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Dr. Edel war den ganzen Tag unruhig und gedankenvoll geblieben. Die Bücher hatten ihre Anziehungskraft verloren, er konnte sich in den Gegenstand nicht vertiefen, und gab es schließlich auf, dieselben Sätze wiederholt zu lesen, um sie zu verstehen. Des Abends besuchte er die Oper und folgte gegen zehn Uhr einer Einladung Dr. Uebels, zu einem Glase münchener Hofbräuhausbier. Der berühmte Physiologe bezog diesen ausgezeichneten Stoff ächt von Gesinnungs- und Standesgenossen in München, und oft war Dr. Edel sein Trinkgenosse.
Beide Doktoren saßen einander gegenüber an einem Tische, der in Mitte eines geräumigen Zimmers stand. Von der Decke nieder hing eine Lampe und warf ihren Schein auf kalte Speisen, auf Gläser, auf gefüllte und geleerte Flaschen. Die Herren rauchten mit Bedacht importirte Havannah, die Unterhaltung bildeten wissenschaftliche Fragen, und der Redestrom floß angenehm und geistreich, wie der berühmte Stoff des Hofbräuhauses. Dann kam der Professor wieder auf den väterlichen Besuch, dessen Zweck und Verlauf Dr. Edel ihm erzählt hatte.
»Sie haben sich tapfer gehalten, lieber Doktor! Ich begreife die Schwierigkeit Ihrer Lage und bewundere Ihre Entschiedenheit. Was der Weise von Nazareth von seinen Jüngern fordert mit den Worten: ›Wer Vater und Mutter mehr liebt, als mich, ist meiner nicht werth,‹ – genau dasselbe fordert die Wissenschaft von uns.«
Kaum hatte der Professor diesen inhaltsvollen Ausspruch gethan, als von der Zimmerdecke ein umfangreicher und schwerer Gegenstand mitten auf den Tisch herabfiel, so daß Flaschen, Teller und Gläser prasselnd in Stücke gingen. Noch saßen die beiden Doktoren betroffen, da klang durch die augenblickliche Grabesstille ein schmerzliches Seufzen, wie der letzte Athemzug eines Sterbenden. Jetzt sprangen Beide jäh von den Sitzen.
»Was war dies?« rief der Professor. »Etwa eine Sinnestäuschung? Was haben Sie gehört?«
»Ich meinte, ein schweres Ding falle mitten auf den Tisch,« antwortete Edel.
»Ganz richtig, – ein Ding, weich und wuchtig, etwa wie ein gefüllter Mehlsack. – Und dann, Doktor?«
»Dann glaubte ich, zu hören, alle Gefäße seien in Scherben gegangen.«
»Auch meine Wahrnehmung!« bestätigte der Professor. »Gläser, Flaschen und Teller klirrten in tausend Stücken auseinander, – und doch steht Alles hier ganz unversehrt vor unseren Augen. – Eine höchst merkwürdige Erscheinung! – – Und dann, – hörten Sie nichts weiter?«
»Ein banges, schmerzliches Seufzen.«
»Genau mein Sinneseindruck!« sprach Dr. Uebel. »Sohin war das Ganze keine Täuschung, sondern Wirklichkeit; denn wir Beide vernahmen genau das Gleiche. – Ei, – ei, – höchst sonderbar! Mir ganz und gar unverständlich.«
Edel war mit einemmale bleich und nachdenkend geworden. Er zog die Taschenuhr.
»Sie sehen nach der Zeit? Weßhalb?«
»Acht Minuten über elf Uhr. Ich wollte den Zeitpunkt fixiren.«
»Das ist klug, – es giebt einen Anhalt,« sagte der Professor, welcher bald nach der Decke, bald auf den Tisch und den Boden seine Forscherblicke richtete. »Es soll Alles hier stehen und liegen bleiben, wie es ist, damit beim Tageslicht die Untersuchung begonnen werden kann.«
Nachdenkend und ahnungsschwer schied der junge Gelehrte.
Am folgenden Morgen begann der berühmte Physiologe seine Forschungen, nachdem er in der vorausgegangenen schlaflosen Nacht auf seinem Lager alle ihm bekannten physiologischen Gesetze und deren mögliche Wirkungen durchdacht hatte. Jetzt wurden die Decke, der Boden, der Tisch, die Teller und Gefäße einer strengen Prüfung unterworfen. Allein der Stoff blieb stumm und gab dem anrufenden Meister keine Antwort. Eben ging er, wie ein beschwörender Zauberer, um den Tisch, als Dr. Edel eintrat, düster und mit entstellten Zügen.
»Ich finde absolut keine Erklärung!« rief ihm der Physiologe zu.
»Hier ist sie!« erwiederte Edel, eine telegraphische Depesche überreichend.
Der Professor las: »Gestern Abend gleich nach elf Uhr starb unsere liebe Mutter plötzlich am Nervenschlage. Komme nicht zum Begräbniß. Schmerz und Erbitterung des Vaters sind grenzenlos.«
Der Professor stand da und starrte schweigend auf das Telegramm.
»Gleich nach elf Uhr, – genau der Zeitpunkt des Begegnisses, – in der That die einzig mögliche Erklärung, – das heißt, wie man vorläufig annehmen könnte.«
»Die letzte Mahnung meiner sterbenden Mutter an den verirrten Sohn,« sprach Edel mit bebender Stimme.
»An den verirrten Sohn? Wieso, lieber Doktor?«
»Weil unsere materialistische Wissenschaft vollständig auf's Haupt geschlagen ist durch diese Aeußerung der wirklich existenten Geisterwelt.«
» Nego!« widersprach der Professor. »Was wir gestern Abend erlebt, ist durchaus nichts Neues. Das sogenannte ›Anzeichen‹ sterbender Menschen an weit entfernte Kinder, Verwandte und Freunde ist ja doch eine allgemein bekannte Thatsache. Es stirbt z. B. in Amerika ein Vater, und in dem Augenblicke seines Todes geschieht das Anzeichen mit der Schnelligkeit der Elektrizität in Europa bei der Familie des Gestorbenen. Seelentelegraphie, – natürliche Anwendung der Elektrizität, – weiter nichts.«
»Und wer ist in solchen Fällen Telegraphist, dazu ohne Leitungsdraht?«
»Naturgeheimniß, lieber Doktor – Naturgeheimniß, – vorläufig wenigstens, bis die Wissenschaft das jetzt noch unbekannte Agens erforschte.«
Unbeschreiblich abgeschmackt und lächerlich stand mit dieser Ausrede die physiologische Größe Dr. Uebel vor der gesunden Vernunft, und auch vor dem jungen Manne. Edels Schmerz und Bestürzung waren jedoch so groß, daß er jeden Widerspruch unterließ. Er hörte noch eine Weile das fade Gerede des Professors, ohne es zu verstehen; denn neben Schmerz und Entsetzen erhoben sich jetzt auch bergeshoch die Wellen der schwersten Vorwürfe und Anklagen, die über ihm zusammenstürzten. Er wandte sich um und verließ ohne Abschiedsgruß das Zimmer.
»Ganz weg, – ganz von Sinnen!« sagte der Professor. »Diese Geschichte ist in der That auch wirklich höchst seltsam, – dazu noch ärgerlicher und ominöser, als mir unverständlich.«
Dr. Edel kehrte nicht in seine Wohnung zurück. Wie von Furien gepeitscht, lief er aus der Stadt nach den öffentlichen Anlagen, deren Pfade und Wege mit gelben Blättern bestreut waren. Oft blieb er stehen, das Telegramm zu lesen, was in der Stunde wohl zwanzig Male geschah. Allein der Depescheninhalt blieb trotzdem der gleiche, er konnte den klaren Wortlaut nicht ändern und hinwegdeuten. Weßhalb Schmerz und Erbitterung des Vaters grenzenlos seien, wußte er genau. Sein Vater hatte die treueste Gattin verloren, – und er hatte die liebevollste Mutter getödtet; denn er war die Ursache ihres Nervenschlages. Seine Gedanken verwirrten sich immer mehr, die furchtbarsten Gewissensvorwürfe quälten ihn, und seine innige Liebe zur Mutter verwandelte sich für den Frevler in eine Hölle namenloser Peinen. So entstellt war sein Aeußeres, so unstät sein Gang, daß ihn Begegnende für einen Irrsinnigen hielten. Nirgends fand er Trost und Linderung für seine Qualen, nicht einmal in den Thränen; denn er gehörte zu jenen unglücklichen Menschen, die keine Erleichterung finden im Vergießen von Thränen. Er konnte nicht weinen und meinte, das Herz müsse ihm zerspringen.
Spät am Abend kehrte er heim, ohne zu essen und ohne in der folgenden Nacht auch nur einen Augenblick die Erquickung des Schlafes zu genießen. Mit dem nächsten Tage begann wieder das Umherirren. Seine Peinen wütheten fort in verstärktem Maße, und immer näher kam er dem Abgrunde der nackten Verzweiflung. Als er am Abend in kläglichem Zustande heimkehrte, genoß er mit Widerwillen, auf das dringende Zureden seiner Hauswirthin, etwas Speise; aber auch in der folgenden Nacht schreckten gräßliche Bilder und Geistesleiden von seinem Lager den Schlaf.
So trieb er es einige Tage. Der kräftige junge Mann war zusammengefallen und fast bis zur Unkenntlichkeit verändert. Er fühlte sich dem Tode nahe und wollte nicht sterben, ohne die Verzeihung seines Vaters. Er begab sich nach dem Bahnhofe, ohne Gepäck und ohne Abschied und fuhr nach Hause.