geschöpfe. Doch sicher wollten sie mit ihm auf und davon gehen. Ein wildes Pferd bedeutet für ein zahmes dasselbe wie ein Abenteurer für einen ruhigen Mann, der sich ein Heim baut, und von der grauen Stute sowie von Alcatraz lernten die sechs eine Menge. Der Geruch der offenen Wüste hing an den Fremden. Der Schweiß, den schnelles Laufen ihnen ausgepreßt, war auf ihren Flanken getrocknet, ihre Köpfe schienen kühn und stolz, und dieser große Hengst sprang über den Zaun, als ob keine gesetzgebenden Menschen existierten, denen gut erzogene Pferde gehorchen mußten. Augenscheinlich erwartete der Hengst von ihnen, daß sie nachkommen sollten. Sie hätten auch nichts dagegen gehabt, auszubrechen, aber sie wußten nichts vom Springen; so konnten sie nichts anderes tun, um ihre Bereitwilligkeit zu zeigen, als an dem Zaun auf und ab zu laufen.

Wenn das der Fall war, nun, so gab es noch andere Mittel, um Koppeln zu öffnen. Und Alcatraz kannte sie alle. Er versuchte die Stärke des Zaunes, indem er sein ganzes Gewicht dagegenlehnte. Mehr als einmal hatte er altersschwache Zäune auf diese Weise umgeworfen, aber er fand, daß diese Pfosten stark und neu und die Latten gut angenagelt waren. So gab er sein Vorhaben auf und sah sich nach einem Gatter um. Gatter waren im allgemeinen nicht schwer zu finden, da sie in jenem Teile des Zaunes liegen, in dem die meisten Fährten zu finden sind. Auch pflegen sie gewöhnlich ein wenig hin und her zu schwanken und im Winde unangenehm zu quietschen. Außerdem haftet auf der obersten Latte dieses Zaunteiles gewöhnlich der Geruch des Menschen, der seine Hände dort anlegt.

Alcatraz fand das Gatter, das unter dem Gewicht seiner Schulter krachte, aber nicht nachgab. Er nahm die oberste Latte zwischen die Zähne, während die Stuten in einem Halbkreis mit hocherhobenen Köpfen im Hintergrunde standen und sich wunderten. Die graue Stute biß ihn leise in die Seite und sagte damit sehr deutlich: »Genug mit diesem Unsinn. Diese herumtrippelnden Wesen bestehen ja nur aus Beinen und Torheit, sie sind nicht von unserer Art. Du, mein Herr und Meister, laß uns lieber gehen!« Aber Alcatraz hörte nicht auf sie, sondern schüttelte das Gatter nach vorn und hinten.

Es gibt drei Arten von Verschlüssen für Koppelgatter. Die erste quietscht und strafft sich, wenn man dagegenstößt; sie ist aus Draht, der einen bitteren Geschmack von rostigem Eisen im Maule zurückläßt, wenn man ihn damit berührt. Draht ist oft ein schwieriges Hindernis, aber mit Zähnen und einer geschickten Oberlippe kann man ihn gewöhnlich hoch hinaufschieben, bis er endlich über den Pfosten hinausgehoben ist und hinunterfällt: dann ist das Gatter offen. Eine andere Art von Verschlüssen klappert stark, wenn man das Gatter schüttelt. Das bedeutet, eine Schleife hält Gatter und Pfosten zusammen. Die einzige Möglichkeit, ein solches Gatter zu öffnen, ist, das eine Schleifenende zwischen die Zähne zu nehmen und so weit als möglich zurückzuziehen, dann schlägt das Gatter immer von selbst auf. Aber es gibt noch eine dritte Art, die Manuel Cordova gewöhnlich gebrauchte: sie besteht aus einem Schloß mit einer Kette, und dann tut man besser daran, das ganze Unternehmen aufzugeben, denn man kann ein solches Schloß weder zerbrechen noch entfernen.

Alcatraz wußte sofort, als er das Gatter schüttelte und sogleich ein Rasseln hörte, daß der Schleifenverschluß verwendet war. Er schnüffelte nach ihm und fand ihn sehr leicht, da die Schleife immer am meisten nach Mensch riecht. Er fand sie und zog das eine Ende leicht zurück. Dann blieb es an einem Nagel hängen; er zog wieder und schauderte, als er den Ton von Menschenstimmen hörte. Als ob Cordovas altgewohnte Peitsche ihn getroffen hätte, schreckte er zurück.

»Sie sind ein bißchen unruhig heut nacht, aber sind sie nicht entzückend, Shorty?« fragte Marianne.

»Ganz nett«, sagte der Cowboy, »aber vielleicht sind sie ihr Geld wert.« Trotz all seiner Griesgrämigkeit war Shorty Mariannens bester Verbündeter.

»Warten Sie nur, bis Sie sehen, wie Lady Mary anfängt zu – ist da nicht ein Pferd außerhalb der Koppel? Ein graues Pferd? Ich glaube es bestimmt, aber es ist doch nicht möglich!«

»Warum nicht?«

»Wir haben gar kein graues Pferd auf der Ranch, und – oh!«

Das Koppelgatter knarrte und flog auf. Sie konnten Alcatraz nicht sehen, denn die Stuten standen zwischen ihnen und dem Hengst.

»Rühren Sie sich nicht, kein Wort!« flüsterte das Mädchen. »Das ist wieder dieser dumme Lukas. Ich habe Lew Hervey schon gesagt, daß er nicht gewissenhaft genug ist, um für die Stuten zu sorgen. Das erste, was er tut, ist, das Gatter offenzulassen. Ich will leise herumgehen und –«

Bei dem ersten Ton der menschlichen Stimme war die graue Stute tiefer in die sichere Dunkelheit der Nacht zurückgetreten; Alcatraz zog vorsichtig das Gatter auf. Der Wind half ihm und blies ein wenig. Nun schnitt sein sanftes Wiehern, das die Stuten aufforderte, ihm zu folgen, in Mariannens Worte. Das Mädchen schlich geduckt um die Koppel und verbarg sich, während sie lief; denn wenn die Stuten einmal aus der Koppel heraus waren, würden sie wahrscheinlich wie verrückt herumspringen und konnten sich an den gefährlichen Stacheldrahtzäunen verletzen.

Shorty lief schnell auf der anderen Seite der Koppel herum.

Ehe Marianne noch ein Dutzend Schritte gemacht hatte, brachte sie das gewaltige Wiehern des Hengstes zum Stehen. Unwillkürlich schlug sie die Hände zusammen. Sie sah, wie die Stuten auf den Alarmruf hin sich in Bewegung setzten und zum Gatter liefen. Im nächsten Augenblick klapperten ihre Hufe die Straße hinab, und Mariannens lauter Klageruf schrillte: »Lew Hervey! Lew Hervey! Sie sind weg!«

Lew Hervey, der im Angestelltenhaus saß, legte die Karten auf den Tisch und erhob sich mit einem Fluch. »Das kommt davon, wenn man für eine Frau arbeitet«, grollte er. »Nie hat man Ruhe und Frieden. Bloß Arbeit bei Tag und Nacht, und wenn mal gerade nichts zu arbeiten ist, hat man sonst Scherereien. Die reine Hölle!« Er stapfte zur Tür und riß sie auf.

»Nun?« rief er in die Dunkelheit hinaus.

»Alle sind sie weg!« rief Marianne, »die Stuten sind durch das Gatter gebrochen und ausgerissen!«


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