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An dem Tag, da das junge Paar heimkehrte, glich Venedig wieder einem leuchtenden Mirakel, das ein durchsichtiges Ungeheuer aus orientalischer Sage auf dem Rücken trägt. Elisabeth war von dieser Stadt und vom eigenen Glück wieder erfüllt wie damals, als sie ihr zum erstenmal ins Antlitz sah, und alle Verstimmung war vergessen. Es gab ja jetzt auch in ihrem eigenen Hause so vielerlei für sie zu sehen und zu tun, daß sie, selbst wenn sie gewollt, keine Zeit gefunden hätte, über sich nachzudenken. Zunächst mußte sie alles beschauen und auch bewundern, was sich in dem alten Palazzo verändert hatte, so sehr verändert, daß man seine Gemächer kaum wiedererkannte. Alles war nach Ettores Angaben stilvoll ergänzt oder auch neu beschafft worden, und sie mußte sich gestehen, daß es ihrem Mann nicht an Geschmack gebrach. Man hatte aus halb vergessenen Speichern und verlassenen Zimmern allerlei alte Möbel, Bilder, Spiegel und Zierate herbeigeschafft, hatte ausgebessert, was sich kunstvoll ausbessern ließ, hatte frische Seidentapeten gespannt, alte Stukkaturen gereinigt, so daß der Palazzo nun aussah, als hebe seine neue, große Zeit eben an. Neben der Pietät für den Stil und der Vorliebe für einen gewissen Prunk war aber auch der Komfort nicht zu kurz gekommen, den Elisabeth von ihrer deutschen Heimat gewöhnt war. Der Palazzo, in dem man sich bis zur Stunde an Marmorkaminen oder mit Kohlenbecken erwärmt hatte, besaß jetzt eine Warmwasserheizung, elektrisches Licht und gerade in den Wirtschaftsräumen alle Raffinements, die ein vornehmer, von anspruchsvollen Dienstboten geleiteter Betrieb verlangt. Nur eins vermißte Elisabeth: ein Zimmer, das ohne Pracht, nur mit tiefer Behaglichkeit ausgestattet war und ihr, ihren Büchern, ihren Skizzen und ihren Träumen gehören sollte. Es war wohl neben dem großen Empfangssalon ein sogenanntes Boudoir mit Louis-XV.-Möbeln und rosenfarbenem Damastbezug vorhanden, ein Raum, geschaffen für eine elegante Dame und ihre kleinen, mondänen Phantasien, nicht aber für eine Frau, die's gewöhnt war, sich aus dem Alltag heraus eine besondere Welt zu schaffen. Da Elisabeth merkte, daß Ettore gerade auf die Ausstattung dieses Raumes sehr stolz war, tadelte sie nichts daran, schien vielmehr entzückt von seiner duftigen Grazie und dachte bei sich, daß es ihr schon gelingen würde, sich den traulichen Winkel zu gestalten, den sie sich wünschte.
Bei aller Bewunderung für den Geschmack ihres Mannes und die Schönheit des neuen Heims ließ aber ein ängstlicher Gedanke sie nicht los, die vielleicht kleinbürgerliche Frage, was all diese Herrlichkeit wohl kosten mochte. Sie war ja zu sehr an enge Sparsamkeit gewöhnt, als daß sie sich von heut auf morgen an große Verhältnisse und Ziffern hätte gewöhnen können, und vorsichtig fragte sie Ettore immer wieder nach den Rechnungen. Er lachte sie aus.
»Die werden wir später schon sehen, verlaß Dich darauf! Und erschrick nicht, wenn die Lieferanten phantastische Summen aufgerechnet haben! Davon handeln wir natürlich mindestens die Hälfte, wenn nicht drei Viertel ab!«
Elisabeth machte große Augen. Sie wußte wohl, daß man in den kleinen Ramschbasaren und Läden der Merceria die Preise nach Belieben herunterdrücken konnte, aber bei großen Geschäftsleuten, die so wertvolle Arbeit lieferten wie im Palazzo Priuli, kam ihr das unwahrscheinlich vor.
»Es muß doch ein Voranschlag gemacht worden sein?«
»Voranschlag hin, Voranschlag her, – darum kümmert sich hier kein Mensch! Das mußt Du nicht mit deutschen Verhältnissen messen! Die Leute verlangen hundert Prozent mehr als sie verdienen und sind zufrieden, wenn man ihnen nur fünfundsiebzig davon abstreicht. Zerbrich Dir darüber den Kopf nicht und überlasse das mir! L'Italia farà da sè!«
Sie zerbrach sich auch wirklich nicht den Kopf darüber, zudem es für sie im Haushalt viel Ungewohntes und allerlei Schwierigkeiten gab. Sie mußte sich mit der neuen Dienerschaft einleben, deren Dialekt sie schlecht verstand und deren große Zahl sie erschreckte. Ettore hatte auch in dieser Hinsicht aus dem vollen gewirtschaftet, und Elisabeth konnte ihn nur mit Mühe davon abhalten, noch einen kleinen Neger zu engagieren, der sich eben in diesen Tagen als Boy anbot. Sie war nun wirklich ganz froh, daß sie vorläufig mit den Damen Priuli im gemeinsamen Haushalt lebte, denn die alte Gräfin verstand sich doch auf die Sprache, die Gewohnheiten und die Ansprüche der Dienerschaft und konnte der jungen Frau da in vieler Hinsicht nützlich sein. Dabei brauchte Elisabeth noch nicht einmal zu fürchten, daß die Gräfin, die Unerfahrenheit der Schwiegertochter mißbrauchend, darauf bedacht sein würde, das Regiment im Hause an sich zu reißen. Die alte Gräfin war weder herrschsüchtig noch bösartig und besaß keine der deutschen Schwiegermuttertücken, die ihr der Oberst zugetraut hatte. Sie war geistig indolent, dazu müde vom Leben und von dem freilich nur passiven Widerstand, den sie dem immer weiterschreitenden Verfall ihres Hauses entgegengesetzt hatte. Vom Klagen und von den Jahren war ihre Stimme allmählich so jammernd geworden, daß in ihrem Munde selbst Heiteres sich betrüblich anhörte und Elisabeth das Herz schwer wurde, wenn diese Stimme zu sprechen begann.
Seit damals der Brief der Gräfin eingetroffen war, hatten sich Ettore und Elisabeth natürlich auch lebhaft mit der Frage beschäftigt, wie es wohl um die Heirat Eleonorens stünde, von der die mamma damals schrieb. Weder die Gräfin noch Eleonore waren bis jetzt mit einem Wort über diese Angelegenheit herausgekommen, und Elisabeth, der doch seit dem Brief ein kleines, ein ganz kleines Mißtrauen geblieben war, dachte schon, daß die ganze Geschichte wohl nur eine Finte gewesen sei, um ihr unversehens den gemeinsamen Haushalt aufzudrängen. Als die ersten Tage in Venedig mit all ihrer Unruhe und ermüdenden Geschäftigkeit vorüber waren, fragte sie Ettore einmal, ob seine Mutter oder seine Schwester denn auch zu ihm gar nichts äußerten. Er zuckte die Achseln.
»Nein, kein Wort! Ich glaube überhaupt, daß die ganze Geschichte nur eine Einbildung oder ähnliches war! Eleonore hat immer von Zeit zu Zeit die Idee, daß ein Freier für sie da ist! Poverina, sie möchte doch so gerne heiraten!«
Nun wurde Elisabeth neugierig, ob Ettores Worte und ihr eigenes Gefühl recht behielten, und sie versuchte, Eleonore vorsichtig auszuhören. Das Mädchen aber blieb verschlossen, schien Elisabeth nicht zu verstehen oder gab lachend ausweichende Antworten, so daß die junge Frau dachte, es müsse doch seine Richtigkeit, wenn auch ein besonderes Bewenden mit dem Freier haben.
Jeden Nachmittag zwischen drei bis vier Uhr besuchte Elisabeth die alte Gräfin in deren eigenen Gemächern, die ebenfalls renoviert und geschmackvoll eingerichtet worden waren, nur daß hier, auf den Wunsch der Gräfin, die Zentralheizung fehlte. Die alte Dame wollte sich an solche Neuheiten nicht mehr gewöhnen, ihr genügte das Kohlenbecken, an dem sie sich die Hände wärmte, und an sehr kalten Tagen der Marmorkamin. Aber ehe sie sich entschloß, ihn zu heizen, wickelte sie sich lieber in alle möglichen Tücher, Mäntel und Pelze, und Elisabeth mußte anfangs immer lachen, wenn sie ins Zimmer trat und die beiden Damen unförmlich vermummt, wie Pelzmäntel Patiencen legen oder lesen sah. Fröstelnd oder ebenfalls in einen Pelz gehüllt, verplauderten sie dann eine halbe Stunde, und Elisabeth freute sich immer wieder, in die gleichmäßige Wärme des oberen Stockwerks zurückzukehren. Eines Tages aber, da Eleonore zu einer weitläufigen Verwandten gegangen war, richtete sich Elisabeth bei ihrer Schwiegermutter zu einem längeren Gespräch ein und fragte, wie es denn mit Eleonorens Heirat stehe. Die alte Gräfin wiegte verneinend den Kopf. Nein, nein, damit war nicht mehr zu rechnen. Es war nur ein Hoffnungsschimmer gewesen, eine trügerische Lockung, wie die Gräfin sie mit den Töchtern so oft erlebt hatte. Eleonore hatte einen jungen, erst kürzlich nach Venedig versetzten Offizier kennen gelernt, der auf großem Fuße lebte, sehr wohlhabend zu sein schien und sich in Eleonore verliebt hatte. Auch Eleonore war gleich Feuer und Flamme für ihn, aber als es ans Freien ging, stellte sich heraus, daß er nichts hatte als Schulden und nicht daran denken konnte, ein armes Mädchen zu heiraten.
Wie die Gräfin diese ganz alltägliche und doch so traurige Geschichte zweier junger Menschen mit ihrer jammernden Stimme erzählte, traten Elisabeth Tränen in die Augen. Sie ergriff die Hand ihrer Schwiegermutter, streichelte sie und meinte, daß solch ein Freier leicht zu verschmerzen sei und Eleonore gewiß zu etwas Besserem aufgespart sei. Die Gräfin sah über die junge Frau weg und schüttelte wieder den Kopf.
» No, no! Für uns gibt es nichts mehr! Die Priuli haben kein Glück mehr, sie mögen anfangen, was sie wollen!«
»Sag' solche Sachen nicht, Mutter! Das Glück kommt doch immer wieder, wenn man es nur erwarten kann! Siehst Du, auch zu mir ist es ja noch gekommen, und ich war genau so verzweifelt, wie Eleonore jetzt wohl ist!«
Aber die Gräfin ließ sich nicht zureden.
»Du hast gut reden, erwarten! Meinst Du, meine anderen Töchter haben nicht auch gewartet, Tag um Tag und Jahr auf Jahr? Misericordia, was haben die armen Dinger geweint und zum Himmel gebetet, daß er ihnen einen Mann schicken soll! Sie haben's nicht erwarten können und haben ins Kloster müssen. Nein, nein, die Priuli haben kein Glück mehr!«
Eigensinnig beharrte sie mit ihrer jammernden Stimme bei dem Vernichtungsspruch, den sie ihrem eigenen Blut sprach, und Elisabeth war so bewegt, daß sie überhörte, wie wenig schmeichelhaft er für sie selbst war. Sie sah, daß hier mit Worten nichts getan war, sagte darum nur noch:
»Liebe Mutter, Eleonore wird und soll ganz gewiß heiraten, und zwar glücklich heiraten. Und wenn es nur am Geld hängt, dann laß das meine und Ettores Sorge sein. Wir können natürlich Eleonore nicht so ausstatten, daß sie eine glänzende Partie wird, aber eine Offizierskaution bringen wir schon auf. Und wenn's sein muß, schränken wir uns lieber ein wenig ein – mir ist ohnehin alles zu großartig angelegt –, aber Deine letzte Tochter soll das Los haben, das ihr gehört, soll einen Mann nehmen, den sie liebt, nur freilich nicht einen Schuldenmacher oder Abenteurer!«
Sie wartete, daß die Miene der Gräfin sich ein wenig aufhellen, daß sie zuversichtlicher werden und wieder an eine Glücksmöglichkeit glauben sollte, aber das Gesicht der alten Dame blieb sorgenvoll wie es war, und sie dankte Elisabeth nur so nebenhin, als ob doch alles ganz zwecklos und unfähig sei, dem geschlagenen Hause der Priuli wieder Glanz und Glück zu verleihen.
Elisabeth ließ einige Tage verstreichen, dann trat sie einmal, ehe sie zu dem Nachmittagsbesuch bei der Schwiegermutter ging, zu Eleonorens Zimmer hin. Wie sie die Türe öffnen wollte, ließ sie die Hand plötzlich untätig auf der Klinke ruhen, lauschte und zögerte einzutreten. Denn aus dem Zimmer ertönte halblauter Gesang, die Stimme Eleonorens, die irgendein kleines Volkslied vor sich hin sang. Weder der Text noch die Melodie waren irgendwie bedeutsam, aber in dieser Mädchenstimme klang so viel Süße, verhaltener Schmerz und verhaltene Lust, daß Elisabeth ganz vergaß, warum sie eigentlich gekommen war, und immer noch vor der Türe stehen blieb, bis der Gesang drinnen verstummte.
Eleonore sprang auf, als sie die Schwägerin sah, schob ihr einen bequemen Stuhl herbei, stopfte ihr Kissen in den Rücken und unter die Füße, tat völlig unbefangen und war auch heute nicht bereit, ihr Herz zu erschließen. Elisabeth erzählte ihr von dem Gespräch, das sie mit der Gräfin gehabt hatte, wiederholte ihr Anerbieten und bat Eleonore, die Geschichte mit dem Offizier genau zu überlegen und sie dann mit ihr und Ettore zu besprechen. Eleonore aber schüttelte lächelnd den Kopf.
»O, Liebe, das ist alles ganz anders als Du denkst. Wir können nicht heiraten, nein, wir können nicht. Er ist ein eleganter, verwöhnter und luxusbedürftiger Mensch und wäre steinunglücklich, wenn er sich in arme Verhältnisse schicken sollte. Und wenn er unglücklich wäre, dann wär' ich's doch auch, nicht wahr? Wir wissen auch schon, daß wir nie heiraten können, und man findet sich ab ... Ich habe mich sogar schon ganz leidlich abgefunden und bin eigentlich ärgerlich auf die Mama, daß sie der Geschichte immer noch nachhängt und Dir den Kopf davon vollredet!«
Elisabeth drang nicht weiter in Eleonore. Sie merkte wohl, daß das Mädchen mit seinem Herzenserlebnis keineswegs so fertig war, wie es behauptete. Sie merkte es an Eleonorens Wesen und mehr noch aus den abgerissenen Klängen, die sie jetzt fast immer vernahm, so oft sie die Wohnung der Gräfin betrat. Es war, als ob das Mädchen in der Brust eine Nachtigall trüge, die süß und berückend sang, was Eleonorens Mund verschwieg.
Bei einem andern Nachmittagsbesuch fragte darum Elisabeth die alte Gräfin, ob sie nie daran gedacht habe, Eleonorens Stimme ausbilden zu lassen. Die Gräfin schien sehr erstaunt. Ausbilden? Nein, daran hatten sie nie gedacht; wozu auch? Das hätte doch nur Geld gekostet und hätte zu nichts genützt. Wenn Eleonore nicht mit ihrer Schönheit ihr Glück machte, so kam es auf ihre Stimme erst recht nicht an. Kein Mann würde danach fragen, ob sie musikalisch sei oder nicht ...
»So meine ich es auch nicht, aber die Stimme Eleonorens ist so schön, und sie selbst ist eine so prachtvolle Erscheinung, daß sie, nach meiner Ansicht, bei der Bühne sicher ihren Weg machen würde.«
Die Gräfin schlug die Hände zusammen, sah die Schwiegertochter entgeistert an.
» Misericordia, was für eine abscheuliche Idee! Eine Priuli Komödiantin!«
Es war so absurd, so ungeheuerlich, daß die Gräfin sich in gar keine Auseinandersetzung über den Vorschlag einlassen wollte. Vergeblich versuchte Elisabeth ihr klarzumachen, daß in Deutschland junge Leute aus den besten Familien zur Bühne drängten, daß eine schöne Stimme unter Umständen ein Millionenkapital sei, das man nicht brachliegen lassen dürfe, und daß mit einem Schlag Eleonorens Los sich wenden könne, sobald sie ein großes Engagement habe.
»Wenn sie sich jetzt ernsthaft ans Studium macht, käme sie auch leichter über die dumme Liebesgeschichte mit dem Leutnant weg! Man könnte sie fortgeben von hier nach Mailand oder Paris, und in einem halben Jahr dächte sie nicht mehr an ihren kleinen Abenteurer!«
Die Gräfin aber hörte kaum auf das, was die Schwiegertochter sprach. Mochten sie in Deutschland denken und tun was sie wollten, – eine Priuli konnte nicht zur Bühne gehen, konnte überhaupt nicht in der Oeffentlichkeit für Geld arbeiten! Elisabeth sah, daß mit der alten Dame nichts zu machen war, und beschloß, gelegentlich mit Eleonore zu sprechen. Das Mädchen hörte ihr mit ungläubigem Lächeln zu, als ob sie irgendeine Fabelgeschichte erzählte, entgegnete nicht so entsetzt wie die Mutter, aber mit leisem Hochmut in der Stimme ungefähr genau dasselbe: »Eine Priuli geht nicht zur Bühne!«
»Nun, dann wenigstens für den Konzertsaal! Denk' Dir doch, was für Chancen sich Dir erschließen! Du hast eine Stimme, hast den Nimbus Deiner Schönheit und Deines Namens, – sei überzeugt, die Freier werden sich um Dich drängen. Es ist doch etwas ganz anderes, wenn Du endlich einmal draußen stehst in der Welt und in großen Städten, als immerfort hier sitzest, in demselben Kreis, in dem jeder jeden kennt.«
Eleonore sagte nicht direkt nein, machte aber alle möglichen Ausflüchte. Die Stimme sei gar nicht so schön, wie Elisabeth meine. Sie sei auch sehr von Zufälligkeiten abhängig, könne oft wochenlang keinen Ton aus der Kehle bringen. Eigentlich könne sie überhaupt nur singen, wenn's ihr gerade einfiel, und das Lernen, planmäßiges, strenges Lernen sei ihr von jeher schwer gefallen. Und die mamma, die arme mamma könne sie doch auch nicht allein lassen ...
Elisabeth hörte ihr zu und begriff sie nicht. Wieder dachte sie an ihre eigene Mädchenzeit, an ihre einsamen, verschwiegenen Herzenskämpfe und an das harte Ringen ihres kleinen Talentes um ein bißchen Verdienst und ein bißchen Tagesinhalt. Wenn einer ihr und ihrem armen Bewerber damals eine Summe zur Verfügung gestellt hätte, wie sie neulich der Schwiegermutter für Eleonorens Heirat, – sie wären sich vorgekommen wie rechte Glückskinder und hätten voll Hoffnung und Seligkeit auf die Offizierskaution ihr Leben aufgebaut. Und wenn einer ihr später, als der Jugendtraum begraben war, gesagt hätte, daß ihr Talent groß genug sei, um ihr Stellung und Glanz in der Welt zu geben, – sie hätte gehungert oder gebettelt, um sich die Möglichkeiten zur Ausbildung zu verschaffen, und hätte im Bewußtsein ihres Besitzes und ihres künftigen Könnens mit keinem König getauscht. Wie anders war dies Mädchen! So eingeengt in Herkommen und Äußerlichkeiten, daß sie's begreiflich fand, wenn der Mann die Heirat verweigerte, weil er sich nicht genug Vorteile davon versprach, und ihn obendrein noch liebte. So trägen Geistes, so unfähig, aus sich selbst heraus den kühnen Sprung ins Ungewisse zu tun, daß sie lieber ein köstliches Leben verschwendete, ehe sie sich aufraffte, um dem Los zu entgehen, das die Schwestern hatten wählen müssen. Ob Elisabeth sich's auch nicht eingestehen wollte, so konnte sie sich doch nicht verhehlen, daß es dieselbe Trägheit war, kraft deren Ettore halbe Tage lang im heißen Sand liegen und mit so viel Genuß das müßige Leben des Reisebummels führen konnte. Vielleicht war diese Trägheit nur ein Familienfehler, eine Schwäche der alten Rasse, die keines Aufstiegs mehr fähig war, vielleicht aber hatte sie überall ringsum Wurzel geschlagen in allen Palästen, in der ganzen Stadt, im ganzen Lande. – Wie Elisabeth das dachte, fühlte sie, daß ihr das Herz schwer werde und sich gleich darauf wieder aufbäumte, daß sie nun am Ende für alle Zeit an die Trägen, Ueberjährten gebunden sein würde ...
Bis sich das junge Paar im Palazzo völlig eingerichtet und eingewöhnt hatte, war der Winter fast zu Ende. Elisabeth, die nichts mehr von den Vergnügungen der Saison hatte mitmachen können, freute sich auf das Frühjahr und drängte vom ersten warmen Tag an, daß Ettore mit ihr nach Udine fahren sollte, um von dort aus mit einer Wagenfahrt die Güter zu erreichen, die künftighin sein Arbeitsfeld bilden würden. Ettore hörte solche Vorschläge nicht gern, verschob die Reise von einer Woche zur andern und fand schließlich, als Elisabeths Eigensinn doch immer wieder auf die Güter zurückkam, daß es sehr unzweckmäßig sei, wenn sie jetzt, in ihrem schonungsbedürftigen Zustand, sich zuerst einer Eisenbahn- und dann noch einer längeren Wagenfahrt aussetzen würde. Elisabeth aber lachte vergnügt.
»Ettore, ich bitte Dich, ich bin doch keine Prinzessin! Denk' einmal, wie viele Frauen in der gleichen Lage genau so arbeiten müssen wie sonst, und sie bringen doch gesunde Kinder zur Welt! Ich würde mich schämen, wenn ich da nicht einmal mehr eine kleine Reise ertragen könnte!«
Ettore schnitt ein Gesicht. Er sah, daß er nachgeben mußte, und er fand sich selbst jetzt töricht und unvorsichtig, daß er damals, vor der Hochzeit, mit den Gütern geflunkert hatte, nur um den deutschen Schwägern zu imponieren und ihren lästigen Fragen zu entgehen.
Weder die Bahnstrecke noch die Wagenfahrt boten Reize. Die Gegend war eintönig, flach, zum größten Teil von Oliven und Mais bestanden, zwischen die sich immer wieder schwarze, in der Sonne blauschillernde Sumpfflecken drängten. Die Straßen waren von dürftigen Laubbäumen eingefaßt, deren Stämme miteinander durch schwere Girlanden von Wein verbunden waren, so daß die Straße festlich aussah, wie eine Via triumphalis, durch die aber nie mehr ein Sieger schreiten wird, weil alles ringsum versunken ist in Verlotterung, Vergessenheit und Sumpf. Da und dort tauchten halbzerfallene Häuser auf, Frauen mit struppigen Haaren standen am Weg, glotzten den Wagen an, streckten gewohnheitsmäßig die Hand zur Bettlergeste aus, während braune, zerlumpte Kinder sich spielend im fußhohen Staub wälzten, der die ärmlichen Wiesen mit einem grauen Schleier überdeckte.
Elisabeth sprach eifrig, lachte, versuchte aufgeräumt zu erscheinen, damit Ettore nicht merken sollte, wie sich ihr die melancholische Einförmigkeit der Gegend auf die Brust legte. Er merkte es auch gar nicht, denn er hatte keinen Sinn für Unterströmungen der Gefühle, war auch im Augenblick zu sehr mit dem Eindruck beschäftigt, den seine Frau wohl von den Gütern empfangen mußte, die so ganz verschieden von dem waren, was ihre Phantasie geträumt und erzählt hatte. Schließlich hielt der Wagen vor einem abgegrenzten, weiten Plan, um den stückweise eine grüne Hecke lief, während an andern Stellen Mais, Oliven und Weinstöcke wild durcheinander standen, nur da und dort einer Korkeiche gerade so viel Raum gewährend, daß sie ihre breiten Wurzeln ins trockene Erdreich krallen konnte. Im Hintergrund eines Feldes erhob sich ein Haus, das ein wenig größer war als die andern, die bisher am Weg sichtbar geworden, aber genau ebenso brüchig, unsauber und trostlos aussehend wie sie.
» Ecco, wir sind am Ziel!«
Ettore half seiner Frau aus dem Wagen, bot ihr den Arm und führte sie mit einer pompösen Geste, die sehr schlecht zu der dürftigen Umgebung paßte, auf das zerfallene Haus zu. – –
Eine halbe Stunde später war Elisabeth um eine große Enttäuschung reicher. Sie verstand zwar gar nichts von Landwirtschaft, Bodenreichtum und seiner Kultur, aber das begriff sie doch gleich, daß diese sogenannten Güter nichts waren als ein Komplex, der vielleicht einem einfachen Landmann, niemals aber einem wirklichen Gutsherrn Arbeit und Zweck bedeuten konnte. Wohl dehnten sich die Felder unabsehbar weit aus, aber es war eben immer wieder Mais und nochmals Mais, und, ganz abgesehen von der Arbeitskraft und der Energie, hätte es einer Unsumme bedurft, um diese wildsprossende Erde zu richtigem landwirtschaftlichen Ertrag zu zwingen. Auch war alles, was an Baulichkeiten, Einrichtungen und Werkzeugen vorhanden war, so primitiv, daß an eine richtige Ausnutzung vorhandener Erdschätze oder gar an eine Uebersiedlung hierher nicht zu denken war. Mit diesem Haus, so wie es war, hätte der kleinste deutsche Bauer nicht vorliebgenommen, und selbst die italienische Genügsamkeit des Pächters jammerte Ettore etliches darüber vor, daß ihnen wohl demnächst das Dach in die Stube fallen würde. Jedes Gerät, das man zur Hand nahm, war fast noch genau ebenso, wie die Geschlechter, die hier vor tausend Jahren gesessen hatten, es geschnitzt oder gehämmert hatten, und im Herbst stampften hier die Burschen den Wein noch mit den nackten Füßen in die Kelter, wie sie es seit Urzeiten getan. Die Zeit mit all ihren Errungenschaften schien keine Macht über diese Gegend und diese Menschen zu haben, und vielleicht hätte Elisabeth an einem andern Tage den großen und seltsamen Reiz dieser Zeitlosigkeit empfunden, hätte gemerkt, daß hier, so dicht bei einer modernen Stadt, noch ein verschollenes Stück Altertum unter blauem Himmel lag. Aber sie war ja nicht hierhergekommen, um Kulturschichten zu beobachten, sondern um ein Stück Erde zu finden, das ihrem Mann gehörte, und dem er gehören wollte, mit aller Liebe und allem Fleiß, die ein Mann an seine Lebensaufgabe setzt. Denn durch alle Zeit war es ihr beklemmend gewesen, daß Ettore an keinen Beruf, an keine regelmäßige Arbeit gebunden war, und daß es ihm so leicht wurde, untätig durch die Tage hinzustreichen. Als er um Elisabeth freite, hatte sie wohl gewußt, daß er keinem eigentlichen Beruf nachging, aber wie solche Untätigkeit in der Nähe aussah und in Einzelheiten wirkte, hatte sie nicht gewußt, hatte sich auch in der ersten Verliebtheit nicht darum bekümmert. Schon auf der Hochzeitsreise hatte sie dann mit Staunen bemerkt, wie gelassen und gewandt ihr Mann die Zeit vertrödelte, wie er gar nie Sehnsucht spürte, sich in irgend etwas zu vertiefen oder sein Leben nützlich auszufüllen. Sie hatte aber schnell begriffen, daß er darin wohl keine Ausnahme darstellte, daß er nur geradeso lebte, wie er einen großen Kreis Gleichgestellter leben sah, für den man ihn erzogen hatte. Schon damals hatte sie sich fest vorgenommen, daß sie einen andern Menschen aus ihm machen wollte als nur den schönen, leichtfertigen Priuli, der von jedem Tag den Schaum abschlürfte, und den man gelehrt hatte, daß Arbeit nur für die Armen und Niedriggeborenen sei. Weil sie's daheim oft mitangesehen, daß junge Männer, die sich in keinem Beruf recht gefielen, in der Landwirtschaft, in der Hebung von Grundbesitz Freude und Kraft fanden, so dachte sie, daß es auch hier ebenso gehen, daß aus dem Besitz der heimatlichen Erde ihrem Mann der Sinn für ein neues Leben aufgehen sollte. Arglos, wie sie ihm gegenüber war, hatte sie die leichte Verlegenheit, die ihn überfiel, wenn sie von den Gütern sprach, sein Zögern, sie ihr zu zeigen, übersehen oder mißdeutet, denn niemals wäre es ihr eingefallen, daß er lächerlich flunkern oder gar geflissentlich lügen konnte. Nun spürte sie, wie damals, als der Brief seiner Mutter eintraf, Unwahrheit neben sich, und das Herz wurde ihr so schwer, daß sie am liebsten geweint hätte.
Langsam, mit gesenktem Kopf, ging sie durch die verlotterten Vignen, durch die wilde Einförmigkeit der Maisfelder hin. Zu ihrer Rechten schritt Ettore, elegant wie immer, den Hut ins Genick zurückgeschoben. Man merkte ihm an, wie überflüssig er sich hier vorkam, und wie es ihn drängte, dies verwahrloste Stück Land zu verlassen, das doch sein eigen war. Zu ihrer Linken ging der Pächter, redete mit pathetischem Tonfall und großen Gesten auf Ettore ein, daß dieser die größten Risse im Hause ausbessern und auch diese oder jene Neuanschaffung von Ackergeräten bezahlen sollte. Es war zwischen den Männern ein wildes Feilschen und Streiten, hörte sich vielleicht auch wilder an, als es in Wirklichkeit war, weil sie beide die Stimmen dröhnen ließen und mit den Händen genau so redselig waren wie mit dem Mund. Elisabeths wirrer Kopf verstand kaum mehr, was sie sagten oder wollten, zudem sie beide Dialekt sprachen, aber wie sie jetzt in der südlichen Sonne unter dem tiefblauen Himmel mit ihnen dahinging, fiel brennendes Heimweh sie an nach einem Weizenfeld, das langsam im Wind wogte, nach dem süßen Juniduft der Linden, nach der klotzigen Wortknappheit bayerischer Bauern, nach dem müden Gesicht, mit dem ihr Vater vom Dienst heimkam. –
Ettore sah sie verstohlen von der Seite her an. Sie hatte jetzt wieder das herbe, bittere Gesicht, das er schon einmal an ihr gesehen hatte, und das einer Frau zu gehören schien, die ihm fremd war. Er machte sich aber weiter keine Gedanken, stritt leidenschaftlich mit seinem Pächter weiter und dachte nur, daß er vermutlich heute abend oder morgen früh eine unangenehme Szene mit seiner Frau haben würde. Er beschleunigte den Schlendergang durch die Vignen und Felder und war froh, als sie endlich wieder im Wagen saßen, der Pächter sich mit einer Fülle von Worten und Wünschen verabschiedete und das zerfallene Haus samt Garten und Feldern hinter der staubigen Landstraße wie ein unerfreuliches Traumbild verschwand.
Sie fuhren schweigend dahin. Elisabeth nahm alle ihre Beherrschung zusammen, um ihre Bitterkeit in sich zu verschließen, um nicht durch heftige Worte, die sie später reuen mußten, zu verraten, daß dieser Tag ihr so vieles genommen hatte. Auch Ettore schwieg und hoffte, daß die schlechte Laune seiner Frau sich geben würde, wenn er sie gar nicht anredete und sie in Ruhe den üblen Eindruck verwinden konnte, den sie von dem Priulischen Grundbesitz empfangen hatte. Erst als sie wieder im Zug saßen, fragte er so nebenher:
»Nicht wahr, mein Besitz hat Dir nicht gefallen?«
Sie lachte bitter auf. Ob sie wollte oder nicht, sie mußte ihm nun sagen, was sie von diesem Tage geglaubt und was er ihr zerstört hatte. Sie sprach leidenschaftlich, mit geröteten Wangen und bebender Stimme, die ihr zuweilen versagte, denn sie, die es gewöhnt gewesen, immerfort tätige Männer um sich zu sehen, empfand es nun wie Schmach, daß sie einen Müßiggänger geheiratet hatte. Ettore hörte ihr zu und verstand sie gar nicht.
»Ich weiß wirklich nicht, was Du willst! Ich habe den ganzen Tag zu tun und langweile mich nicht einen Augenblick!«
»Das ist es ja eben. Du bist so sehr gewöhnt, nichts zu tun, daß Du Dir gar nicht vorstellen kannst, wie das ist, wenn man arbeitet, arbeitet von früh bis spät.«
Ettore schüttelte lächelnd den Kopf.
»Nein, Gott sei Dank, das kenn' ich nicht! Das kennen vornehme Leute überhaupt nicht.«
»Bei Euch nicht! Aber bei uns arbeitet jeder, gleichviel, ob er vornehm ist oder nicht, ob er Millionen reich ist oder nicht.«
»Aber wenn er die Arbeit nicht nötig hat, wozu arbeitet er dann?«
»Um der Arbeit willen!«
Ettore lachte.
»Nun, dann arbeitet er eben zu seinem Vergnügen, genau so wie ich mich zu meinem Vergnügen amüsiere. Ich sehe den Unterschied nicht ein. Oder doch, ich sehe ihn ein, und ich muß Dir sagen, carissima, daß der Unterschied für Euch nicht gar so schmeichelhaft ist. Euch merkt man immerfort noch die arme Rasse an, die schuften mußte und jetzt gewohnheitsmäßig weiterschuftet. Und wir, wir sind eben Aristokraten, die's schon lange nicht mehr nötig haben, sich zu quälen und durch ihrer Hände Arbeit das Nötige herzuschaffen.«
»Darum war eben auch das Nötige meist nicht da!«
Elisabeth hatte es fast wider ihren Willen gesagt, aber es wäre ihr nicht möglich gewesen, die naive Anmaßung Ettores ohne Entgegnung hinzunehmen. Sie war gefaßt auf eine zornige Antwort, aber er zuckte nur die Achseln und sagte gleichgültig:
»Du wirst nicht behaupten können, daß es bei uns je an irgend etwas gefehlt hat!«
Auf weitere Auseinandersetzungen ließ er sich nicht mehr ein. Er verstand nicht, was seine Frau meinte, und gab sich auch keine Mühe, es zu verstehen. Das waren deutsche Torheiten und Abgeschmacktheiten, an denen sie zeitweise litt, die man augenblicklich auch mit ihrem Zustand entschuldigen konnte, die aber für ihn, den Grafen Ettore Priuli, nicht die geringste Bedeutung hatten. Er rekelte sich behaglich in seinen Sitz hinein, drückte den Kopf fest an die samtene Kopfstütze und schloß die Augen. Fern und immer ferner hörte er, daß Elisabeth von daheim sprach, von ihrem Vater und den Brüdern, denen nichts über den Dienst ging. Dann schlief er fest ein. Elisabeth sah es und war beinahe froh, daß sie nicht mehr mit ihm reden konnte. Hier gab es ja doch keine Verständigung, denn hier redeten nicht nur zwei Menschen, sondern zwei Welten gegeneinander, und es schien unmöglich, daß sie sich je verstehen sollten. Wieder überkam sie das Gefühl grenzenloser Einsamkeit, das sie vorhin beim Gang durch die Vignen und Maisfelder gespürt hatte, und jäh wie ein Funke aus Qualm und Nacht sprang die Vorstellung in ihr auf, wie schön es wäre, wenn sie jetzt leise von diesem schlafenden Mann wegtreten, in einen der Züge springen, die nach Norden fuhren, und heim könnte in das Land, das ihre Sprache redete, ihre Gedanken dachte und mit ihrem Herzen empfand ...
Sie sah durchs Fenster hinaus, ohne die Gegend mit dem Blick wirklich zu erfassen, hörte das gleichmäßige Rattern der Räder auf den Schienen, mußte den holprigen Rhythmus der eisernen Melodie mitdenken, bekam eine unerklärliche Furcht, sobald der Zug langsamer rollte, um in eine Station einzufahren, und atmete auf, als hätte ihr einer etwas Köstliches geschenkt, wenn er fauchend und dröhnend wieder mit voller Kraft dahinstampfte. Sie begriff sich selbst nicht recht, aber als sie in den Bahnhof von Venedig einfuhren, wußte sie's: sie hatte Angst und Abscheu vor dieser Stadt, in der ihre Träume einst mit tausend Gallonen gelandet waren.