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Elftes Kapitel.
Die Mutter

Ich durfte mit Tante Eukarestie zum Baden über den Hafen fahren; es war am anderen Ufer, bei Neumühlen, eine zweite Badeanstalt eröffnet worden. Morgens hatte ich mich mit Anni geprügelt, so daß sich noch Haare von ihr in meiner Tasche befanden, die ich nicht gut liegenlassen konnte, weil sonst ein Beweis daraus wurde. Die Kratzwunden an meiner Wange sah man kaum noch, und mein Schienbein heilte, man merkte es daran, daß der Strumpf klebte. Anni war besiegt worden, also hatte sie den Streit angefangen. So ist es immer, wer besiegt wird, hat angefangen, man sollte sich gar nicht erst darauf einlassen, darüber zu streiten, wer angefangen hat.

Wir hatten den ersten Dampfer verpaßt, weil Tante Eukarestie in Uneinigkeit mit dem Trambahnkondukteur geraten war, es gab wirklich fast immer Streit in der Welt, und ich sehnte mich nach den Ferien und dem Leben in der Natur. Der Schaffner wollte die Fahrscheine noch einmal sehen, offenbar war er mißtrauisch, und die Tante hatte sie so sorgfältig aufbewahrt, daß sie sich nicht mehr finden ließen.

»Aber ich bitte Sie«, rief die Tante, »hier ist mein Portemonnaie, Sie finden darin zwei Mark und achtzig. Drei Mark hatte ich zu mir gesteckt, es genügt vollständig, obgleich ich anfänglich an fünf Mark gedacht hatte. Bis Neumühlen kostet das Dampfschiff hin und zurück nur ...«

»Ich möchte die Fahrscheine sehen«, sagte der Schaffner.

»Sie merken doch, daß ich sie nur nicht finden kann«, rief die Tante, »das sieht doch jeder. Diese alte Dame dort neben mir hat soeben noch zustimmend gelächelt. Sie wird alles bestätigen.«

Unsere Nachbarin fuhr herum:

»Die Jüngste in diesem Wagen sind Sie auch nicht gerade, mein Fräulein«, rief sie. »Nichts habe ich gesehen! Wahrscheinlich werden Sie das Zahlen vergessen haben. Sagen wir einmal ›vergessen‹. So was kommt vor.«

Tante Eukarestie nahm ihre Hände aus der großen Tasche, in der sie wühlte, und rang sie.

»Sie werden Rechenschaft ablegen müssen für eine solche Äußerung«, sagte sie, ganz blaß vor Kummer.

Der Schaffner riß an der Lederschnur, die an der Decke des Wagens angebracht war, die Glocke schlug an, die Bremse zeterte, wir mußten anhalten, weil eine Haltestelle erreicht war, an der niemand wartete. Es stieg auch niemand aus. Als der Schaffner die Glocke wieder gezogen hatte, damit es weiterging, sagte er:

»Sie müssen neue Billette lösen, da gibt es nichts.«

Er sah jetzt aus wie ein Schutzmann, Schirmmützen sind fast so schlimm wie Helme.

»Aber ich habe Billette gelöst, mein Herr, gleich anfangs. So zählen Sie doch das Geld. Fragen Sie den Jungen. Die zwanzig Pfennige, die nicht da sind, beweisen alles.«

Der Schaffner war gekränkt, weil die Tante ihn »Mein Herr« genannt hatte. Einfache Leute in kleinen Beamtenstellungen sehen in Höflichkeiten solcher Art gewöhnlich einen versteckten Vorwurf, ähnlich wie sie ein Trinkgeld, das zu klein ist, mit gekränktem Ehrgefühl zurückweisen.

Die Insassen des Wagens begannen, sich mit viel Teilnahme und Vergnügen mit Tante Eukaresties Mißgeschick zu befassen, es wurden allerhand Meinungen laut, und verschiedene Leute gaben wohlwollende Ratschläge. Ich tat nach Kräften so, als ob ich nicht zu Tante Eukarestie gehörte, aber leider hinderte mich mein Mitgefühl daran, ins Unbeteiligte zu entgleiten, zumal der Schaffner ein Rechtsbewußtsein an den Tag legte, das ins Bedrohliche überging.

»Sehen Sie doch noch einmal ruhig in allen Taschen nach«, riet ein freundlicher Herr uns gegenüber, der den Spazierstock zwischen seinen Knien aufgestellt hatte und die Hände über der Krücke gefaltet hielt.

»Taschen!?« fragte Tante Eukarestie. »Ich habe nur diese eine, die Sie vor sich sehen und die ich eben im Begriff war, erneut zu durchsuchen, als ich von jener Dame dort unterbrochen wurde, die ich nicht einmal kenne und die ich auch nicht zu kennen wünsche, das betone ich hier öffentlich. Taschen!? Was wollen Sie damit sagen?«

»Doch, doch«, antwortete der Herr freundlich ablenkend, »dort im Mäntelchen ist eine Seitentasche. Schauen Sie einmal nach, vielleicht ... wer weiß ...« Er zeigte mit dem Stock auf Tante Eukaresties Manteltasche, und sie erinnerte sich auch gleich an diese Tasche, als sie sie sah, es war aber nichts darin. Ich befürchtete, daß auch meine Taschen untersucht werden könnten, und Annis blondes Haarbüschel fiel mir schwer auf die Seele.

Der Schaffner mußte den Wagen wieder halten lassen und sich für eine Weile mit den neuen Fahrgästen abgeben, er sah aber immer schräg zu uns herüber. Ich haßte ihn sehr. Der Wagen füllte sich und setzte sich wieder in Bewegung.

Tante Eukarestie leerte den Inhalt der großen Handtasche langsam auf den Boden des Wagens, so daß ich rot wurde. Sie nahm immer vielerlei Sachen mit sich; nacheinander erblickte man ihr Handarbeitszeug, das ging noch an, obgleich die Stricknadeln sich sträubten. Dann kamen die Pulswärmer zum Vorschein, das Sonntagsblatt, der Proviant, den wir nach dem Bade verzehren sollten, zwei Schinkenbrötchen und eine Tüte mit Kirschen, die sich öffnete, das Futteral ihrer Brille, ein großmaschiges Halstuch, in dem sich, wie in einem Netz, der Taschenkamm, Predis Reservehalsband, die Haustürschlüssel und das Riechfläschchen verfangen hatten. Zwei kleine Päckchen mit Brausepulver in weißem Papier wurden einen Augenblick lang für die verlorenen Billette gehalten. Kopfschüttelnd und enttäuscht rief die Tante nach dem Schaffner, um sich nach der Farbe der Billette zu erkundigen.

»Ich habe es dann leichter, sie aufzufinden«, rief sie.

Der Schaffner antwortete:

»An der vorletzten Haltestelle hätten Sie den Wagen verlassen müssen, das war Ihre Station. Nun ist ohnehin eine Nachzahlung erforderlich. Ich bitte darum, jetzt zum letzten Mal.«

Die Leute im Wagen begannen zu lachen, gottlob versöhnte das den Schaffner ein wenig, da er glaubte, man nähme seine Partei. Er half sogar beim Einräumen der Tasche. Als sich hierbei zwei Nadeln aus dem Strickzeug völlig lösten, so daß die Maschenreihe klaffte wie ein kleiner verlassener Bogengang, gab Tante Eukarestie den letzten Widerstand auf. Sie erhob sich, und kerzengrade aufgerichtet hielt sie ihrem Bedränger ein Markstück hin. Da sah ich unsere Billette auf Tante Eukaresties Platz auf der Bank liegen und gab sie dem Beamten, so daß er lachte und uns bei der nächsten Haltestelle freundlich und hilfsbereit aus dem Wagen ließ.

Tante Eukarestie lachte nicht, sondern ging furchtbar rasch, ich wagte nicht sie zu beruhigen oder zu trösten, es zeigte sich eine so feierliche und traurige Stille in ihrem Gesicht. Obgleich ich fühlte, daß sie kein Recht hatte die Welt zu verurteilen, von der sie so arg verletzt wurde, war mir doch, als sei sie liebenswerter als alle, deren Geschicklichkeit groß genug war, um Leid und Bedrängnis zu vermeiden.

Ich habe diesen kleinen Vorfall gut im Gedächtnis behalten, weil ich auf unserem Weg zum Dampfschiff und auch später neben der schweigsamen Tante von sonderbaren Gedanken befallen wurde und in einen seltsamen Zustand geriet, der sicherlich mit dem Erlebnis in geheimnisvollem Zusammenhang stand. Ein unbestimmbares und doch mächtiges Verlangen überwältigte mich, es war wie die Sehnsucht nach einem Ausweg aus der Welt. Ein Bewußtsein kam hinzu, als sei früher alles ganz anders gewesen, reiner, lichter und besser, und ich fühlte, daß ich alterte. Ich wollte fort und wußte nicht wohin, man war für so lange Zeit verurteilt zu warten und zu lernen, die Welt der Erwachsenen lockte und quälte zugleich, nicht ganz ernst und nicht für ganz voll wurde man genommen, und darüber wuchs der Sinn dafür, daß die Welt voller Hindernisse, Gefahren und Nöte war, die von selbst kamen und die man am wenigsten dadurch abzuwehren vermochte, daß man sich gut benahm und brav verhielt. Nein, grade dadurch am wenigsten, man sah es an Tante Eukarestie. Vielmehr mußte man sich in einer Mitte halten und bewegen, was war das für eine Mitte, die ein ruhiges Leben möglich machte?

Ich weiß sie heute noch nicht. Damals geschahen für mich Tage, wie vielleicht jedes Kind sie einmal erlebt, Tage, in denen das innere Wachstum jähe und unerwartete Sprünge der Entwicklung macht, mit deren Bewegung sich vorübergehend eine große Helligkeit der Einsicht verbinden kann, ja etwas wie eine vorzeitige Weisheit, die bei gesunden Naturen rasch wieder versinkt und von neuen Forderungen und Erfahrungen des Lebens überwältigt wird, die wieder ins Ungewisse oder in die wohltätige Dämmerung des bedachtlosen und oberflächlichen Dahintreibens führen.

Die Sage vom Zwölfjährigen im Tempel ist ein hoher und vielbedeutsamer Mythos, er berührt in seinem Sinn diese Zustände und Auflichtungen der jugendlichen Seele und des erwachenden Geistes, deren Schein und dessen Quellen in dieser Zeit noch aus dem Urboden des Kinderlandes, des Paradieses, strahlen und fließen und die erste Erfahrung wunderbar beleuchten und spiegeln. Sie sinken wieder in Nacht, aber ich glaube, daß ein Mensch Zeit seines Lebens wesentlich nicht mehr und nichts Besseres wird erleben, erfühlen oder vermitteln können als das, was ihn in solchen Stunden des jugendhaften Erblühens bewegt hat oder ihm uranfänglich offenbar geworden ist. Mit dem inneren Absinken solcher Gewißheiten und Ausblicke, solcher Lichtgesichte und heldischer Tatkräfte verbindet sich das erste Leid der Kinderseele, das erste und das entscheidende Leid, der Schmerz, der uns nie mehr verläßt.

Ich erinnere mich gut, daß ich am Abend dieses Tages, als ich mit der immer noch bedrückten und insichgekehrten Tante heimfuhr, plötzlich begann zu ihr zu sprechen, und daß ich unter meinen Worten in einen Zustand so hoher Freude geriet, daß ich glühte. Die Tante sah erstaunt auf, hörte mir aber ernst und ruhig zu, weil sie die Seele eines Kindes hatte, und schloß mich in die Arme, als ich steckenblieb und zitternd vor ihr stand. Mein Gott, was mag ich da geredet haben, nicht ein Wort weiß ich mehr, aber glücklicher war ich nie. Sie mußte mich beruhigen, und da sie damit eine Aufgabe vor sich sah, wurde sie wieder heiterer und vergaß ihren Kummer. Sie sprach auch nicht mehr darüber, als sei alles ausgelöscht, und ich liebte sie gewissermaßen still vor mich hin, denn ich fühlte mich aufgenommen.

Ist es nicht so geblieben: Die Aussage und die Aufgenommenheit und das Glück über beide? Damals wurde mir zum ersten Male deutlich, daß die Welt nicht völlig in Ordnung sein konnte, auch die der Erwachsenen nicht, und daß auch die Großen nicht so gut Bescheid wußten, als sie den Anschein erweckten oder als sie vermeinten. Es kam für mich eine Zeit des ruhlosen Gefrages, jedoch verstummte ich bald, denn ich merkte, daß alle Antworten entweder leer und erstarrt überall die gleichen waren, als hätten alle Erwachsenen sie fleißig und genau gelernt, oder mit einem Lächeln der Herablassung erteilt wurden. Ich glaube, daß ich meine Kindheit hindurch nichts so inbrünstig gehaßt habe als dieses Lächeln. Heute noch erscheint der Geist der Verachtung und der Zerstörung mir im Bild des herablassenden Lächelns.

*

Bei einigem Überlegen, das sich offenbar schon wieder aus den Bereichen paradiesischer Einwirkung entfernt hatte, kam ich zu dem Resultat, daß Besitz eine Schutzwehr und Waffe gegen die Heimsuchungen der Welt sein müßte. Ich konnte nicht deutlich feststellen, ob die Begüterten glücklicher und freier dahinlebten, aber augenscheinlich wurden ihre Fehler übersehen, und ihre Handlungsweise unterlag einer anderen Einschätzung. Sie zeigten sich kühler, gelassener und erweckten deutlich den Anschein einer Berechtigung zu fast allem, die eine gewissermaßen wertbeständige Moral mit sich brachte. Das gefiel mir.

So beschloß ich, zu Besitz zu gelangen, die Regionen der Enthobenheit, in denen er waltete, versprachen mir Freiheit und Ruhe, es mußte im Kleinen wie im Großen sein. Anfänglich zog ich in Betracht, Anni in meine Hoffnungen und Pläne einzuweihen, unterließ es dann aber in der Erkenntnis, daß man weibliche Wesen besser nicht in das gewagte Spiel dunklen Erwerbs zieht. In der Helligkeit, unter den Augen der Erwachsenen, zeigte sich kein Weg. Ich beschloß, Anni später an den Resultaten meiner Bemühungen teilnehmen zu lassen, handeln wollte ich jedoch lieber allein und nahm einen der silbernen Speiselöffel, von denen sich ein gutes Dutzend zum täglichen Gebrauch im Geschirrschrank des Eßzimmers befand.

Es erschien mir nicht klug, diesen Löffel in heilem Zustand in den Handel zu bringen, vielmehr brach ich ihn in der Mitte durch, dort wo sich der Stiel am dünnsten zeigte, und suchte S. Wohlgeruch in der Schloßstraße auf.

Die Firma war mir bekannt, weil wir dort das Zinn eingeschmolzener Flaschenstanniole abgesetzt hatten, ein Geschäft, das mir auf die Dauer nicht zusagte, weil die Sammlerarbeit eines ganzen Jahres nur ein paar Groschen trug. Es gab zu viele Pfarrer in unserer Verwandtschaft, und auch sie verkehrten ihrerseits zumeist nur mit enthaltsamen Leuten. Tante Eukarestie wollte ihre Stanniolkapseln nicht herausrücken, weil sie sie für das Rote Kreuz bestimmt hatte.

Da war Silber etwas ganz anderes, und als ich die Kellertreppe zu S. Wohlgeruchs Geschäftsräumen niederstieg, fühlte ich mich bei dem Gedanken erleichtert, durch das Material in einen höheren Stand der Kaufmannschaft versetzt worden zu sein.

Man fand Wohlgeruchs Keller am leichtesten, wenn man, bei gutem Wetter, im Dahinschreiten auf den schmalen Bürgersteig niedersah, denn der Händler saß für gewöhnlich vor seiner Treppe und spuckte. Der feuchte Halbkreis um den alten Sessel herum verriet zugleich, je nach seinem Glanz, ob der Alte anwesend oder abwesend war. Zudem unterrichtete den Fremden ein Blechschild, auf dem verzeichnet stand, daß neben allen Arten von Metall auch Lumpen, Flaschen, Möbel und Kleider an- und verkauft würden.

Es war ziemlich dunkel im Keller. In einem Winkel brannte eine Petroleumlampe vor einem Schreibtisch, der aussah, als sei die Reisekiste eines Seemannes ausgeschüttet worden. Unmittelbar neben dieser Schutthalde von Trümmern erhob sich schwer und schwarz ein eiserner Geldschrank. Aus den dämmrigen Hintergründen der Räume starrten, phantastisch beschienen, die Halbgesichter und Gliedmaßen von Möbeln und Hausgeräten, Röcke, Mäntel und Hosen, die wie Gehenkte wirkten, und auf einem Teppichhaufen lag eine Katze. Wohlgeruch saß am Schreibtisch und betrachtete einen kleinen Gegenstand durch die Lupe.

»Meine Mutter schickt mich und läßt fragen, wieviel Sie für diesen leider zerbrochenen silbernen Eßlöffel bezahlen würden.«

Ich hatte mein Handelsobjekt sorgfältig in Papier gewickelt und verschnürt. S. Wohlgeruch öffnete mein Päckchen bedächtig, kaum daß er mich mit einem Blick streifte und ohne sich von seinem Sessel zu erheben.

»Leider ...«, wiederholte er in singendem Tonfall, »leider ...«

Entweder hatte dieser Mann viel Herz, oder es war mir bei der Offerte ein Fehler unterlaufen. Unsicherheit beschlich mich. Nein, der Handel konnte doch wohl auf die Dauer nicht das Rechte für mich sein.

»Altes, gutes Silber, freilich, freilich ...«

»Ja, es ist sehr gutes Silber.«

»Ist es gutes Silber?« Der Alte wandte sich mir jetzt zu, rückte an der Brille und betrachtete mich abscheulich langsam von oben bis unten, eine Maßnahme, die ich bei den Gepflogenheiten der Handelswelt nicht vorausgesetzt hatte.

Jetzt langte er eine kleine Waage aus dem Wirrwarr und der Dämmerung von Geräten hervor, er schien überall Bescheid zu wissen, denn er fand sie sofort. Das Geschäft nahm also doch seinen ruhigen Fortgang. Er wog erst die Löffelstücke in der Hand und legte sie dann behutsam auf die Schale.

»Vier Mark in barer Münze, vier Mark, das sag deiner Mutter, und noch eins sag ihr, mein Kleiner, sag ihr, sie solle sich das Geld selber bei mir holen. Der Weg ist nicht weit, rasch geht es sich vom Marktplatz her, wo du wohnst, bis zu mir. Ist es nicht so? Da sagst du ja ... Hab' ich dich doch laufen sehen, du Schlanker, mein Lieber, in deinem Matrosenkittelchen mit dem blauen Kragen.«

Er nahm den Stoff meiner Jacke zwischen die Finger, als wollte er sie daran reinigen. Ich sah es wie in einem furchtbaren Alpdruck, ganz kalt war mir, über und über.

Aber darüber prägte sich mir doch Wohlgeruchs greises Angesicht tief in die Seele, die alt-gebetteten Augen, die in großer Klarheit glänzten, der weißgraue Bart und die starke edle Nase über dem ruhigen Mund, der beinahe schmerzlich lächelte, nicht eben liebreich, aber auch nicht böse. Wo hatte ich doch diesen Kopf schon anderswo gesehen?

Erstarrt die Seele in Schreck oder Furcht, so wird ihr darüber die Fähigkeit, die Eindrücke der Umwelt aufzunehmen, nicht genommen, im Gegenteil, die Erscheinungen prägen sich ihr um so tiefer und oft für immer ein. Der mächtige Greisenkopf steht noch heute deutlich vor mir, ein gewichtiges Mal der Erinnerung im Grenzland von Wandlung und Entscheidung.

Freilich gelang es mir, mich rasch zu fassen, da ich durch unsere Lehrer gelernt hatte, daß man sich in gefahrvollen Lagen vor allem nicht einschüchtern lassen darf, und ich sagte, ich glaube, ziemlich ruhig:

»Ich werde es also meiner Mutter sagen.«

»Gut, gut«, antwortete der Alte, und als ich nach dem Gegenstand unserer Verhandlungen griff, um mich mit ihm davonzumachen, legte er ruhig seine Hand darauf und fügte hinzu:

»Den silbernen Löffel da laß derweil hier bei mir.«

»Ja,« sagte ich mit verzweifelter Tapferkeit, »es ist gut.«

Der Alte sah mich an:

»Wer weiß«, meinte er langsam, »wer weiß, ob es gut ist: vielleicht ist es das erste Silberding, das dir zerbrochen ist, so ist es dann vielleicht auch das letzte.«

Ich verstand nur dunkel, was er meinte, Bangen und Achtung trugen mich sonderbar davon, wie ein düsterer und ein lichter Engel. Mein wilder Zorn auf den Alten brach nicht durch, etwas Fremdes, Heißes bohrte mir tief in der Brust, tiefer als Zorn entsteht, und ich hatte ein unmenschlich starkes Verlangen nach einer guten und hilfreichen Hand. –

Die Tage der Ungewißheit, die diesem Erlebnis folgten, sind die schwersten meiner Kindheit gewesen, ich kam zu keinem Entschluß und fühlte doch, daß etwas geschehen mußte und würde. Daß Wohlgeruch den Löffel stillschweigend für sich behalten könnte, glaubte ich keinen Augenblick, und meiner Mutter wollte ich mich nicht anvertrauen, weil ich fürchtete, ihr großes Leid damit anzutun. Es muß sehr schlimm um mich gestanden haben, denn ich war in der Schule fleißig und machte die Hausaufgaben mit Sorgfalt, so daß Anni mein Tun und Verhalten mit Sorge verfolgte.

Ein paar Tage später, als ich nach der Schule das Eßzimmer betrat, in dem schon alle um den Speisetisch versammelt saßen, merkte ich sofort, daß Wohlgeruch dagewesen war, und daß er meinen Vater angetroffen und gesprochen hatte. Mein Vater war in allen äußeren Lebensformen ein rechtlich gesinnter Mann, und es fehlte ihm, wie vielen Leuten seiner Art, deshalb jeder Sinn für Gerechtigkeit. Ich will die Tage, die folgten, nicht schildern, sie waren trüb und finster, nicht nur für mich, da mein Vater wohl mit Härte zu strafen verstand, aber nicht zu vergeben wußte, eine Haltung, die die gute Wirkung jeder verdienten Strafe aufhebt. Ohne die verweinten Augen meiner Mutter wäre mir diese Sache nicht so schmerzlich vorgekommen, denn ich wußte sehr wohl zu unterscheiden, ob die Beweggründe zu meiner Tat niedrig oder nur unbedacht gewesen waren.

Am zweiten Tag nach meiner Strafverbannung aus jeder Familiengemeinschaft, die ich bei Wasser und Brot im Badezimmer zu verbringen hatte, wurde ich am Abend Zeuge einer Unterredung zwischen meinen Eltern. Ich sollte mein Schlafzimmer aufsuchen, hielt mich aber noch auf dem Korridor auf, und die Tür zum Wohnzimmer war nicht fest geschlossen. Anni war schon zu Bett geschickt worden. Der helle Abend schien noch durch das Flurfenster, so schöne Sommertage zogen damals über das verbotene Land der Freiheit dahin.

Ich hörte, wie mein Vater sagte und darauf bestand, daß ich in eine Zwangserziehungsanstalt übergeführt werden sollte, man merkte, daß schon davon die Rede gewesen sein mußte, und meine Mutter widersetzte sich dieser Maßnahme, anfänglich mit Worten, Bitten und Tränen. Da, als mein Vater fest blieb, geschah nach großer Stille das erste Wunder meiner Kindheit, die Wandlung aller vertrauten Sätze von Kraft, Recht und Autorität in die Freiheit der höheren Gesetze eines starken Herzens.

Ich hatte mich, benommen und entbunden von Furcht und der Bedeutung solcher Entscheidungen, bis an die Türspalte vorgewagt, was konnte noch an Artigkeiten zu verletzen sein, nun da das Höchste auf dem Spiel stand? War das die Stimme meiner Mutter:

»Wenn du den Jungen in diese schreckliche Anstalt schickst, so verlasse ich am selben Tag dein Haus und kehre niemals wieder zu dir zurück.«

Sie sah in ihrer Blässe und Entschlossenheit so schön aus, daß ich erzitterte. Wo waren ihre Milde, ihre Demut, ihre Unterwürfigkeit, alle jene Eigenschaften, ja ihre Art, in der sie Zeit meines Lebens und Denkens meinem Vater ergeben und still gedient hatte, gehorsam wie ein Kind? Mir war, als sähe ich meine Mutter zum erstenmal, und als wüßte ich damit meinen Weg.

Meinem Vater muß es ähnlich ergangen sein, er trat einen Schritt von ihr zurück, ganz verändert in seiner Haltung, maßlos erstaunt, aber zugleich im Tiefsten getroffen.

»Gut, gut ...«, sagte er leise und beschwichtigend und starrte ohne Aufhör in die hellen Augen meiner Mutter. »So wollen wir es noch einmal versuchen. Willst du die Verantwortung übernehmen?«

»Ja«, sagte die Mutter.


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