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Drittes Kapitel.
Tante Eukarestie

Tante Eukarestie hatte einen niedrigen, aber langen Hund, der Prediger hieß, er wurde jedoch Predi genannt, weil sein Name einmal Anstoß bei einem Geistlichen erregt hatte, der gar nicht gemeint war.

Ich glaube, daß dieser Hund der Stammvater der heute sehr beliebten Scotch-Terrier gewesen ist, denn er hatte krumme Beine, was man aber nur sah, wenn man ihn aufhob. Er ähnelte einer Raupe mit kleinen aufrechten schwarzen Ohren. Oft schrie meine Tante ihn an: »Leg dich!« Man konnte aber nicht unterscheiden, ob er lag oder stand, so daß er in den Ruf kam, niemals Gehorsam zu leisten.

Da er mit den Vorderbeinen nur traben und mit den Hinterbeinen nur galoppieren konnte, geriet er bei rascher Fortbewegungsart häufig ins Schleudern, so daß er mit der Kehrseite dort ankam, wohin er gehofft hatte mit der Nase zu gelangen. Er eignete sich deshalb nicht für die Treibjagd.

Er wedelte kreisförmig, und seinen Namen verdankte er dem Umstand, daß er bei freundlicher oder drohender Ansprache des Menschen Reden hielt in sonderbaren, langgezogenen Lauten, die zwischen Knurren, Bellen und Heulen die Mitte hielten. Dabei schlängelte er sich an seinem Platz am Boden, ohne von der Stelle zu kommen, und seine blanken schwarzen Augen füllten sich mit Schwermut. Sein Verhalten und seine Erscheinung bewegten die Menschen, so daß ich ihn oft beneidete, obgleich er alles andere als schön war. Jedoch er rührte mich, und ich quälte ihn deshalb nie.

Tante Eukarestie war Predi gegenüber vollständig machtlos, es machte ihn nervös, daß sie ihm gegenüber niemals etwas durchzusetzen vermochte. Er wartete geradezu darauf, daß sich einmal ihre Autorität erweisen möchte, und ging verbittert seiner Wege, wenn es mißlang. Deckte sich solch ein Weg zufällig mit dem Wunsch oder Befehl der Tante, so erwies sie sich als ergriffen über seinen Gehorsam.

Das war keine Erziehung! Ich versuchte es, jedoch zeigte sich Predi bei meinen Bemühungen zu Befehlsgewalt beleidigt, obgleich ich höchstens zuweilen seinen Schwanz und ganz selten empfindlichere Körperteile in die Türspalte klemmte. Als ich eines Nachmittags wieder besonnene Versuche zur Erziehung unternahm, schlug Anni die Tür fest ins Schloß, so daß Predis Schwanzspitze verlorenging. Sie hing aber wegen der langen schwarzen Haare noch mit ihm zusammen.

»Jetzt drisch«, sagte Anni, »erzieh ihn.«

Es kam nicht dazu, weil Predi in ein durchdringendes Geheul ausbrach, so daß man sah, daß er sich nicht verstellte. Er zerrte sich los und kreiselte.

Da er jetzt nur noch ganz verloren quiekte, störte nichts unsere Heiterkeit, Predi gefiel uns, wie er sich am Boden drehte, ähnlich wie ein geschleuderter Ring. Es war deutlich, daß er seine Schwanzspitze vermißte.

Anni holte sie, und wir berieten miteinander, ob Verwendung für sie da sei. Für alle Fälle nahm ich sie an mich.

»Was quiekt er noch?« sagte Anni und streichelte Prediger, »er hat Glück gehabt. Der ganze Schwanz hätte mit der Wurzel ausgehen können.«

Die Sache kam nicht auf, weil Predi sich beruhigt hatte, als Tante Eukarestie heimkam. Er hatte die übrigen Härchen sorgfältig über die kleine Wunde geleckt, die nicht mehr blutete. Zwar beklagte er sich in langen Reden bei der Tante, aber sie glaubte, daß es Freude sei. Sie hätte uns bestimmt die größte Grausamkeit zum Vorwurf gemacht, aber mit Unrecht. Wir verhielten uns kaum anders als unsere Lehrer und Erzieher, deren Beispiel uns anregte. –

Ich liebte die Wohnung der Tante sehr, es war ein kleines zweistöckiges Häuschen, das in einem alten Garten lag und ganz von Efeu eingesponnen war. Die wunderbarsten und absonderlichsten Dinge aus Urzeiten her füllten die Räume und den Dachboden, Möbelwerk und die verschollenen Hausgeräte ganzer Generationen, denn Tante Eukarestie warf niemals etwas fort, sondern hob alles auf, sogar die Zeitungen und die Kerne der verspeisten Pfirsiche. So gab es langsam im Haus nur noch gewundene, schmale Gänge, die man kennen mußte, und im Dunklen war man verloren.

Ihr Nähtischchen stand am Erkerfenster in einer erhöhten Nische; Decken, Teppiche und Vorhänge hatten sich den Farben der Möbel angepaßt und die Tapete ihrem Teint. Eine Höhleneinheit von Gerät und Seele, von Farbe, Geruch und Anschauung herrschte bei ihr, wie ich sie im Leben niemals wieder angetroffen habe. Sie wußte längst nicht mehr, was sie besaß, auch die hohen Güter ihrer reichen Seele hatte sie vergessen, aber sie wirkten nach dem Schlag der alten Wanduhr und dem Takt ihres Herzens ungeschickt und liebevoll.

Da sie selbst einkaufte und kochte, um die Kosten für eine Bedienung zu ersparen, war sie stets außerordentlich beschäftigt und so mit Sorgen angefüllt, wie nur Leute es zustande bringen, die keine haben. Jetzt hatte der Bäckerjunge sich verspätet, und nun kochte das Wasser über, Prediger hatte in der Nacht Unruhe gezeigt, so daß man Fieber annehmen mußte, und das Wetter schlug sicherlich um, so daß die Gummischuhe gereinigt werden sollten, am besten gleich, wer wollte sagen, was vielleicht dazwischen kam?

Ewig huschte sie umher, und die Verantwortung lastete. In den Morgenstunden von zehn bis zwölf Uhr staubte sie ab, eine Tätigkeit, die den Staub von einem Gegenstand auf den anderen übertrug, aber sie blieb gewissenhaft. Den alten Fotografien, auf denen man nichts mehr erkennen konnte, ließ sie besondere Sorgfalt angedeihen, und immer lagen in einer bunt bemalten Porzellanschale auf dem »Stummen Diener« ein paar verwelkte Äpfel, von denen sie vermutete, ich würde sie stehlen. Dies wäre ihr besonders schmerzlich gewesen, denn die Äpfel stellten ein Andenken dar.

Der »Stumme Diener« war ein Abstelltisch zwischen Wandschrank und Kachelofen, er mußte alles aufnehmen und tragen, für das es keinen rechten Platz im Wohnzimmer gab, und es gab dort nirgends Platz. So erwies sich dieses Gerät ständig als überlastet, und da es mit sehr zarten Beinen ausgestattet war, verbanden sich ernstliche Besorgnisse damit, ihm zu nahe zu kommen, oder sich in seiner Nähe allzu hastig zu bewegen. Predi durfte solcher Gefahr wegen niemals unter dem »Stummen Diener« schlafen, er wollte sich aber nur dort aufhalten, so daß dauernd Spannungen entstanden. Es gab viele Sorgen in Tante Eukaresties Haus. Seit Anton tot war, pflegte Tante Eukarestie außer Predi nur noch ihre Goldfische und einen Sperling, der als junges Tier in ihr Wohnzimmer geflattert war und den sie aufgezogen hatte. Er hieß Moltke. Er liebte sie sehr und verstand und ertrug ihre Eigenarten und Gewohnheiten besser als alle Menschen, sein Zutrauen wärmte ihr altes Herz, das unter den Menschen der neuen Zeit nicht galt.

Eigentlich war sie die Tante unseres Vaters und unsere Großtante. Ich wußte nicht, daß es Liebe war, die mich zu ihr hinzog, im Gegenteil, ich vermutete, daß ich sie nicht besonders gut leiden konnte, weil sie immer stritt. Man kam niemals mit ihr zurecht, und ich wäre eher gestorben, als daß ich mich mit ihr auf der Straße hätte blicken lassen.

Obgleich sie uns ohne Aufhör erzog, tat sie uns niemals ein Leid, und die Atmosphäre ihrer vollkommenen Machtlosigkeit fühlten wir wohl. Sie hielt peinlich Gericht über uns und verhängte schreckliche Strafen, die sie aber niemals zur Ausführung kommen ließ; sie drohte uns oft damit, alles unserem Vater zu berichten, was wir verbrochen hatten, sagte ihm aber nie ein Wort, und stritt aufgeregt und leidenschaftlich mit ihm, wenn er uns strafte.

»Wer wird ein Kind schlagen!« klagte sie meinen Vater an, »und du willst mein Neffe sein?!«

»Ich will nicht«, antwortete mein Vater, »aber wie soll ich es ändern?«

»Welch eine Pietätlosigkeit«, jammerte die Tante, »da sieht man alles auf einmal! Ändern wolltest du es! Kein Familiensinn, kein Glaube, die armen Kinder!«

Weil ich lachen mußte, zeigte sich mein Vater nachsichtiger, ich hatte aber nur gelacht, weil es der Tante schwer wurde, in Augenblicken von Ergriffenheit ihr Gebiß grade im Munde festzuhalten. Jetzt saß es wieder, aber sie hatte gemerkt, was mich erheiterte, denn sie schaute immer schräg auf mich, wenn die Zähne rutschten.

»Prügeln sollte man dich«, rief sie zornig, »viel zu wenig Prügel habt ihr bekommen, ich rede auch von Anni, wenn sie auch im Augenblick abwesend ist. Wenn sie kommt, werde ich es ihr sagen. Das arme Kind ...«

Ja, so war sie, und auf solche Art durchwanderten die Lebensdinge diesen alten und doch unerfahrenen Kopf. Sie kam mir oft wie ein kleiner Vogel vor, man spürte direkt, wie sie erschrocken zusammenfuhr, wie naiv und rein sie alles empfand. Aus allem, auch aus dem Bösen, das vor ihre Nase geriet, machte sie eine Alltagssache, so natürlich, wie sie das Geschirr abwusch oder ihre Haube zurechtrückte.

Bei ihr hatte ich den Mut meiner Kindheit und war so stolz und lustig, daß ich oft lief, statt zu gehen, wenn ich sie besuchen durfte.

Ihr Schlafzimmer sollte ich eigentlich überhaupt nicht betreten, jedoch ergaben sich Ausnahmen, wie bei allem, was sie streng und endgültig verfügte. Dort stand ein Himmelbett mit vielen Spitzen und Rüschen, dessen Baldachin mich an die Märchen aus Tausendundeiner Nacht erinnerte, nur zeigte sich alles farbloser und ohne Geheimnisse.

Über ihrem Bett, unter dem graulichten Vorhang, wie in der Tiefe eines hellen Zeltes, hob sich von der Wand eine Reihe von sonderbaren Beuteln oder Täschchen ab, die die Habseligkeiten bargen, deren Beruf in der Nacht erforderlich wurde, oder mit dem Tag beendet war. Im ersten befand sich ein Spiel Patience-Karten und daneben, wohlverknüpft, ein Augenschwamm. Das nächste Säckchen barg das Taschentuch und das letzte nahm für die Stunden des Schlummers das Gebiß und Spittas »Psalter und Harfe« auf.

Die kleinen Wandbeutel hatten ursprünglich aus Samt bestanden und stellten eigene Anfertigungen dar, waren aber vom Gebrauch so verschlissen, daß sie Lederfarben zwischen Rauch und Moder angenommen hatten. Jeden Abend, bevor die Tante schlafen ging, leuchtete sie mit der Kerze unter ihr Bett, weil sie dort einen »Kerl« vermutete, der auf Raub, verbunden mit Totschlag, ausging. Der Raum zwischen Bett und Boden war aber so schmal, daß nicht einmal Prediger sich dort zu verkriechen vermochte.

Auf das Nachttischchen wurde abends der Holzkäfig mit Moltke gestellt, denn die Tante fürchtete sich, allein zu schlafen, und das fragende Morgenpiepen des kleinen Vogels tröstete sie. Sie stellte sich darüber vor, wie notwendig ihr Dasein für den kommenden Tag sein mußte. –

Tante Eukarestie hatte einen kleinen behaarten, grünlichen Kaktus, er war aber schon seit Jahren tot, das sah man bald, wenn man sich auf Pflanzen verstand. Sie behauptete jedoch, daß er nur recht langsam wüchse und liebte ihn sehr. Er bekam einmal in der Woche etwas Wasser und wurde nachmittags ins Schlafzimmer getragen, weil dann dort die Sonne schien. Mit diesem Gewächs habe ich der Tante einmal eine große Freude gemacht, ich glaube, es war die einzige, und mit ihr verbindet sich eine der tiefsten Beschämungen meiner Kindheit. Wie bald habe ich allen Kummer vergessen, den ich anderen bereitet habe, aber diese Freude nie.

Die Hartnäckigkeit, mit der die Tante auf die Lebensäußerungen dieses Kaktus hoffte, die selbstsichere Art, mit der sie meine Einwände weit von sich wies, reizten mich, und ich brachte eines Sommertags ein paar kleine rote Feldblümchen mit, wie sie, ähnlich wie das Männertreu, in Kornfeldern zu finden sind, zart von Blüte und hochrot, nicht größer als der Stern eines Vergißmeinnichts. Mit einem kleinen Nagel bohrte ich den toten Kaktus vorsichtig an, der hart und trocken wie morsches Holz war, und pflanzte auf kurzen Stielen zwei dieser kleinen Blumen in seine Stachelhaut. Es sah fabelhaft echt und lebensfroh aus.

Als ich am anderen Tage zu ihr kam, ich hatte meine Tat schon vergessen, empfing sie mich mit geheimnisvollen Gebärden an der Tür, die sie offen ließ, was nie geschah, nahm mich bei der Hand und führte mich, auf den Fußspitzen gehend, ins Schlafzimmer. Auf dem Fensterbrett in der Sonne stand der blühende Kaktus.

»Kind, mein lieber, lieber Junge!« rief sie, und ihre Hand, die die meine fest umklammert hielt, zitterte, wie auch ihre Stimme, die mir lieb und zärtlich vorkam wie nie zuvor. »Da siehst du es nun, mein Bürschchen! Wie glücklich bin ich, daß ich es habe erleben dürfen, so glücklich ... wie eine Christrose ist er aufgeblüht, und leise über Nacht ...«

Da wollte ich nun lachen und mit Jubel den Triumph über sie einstreichen, aber ich mußte sie anschauen, und ihr Bild verschwamm mir vor den Augen. Das ist eine ganz verfluchte Sache gewesen!

Zuweilen, wenn der nasse Nordwest über die Heide in die Stadt wehte und die Straßen und den Hafen mit Nebel einhüllte, saß Tante Eukarestie melancholisch in der Fensternische und stellte Betrachtungen an, von denen ich wenig verstand. Jedoch begriff ich den Zustand, in dem ihre Seele sich befand, wenn auch kaum anders, als draußen den Nebel, aus dessen feuchten Schleiern die Blätter des Efeus zu uns ins Zimmer schauten, das dämmrig schimmerte und modrig roch. Die Schrank- und Stuhlgestalten des Raumes hockten still im Geheimnis ihrer Vergangenheit, deren Glanz erloschen war, die Bilder schwiegen im absinkenden Licht bedeutungsvoll, und man merkte, daß sie nicht klagen konnten.

»Ach«, sagte die Tante still vor sich hin, »ich werde wohl bald sterben, das tut mir so leid. Ich hätte so gern noch ein wenig über die Zukunft nachgedacht. Von der Vergangenheit rede ich jetzt nicht, die war ja herrlich!«

Da sie ihr Buch hatte sinken lassen und nicht mehr las, merkte sie nicht, daß ihre Brille bis an die Spitze der Nase hinabgerutscht war. Jetzt wird sie fallen, dachte ich, jetzt ... jetzt ...

Nein, sie hielt sich, weil die Nase vorn einen Knopf aufwies, eine kugelartige Verdickung, die sich gebildet hatte, bevor die eigentliche Spitze begann.

»Einmal ist es dann wirklich so weit«, flüsterte die Tante leise, »aber das merken wohl immer nur die, die es gerade angeht. Immer nur ein paar von den Vielen und endlich doch alle.«

Ich hätte so gern diesen Knopf an Tante Eukaresties Nase einmal zwischen die Finger genommen und etwas gedrückt, um genau zu wissen, ob er hart oder vielleicht eher weich und biegsam war. Ich stellte ihn mir ähnlich wie einen Radiergummi vor, nur interessanter, wagte aber nicht, darum zu bitten. Da sie gerade von ihrem Tod sprach, beschloß ich es zu tun, sobald sie gestorben war, falls sich dann noch eine Gelegenheit dazu bieten sollte.

Ich fühlte aber doch, daß sie wehmütig gestimmt war, und rief deshalb Prediger, um ihn springen zu lassen, weil die Tante dadurch aufgeheitert wurde. Ich veranlaßte Prediger gerne zum Springen und hob ihn zu diesem Zweck auf Tische oder niedrige Schränke, weil er es sonst nicht tat. Man konnte dabei seine Pfoten sehen, und er hatte ein so zärtlich-schwebendes Abschlenkern der Hinterbeine, ähnlich wie ein Engel. Er genoß dabei die Luft mit traurigem Mund. Niemals im Leben wieder habe ich ein Wesen so hingegeben springen sehen, auch solche nicht, die sich lange und mit Ehrgeiz geübt hatten, und ich begriff darüber in einer frühzeitigen Ahnung, wieviel höher der Sieger durch die Gnade steht, als der Sieger im Rangstreit.


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