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Siebentes Kapitel.
Vetter Eugen

Wir mußten ihn nehmen. Ich spürte deutlich, daß meine lieben Eltern ihre Zustimmung zu diesem Besuch nur mit Widerstreben gaben, mein Vater sagte: »In Gottes Namen.«

Vetter Eugen kam aus der Schweiz, und wir kannten ihn noch nicht, ich hörte nur viel Gutes von seinem frühentwickelten Verstand und von seiner Strebsamkeit; merkwürdig, daß mein Vater grade diese Eigenschaften bei unserem Vetter zu fürchten schien, da er sie doch bei mir erhoffte. Jedenfalls waren Anni und ich voll froher Erwartung, wenn ich mir auch vornahm, mich auf keinen Fall durch die Tugenden des Vetters einschüchtern zu lassen.

Besonders der Umstand, daß er aus der Schweiz kam, erregte meine Neugier und Phantasie in hohem Maße. Die Schweizer stellte ich mir wie Andreas Hofer oder Wilhelm Teil vor, ich sah sie mit Armbrüsten bewaffnet, mit Kniehosen angetan und als vortreffliche Schützen zwischen Bergzinnen und auf hochgelegenen Schneegefilden nach Gemsen Ausschau halten oder in hohlen Gassen auf der Lauer liegen. Sie trugen Edelweiß an den Hüten, so daß man sah, wie sie sich in Lebensgefahr begeben hatten, und schwuren überall Treue, wo es verlangt wurde.

Um so überraschter waren wir, als Eugen im Wohnzimmer erschien. Wir hatten nicht mit an die Bahn dürfen, unsere Mutter war allein hinausgefahren, wahrscheinlich wollte sie, daß wir uns nach und nach an Eugen gewöhnten und daß er nicht so plötzlich vor uns erschiene, wie jemand einen Eisenbahnzug verläßt. Überhaupt nahm sie sich seiner auf fürsorgliche Art an, ich glaube, daß sie seine verstorbene Mutter sehr geliebt hatte und daß sie begriff, wie schwer und einsam Eugens Jugend verlief, weil sein Vater ihn nicht leiden konnte.

Man hatte mir gesagt, daß Eugen drei oder vier Jahre älter als ich wäre, so daß ich ungläubig und hilfesuchend auf Anni schaute, als ein junges Herrchen ins Zimmer trat, das kleiner war als ich. Was mir zuerst auffiel, war sein ungeheuer großer Kopf, der eine Brille trug, als hätte man sie vor eine Kegelkugel geschnallt. Dahinter musterten mich große und scheue Augen mit übertriebener Achtsamkeit, es war das erstemal, daß ich erlebte, daß ein Mensch zu gleicher Zeit verschüchtert und aufmerksam zu sein vermochte. Er nahm meine Hand in seine, legte die andere darauf, so daß die meine in warme Verpackung geriet, und sagte:

»Ich freue mich sehr, Cousin, aufrichtig. Möchte ein ergiebiges Zusammensein uns beide fördern. Ich habe manches zu bieten, du wirst sehen. Aber bitte ... bitte sehr, nicht mißzuverstehen, es soll nichts erzwungen sein, alles recht und natürlich.«

Er sprach das »ch« so aus, als wäre es ihm zu weit in den Hals gerutscht und müsse sich am Gaumen entlang behindert und verdickt hindurchpressen, es klang ähnlich, als ob eine Gans zischte, nur nicht so hell.

»Setz dich, Eugen, nimm Platz«, sagte meine liebe Mutter herzlich.

»Aber bitte sehr«, sagte Eugen, »bitte sehr! Ich kann ebensogut stehen, wirklich ebensogut ... keine Mühewaltung meinetwegen.«

Er breitete die Hände unten an den herabhängenden Armen abwehrend wagerecht aus, als ob er jemanden segnen wollte, der zu klein dafür war: »Wirklich, liebste Tante, ebensogut ...«

»Aber so setz dich doch endlich«, sagte meine Mutter.

»So sitz ich denn ab«, sagte Eugen rasch, deutlich verwundert durch den etwas ungeduldigen Ton. Er ließ sich unglaublich vorsichtig auf einen hochlehnigen Sessel nieder, den Anni ihm über den Teppich herangeschoben hatte, nicht aus Höflichkeit, sondern weil sie hinter der Lehne lachen wollte.

»Wenn ich dich gekränkt haben sollte, liebe Tante ...«

Er saß nicht richtig fest auf dem Stuhl, unten war er noch rund, weil er in den Knien schwebte, ich sah es deutlich von der Seite; man merkte, er wagte nicht »abzusitzen«, wie er es nannte.

»Nun erzähle uns ein wenig«, sagte meine Mutter, die seine Frage überhörte.

»Es hat mir ganz fern gelegen, jemanden kränken zu wollen«, sagte Eugen, »völlig fern. Ich bin es gewohnt, zu stehen. Es wäre wirklich eine Verkennung, wenn dies vorausgesetzt würde.« Er sah sehr niedergeschlagen drein, so daß sogar mich ein Gefühl von Schuld beschlich.

Eugen sah sich ratlos und vorsichtig um, aber sonderbar rechthaberisch zugleich, bereit, allen Schuld zuzumessen. Er strich sich über das Haar, das weich wie Watte und dünn wie Staub auf dem großen Schädel lag, als sei es ohne Erlaubnis da. Alles an diesem Menschen lebte einzeln und für sich, der Kopf, die Hände, die Beine und die Ohren.

Es kam keine rechte Unterhaltung zustande, weil Eugen hinter jedem Satz etwas vermutete, was man gar nicht gedacht und noch weniger ausgesprochen hatte, so daß meine Mutter mir riet, mit ihm auf sein Zimmer zu gehen und ihm beim Auspacken seines Koffers behilflich zu sein. Ich wollte nicht behilflich sein, aber sehen, was in dem Koffer war, und ging mit. An der Tür gab es Aufenthalt, weil ein Rangstreit über das Vorrecht entstand, wer zuerst eintreten durfte. Eugen ging längere Zeit zugleich vor- und rückwärts, aber sosehr er sich in seiner Erbötigkeit plagte, um so entschlossener änderte er jetzt sein Verhalten. Er legte eine Überlegenheit an den Tag, die so gewichtig war, daß sie nicht mehr kränkte, sondern meinen Wunsch weckte, sie in ihrer ganzen Fülle zu erleben.

Er tastete erst mit seinen dicken großen Fingern überall an den Fensterritzen entlang, um sich zu überzeugen, daß nirgends Durchzug vor sich ging, und öffnete dann den großen Pappkoffer mit einem Schlüssel, den er an einer Leine um den Hals trug. Die Ordnung der Dinge in diesem Kasten jagte mir Schrecken ein. Es waren Bücher darunter, zwei Schwämme in Wachstuchhülsen, eine Kerze, eine kleine Standuhr und ein Volkskalender mit Bildern.

Jedes Ding bekam im Raum seinen Platz, als sei es für immer, und ich mußte denken: er bleibt sehr lange. Es zeigte sich im Laufe der Zeit außer den Wäschestücken noch ein Nußknacker, ein Neues Testament und mehrere Tafeln Schokolade, Filzpantoffel und ein Teesieb. Manches war mir neu, und mein Gemüt schwankte heftig zwischen Ehrfurcht und Grauen. Die Armbrust erwartete ich längst nicht mehr. Die Schweiz war anders.

»An diesem Kalender werde ich im nächsten Jahr wahrscheinlich mitarbeiten«, sagte er fröhlich bewegt, »es besteht begründete Aussicht.«

Darunter vermochte ich mir nichts vorzustellen. Daß er sich auf eine Arbeit freuen konnte, war mir unverständlich. Ich nahm den Kalender zur Hand, um zu zeigen, daß ich zugehört hatte.

»Vorsicht!« rief Eugen und nahm mir den Kalender fort, »ich habe nur dies eine Exemplar. Es ist mir wichtig, denn nur ein kleiner Zufall hat verhindert, daß es einen Beitrag von mir erhielt. Es war eine gelungene kleine Sache, ich werde sie heute abend vorlesen, freilich wird wohl nur die Tante ihre Freude daran haben ... oder?« Seine Augen warnten mich.

Er verteilte immer noch Gegenstände im Zimmer, ich merkte schon, daß ich mit ihm nichts anfangen konnte, und paßte auf, wo er die Schokolade hinsteckte. Dann verabschiedete ich mich, um Anni aufzusuchen.

»Es hat nicht an mir gelegen, Cousin«, sagte Eugen in der Tür, »wenn es dir bei mir nicht zugesagt hat. Mir Vorwürfe zu machen, wäre ungerecht, jedenfalls voreilig, und ich hätte es nicht von dir gedacht, das nicht ...«

Seine Augen, durchdringend und entsetzt, hielten mich aus traurigem Gesicht fest.

»Ach wo ...«, sagte ich.

»Natürlich kann es an mir gelegen haben, ich will mich in keiner Weise besser machen, als ich bin«, sagte Eugen. »Aber schließlich bin ich hier Gast, ich selbst bin sehr gastfreundlich erzogen worden, wenigstens von seiten meiner Mutter. Würdest du glauben, daß mein Vater mir die Brille zerschlagen und mich aus dem Haus geworfen hat? Buchstäblich hinausgeworfen. Er hat meine Brille in kleine Stücke zertreten, aus reiner Bosheit und sich dessen völlig bewußt, daß ich hilflos, ja geradezu verloren bin ohne meine Gläser. Deine Mutter würde das verstehen ...«

Ich fühlte mich über und über schuldig und ging rasch und ohne Gruß zu Anni, die wütend war, daß sie nicht mit in Eugens Zimmer gedurft hatte.

*

Beim Nachtmahl fragte Vetter Eugen jedesmal und für alles um Erlaubnis, nachdem er endlich Platz genommen hatte. »Liebste Tante, es ist durchaus nicht erforderlich, daß ich neben dir sitze, wirklich nicht, ich könnte ebensogut weiter unten am Tisch essen ...« So begann es, und mein Vater sah zur Decke auf, während wir Kinder still und leblos vor unsern Tellern hockten, ich konnte unmöglich gleich am ersten Tag die rechte Einstellung zu Vetter Eugen finden, aber ich merkte wenigstens, daß Anni brodelte.

Es war so schwer, über Eugen zu lachen, denn er tat mir furchtbar leid, so gelehrt und gescheit, wie er war; bei seiner deutlich wahrnehmbaren Armut so ordentlich und bei seinem Hochmut so unaussprechlich vernachlässigt vom Leben, denn er hatte große Leberflecke und Brüllhusten.

Dabei konnte er reden, daß man auch dann in Ergriffenheit geriet, wenn man gar nicht zugehört hatte; überschnell, traurig und immer mit Anklage entsprangen ihm seine Satzgebilde, aber aller Eifer steckte schon fest in der Zange der Todesangst, man möchte seinen Wert und seine Leistung mißkennen.

Als wir uns endlich erschöpft vom Tisch erhoben, verstand ich, daß Eugens Vater die Brille zertrampelt hatte. Nicht ein Stückchen Brot, nicht eine Kartoffel oder ein Kohlblatt hatte dieser Eugen zu sich genommen, ohne zuvor um Erlaubnis gefragt zu haben, und wenn es ihm gestattet wurde, so zögerte er erst recht.

»Es geht auch ohne die Rübe, liebe Tante, ich bin satt, vollkommen satt ...«

Dabei stand ihm die Gier in den Augen geschrieben, und er sah immer nach der Käseglocke. Als sie herumgereicht wurde und an ihn kam, litten alle, denn Eugen fürchtete sich, von einer Käsesorte etwas zu nehmen, die nach seiner Befürchtung vielleicht ein anderer bevorzugte: »Darf ich mir von diesem gelben Käse ein Stückchen abschneiden, Tante? Nur ein kleines, aber wenn vielleicht ein anderer grade diese Sorte wünscht ... ich kann es ja nicht wissen und nehme ebenso gern von diesem anderen ...«

Er hielt die Glasplatte ratlos vor sich hin ausgestreckt, bis seine Hand zitterte, und Anni und ich rechneten nicht mehr mit Käse.

»Es ist gleichgültig, nimm nur, was du magst«, sagte meine Mutter geduldig.

»Es ist nicht unbedingt nötig, daß ich überhaupt noch Käse esse«, begann Eugen wieder. Da nahm ihm Anni die Platte fort, und der Vetter zeigte jetzt uns allen, daß ihm kein Käse gegönnt sei. Er sah uns nacheinander vorwurfsvoll und erniedrigt an, wie eine verstoßene Waise.

Ja, er will, daß man ihn hungern läßt, dachte ich, damit er hinterher Grund zu einer Anklage hat. Ich sagte es meiner Mutter später einmal auf eine ähnliche Art, weil ich fühlte, daß sie sich Sorgen machte und unter Eugen litt. Sie sah mich lange an und lächelte in Gedanken. »Ja ... ja ...« Und dann plötzlich rief sie beinahe heftig: »Es muß gradezu eine Wohltat sein, schuldig zu werden und es zu bekennen, ehe man solche Bescheidenheit bei sich selbst pflegt, die die ganze Umwelt schuldig macht.«

Ohne sie ganz zu verstehen, wußte ich genau, was sie meinte, das war oft so, denn wir lebten im gleichen Element von Wunsch und Erleiden, und ein Kind ist tiefer und klarer in die Bereiche der Empfindung eingeschlossen, als ein Erwachsener je die Bereiche der Erkenntnis zu durchdringen vermag.

An einem der nächsten Tage übernahm Eugen die Erziehung, denn er hatte mehrere Mängel festgestellt, besonders bei Anni. Er bereitete alles umständlich für seine Einwirkung vor, stellte die Stühle einander gegenüber, und Anni mußte »absitzen«. Er trug eine Joppe mit Hirschhornknöpfen und Wadenstrümpfe mit einem Schachbrettmuster. Seine merkwürdig großen Hände hingen bis an die Knie nieder, und sein spärliches Haar war fest an den Schädel und mit Wasser nach hinten gebürstet. Traurig und entsetzt, nie schaute er anders drein, betrachtete er Anni, und sammelte ihre Fehler und Gebrechen, wie man Raupen von einem Kohlkopf abliest.

»Du solltest die Haare nicht offen, mit einer bunten Schleife im Genick tragen«, sagte er betrübt, »zwei kleine Zöpfe würden sich weit besser machen, und das Haar bleibt auch sauberer.«

Ich ärgerte mich besonders über das Wort »Genick«, es gefiel mir einfach nicht, daß man Annis Hals auf der Rückseite so nannte. Daß sie nicht sauber sein sollte, war mir neu, und ich versuchte bei Eugen Unsauberkeit festzustellen, weil ich etwas gegen ihn vorbringen wollte, um Anni zu decken. Die Nägel waren aber abgenagt, so daß man dort nichts fand. Er tat mir auch sofort wieder leid, denn er sah Anni so traurig und selbstverloren an, so demütig und bittend, als enthielte sie ihm etwas vor, wonach er sich schrecklich sehnte.

»Macht ihr Freiübungen, turnt ihr recht?« fragte er streng und ganz überlastet von Besorgnis. »Dein Schwesterchen hat ein wohlgebildetes Körperchen, man sollte morgens im Badeanzug marschieren, am besten vor Sonnenaufgang, in Tau und Kühle. Ich mache täglich meine Freiübungen, ihr werdet es wohl schon an meinem Körper festgestellt haben, wie er sich bewegt zum Beispiel ...«

Er machte mit genügsamem Gesicht eine Art Tanzschritt zur Seite und lächelte wohlig aus den runden Wangen. Den großen Kopf warf er adrett zurück, wie von anmutiger Kämpferlust erfüllt. Man sah, das Leben gefiel ihm aus angenehmen Vorstellungen heraus, und er wollte sich vorwagen. Er sah auf Anni.

Irgend etwas mißfiel mir bis zur Bedrängnis. Warum sagte er das nicht mir? Ich mußte an Onkel Theodor denken und wußte nicht weshalb.

»Wenn du glaubst, daß ich keine Kraft habe ...«, sagte ich und sah ihn böse an. Anni gehörte mir. Aber ich brauchte nicht für sie zu kämpfen, sie hatte schon genug und fing an zu lachen.

»So ein dummer Kerl«, sagte sie frech und lustig. Sie rief es mir zugewandt aus, es schien, als wagte sie es noch nicht recht in sein Brillengesicht hineinzusagen. Brillen haben nun einmal etwas, was die Dummheit ihrer Träger für eine Weile undeutlich macht.

»Ich meine es gut«, stammelte Eugen unsicher, »euch fehlt noch vieles ...›dummer Kerl‹, falls es mir gelten sollte, muß ich mir ernstlich verbitten.«

»Ich mag dich einfach nicht leiden, fertig!« rief Anni. Sie sprang auf und ging hinaus, wobei sie die Tür laut hinter sich zuschlug. Meine ganze liebende Seele zog hinter ihr her, und was noch übrigblieb, war nicht freundlich auf Eugen zu sprechen. Da stand ich nun mit diesem Vetter. Was mich bewegte, konnte ich nicht vertreten, und ich blieb deshalb bei der abwehrenden Haltung.

»Wir können es ja mal mit Schwimmen versuchen«, stieß ich gegen ihn vor, »nachmittags fahren wir immer hinaus. Wenn du mit willst? Wir werden dann ja sehen ...«

»Schwimmen?« fragte Eugen gedehnt und sorgenvoll, »daran habe ich auch schon gedacht. In der Ostsee doch nicht ... oder doch? Ich habe zwar keinen Schwimmanzug mitgebracht, aber vielleicht weißt du, wo man einen solchen preiswert erstehen kann. Ich werde meinem Vater schreiben und ihm auseinandersetzen, daß es hier ein Erfordernis ist, sich mit einer Badehose zu versehen. Wir wollen heute nachmittag vorläufig einmal miteinander in die Stadt gehen, um zu erkunden, welche Mittel für solch eine Badehose notwendig sind. Du wirst sehen, daß ich mich darauf verstehe, das rechte Magazin ausfindig zu machen, nur nicht das erste beste. Übervorteilen lasse ich mich nicht. Wir werden uns einen blaufarbigen Badeanzug mit Streifen zurücklegen lassen, ohne uns fest zu verpflichten. Aber ich glaube, mein Vater wird mir nicht antworten. Er scheut alle unnötigen Anschaffungen, nicht weil seine Verhältnisse es ihm etwa nicht gestatteten, oh, wohin denkst du? Er verdient gut ... ich sehe beim Baden übrigens auch gerne zu. Warum ist denn Kusine Anni fortgegangen?«

»Sie hat es ja gesagt.«

»Das habe ich überhört, es war vorschnell herausgestoßen und ganz unberechtigt. Das hat mir noch niemand gesagt. Es gab Freunde unseres Heims und liebe Verwandte, die mich für die Gelehrtenlaufbahn bestimmt hatten, für die Philosophie, das wäre auch wohl mein Beruf gewesen, ich habe Beweise geliefert, man staunte. Hast du übrigens beobachtet, daß mein Haaransatz große Ähnlichkeit mit dem Pestalozzis hat?«

Ich hatte es nicht beobachtet und dachte darüber nach, wer Pestalozzi sein könnte. Dem Klang nach stellte ich ihn mir heiter und beweglich vor, ähnlich wie einen Clown, und beschloß ihn in die Figuren meines Kaspertheaters aufzunehmen, mit dünnen Beinen und großem Kopf, wie Eugen, so daß man mit der Peitsche darauf knallen konnte. Pestalozzi! Ausgezeichnet!

Der Vetter folgte meinen stummen Erwägungen mit mißtrauischen Augen, offenbar empfand er mich als abgelenkt, und fuhr jetzt sehr nachdrücklich fort:

»Es ist nichts mit der Gelehrtenlaufbahn geworden, ein tragischer Fall, achte darauf, denn mein Vater hat mich für das Bankgeschäft bestimmt; wenn die Ferien herum sind, werde ich in ein Bankgeschäft eintreten.«

»Gibt es denn in der Schweiz auch Bankhäuser?« fragte ich.

Vetter Eugen sah mich mit maßlosem Entsetzen an. Sicherlich würden wir uns niemals verstehen, und ich hatte schon gemerkt, daß er nicht in die Ostsee wollte.

Ich weiß dann noch gut, daß in der kommenden Zeit seine Gedichte eine Rolle in unserem Hause spielten, wie erhielten alle davon, und man fand sie auf Nachttischchen oder Kopfkissen, zuweilen auch in der Frühstückstasse. Zumeist enthielten sie eine Lehre, oder Besorgnis um uns, und wir erfuhren darin, daß wir Eugen verkannten. Ein Sonett an Anni endete damit, daß er und sie, nach den Bedrängnissen der Welt, Mund an Mund durch das Paradies flogen. Ich stellte es mir vor und fand es unnötig, auch mein Vater war dagegen.

Dann versinkt Vetter Eugens Gestalt langsam für mich ins Dunkel der Vergessenheit; ich erinnere mich, daß ich ihn, nahe vor seiner Abreise, einmal weinend vor Anni auf den Knien antraf, so daß ich mich rasch und erschrocken davonmachte. Annis Gesicht blieb mir deutlich im Gedächtnis haften, ähnlich, wie sie schaute, wenn sie mir einen verwundeten Finger verband, nur großartiger. Es stimmte mich ehrfürchtig gegen sie, ich war Eugen gradezu dankbar, hatte aber doch das Gefühl, als ob ich, viel später, Anni einmal verlieren könnte, wenn auch nicht an Eugen. Sie war so schön anzuschauen ... vorher hatte ich sie oft betrachtet, aber jetzt merkte ich es. Auf diese Art ist Vetter Eugens Bild bei mir für alle Zeit mit dem Annis verwoben, obgleich sie einander so fremd blieben und so fern, wie der Sirius von der Erde steht.

Vetter Eugen bewährte sich in der Zeit seines Aufenthalts bei uns als so tugendhaft, daß wir nach kurzer Zeit alle miteinander schlechte Menschen wurden, sogar bei Marie bemerkte ich Anzeichen von Bosheit. Endlich reiste er. Mein Vater mußte beobachtet haben, daß ich dem Vetter, als er nun fort war, zuweilen mit Unsicherheit und Grübeln meine Gedanken, nach Südwesten hinunter, nachschickte. Er sagte zu mir:

»Sei ohne Sorge, mein Junge. Es gibt auch Schweizer, die keine Tugenden haben.«


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