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Der Sommer war da, die Schule wurde geschlossen, die Ferien begannen. Die leeren Korridore des öden Steingebäudes zwangen mich, sie in ihrer neuen Atmosphäre zu betrachten, die Sonne auf den Steinfliesen, die Kleiderhaken an den Wänden, eine vergessene grüne Schülermütze mit Silberrand, das war alles, und darüber hin und durch sie hindurch der Hohn und Haß meiner jungen Seele gegen diese Welt und der Lufthauch der Sommerfreiheit. Nun konnte ich gehen und brauchte nicht mehr zu kommen, endlos lag die Freiheit vor mir, sechs Wochen sind wie tausend Jahre, wenn man selber noch nicht vierzehn Jahre alt ist.
Ich hielt mich noch lange in dem vereinsamten Schulgebäude auf und genoß seine gebrochene Kraft. Dann zog ich mutig in das zweite Stockwerk, wo sonst die Prima und Sekunda hauste, und schaute in das verlassene Lehrerzimmer, dessen Tür weit geöffnet war. Die Stühle standen wie sie wollten, ein Päckchen blauer Schulhefte lag auf der Fensterbank, wahrscheinlich noch unkorrigiert, und der Primus mußte sie noch ins Haus des Lehrers bringen.
Jetzt durfte man weggehen, ohne wiederkommen zu müssen, so blieb man getrost ein wenig. Der Pedell rief mich an, fragte, ohne eine Antwort abzuwarten, und schickte mich fort, scheinbar verwundert über meine Anhänglichkeit an diese Schule.
Auf der Straße sah ich mich um. Wie machtlos das rote Backsteinungeheuer des Gymnasiums jetzt im Grünen lag. Die mit schwarzen Emailsteinen gerahmten Fenster verursachten mir eine gelinde Übelkeit, aber ich hielt stand und ließ sie gähnen und die letzte schlechte Luft von Zwang und Kinderleid in die Sommersonne atmen. Ich war wirklich der letzte.
Die Straße, die sonst dicht vor acht Uhr morgens, wenn ich sie durchlaufen hatte, widerlich gewesen war und nach ein Uhr leer und matt wie mein Kopf, zeigte sich mir jetzt voller Leben und Reize. Ich kaufte eine Tüte Drops von den verschiedenfarbigen und sah die dicken roten Finger des Kommis am inneren Glasrand des Gefäßes wüten. Dann ergriff er, leicht in Schweiß geraten, ein Schinkenmesser und stieß los, was am Glasrand klebte. Er wog genau und langsam, den letzten Drops, der auf der Waage zuviel lag, entzog er der Tüte und schob ihn in den Mund. Dabei sah er herrisch drein und verbarg seinen Genuß, offenbar wollte er mir zu verstehen geben, daß ihm stündlich zu Gebote stand und daß er kaum beachtete, was ich selten zu erlangen vermochte.
Ich sah ihm noch eine Weile zu. Jetzt verkaufte er Rollmöpse aus einer flachen Blechdose, schwenkte diese Ware freigebig, als prüfte er ihr Gewicht wohlwollend in der Luft, und schleuderte sie mit Andacht auf das sanft triefende Pergamentpapier. Er reichte den Kunden die erstandenen Nahrungsmittel mit Huld. Ob ich noch etwas wünschte, fragte er. Jetzt war er mißtrauisch ... »Dann glotz nicht!«
Im Weitertrollen erwog ich, ob dies ein Beruf für mich sei. Ich mußte oft an meinen zukünftigen Beruf denken, weil mein Vater immer wieder davon anfing. Zu Hause angelangt, räumte ich einmal wieder alle Möbel in meinem Zimmer um und stellte sie neu. Vom Reißzeug bis zur ältesten Kladde verbarg ich alles mit Sorgfalt, was mich an die Schule erinnern konnte, gab dem Buchfinken seine Körner und dem Rotkehlchen Mehlwürmer, ein freier wohlwollender Herr, stellte fest, daß die Meerschweine stanken, und suchte dann Anni auf. Sie wußte, daß ich Ferien hatte, aber sie sollte es auch sehen.
Wir konnten oder durften in diesen Sommerferien einmal wieder nicht aufs Land reisen, vielleicht wollten die dörflichen Onkel und Tanten uns nicht, weil wir schon einmal dort gewesen waren, vielleicht fehlte es an Geld, jedenfalls wünschten die Eltern auf ihrer Sommerreise an den Rhein allein zu sein. Mein Vater liebte uns nur Sonntags. So blieben nur die Köchin Marie, Anni und ich zu Hause.
Wir hörten alle Ermahnungen der Eltern taub und geduldig an, es war keine Wendung darunter, die wir nicht kannten, keine Sorge, die wir teilten. Noch heute verbinde ich mit dem Wort »artig« nicht den geringsten Begriff. Nur Kinder, denen selten befohlen wird und die in der Stille und aus Liebe auf die Wünsche ihrer Eltern achten lernen, sind wirklich gehorsam. Meine gute Mutter dachte bei ihren unruhigen Anweisungen und Verordnungen weit mehr an unseren Vater als an uns oder gar an sich, wir mußten brav sein, damit er nicht verstimmt wurde. Diese stete Leidenskurve ihrer Sorge hatte ich bald erkannt, und wenn ich sie damals auch kaum überdachte, so richtete ich mich doch danach. Sobald sich die Gedanken meines Vaters auf das ferne Reiseziel am Rhein einstellten, wanderten auch die ihren von uns fort und dorthin. Ich hörte, wie sie nach allen Ermahnungen endlich auf der Treppe zu Marie sagte:
»Lassen Sie die Kinder nur ... wenn ihnen nichts passiert, ist es gut.«
Behalten hatte ich im übrigen, daß wir täglich zu Tante Eukarestie gehen sollten, in deren Garten wir spielen durften, und daß wir pünktlich um halb neun am Abend in den Betten liegen mußten.
»Der Garten ... ja«, sagte Anni, »vielleicht sind noch Kirschen da, Stachelbeeren bestimmt, jedenfalls Birnen und Äpfel.«
»Die sind noch nicht reif.«
»Was heißt reif?« sagte Anni.
Sie hatte die Seele eines kleinen Teufels, das Aussehen eines Engels und den Magen einer Gans.
Nachmittags ging ich zum Hafen hinunter, um mit Pile Trak zu fischen. Die Hafengegend kann ich nicht mehr genau beschreiben, obgleich ich sie, wie in einem Traumbild, mit großer Deutlichkeit sehe. Das Auge eines Kindes sucht selten zusammenhängenden Überblick zu gewinnen und ermißt keine Verhältnisse, sondern es schaut Gegenstände, zu denen es Beziehung hat, und empfindet die Atmosphäre. Aus ihr entspringt meine letzte Vorstellung von dieser Gegend, meine Erinnerung an die schmale, dunkle Gasse, die zum Hafen niederführte, an die spitzgiebeligen Wohnhäuser und Lagerschuppen und an den Mastenwald der Segelschiffe, der, wie ein dünnes braunes Himmelsgitterwerk, die Gasse unten geheimnisvoll abschloß. Am Kai roch es nach Teer, Fischen und Seetang, es knallte, polterte und dröhnte jenseits des Schienenstrangs, auf dem rotbraune, schmutzige Güterwagen standen, und das Geschrei und die Rufe der arbeitenden Menschen drangen dumpf und immer ein wenig bedrohlich durch Rauch, Nebel oder Kohlenstaub. Wurde ein Güterwagen von Arbeitern oder einem Pferd langsam die Schienen entlang geschoben oder gezogen, so ging ein Mann mit einer roten Fahne und einer Handglocke voran.
Ich kannte von Pile Trak die Schiffe bei Namen, die Flaggen ihrer Nationen, die Heimat- und Bestimmungsorte ihrer Fahrten. Finnland, Dänemark und Schweden schickten die meisten Segelschiffe, die englischen Kohlendampfer machten weiter aufwärts beim Güterbahnhof fest. Wo der Wind klarer über die saubere gepflasterte Kaistraße fuhr, lagen die bunten Passagierdampfer nach Korsör, immer ein dänischer und ein deutscher. Aber dort war man beengt und bedrängt, konnte sich weder verbergen noch, ohne Anstände zu bekommen, umherbummeln, dort waltete das Geheimnis nicht mehr im Halbdunkel und Meerdunst, in fremdartigen Geräuschen und sonderbaren Menschen.
Überhaupt, sobald die Menschen »fein« wurden, interessierte die Welt mich nicht mehr besonders, so ist es heute noch. Fein ist auch heute dieser Teil des Hafens geworden, eine prachtvolle Automobilstraße, eine prächtig geschwungene, saubere Fahrbahn zieht ihre helle Asphaltkurve am granitenen und zementierten Kai dahin, die Mauern der Dampfer versperren die Sicht zum Wasser, und die Segelschiffe sind verschollen. Die Menschen erscheinen klein und unbedeutend, haben ihre Gesichter und Gestalten eingebüßt und huschen, wie ohne rechte Erlaubnis, im Überschwang der Dinge umher. –
Gottlob, Pile Trak war da. Er hockte wie gewöhnlich hinter einem großen Lagerschuppen auf dem massiven Eisenrund, das wie ein ungeheurer Nagelkopf aus den Steinblöcken des Kais ragte und dem Tauwerk der Segelschiffe als Halt diente. Sein Teerhut, der das eisgraue Haar verdeckte, glänzte schwarz in der schläfrigen Hafensonne, die gelbe kurze Angelrute zeigte still und schräg empor, und sein grauer Bart umstand, ein struppiges Haarbeet, die kurze Pfeife, diesen Schornstein seines großen Mundes, der das ganze untere Gesicht wie ein Moorgraben durchquerte. Zähne hatte er nicht mehr, wozu auch, er lebte glücklich.
Seinen Angelplatz wählte er wohlbewußt neben der öffentlichen Hafenlatrine, die aus einem Balken bestand, der parallel mit dem Uferbord über dem Wasser angebracht war, und dessen verschwiegene Bestimmung gegen das Land zu von einer Bretterwand geheimgehalten wurde. Man konnte von rechts und links an diesen Balkenort gelangen, der von Hafenarbeitern, Schiffern oder Matrosen benutzt wurde.
Kam ein Kunde dieser einfachen Verrichtungsanstalt menschlicher Bedürfnisse, so schauten Pile Trak und ich aufmerksam zu, in welchem Zustand sich das Resultat des Beschäftigten befand, denn Pile Trak brauchte zum Aalfischen grade das, was jener Besucher nicht mehr wollte. Sank da etwa dünn und flüssig, in ungeordnetem Zustand das Erwartete ins Wasser, so empörte sich Pile erbittert in schrecklichen Flüchen, deren plattdeutscher Wortlaut seinen Zweifel am Wert der neuzeitlichen Menschheit deutlich machte. Zeigte sich dagegen in festem Zustand ein geordnetes und knetbares Gebilde, so leuchtete sein Gesicht verschmitzt und dankbar auf, und er griff rechtzeitig zu seinem kleinen Fangnetz, das an einer langen Stange befestigt war, lauerte und hoffte gebückt, und fing den Fischköder möglichst noch vor seinem Niedergang ins Hafenwasser ab.
»Warte, bis es kalt ist«, sagte er, wenn ich Eifer zeigte.
Oft reichte die Gabe eines gesunden und kräftigen Matrosen für den ganzen Nachmittag aus. Pile knetete mit alten dicken Fingern und viel Geschick, Anstand und Genuß kleine Kügelchen von der Größe etwa eines Haselnußkerns aus unserer Beute, formte die weiche Pille mit Sorgfalt um den Angelhaken und ließ das Ganze an der Schnur mit Zuversicht und bedächtig in die Tiefe gleiten.
»Was mag der Kerl gefressen haben«, sagte er grimmig, wenn nicht gleich ein Aal anbiß, und schaute sich um, als wollte er den Lieferanten noch nachträglich zur Rechenschaft ziehen.
Sein Erfolg war erstaunlich. Er fing zuweilen Aale von der Länge eines Spazierstocks und dicker als mein Armgelenk. Ich teilte seine Freude mit Begeisterung, und er betrachtete mich als seinen Jünger. Niemals biß ein anderer Fisch als ein Aal an, Pile fischte schon seit Jahrzehnten an diesem Ort und duldete keinen Mitbewerb, sein Privileg war heilig, und niemand bestritt es ihm, sein Fang war begehrt, und er hatte feste und gut zahlende Abnehmer in den kleinen Räuchereien hinter der Werft. Wir trugen nach guten Tagen die Fische oft zusammen dorthin, ein schweres, glänzendes Schlangenknaul in einem Sack, und Pile gab mir finnische Zigaretten und Schiffszwieback. Jetzt verstand ich etwas vom Fischen, war stolz und fühlte meine Erfahrung wachsen. Pile Trak war mein Mann, nicht nur diese Stärkung meines Selbstbewußtseins dankte ich ihm, sondern manche andere auch.
Ich hatte zu tun, wenn ich bei ihm war, denn er wollte nicht, daß die Aale anders als durch seine Angelköder gefüttert wurden, wenn er fischte. Kamen derweil Lieferanten, so mußte man achthaben, daß den Aalen nicht Nahrung zugeführt wurde, in der sich kein Angelhaken befand, und ich bediente das Fangnetz mit Treue.
»Aus dir wird etwas«, sagte Pile Trak, »wirf es hinter den Schuppen.«
Begab sich mitunter ein Weib hinter den Verschlag, was selten vorkam, so wartete Pile, bis sie anfing, und stach dann mit der Angelrute nach ihr; er war ein Weiberfeind. Nach seiner Meinung wurden zudem die Aale hinreichend angeködert, wenn er abwesend war, in seiner Gegenwart wollte er hier nur das Nötigste und dann Ruhe haben.
Ging der Fischfang schlecht, so erzählte mir der Alte aus seinem Leben, das er zum größten Teil auf den Ebenen der Weltmeere zugebracht hatte. Im Hafenwinkel lag die »Gefion«, jetzt ein Kadettenschulschiff, einst ein stolzer Weltumsegler, auf dem Pile Trak seine erste große Reise zur See gemacht hatte.
Die »Gefion« ist inzwischen längst als Torpedozielscheibe von der Marine zerschossen worden, aber die furchtbare Zerstörungskraft der kupfernen Wassergeschosse hat nichts von dem zu vernichten vermocht, was mein Traum und Jugendwunsch um ihre alte hohe Schiffsgestalt gesponnen haben.
Um ihren steilen, stolzen Viermastenwald schossen die Traumvögel meiner Sehnsucht nach Freiheit, Weite und heldischem Dasein in Gefahr und Kampf, Störtebekers seewindverbrannter Räuberkopf tauchte über ihrem Bugspriet auf und das uralte Heimweh nach der Fremde. Ihr danke ich meine Indienfahrt und das Erlebnis der farbigen Tropengewitter in den Urwäldern Brasiliens, den Anblick des ewigen Sphinxhauptes in der gelben Sandebene Afrikas und die Flammenaltäre der Sonnenaufgänge über der Wüste von Nubien.
Aber keine Wirklichkeit kommt dem Vogelschrei der Sehnsucht gleich, an Tiefe, Licht und Glauben, den das Kinderherz über den Masten des alten Seglers im Hafen ausstieß, unhörbar für alle Ohren und Sinne der Menschen meiner Umgebung, einsam und herrlich, gesegnet von allen Helden des Erdreichs.
Das machten zum guten Teil Pile Traks Erzählungen. Er berichtete nur Tatsachen, trocken, trotzig und nicht auf Wirkung bedacht, immer ein wenig böse im Tonfall, und der Phantasie allen Raum für ihre Spiele offen lassend. Er hatte für Schönheit wenig Sinn, seine Gedanken gingen um Nutz und Frommen des täglichen Daseins, um Fische, gutes Brot und starken Schnaps, aber seine Worte spiegelten die Dinge wundervoll.
Man könnte seine Erzählungen nur in der Landvolksprache meiner Heimat, im Plattdeutschen redlich und rechtartig wiedergeben, es ist mir versagt, dies zu tun, und den meisten Lesern, es zu verstehen, auch würde ich das Beste entstellen, wenn ich das dem Wortlaut nach halb Vergessene aus dem Gedächtnis zu übersetzen versuchte. –
Einmal kam ein Asienfahrer heim, kein großer Dampfer, jedoch man sah, daß er lange unterwegs gewesen war und nicht zu seinem Vergnügen. Salz und Sonne hatten sein Eisen fleckig bloßgelegt, farblos und träge schlich er an, und man sah nur wenig Menschen an Bord.
Als er endlich am Kai festgemacht hatte und die Brücken und Stege ihn mit dem Land verbanden, kam mit manchen anderen aus den Eisenwänden des Vorderdecks ein alter, schmutziger Mann herab, gekleidet wie ein Türke, hinkend, mit einem Bündel, und braun vom Sonnenbrand südlicher Fernen. Er schwankte auf dem schmalen, geländerlosen Steg, als sei er betrunken, und ich dachte, er würde fallen. Bevor er den Boden betrat, sagte er laut, indem er seine Arme emporwarf:
»O mein Deutschland!«
Ich war sehr überrascht, denn ich stellte mir Leute, die so hochfahrend und ergriffen sprachen, in bunten Kleidern vor, sauber, jung und womöglich mit einem Degen an der Seite. Aber dann sah ich sein vergangenes Gesicht und die entfernten, weitgerichteten Augen mit dem hellen armen Feuer darin, und wie er auf dem Boden stand, ähnlich, als ob er sich auf alle Viere niederlassen wollte, und mußte lachen. Jedoch hinter dem Lachen wurde ich so sonderbar, so heilig ärgerlich auf mich.
Pile Trak sagte auf Plattdeutsch:
»Morgen geht er seinen Großvater suchen, und dann merkt er, daß er es selbst geworden ist.«
Daraufhin lief ich zu dem Heimgekehrten hinüber.
»Wie lange warst du fort?« fragte ich neugierig.
Er faßte mich so zart und vorsichtig an, wie Frauen einen Stoff prüfen, wenn sie Einkäufe machen, so liebevoll, als wäre ich zu seinem Empfang erschienen, und murmelte:
»Kleiner Junge ... als ich ausfuhr, da gab es das Schiff dort und dich noch nicht.« Er küßte mich und sagte:
»Vierzig Jahre.«
Pile Trak meinte später:
»Die wirst du glücklich leben, so ein Gruß hat was Besonderes. Soll er sich nur seine Schnauze an dir putzen, vierzig Jahre sind ein langes Fressen.«
Zuweilen holte Pile Schiffszwieback aus seinem Sack, ungeheure Brocken und hart wie Holz. Er zerbrach und zerstieß sie mit Sorgfalt, weil er Wert auf die dicken Madenwürmer legte, die in diesen Gebäcken hausten. Zeigte sich solch ein dunkelbraunes Wurmköpfchen auf gelbem, fettem Leib, so spiegelten Piles Züge das listige Glück des erfolgreichen Jägers und die Vorfreude des verwöhnten Feinschmeckers. In der Blechbüchse mit Seewasser, die zur Säuberung unsrer Finger immer neben uns stand, weil unsere Fischköder erforderlich machten, daß wir solchen Luxus pflegten, spülte sich Pile sorgfältig die Finger im braunen Wasser ab und griff zärtlich zu, um den entdeckten Wurm aus seiner Mehlhöhle im Zwieback zu ziehen. Sofort verschwand der Wurm in Piles dunklem Rachen, der sanft klappte. An der Kalkwand des zerbrochenen Zwiebacks blieb ein dunkler nasser Fleck zurück, ähnlich wie eine große Sommersprosse.
Diese Würmer hatten ihm einmal das Leben gerettet, und Pile aß sie aus Dankbarkeit. In schrecklicher Windstille vor dem afrikanischen Südkap erkrankte einst nach und nach die ganze Besatzung der Fregatte an Skorbut, jener argen Seuche, die das Fleisch an den Knochen mürbe macht und zerfallen läßt, weil es dem Körper an der rechten Nahrung, an frischem Fleisch und Gemüsen gebricht. Pile blieb rund und fest und munter, und man fand später, daß in den Vorratsräumen kein Schiffszwieback zu entdecken war, der nicht, in kleinste Trümmer zerschlagen, seine Mehlwürmer an Pile geliefert hätte.
So was vergißt sich nicht, und ich begriff, daß die Tat so mancher Notlage bei andächtigen Seelen zur lieben Gewohnheit werden kann. Pile sagte es mir und stopfte seine Pfeife nach beendeter Mahlzeit. Der Pfeifenkopf war eine tiefschwarze, leicht brodelnde Teerpfanne, die in der Hauptsache zur Erzeugung von Speichel zu dienen schien, dessen Ausfuhr Pile mit Liebe vor sich gehen ließ, lautlos und weit.
Frische Schiffszwiebacke waren Pile Trak ein Greuel, er wußte genau, wo man die alten erhielt, die bewohnt waren und Aroma, Nerv und Würze der Vergangenheit ausströmten. Das waren die runzligen Säcke und alten Kisten in Kluges Seilhandlung in der Hafenstraße.
Tagsüber saß der grämliche Höker auf den Säcken, die so alt waren wie er, zwischen geteerten Seilen, Angelzeug, Matrosenjacken und Kautabak. An der Decke seines Ladens, der nach Teer roch wie ein altes Faß, dem er glich, hingen ein großes, vollständig und kunstgerecht getakeltes Segelschiff und zwei ausgestopfte Seemöwen, die schwarz geworden waren.
Man erhielt bei ihm Wunderdinge und Seltsamkeiten, Lebensgeräte der geheimnisvollen Ferne und des abwegigen Tuns. Die Seeleute aller Länder verkauften ihm die Andenken und Mitbringsel ihrer Fahrten, kleine Dinge, deren Zauber im fernen Hafen groß und lockend gewesen war, und deren Wert und Sonderheit in der Heimat bald für sie verblich. Es gab Affen und Papageien, die man auf Ratenzahlung erstehen konnte, bei kleiner Anzahlung, damit sie rasch Abnehmer fanden, denn sie starben gewöhnlich bald, besonders die Äffchen, die von Tag zu Tag stiller und billiger wurden. Ich habe erstaunliche Preissenkungen erlebt. Asiatische Götzenwerke trauerten heilsversunken neben bunten Briefmarken. Tabakspfeifen, in allen Stadien der Verbrauchtheit, pendelten wie Gehängte an einer Schnur, und aus ein paar verwelkten Stiefelschäften schauten Palmenwedel, die als Zimmerschmuck Verwendung finden sollten, und die gerippten Stoßzähne des Sägefisches.
Kluge und Pile Trak waren befreundet, sie sprachen niemals miteinander, hockten zusammen, rauchten, tranken Grog und schwiegen. Ich saß viel bei ihnen, und man ließ mich gewähren, so daß ich ihre drei Freundschaftsmerkmale frühzeitig lernte.
Einmal kam ein vornehmer Herr in den Laden, der zuerst lange suchend durch die trübe Ladenscheibe geschnuppert hatte, und erkundigte sich nach dem Preis eines bronzenen Buddhakopfes, der, die Nase nach oben, armselig und vergessen in altem Gerümpel lag, zwischen Flaschenzügen und Kaurimuscheln. Pile Trak stieß Kluge mit dem Fuß an, ich sah es deutlich, und gab ihm ein Zeichen, das ich nicht verstand. Da Kluge hierauf schwieg, sagte Pile nach einer langen Weile langsam:
»Ist nicht verkäuflich.«
»Wieso? Weshalb nicht?«
Der Herr zeigte deutlich Unwillen, ja erregte Trauer und suchte sein Verlangen nach dem Kunstwerk geheimzuhalten, was ihm vor Pile nicht gelang. Ob er den Kopf in die Hand nehmen und anschauen dürfe?
Das dürfe er.
Pile sah fort und tat, als ob er gehen wollte. Der Herr wurde sehr unruhig, und sein Zustand übertrug sich auf mich. Kurz entschlossen zog er die Börse, legte ein Goldstück auf den Ladentisch, soweit dort Platz war, und fragte siegesgewiß und gönnerhaft:
»Ist das so recht?«
»Nö«, sagte Pile Trak.
»Aber ich bitte Sie, das zerbrochene Ding liegt doch hier einfach so herum.«
»Ja«, sagte Pile, »das liegt hier rum.«
Ein langes Schweigen der Empörung und Erwartung füllte den Raum wie heiße Luft, Kluge war deutlich besorgt und schaute angstvoll, aber Pile schien jetzt einzudösen. Der Herr machte Anzeichen davonzugehen, er war schon an der Tür, kam aber dann zurück, und man einigte sich auf hundert Mark, so daß mein Herz stillstand.
Der Herr wickelte den Bronzekopf in eine Zeitung, seine Hände zitterten. Pile und Kluge sahen sich an, als er draußen war, keiner sprach. Hätte ich doch ein Bild von ihnen, wie sie da saßen und grinsten. Sie teilten das Geld. Ich bekam nichts.