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Der bestrafte Lüstling

Dom Estobal y Poraja überrascht in seinem höchst spirituellen Werk »Über die Engel« in dessen 17. Kapitel die Leser damit, daß er jenem Edelmann, den man nur mit seinem Vornamen kennt und nennt, so ungewöhnlich ist sein Leben und Sterben unter allen seines Taufnamens ausgezeichnet – daß Poraja dem Don Juan den Aufenthalt nicht in der Hölle, wie man denken sollte, anweist, sondern im Himmel, weil, wie er sagt, der Lüstling hier weit entsetzlichere Qualen erleide, als je der Fürst der unteren Welt für seine Schuld hätte aussinnen können. Dom Estobals theologische Autorität ist nicht gering zu schätzen. Divination und logische Schärfe zeichnen ihn in so ungewöhnlichem Maße aus, daß ich, bevor einer anderen Anschauung über des Don Juan Leben nach dem Tode Ausdruck gegeben sei, mich verpflichtet erachte, die des spanischen Dominikaners mitzuteilen, um so mehr, als jenes Werk »De Angelis« von so großer Seltenheit ist, daß nicht einmal das Britische Museum ein Exemplar besitzt.

Ich las den lateinisch geschriebenen, im Jahre 1530 gedruckten Kodex mit Erlaubnis der Obern in dem Exemplar des Jesuitenklosters zu Cordoba unter sehr ungewöhnlichen Umständen, mit deren Erzählung ich aber meinen Bericht aus dem Buche nicht aufhalten will.

Als, so führt Estobal y Poraja aus, ein Engel des Herrn den Tod des Don Juan meldete, war niemand im himmlischen Paradies, der den Wüstling nicht gekannt oder von ihm gewußt hätte. Denn alle seine Sünden, Laster und Verbrechen hatten aus jenen, die darunter litten, Erwählte des Himmels gemacht, nicht ihrer Reinheit wegen, denn diese war in fast keinem Falle makellos, aber um der großen Leiden dieser Opfer willen. Alle waren da, wie sie Gott der Herr bei der Kunde herbeirufen ließ, Frauen wie Männer, bis auf einen, den Leporello, der im Fegefeuer bangte, weil er sein Leben lang weder was Gutes noch was Böses getan hatte, also nichts weiter als ein Feigling war, der sich nicht hatte entscheiden können.

Die vor Gottes Thron Versammelten erwarteten des Herrn Urteilsspruch, der den Wüstling in die unterste Hölle verdamme, und auch der Don erwartete es so, doch ohne Furcht, die er ja nicht kennt, auch vor Gottes Angesicht nicht.

»Als ob die Hölle sein wahres Vaterland, ja sein ihm von Rechten zukommendes Reich sei und Luzifer nicht sein Herr und Herrscher, sondern sein windiger Genosse und Spießgeselle, so erwartete er die Hölle als ein notwendig Unvermeidliches«, wie Estobal schreibt. Mehr noch, als daß er an der göttlichen Erbarmung verzweifelte, was schon, wie man weiß, eine Sünde wider den Heiligen Geist ist, die einzige, die nicht vergeben werden kann – mehr noch tat er: er verachtete das Mitleid, wollte es nicht, beugte sich nicht davor, so sehr reckte ihn sein verbrecherischer Stolz auf. Alle ergriff ein Schaudern, nur jene nicht, welche den Don Juan auf Erden gekannt hatten, denn diese erwarteten nur den hingeschleuderten Blitz aus des Herrn Auge. Der aber kam nicht. Denn es geschah dieses: Gott der Herr trat aus seinem tiefen Schweigen heraus, blickte voll Güte auf des Wüstlings frevelhaft aufgebäumte Seele und sprach in seiner unerforschlichen Weisheit die Worte:

»Juan, bleibe hier.«

Keiner glaubte, recht gehört zu haben. Die sanfte Klara flüsterte: »Er bei uns?«, und über Priscilla lief ein Schauder. Der Don selber rührte sich nicht, hielt das Wort des Allmächtigen für eine Art schrecklicher Falle. Erst ein Licht der Hoffnung, damit dann das Feuer der Verdammnis um so furchtbarer über ihm zusammenstürze. Und er lachte in seinem Innern über den Scherz, wofür er das Wort hielt, denn er hätte ihn, weiß Gott, ähnlich erfunden, wären die Rollen vertauscht gewesen.

Da schon aber sprach der Herr zum andern Male: »Juan, du wirst hier bleiben.«

Nun lockerte schon Unsicherheit Don Juans Seele, so daß sie bebte zum ersten Male: er verstand nicht. Für eine Seele wie seine war nicht zu verstehen eine bis nun nicht gekannte Erniedrigung. Daß er immer im Himmel bleiben solle als ein Verdammter, dieses erkannte er, denn er wußte, daß sich die göttliche Gerechtigkeit nicht selber verlassen könne. Es war also so, daß er als Verdammter im Himmel bleiben solle. Er wollte Gott fragen, aber das Schweigen Gottes ist dem Wesen nach undurchdringlich. Was es verbergen will, das bleibt verborgen.

Niemand vermochte die Gründe dieser göttlichen Entscheidung zu erkennen, die von einer unerklärlichen, ja ungeheuerlichen Nachsicht schien.

Also blieb der Don im himmlischen Paradiese und war da wie ein Fremder in einem Lande, dessen Sprache er nicht kennt, dessen Bräuche er nicht versteht, dessen Wesen ihm nie deutlich wird. Und es fiel eine ungeheure Langeweile auf ihn. Er litt unsäglich darunter, allseitig von Schönheit umgeben, und außerstande zu sein, diese Schönheit zu mißbrauchen, um sie zu zerstören. Als Elvira sich ihm nahte, erfüllte ihn Freude, denn er dachte sich nun an ihrem wohlgekannten Haß zu ergötzen. Aber die Stimme Elviras sagte lieblich zum Gruße: »Juan, mein Bräutigam!« Vergessen hatte er, daß er Donna Elvira die Ehe versprochen hatte, aber das Versprechen galt, und Elvira wußte es nicht anders.

»Ihr haßt mich doch, Elvira!« rief er.

»Ich?« sagte sie erstaunt und verstand in der ewigen Stunde nicht den Sinn dieses Wortes, den sie vielleicht auch auf Erden nie gekannt hatte. Sie wußte in ihrer faltenlosen, einfachen Seele nur dieses, daß Juan ihr geschworen hatte, sie zum Weibe zu nehmen, und daß sie nun an einem Orte mit ihm vereinigt sei, an dem sich jedes irdische Gelöbnis erfüllte.

»Aber ich habe dich beleidigt, Unglückliche, habe dir Schimpf angetan, dich mißhandelt – erinnerst du dich nicht?«

»Ich erinnere mich nur des einen, daß ich dich liebte. Alles wird vergessen, was Schmerz machte. Du warst entzückend, Juan«, sagte sie und lächelte in den Augen.

»Aber ich liebe dich nicht mehr! Keine, die ich liebte, und die hinter dir in langer Reihe stehen, keine, die ich je liebte, liebe ich, und habe keine je geliebt!«

Da kam von allen, die mit Elviren waren, eine Stimme: »Wir lieben dich, Juan, und können es ohne Sünde. Hier kann niemand sündigen.«

Hier kann niemand sündigen – das traf den Wüstling wie ein Schlag mitten zwischen die Augen. Also in diesem Reiche konnte er kein einziges Verlangen hervorrufen! In diesem Reiche konnte er keinen zu irgendeiner Sünde verführen! In diesem Reiche konnte er nicht sein, wie er war, und war doch in sein Wesen gezwungen geblieben!

Er hatte seine Verdammung verlangt, um weiter in seinem Wesen zu leben, Leid und Schmerz hervorzurufen, selbst um den Preis, selber Leid und Schmerz zu ertragen. Und nun war er bis ans Ende der Zeiten verdammt, in dieser schrecklichen Anschauung reiner Unschuld und sündloser Güte zu leben.

Zermalmt schrie er auf, daß der Himmel erbebte: »Der du Richter bist, von dem das Wort gesprochen ist, daß er ebenso zu strafen wie zu verzeihen wisse, du, der du ohne Schwäche bist, ich sage es dir: Ich habe gelogen, ich habe gestohlen. Ich habe getötet bei hundert Gelegenheiten und um einer Laune willen. Ich habe alle Frauen und alle Männer betrogen, die Kinder nicht verschont. Ich habe meinen König verraten, bloß um ihm nicht zu gehorchen, ich habe aus Trotz und Lust wie ein Schändlicher gelebt, und du hast mich unter die Auserwählten gesetzt! War es denn nichts, was ich getan habe? Was muß man tun, um die Feuer der Hölle zu verdienen? Was muß man tun?«

*

Über dem göttlichen Mund schwebte ein Lächeln, aber er öffnete sich nicht.

Und Don Juan riß sich aus dem Beben, das ihn vor diesem Lächeln erfaßt hatte, und rief:

»Und rührt es dich nicht, was ich an deinen Geschöpfen verbrach, so hör' dies: Es war, daß ich einmal spät in der Nacht in einen Ort kam, und es lüstete mich nach einem Weibe. Das junge Volk sei über Land zu einer Hochzeit, sagte man in der Schenke. Ich lief durch die dunklen Gassen und rief laut Frauennamen in die leere Nacht, rannte verschlossene Türen an, schlug an Fenster und rief Namen und schrie laut die Namen aller Dinge weiblichen Leibes. Schrie Brüste! Schenkel! O blondes Haar! und schlug mit dem Degen auf die Steine. Aber die Stadt war alles Lebenden wie tot. Da war auf einmal ein Licht, ein Lämpchen flackerte in einem Fenster, und hinter dem Lichte lächelte das Antlitz einer Frau, wie ich nie eine gesehen. Ich stand, starrte, dann sprach ich. Tief zog ich den Hut, daß die Federn im Staub schleiften, und bat: öffne, Allerschönste! Aber sie schwieg hinter ihrem Lichte, und es war, als ob sie lächelte. Ich rannte ans Tor. Verschlossen war es, gab nicht nach, wie ich auch hämmerte. Und wieder sprach ich, aber häßlichste Worte: Hurenkind, blondes, lächelnde Dirne, laß mich ein, mach auf, mach! ... Aber sie rührte sich nicht und lächelte immer hinter ihrem Licht. Schreckliche Flüche rief ich ihr ins Fenster, Schimpf wie dem elendesten Weibe. Bis mich die Tollheit packte und ich die Wand erkletterte, zum Fenster hin auf das Gesims, blutiger Hände nicht achtend, hing am Fensterrand, sah die lächelnde Frau hinterm Licht.

Es war das Bildnis der Mutter des Heilandes, vor dem die Ampel brannte! Ich habe deines eingeborenen Sohnes Mutter eine Hure genannt! Nun? Nun?«

Aber Gott der Herr entließ seinem Munde kein Wort, und er lächelte.

Da konnte der Don dem Beben, das über ihn wieder kam, keinen Einhalt mehr tun. Und es schien ihm Gottes Lächeln dies zu meinen, daß der Mensch, daß alle Menschen, und so auch er, so Geringes wären vor ihm, daß es nichtig wäre, was immer sie auch täten. Und von des Don Lippen kam eine leise Frage:

»Dann gibt es also Sünden, die ich nicht kenne?« Aber auch darauf ward ihm keine Antwort. Und dies ist, schließt der Dominikaner, die Strafe, welche die göttliche Gerechtigkeit dem Don Juan auferlegt hat: Bis ans Ende der Ewigkeit wird er dieses fragen, was an seiner ärgsten Sünde, seinem Stolze frißt, und nie Antwort bekommen: ob der Mensch, und auch er, ein so Geringes sei, daß er nichts vermag, nicht einmal zu sündigen.

*

Der sich darin gefiel, diesen etwas gotteslästerlichen Paragraphen einem harmlosen spanischen Dominikaner ins längst geschlossene Schuldbuch zu schreiben, dieser Herr unbestimmten Alters zwischen zwanzig und sechzig, der die kleine Ecke eines großen, mit tausend Dingen, nur keinen Schreibutensilien bedachten Schreibtisches benützte, um auf mit K.D. unter einer Freiherrnkrone monogrammierten Bogen veilchenfarbenen Briefpapiers den Don Juan in den Himmel zu bringen, dieser Herr Klemens von Disenberg erfüllte mit seinem Schreiben eine drängende Pflicht seiner ehemaligen Freundin Antoinette gegenüber, die ihm an eben demselben Tage brieflich ihren Entschluß mitgeteilt hatte, einem wenn auch jungen, so doch abwechslungsreichen Leben in dieser Welt Valet zu sagen und ins Kloster einzutreten. Nicht als ob Disenberg Antoinette mit diesem Briefe hätte von ihrem Entschluß abbringen wollen, er dachte ihr vielmehr den Weg zu den Karmeliterinnen zu erleichtern, indem er ihr zeigte, wie wenig Gott sich aus einem so schweren Sünder wie dem Don Juan mache, woraus sie sich sagen sollte, daß es für sie, die, wenn auch nicht tugendhaft, doch im Laster es sicher mit dem Don nicht aufnehmen könne, nicht nötig wäre, für derlei nichts als zerknirscht zu sein. Sein Liebeshandel mit Antoinette lag drei Jahre zurück. Ohne Nachricht war er seitdem gewesen. Gerüchte, die ihm zu Ohren kamen, paßten zu Antoinette, durften also fast die Wahrheit sein, Wahrheit, die er ohne besonderes Interesse vernahm, und die, auch wenn sie interessanter gewesen wäre, Klemens kaum bewegt hätte. Nun sah er sich auf einmal durch die Mitteilung Antoinettes in einem Leben wichtig genommen, wo es ihm erst nicht ohne Mühe gelang, sich überhaupt an einzelnes zu erinnern, doch deutlich bis ins einzelne auf einmal alles wurde, als er einen Zettel gelesen hatte, der Antoinettes Brief beigelegt war. Antoinette war neben ihm auf dem englisch geschorenen Rasen gelegen, der den kleinen Parkhügel, geformt wie eine Frauenbrust, überzog, und Duft ihres Leibes, Parfüm des Haares, vermengt mit dem Geruch der Erde und des Grases, wehte über ihn, daß er dachte, ... die Essenzen aller Jahrhunderte ... eingetrocknete Mumie einer Katze ... Nil ..., und leichthin huschte eine vage Frömmigkeit durch seine Seele, den flüchtigen Gedanken heraustragend, daß sommerlichhafte Wärme zur Simplizität disponiert mache. Er strich mit dem linken Ringfinger Antoinettes Oval vom rechten Ohr zum Kinn, und sie schmeichelte seine Wange an ihre hin. Alles ist es immer miteinander, dachte er, es wird ihnen schwer, den Frauen, ihr Verschiedenes zu trennen, Schwester, Geliebte, Mutter sind sie in jedem Akt.

»Schlafen Sie nicht ein aus Höflichkeit«, sagte da Antoinette, und er antwortete sofort, rasch und viel sprechend, um ihr seine wache Gegenwart zu ihr eindringlich zu zeigen.

»Ich könnte Sie mit einer sehr großen Ehrlichkeit unterhalten, Ihnen zum Beispiel sagen, daß Ihr Haar in dem Grün noch viel goldiger ist, Ihr Ohr, in das ich flüstere, eine kleine rosenfarbige Muschel, und überhaupt, daß Sie sehr schön sind, Antoinette. Und doch möchte ich über meine Freude, über meine Lust an all diesem aus Verachtung meiner Freude jetzt sehr gerne lachen. Ich sehe Ihre jungen Brüste durch den Stoff, ich sehe die gleitenden Hüften und sehe, was die Lust des Mannes ganz besonders anzieht. Ich würde davon nicht sprechen, sähe ich nicht in dieser banalen Nacktheit das Symbol meiner Freiheit. Als Gaston de Foix in den Krieg zog, in dem er fiel, biß er seine Geliebte in das Kinn, um ihr seine schmerzliche Furia, seine vergehende Intelligentia zu bezeigen. Genau das gleiche wäre es, genau die gleiche Geste wäre es, schöbe meine Hand Ihnen Rock und Jupon hoch und fieberte über dem Knie. Genau die gleiche Geste wie der Biß ins Kinn. Die Indezenz drückt das Mitleid der allgemeinen Ideen aus, den göttlichen Schrecken der Welt.«

Antoinette wurde noch glühender von den Worten, die sie hörte, und ihre Glieder fanden wie aus sich selber den besonderen Pli der Zärtlichkeit. Der Park um den berasten Hügel versank, von ihm blieb nichts als der Fleck, auf dem sie mit Klemens lag, und darüber war der Himmel, eine Kuppel aus blauem Metall. Ganz ferne wo in der Welt bellte Antoinettes Hündchen auf, das seine Herrin vermißte. Die spürte nun ihren Leib liegend nicht mehr, aber durch dessen Glieder es wie Schnurren einer Katze, und die Brüste hart gespannt, daß sie an den Spitzen sehr angenehm schmerzten. Zwischen ihren Zähnen sein Haar. Beider Unbewußtheit sank auf den tiefstmöglichen Punkt, wo Antoinette als erste so viel Bewußtsein erraffte, daß sie rasch zwei Knöpfe aufspringen machte. Und es geschah ihr zum ersten Male, daß sie ihr Erröten über verliebtes Wesen nicht wie sonst und immer damit verschleierte, daß sie die Situation ins Dekonzertierende und damit ins Lasterhafte brachte. Zum ersten Male vollzog sie schönste Pflicht mit dem delikatesten Takt.

So deutlich wurde Klemens mit einem Male aus dem fast ganz Versunkenen dieses Abenteuers Landschaft, Situation, Wort, Geste, Unaussprechbares, nachdem er den Zettel gelesen hatte, der Antoinettes Brief beilag, und den er ihr geschrieben hatte, er wußte nicht mehr, ob nach jenem panischen Mittag im Park oder nach einer Nacht. Er hatte geschrieben: »Antoinette, Du wirst noch oft aus Schlampigkeit sündigen, wirst Dich dem X. Y. aufs Knie setzen, und er wird Dir ins Ohr sehr schmutzige Propositionen sagen, sehr natürliche, aber darum sehr unnatürliche. Doch Du bist in der Gnade, denn einmal hast Du das Sakrilegium mit der eifervollsten und reizendsten Frömmigkeit begangen. Dein Kl.«

In Antoinettes Brief stand noch folgendes:

»Du sagtest einmal, daß eine Liebe, die nicht traurig ist, nicht glücklich sei. Und daß eine Intelligenz, die nicht wollüstig ist, nicht traurig sei. Und dann sagtest Du auch noch: ›Küsse und Sophismen, Meditationen und Flirt, Ironie und Zärtlichkeit: – der Glaube läßt es zu, daß unser Herz unter den köstlich schwersten Gewichten vernichtet wird.‹ Und noch eines Satzes erinnere ich mich von Dir: ›Wir müssen uns bis auf die letzte Faser unserer Person ignorieren, das ist unsere Aufgabe.‹ Nun, ich bin so weit, der letzte Schritt geschieht morgen, und die Aufgabe ist erfüllt.«

Über Disenberg war eine starke, nervöse Spannung gekommen, die weder, wie er sich sagte, mit den sentimentalen Souvenirs einer alten Liebesgeschichte noch mit dem Entschluß einer jungen Dame, ins Kloster zu gehen, in Verursachung gebracht werden konnte. Spurlos war die Geschichte geblieben, Erinnerung, die drei Jahre her nie akut lebendig geworden, was konnte daher das Auftauchen eines Namens jetzt solche Bewegungen in ihm hervorrufen? Jetzt, wo jenes Abenteuer durch den Zufall eines aufbewahrten, nicht verlorenen Zettels für einen Moment wohl ganz deutlich geworden war, um aber doch gleich darauf ins Indifferente irgendeines einmal Geschehenen zu sinken? Er ordnete das vergangene Stück des Tages, fand nichts darin im Tage vorher, das die seltsame Unruhe, die in ihm fieberte, begründete. Das noch vor ihm liegende Tagesstück enthielt nichts, was ihn erregen könnte, die von ihm gesuchte Banalität eines Teebesuches bei Eusapia, den er nicht mehr zu machen dachte, da es zu spät geworden war, später eine Vorstellung chinesischer Tänzerinnen, die er mit Freunden besuchen wollte, und von der er sich nichts versprach, eine durchaus befriedigende Nachricht von seinem Vermögensverwalter, die Temperatur im Hotelzimmer normal, der Winterhimmel klar und ohne Gewitterwolken, wie er sich durch einen Blick aus dem Fenster überzeugte, die Aussicht aus dem Fenster in die Bäume des Zoologischen Gartens, die Hotelbediensteten vom Tage seiner Ankunft an leise und unaufdringlich ihren Dienst besorgend, – was nur, was war es nur, das ihn mit solcher unerträglichen Hochspannung erfüllte, daß ihn wunderte, aus Papier, das er angriff, knisterten nicht Flammen? Er hatte nach den mit Don Juans Himmelfahrt beschriebenen Blättern gefaßt, und er verstand nicht. Wie war er nur darauf gekommen, dies niederzuschreiben als Antwort auf die Mitteilung einer fast vergessenen jungen Dame? Als Antwort auf eine gar nicht von ihr gestellte Frage? Wer war es also, der ihn um Don Juans Schicksal gefragt hatte? Und wem hatte er diese Antwort gegeben?

Zwei, drei in der Tat ungewöhnliche Zufälle hatten Klemens dazu gebracht, vom Glauben das beste Teil, wie er sagte, den Aberglauben, bedingungslos zu behalten. Und warf ihn immer dann ins Spiel, wo er sich, wie er sagte, ohne Atouts zu spielen gezwungen sah und damit meinte: wo alle rationalen Gründe für die Erklärung versagen, eine Erklärung aber doch, von den Nerven sozusagen, gefordert wird. Disenberg glaubte an Ahnungen, Vorbedeutungen, Verkettungen, kosmische Einflüsse, die Sterne, ja an die Spinne am Morgen, wenn er sich in dem erbitterten Kampfe um gute Gründe für das Einfachste erliegen sah. Für das Einfachste, denn nur dies ist rätselhaft. Das Komplizierte ist immer durchschaubar. Klemens läutete. Man möge ihm den Abendanzug herauslegen. Und ob jemand nach ihm gefragt habe.

»Noch nicht.« Die Antwort frappierte ihn. Er hatte, ganz schon im Unerwarteten lebend, vergessen, daß er beim Eintritt ins Hotel schon die Frage getan hatte, ob jemand nach ihm gefragt habe. Das »Noch nicht« der Person ist das Nevermore im Gedicht von Poe, wußte er. Dieser sonst so kühl verständige und skeptische Herr von Disenberg war in einem Zustande, daß er das Firmenschild irgendeines argentinischen Importeurs oder Zahnarztes, Estobal y Poraja, am Nachbarhause seines Hotels, wäre jetzt, wo er daran vorbeiging, sein Blick wie am vorigen Tag daraufgefallen, daß er den Namen des Schildes, gleichzeitig erschreckt und versichert, für ein »Zeichen« gehalten hätte.

*

Es war mitten während eines Tanzes der Lu-Lung-Ming-Truppe, daß Klemens von Disenberg wie fortgetrieben den Pavillon Bleu verließ, auf die in dichten Schneefall gehüllte Straße eilte und ein vorbeifahrendes Taxi mit Hallo stehen machte. Während er auf den Wagen zueilte, merkte er, daß von der anderen Seite der Straße her, und mit raschen Laufschritten das etwas größere Stück Weges zu bewältigen suchend, eine Gestalt dem angerufenen Wagen zustrebte. Rechts und links wurden die Türen geöffnet, zugeknallt, und von beiden Gästen in dem kurzen Moment des Einsteigens dem Fahrer zugerufen: »Eden-Hotel.« Der Wagen fuhr los.

In normaler nervöser Verfassung hätte Disenberg, ausgehend vom Zufall des gemeinsamen Zieles, eine freundliche Unterhaltung mit dem Fremden begonnen, der, nachdem er um seine und seines Nebenan Knie eine Pelzdecke geordnet hatte, sich schweigend in die Ecke drückte. In normaler nervöser Verfassung hätte dieses wie selbstverständliche Gehaben des Eindringlings in seinen Wagen, selbst in Anerkennung der späten Stunde und des gemeinsamen Zieles, Disenberg vielleicht zu einem herausfordernden »Pardon!« gereizt. Aber sein Zustand war ungewöhnlich, und so nahm er das Ungewöhnliche wie ein Selbstverständliches hin, ja, es überraschte ihn nicht einmal, als der Fremde das Licht im Kupee aufknipste und er wahrnahm, daß er sich nicht, wie vermeint, in einem Taxi, sondern in einem Privatwagen befand. Automatisch höflich meinte er nur:

»Mißverständnis meinerseits.«

»Es ist alles ganz in Ordnung«, hörte er die Stimme des Fremden aus der Ecke, auf den er nun den Blick wandte, um das durch nichts weiter auffallende Gesicht eines Herrn in mittleren Jahren zu sehen, dessen Blässe aus einem dunklen Bart auf Lippe und Kinn und Wangen fast weiß schimmerte. Die Augen lagen im Schatten. Der Seidenhut spiegelte matte Reflexe.

Disenberg hielt seinen Namen zu nennen jetzt für gegeben.

»Ich weiß«, sagte der Fremde und fuhr, wie um gegen das Unpassende seiner Bemerkung kein Wort möglich zu machen, gleich rasch fort: »Entschuldigen Sie, wenn ich den Anschein, irgendein zufälliger Herr zu sein, der mit Ihnen zufällig im selben Wagen zum gleichen Hotel fährt, zu erhalten mich nicht bemühe. Es ist nämlich von einem Zufall gar keine Rede. Es ist, leider, leider alles ganz, wie sage ich, abgekartet und in Ordnung. Ich brauche Ihnen meinen Namen nicht zu sagen, so wenig wie Sie mir den Ihren sagen mußten. Wir kennen uns!« Und eindringlich wiederholte der Fremde: »Wir kennen uns doch.«

Nicht wie eine Frage, sondern als ob es sich um eine im Augenblick vom andern seltsamerweise vergessene Tatsache handelte, wurde der Satz gesprochen und wiederholt, und Disenberg war es, als ob er in der Tat genau wußte, wer dieser Fremde sei, dessen Namen ihm nur plötzlich entfallen, da er ihn doch vor ganz kurzer Zeit gewußt nicht nur, sondern des öfteren wiederholt hatte. Er fand sich wie in eine Landschaft gestellt, die er nicht an da und dort deutlich Werdendem, an Baum, Haus und Weg erkannte, sondern an den Nebeln, die über ihr lagen. Das Unfaßbare wurde ihm vertraute Wirklichkeit, die Wirklichkeit völlige Fremdheit. Das Auto hielt vor dem Hotel. Man stieg aus, und der Fremde warf dem Chauffeur ein kurzes Wort zu. Spanisch natürlich, empfand Disenberg, der nur einen Klang vernahm. Das Auto glitt weg.

»In die Bar noch, nicht?« sagte der Fremde. Nachdem der Barkeeper die beiden einzigen Gäste bedient hatte, nahm er hinter der hohen Theke den unterbrochenen Schlaf wieder auf.

Das irisierende, grau in grünlich schimmernde Licht in dem hohen, aber schmalen Räume erschien Disenberg bewegt, als ob es atmete, und seine Augen suchten einen festen Punkt, trafen aber immer nur auf spiegelnde Reflexe von Metall, Glas und Marmor. Irgendwo in der Höhe mußte wohl die Lichtquelle sein, und er warf den Blick etwas schmerzhaft zur Decke, die eilends flüchtete, als ob er sie mit seinem Blick jagte. Da fiel ihn ein lebhafter Angriff von unten her an. Der andere hatte das rotverhängte Licht einer kleinen Stehlampe aufgeknipst. Der schwankende Raum versank, und Disenberg fand sich alsbald völlig gesammelt und komfortabel in seinem weichen Lederstuhl.

*

»Die sympathische Phantasie Ihres spanischen Dominikaners würde ein himmelblaues Licht eher erwarten lassen als das höllische Rot dieses Lampenschirmes, das übrigens den wahren Sachverhalt nicht einmal symbolisch beleuchtet. Denn höllisch ist meine etwas desperate Unsterblichkeit höchstens in einem übertragenen und gar nicht im orthodoxen Sinn, mein Lieber. Daran ändert auch nichts, daß sie im Ablauf der Zeiten manchmal einen sozusagen diabolischen Akzent bekommt, den aber weniger meine Person spürt als vielmehr meine Umgebung, wie Sie in diesem Augenblick, oder meine anderen Nachfahren und Enkel ihn spürten, deren ich mich, eine besondere Laune des göttlichen Gerichtes, zu Zeiten immer wieder zu bekennen verdammt bin. Ja, verdammt, wie ich mehr persönlich als in pathetischer Wiederholung eines hohen Urteils sage, denn das Vergnügen dieses Bekenntnisses ist gar nicht auf meiner Seite. Ich glaube, es ist auch nicht auf der andern. Aber vielleicht bei Gott, der über die Situation lachen mag. Er hat einigen Sinn für den Humor seiner Welt oder hat ihn im Lauf der Zeit bekommen. Meinen Sie nicht?«

Disenberg blickte wie einer, der hört, aber nicht zuhört, dem Gegenüber mitten zwischen die Augen, wo die Brauen einander fast berührten in einer fein ausgezogenen schwachen Linie. Auch wenn er gewollt hätte, wäre ihm keine Zeit zu einer Antwort, kaum zu einem Ja geblieben, denn das Gegenüber sprach ohne Aufenthalt weiter.

»Es macht einen wenig angenehmen Eindruck, daß ich nur spreche, ich weiß. Aber ich kenne Ihre Fragen alle, bevor Sie die Worte dafür bereit haben. Erstaunen Sie nicht über Ihre Schweigsamkeit, lieber Herr von Disenberg. Was Sie von mir hören, wird Ihnen wie ein Selbstgespräch vorkommen, das Sie führen.«

Disenbergs Lippen machten ein kleines Lächeln. Aber daß er nicht sprach, dessen natürliche Ursache fand er in seiner körperlichen Müdigkeit und dessen einfachen Grund darin, daß es ihm als das Selbstverständlichste der Welt vorkam, diesem Herrn begegnet zu sein und ihm gegenüber in einer Bar zu sitzen. Er hatte eine solche Gewißheit des Vorwissens alles dessen, was jener ihm sagen würde, daß ihm, so kam es ihm vor, zu fragen gar nichts eingefallen wäre. Da er nur einen Monolog zu sagen behauptet, ich aber wieder genau weiß, was er sagen wird, – wer und was ist es nun, das spricht und das gesprochen wird? Disenberg schloß die Augen, um es zu sehen.

»Es ist schon recht lang her, daß ich auf den Apparat verzichtet habe, den Sie vom Theater her kennen. Ich trete gewissermaßen nicht mehr darin auf. Verführungen, Küsse, nächtliche Flucht, heimliche Treppen, insidiöse Zusammenkünfte, Entführungen, Maskenbälle, Bankette, Champagnerarien, – das war ich natürlich gar nicht. Mein fataler Mythus ist der Wüstling wider Willen. Denn ich träumte als Knabe von der Liebe als Heiligtum, in das ich als Mann eintrete. Aber sie kam nicht. Sie blieb ein Wort. Nie fühlte ich eine jener Regungen, die den Mann erblassen lassen. Nie den Schauder, den, wie man sagt, himmlischen, beim Anblick einer Frau. Mich besaß die Macht des Verlangens, aber ich besaß nicht das Vermögen der Liebe. Ich konnte Frauen besitzen, konnte es erreichen, daß sie mich liebten, aber es war mir versagt, daß auch nur für eine Sekunde mein Herz zitterte, meine Seele sich bewegte. Anfangs versuchte ich es auf alle Weisen. Glaubte zu der Liebe zu kommen, indem ich so tat, als empfände ich sie. Ich wurde dadurch nur in allen Künsten der Sinne geschickter. Ich redete alle Worte, tat alle Gesten, bildete alle Blicke, wie ich sie bei den Liebenden wahrnahm, im Glauben, aus Worten, Gesten, Blicken würde mir das Gefühl kommen. Tausend Male wiederholte ich zu tausend Frauen das zärtlichste Geständnis, den heißesten Schwur, die tollsten Worte. Ich küßte, seufzte, stand lange, nächtliche Stunden, in den Mantel gehüllt, unter Fenstern, das Licht erwartend, schrieb sinnlose Briefe, zwang mich zu Tränen, vergoß Blut der Nebenbuhler, verlobte mich feierlich, – aber es war alles ganz vergeblich. Ich bekam nur einen sehr schlechten Ruf. Aber nicht das Gefühl der Liebe. Aus der leidenschaftlichsten Umarmung hätte mich jeder Anruf sofort lösen können, denn ich war nur – verstehen Sie – bei der Sache, aber nie bei der Liebe. Bei dem ersten Dutzend Frauen glaubte ich, es läge an den Frauen. Bei dem hundertsten Dutzend glaubte ich, es läge an der Frau. Und es gab noch viele darunter, die meinethalben weinten, Schande ertrugen, sich das Leben nahmen. Ich sah in ihre Augen, blaue, schwarze, graue Augen der wilden Leidenschaft, Augen der seligen Agonie, Augen liebender Anbetung, und ich sah immer nur den Reflex meiner empfindungslosen, klaren, kalten Intelligenz. Ich habe jede Frau in jedem mir passend erscheinenden Augenblick ohne geringstes Bedauern verlassen können. Ich war der legendär Untreue, Unbeständige, auf der Suche nach dem Beständigen der Liebe. Ich bin der Vielgeliebteste, und es gelang mir niemals, zu lieben. Wessen Gott mich strafen wollte, als er mich vom Teufel holen ließ, dies liegt in der Unergründlichkeit seiner Ratschlüsse, wie mir einer meiner Söhne sagte, der Mönch geworden war. Ich mußte ihn und alle andern treffen, wie ich Sie treffen mußte, Sie, Herr von Disenberg, meinen letztentsprossenen Sohn. Ihre Mutter liegt weit zurück ... Sie, wie die meiner anderen Söhne, die zu treffen mir auferlegt ist, ich weiß nicht, um mich vor ihnen zu schämen, oder sie zu warnen ... Jener Mönch predigte mir Buße. Ich brachte ihn, der bisher keusch gelebt hatte, unter Frauen. Er unterlag und tat darauf ein Furchtbares am eigenen Leibe. Ein anderer zerrte mich in das Labyrinth seines Denkens und bewies mir, daß ich gar nicht leibhaft existierte, sondern nichts weiter sei als das Symbol für die Liebe zum Wechsel, so eine Art ewiger Jude in der Liebe. Et tu, fili?«

Disenberg war von einer etwas öden Nüchternheit erfaßt worden, und er sagte mit einer Korrektheit des Tonfalles, der ihn überhöhen sollte seinem Partner gegenüber:

»Mir erscheinen Sie im Augenblick wie ein sehr junger und wenig begabter Schriftsteller, der sich interessant zu machen sucht mit ganz abgebrauchten Mitteln.«

Don Juan lächelte.

»Vielleicht ist es deshalb, daß ich Sie treffen mußte, um Sie daran zu erinnern. Oder sollten Sie nie ein solcher junger Mann gewesen sein? Ich sagte Ihnen ja, daß ich Ihren Monolog spreche.«

»Dann ist er, wenn überhaupt, sehr veraltet, mein sehr verehrter Herr ...« und Disenberg tat, als suchte er den vergessenen Namen. Und als der andere keine Miene machte, ihn zu ergänzen, fuhr er fort:

»Mir ist es jetzt, als hätte ich Sie schon einmal gesehen. Bei einem Ball in Berlin W. Es sollte ein Kostümfest sein. Aber natürlich kamen alle Herren im Frack. Nur einer erschien kostümiert – als Don Juan. Es machte einen etwas komischen Eindruck, denn Sie benahmen sich sehr echt, nicht zum Entzücken der Damen, denen Sie etwas zu derb begegneten. Sie blieben nicht lange und entfernten sich etwas tumultuös, nicht wahr?«

»Ganz richtig erinnern Sie sich. In einem Nebenraum intonierte Ihr stadtbeliebtester Bariton ›Reich' mir die Hand, mein Leben‹, und ich flüchtete in die Mägdekammern. Ich weiß, ich werde als Amant immer ridiküler in der fortschreitenden Demokratie. Den alten Adel meiner Fähigkeit schätzen nur mehr die Mädchen aus dem Volke, und bei den Damen der Gesellschaft falle ich durch, immer öfter. Da ich selber nicht liebe, muß ich geliebt werden. Und das bringen die Damen immer seltener fertig. Die guten Sitten der Gesellschaft verlangen die Liebe als Schutzmantel, um die Dehors zu wahren.

Ich stehe zu nackt da, mit meinen krassen Appetiten, kann sie selbst kaum decken. Wie erst die eines Paares! Die Kammerzofe legt weniger Wert darauf. Noch weniger die Köchin. Weil sie liebt. Nur Frauen, die lieben, können ihr Glück mit mir machen, indem sie unglücklich werden. Verzeihen Sie die Abgeschmacktheit der Formulierung, die Sie wieder an den jungen Schriftsteller erinnern kann. Aber was wollen Sie, mein Lieber? Ich bin nicht mehr so großartig, wie ich war. Ich erliege, in den Zeilen weiterlebend, dem Auf und Ab der Zeiten, bin ungewöhnlich wie sie, gewöhnlich wie sie. Aber nie außerzeitlich. Ich falle nie auf. Ich heiße heute Anton Meier, wie ich im spanischen Jahrhundert Don Juan y Vargas hieß. Wollen wir uns morgen abend hier wiedertreffen? Ich bringe Sie in interessante Gesellschaft.«

Er erhob sich, reichte Disenberg die Hand, und war, bevor der ihm hätte folgen können, die auf einmal ungewöhnlich in Spiralen sich drehende Hoteltreppe hinauf verschwunden.

*

Herr von Disenberg ließ sich noch einen Cocktail reichen und gab seiner etwas pedantischen Neigung nach, das eben Erlebte auf eine vernünftige Formel zu bringen, denn alles müsse man so erledigen, daß es brauchbar werde, wie eine Leitersprosse, auf der man sein Leben in Gottes Namen zu Ende klettere, ohne unangenehme Abstürze bei fehlenden, gut formulierten Erkenntnissen. Er fand, daß der Don Juan sich für den ersten Auftritt noch etwas von seiner alten Verve erhalten habe, alsbald aber rasch enttäusche und sich als ein altmodischer Herr mit Seele ausweise, der am besten daran täte, seine dicke Köchin zu heiraten und in eine kleine Stadt zu ziehen. Diese weinerliche Enträtselung seines Sinnes, als geborener Wüstling die Liebe zu suchen und nie zu finden, war französische Romantik der dreißiger Jahre und Tagebuchaufzeichnung des sechzehnjährigen Konfirmanden, der erschüttert von einer alten Prostituierten kommt. Und diese Flunkerei mit den Söhnen! Daß er immer der Zeit konform werde, diese seine wichtigste Bemerkung erklärt seine Banalität, und dies dürfte wohl auch die himmlische Strafe des Wüstlings sein, schlimmer als Höllenqualen und als die Vermutung des spanischen Mönches. Der Don Juan von 1925 heißt Anton Meier: welche Posaunen könnten schrecklicheres Urteil donnern? Welcher Mann sein Leben mit den Frauen teilt, verliert es in zunehmender Lächerlichkeit. Damit mir dieses mehr als bloß einsame Wissen werde, dazu war mir der Don Juan Meier erschienen. Zur Warnung, wie er selber sagte. Disenberg wußte sich erst am Anfang seiner asketischen Karriere. Darum entfuhr ihm ein kleiner Seufzer, als er sich nun erhob, sein Bett aufzusuchen.

*

Bei ihrer Ankunft im Palais Kormons bemerkte der Don zu Disenberg, daß sie sich verspätet hätten. Die Gäste seien bereits im Theatersaal, in dessen Dunkelheit sie von einem Lakaien in die erste Reihe zu ihren Sitzen begleitet wurden. Allsofort hob sich der Vorhang, und Disenberg sah die Bühne als einen Salon. Er hatte den der Einladung beigelegten Personenzettel des Stückes »Die Zahl« flüchtig gelesen. Die Damen und Herren auf der Bühne nahmen den schwarzen Kaffee, standen, saßen und unterhielten sich in Gruppen, und aus dem Schwirrenden löste sich manchmal ein Wort: »Niynski ... Hindenburg ... 380 PS ... Rilke ... Südsee ... Gulu Manieh ... Das Stück spielte im Hause eines Barons von Lussignan, wie sich Disenberg des ungewöhnlichen Namens wegen gemerkt hatte, und der war es wohl, der, am Kamin stehend, in die schwirrende Unterhaltung hinein plötzlich laut das Folgende sagte: »Die Liebe ist ein Akt ohne jede Bedeutung, da man ihn beliebig oft wiederholen kann.«

Peinliches Schweigen. Darauf die Frau von Paladina: »Ich glaube, es zieht hier.«

Frau von Alpha: Es scheint mir eher schwül.

Lussignan: Ich spreche ganz ernsthaft, meine Herren. Die Liebe ist ein Akt ohne jede Bedeutung, da man ihn beliebig oft wiederholen kann.

Frau von Paladina: Ich dachte, sie sei ein Gefühl ...

Der Bankdirektor: Wenn man, was ich sonst und besonders geschäftlich nie tue, den Dichtern trauen kann, ist sie allerdings ein Gefühl.

Lussignan: Vielleicht, verehrte Baronin. Es kommt nur darauf an, sich darüber zu einigen, was ein Gefühl ist.

Der Domherr: Ein seelischer Eindruck. Motus in bonum conveniens – oder in bonam, verehrte Gnädige.

Der Arzt: Man muß den englischen Assoziationsphilosophen etwas entgegenkommen und sagen, das Gefühl sei eine sich abschwächende oder abgeschwächte Sensation.

Lussignan: Ein verminderter Akt, also überhaupt kein Akt mehr.

Der General: Also, mein lieber Lussignan, demnach würde also der sozusagen realisierte Akt die Liebe ausschließen.

Der Domherr (beugt sich zur Tänzerin): Gähnen Sie ungeniert, Teuerste.

Lussignan: Nein. Der Akt schließt die Liebe durchaus nicht aus.

Der Bankdirektor: Ein?

Der Domherr (zur Baronin Paladina): Verstecken Sie sich hinter Ihren Fächer, daß Sie nicht erröten, Teuerste.

Frau von Alpha: Ich glaube, es paßt sich nicht ganz. Oder?

Lussignan: Die Liebe schließt sich dann nicht aus, wenn dem vollendeten, vollbrachten Akt ein andrer folgt, der gerade so viel Sentiment bewahrt, daß er sich nicht sofort vollzieht.

Der General: Es kommt also, wie immer, auf die Distanz an.

Der Bankdirektor: Und also in den Zwischenräumen der Distanz die sogenannte Liebe.

Der Arzt: Ich möchte bemerken, daß die Wiederholung des Aktes zu einer Vergiftung der Gewebe führt, was man im Effekt Ermüdung nennt.

Lussignan: Die Wiederholung macht gewöhnt und geübt, lieber Doktor.

Der General: Es ist wie mit hundertmal großer Kniebeuge?

Die Tänzerin: An die Gewehre! Eins! Zwei!

Lussignan: Zählen Sie weiter, mein Fräulein, weiter bis ans nie zu erreichende Ende der unendlichen Zahlenreihe.

Frau von Paladina: Menschliche Kraft –

Lussignan: Hat keine Grenzen, genau wie die Zahl.

Der Bankdirektor: Die Umstände sind einem Beweis nicht gerade günstig. Auf den Beweis käme es aber doch schließlich an.

Der Arzt: Wollen Sie, lieber Lussignan, damit sagen, daß es Organe gibt, die fast gleichzeitig arbeiten und ruhen und derart die Illusion geben, nie still zu stehen? Der Domherr: Sagen wir das Herz, um in anständigen Gefühlen zu bleiben.

Der Arzt: Nie still zu stehen, außer beim Tode?

Lussignan: Es genügt, eine endlose Arbeit sich vorzustellen. Die Zahl der Systolen und Dyastolen eines Menschenlebens übersteigt jede vorstellbare Zahl.

Der Arzt: Aber das Herz ist ein sehr einfaches Muskelsystem.

Frau von Alpha: Nur das?

Der Bankdirektor: Der Motor meines Autos steht still, wenn er kein Benzin mehr hat.

Der Arzt: Man könnte immerhin auf der Basis von Strychnin und Alkohol ein Nährmittel herstellen, das den Menschen instand setzt...

Der General: Wie?

Der Arzt: Ja, einen Nährstoff, den man in Pillenform schluckt, und der die menschliche Maschine –

Frau von Paladina: Wir sprachen vom Herzen und der Liebe, Herr Doktor!

Lussignan: Wir sprechen davon, Baronin.

Der Arzt: Sicher sind die menschlichen Liebeskräfte unendlich, man muß nur wissen, bei welchem Punkte das männliche Geschlecht, ja, bei welchem Punkte der unendlichen Zahlenreihe der Mann das Unendliche ansetzt.

Der Domherr: Ich erinnere mich, daß der ältere Cato sich bis zur Zahl zwei erhob, aber das war einmal im Winter und einmal im Sommer.

Die Tänzerin: Liebe Eminenz, das war aber der ältere Cato, vergessen Sie das nicht.

Der Domherr: Er war sechzig.

Der General (sehr träumerisch): Das ist viel.

Die Tänzerin: Ich hoffe, Sie verwechselten die Ziffern, mein lieber General.

Der General: Also ich muß sagen, ich finde es kolossal.

Die Tänzerin: In den Travaux d'Hercule von Terasse bietet der König Lydiens dem Alkiden für eine Nacht seine dreißig Töchter an. Er singt sehr hübsch:

Dreißig für einer Nacht so lange Frist,
Verzeih, daß es so wenig ist.

Der Bankdirektor: Singen singt sich das leicht, würde man in Czernowitz sagen.

Der Domherr: Lohnt nicht die Mühe.

Lussignan: Getan zu werden, Eminenz! Waren es wirklich nur dreißig?

Der Domherr: Wenn mich meine klassischen Erinnerungen nicht täuschen, so heißt es bei Diodorus Siculus: Hercules una nocte quinquaginta virgines mulieres reddidisse.

Frau von Alpha: Das heißt?

Der Bankdirektor: Fünfzig, meine liebe Baronin.

Der General: Fünfzig Jungfrauen, Donnerwetter.

Lussignan: Derselbe Diodorus erwähnt noch einen gewissen Proculus, Eminenz, der sich hundert sarmatische Jungfrauen geben ließ und vierzehn Tage verlangte ad constuprandum.

Der Domherr: Caput Tertium Tractati De Vanitate Scientiae.

Der Arzt: In Tausendundeiner Nacht besitzt ein Prinz vierzigmal in vierzig Nächten vierzig kleine Mädchen.

Die Tänzerin: Das sind so orientalische Phantasien.

Der Domherr: Ganz recht, Teuerste. Im Koran rühmt sich der Heide Mohammed, die Stärke von sechzig Männern zu besitzen.

Die Tänzerin: Außerdem sagt das noch gar nicht, daß er sechzigmal lieben konnte.

Der Bankdirektor: Es ist wie beim Poker. Nur nicht so ernsthaft.

Der General: Ah was! Wie wir Anno fünfzehn in Serbien einmarschiert sind –

Der Bankdirektor: Aus.

Der General: Wie?

Der Bankdirektor: Ausmarschiert wollen Sie sagen.

Der General: Also war's ein Jahr darauf. Wie wir da einmarschieren mit klingendem Spiel, stehen die serbischen Weiber reihenweise in den Dörfern und warten nur. Was nämlich die serbischen Männer sind, also nicht soviel wert, sag' ich Ihnen.

Frau von Alpha: Ich habe meine Tochter hier, General.

Der General: Die Unterhaltung mit ihren Zahlen, Gnädige ...

Helene (Frau von Alphas siebzehnjährige Tochter): Die Herren reden von Geschäften?

Frau von Alpha: Geh ein bißchen in den andern Salon, mein Kind!

(Helene geht langsam in eine Fensternische.)

Frau von Paladina: Diese Zahlen ... Ich weiß nicht, aber sie kommen mir, wie soll ich sagen –

Der General: – so platonisch –

Frau von Paladina: – nein, so technisch vor. Was meinen Sie, Herr Doktor?

Der Arzt: Wir hatten im Spital einen Idioten, der sein ganzes Leben lang – und er lebt heute noch – überhaupt nichts anderes tat, ohne Unterbrechung, nur tat er es mit sich allein.

Die Damen: Wie schrecklich! Pfui! Abscheulich. Der Arzt: Das erklärt viel. Ich meine, die zelebrale Exzitation erklärt alles.

Frau von Paladina: Sie meinen, die Frauen verhindern die zelebrale Exzitation oder kürzen sie zumindest ab?

Der Arzt: Ich sagte Ihnen schon, Baronin, es war ein Idiot.

Die Tänzerin: Wenn Sie von seinen zelebralen Kapazitäten sprechen, war er doch nicht so sehr Idiot, wenigstens nicht in dieser Hinsicht.

Der Arzt: In diesem Fall, Verehrteste, ist das Hirn mehr das Rückenmark.

Lussignan: Das Rückenmark dieses Menschen besaß Genie.

Der Bankdirektor: Aber sagen Sie, lieber Doktor, wie ist es denn außerhalb der Irrenhäuser und Idiotenanstalten?

Der Arzt: Soweit man hier erfahrungsgemäß Kenntnis besitzt, hat man hier neun- oder zwölfmal in vierundzwanzig Stunden beim männlichen Individuum konstatiert.

Der Bankdirektor: Was sagen dazu Ihre behaupteten unbegrenzten Fähigkeiten, Herr von Lussignan?

Der General: Da bin ich schon sehr gespannt. Lussignan: Ich kann die wissenschaftliche Anschauung nicht teilen. Die Wissenschaft stützt sich auf Aussagen der Wilden, die nur bis zehn zählen können, nämlich an ihren Fingern, aber damit viel mehr meinen. Es ist meine Überzeugung, daß man den höchsten bekannten Rekord schlagen kann.

Frau von Alpha: Der ist?

Lussignan: Siebenzigmal und öfter an einem Tage. Theophrast, Plinius und Athenaios berichten von ihm. Es war ein Inder.

Der Domherr: – Septuaginta coitu durasse libidinem contactu herbae cuiusdam. So steht's bei Theophrast, der hier den Plinius zitiert.

Lussignan: Im zwanzigsten Kapitel des neunten Buches der Historia Plantarum: »Mit Hilfe eines Krautes.«

Der Bankdirektor: Das Kraut sollte man kennen. Die Gründung darauf zahlt tausend vom Hundert Tantiemen.

Der Domherr: Cuius nomen genusque non posuit, heißt es weiter. Es tut mir leid für Sie, Herr Direktor, aber man kennt nämlich diese einträgliche Pflanze nicht.

Lussignan: Das mit der Pflanze ist natürlich Interpolation eines schüchternen Kopisten, der den Geist der Leser vor einem zu lebhaften Stupor bewahren wollte.

Die Tänzerin: Mein Gott, ob mit oder ohne Kraut –

Der General: Dazu braucht es nur eine flinke Zunge.

Die Tänzerin: Wie in Serbien, General?

Lussignan: Der bekannte Baron Münchhausen hat alles das getan, was er erzählte. Diesem glaube ich durchaus.

Der Arzt: Auch daß er sich bei dem zu kurzen Sprung mit dem Pferd in der Mitte des Sprunges umdreht und sich an den Absprung zurückbringt, daß Roß beim Schweif?

Der General: Früher hielten die kavalleristischen Ordonnanzen bei »Habt acht!« das Pferd immer beim Schweif.

Der Arzt: Darum handelt es sich nicht, General. Aber das Stück des Barons Münchhausen stellt alle physikalischen Gesetze auf den Kopf.

Frau von Paladina: Aber was hat das Pferd, Schweif und der Baron mit der Liebe zu tun?

Der Bankdirektor: Das kann man nie wissen.

Lussignan: Wenn es erstaunlich ist, daß sie ihm passiert sind, so ist es doch viel weniger erstaunlich, daß man ihm seine Erlebnisse nicht geglaubt hat. Und das war übrigens ein Glück für den Baron. Er hätte inmitten der neidischen Welt kein angenehmes Leben gehabt, hätte man ihm geglaubt. Man hätte ihn für alles Unerklärte verantwortlich gemacht, für alle unerwarteten Ereignisse, für alle unentdeckten Verbrechen.

Der Arzt: Man hätte ihn wie einen Gott verehrt.

Lussignan: Da man ihm aber nicht glaubte, genoß er die allergrößte Freiheit, alles zu tun, was ihm beliebte, auch Verbrechen, denn der allgemeine Unglauben verschaffte ihm jedes Alibi.

Frau von Paladina: Und Sie, lieber Lussignan, waren Sie schon nah daran, es diesem entzückenden Baron nachzumachen?

Lussignan: Ich habe nachher nichts zu erzählen, verehrteste Gnädige, da ich unglücklicherweise zu jenen gehöre, die nur Abenteuer erleben, die zu erzählen sich nicht lohnt.

Frau von Alpha: Wann erzählen Sie dann?

Der Bankdirektor: Vorher, liebe Baronin.

Lussignan: Erzählen? Was bitte? Und vor was?

Die Tänzerin: Ich halte mich an das Glaubhafte.

Frau von Paladina: Aber es ist ganz hübsch, das andere immerhin auch in der Phantasie zu behalten. Wenn man es auch nicht glaubt, so ist die Vorstellung doch angenehm.

Der Domherr: Meinen Sie? Das Vergnügen ist mäßig. Wollen wir eine kleine Promenade in den Park machen?

Der Bankdirektor: Auch wenn es draußen heiß ist, wird es immer kühler sein.

(Und die letztgenannten drei gehen in den Park.)

Die Tänzerin: In den Reden über die Sache liegt ein Selbstverrat.

Der Arzt: Das anzunehmen, liebe Teresita, liegt zu nah, als daß es hier stimmte. Allgemeine Psychologien sind nämlich immer falsch, wenn man sie braucht. Hier ist sie auch aus anderen sicheren Gründen falsch.

Frau von Alpha: Glauben Sie?

Und auch diese drei begaben sich nach rückwärts, um in den Park zu gehen. Es erhebt sich, um ihnen zu folgen, der General und sagt: »Also, der alte Cato, es ist doch kolossal, wenn man so denkt ...«

Lussignan und Helene sind allein, und Helene geht auf ihn langsam zu und sagt mit ihrer kindlichsten Stimme: »Ich glaube an den Inder.«

Hierauf geht sie den andern nach in den Park, während sich Lussignan lächelnd eine Zigarette anzündet.

Da fiel der Vorhang.

Da fiel ein Vorhang, doch nicht vor Herrn von Disenberg, der sich, als es plötzlich hell wurde, ganz nah vor einem großen Spiegel sitzend fand, in dem er wahrgenommen hatte, was hinter ihm gespielt wurde. Er wandte sich um und erkannte, was er als Bild auf der vermeintlichen Bühne gesehen hatte. Nur war jetzt der Salon leer, bis auf den Don – war er es? Oder war es nicht Herr Lussignan? – der, an den Kamin gelehnt, eine Zigarette rauchte.

»Sie waren nicht zu erwecken. Jetzt ist es zu spät geworden, als daß ich Sie noch zu Kormons bringen könnte, Herr von Disenberg. Es geht auf zwölf.«

Disenberg erkannte nun den Salon des Hotels. Aber geschlafen und geträumt zu haben, dessen war er nicht ganz sicher.

»Auf morgen, nicht wahr?« hörte er noch des Don Stimme, der im Labyrinth der Korridore verschwand.

Geschlafen und geträumt zu haben, war er nicht ganz sicher. Doch um das Gesehene und Gehörte für einen höllischen Spuk zu halten, dazu hatte Herr von Disenberg zu großartige Vorstellungen von der Hölle, zu der die Harmlosigkeit dieses Aktes nicht paßte. Er griff in die Tasche, fand die Einladung zu Kormons und den Theaterzettel »Die Zahl«. War man doch dort gewesen? Aber wie zurückgekommen?

*

Herr von Disenberg entschloß sich, die Einladung in den Salon der Frau Eusapia anzunehmen. Da er den Spanier nicht mehr anders verständigen konnte, sandte er ihm die Einladung durch den Portier des Hotels, der sie sofort zu erledigen versprach. Aber Disenberg erwartete den Don Juan vergeblich. Es gab einwandfrei berühmte Leute unter den Geladenen, wobei auffallen konnte, daß sie, wenn sie überhaupt redeten, im Memoirenstil sprachen. Da war der wienerische Entdecker der Frauenseele, im Arrangement seines stark ergrauten Haares noch immer als solcher kenntlich, im Ausdruck des Gesichtes eine kleine Melancholie, die sich selbst genoß. Da war der Dichter der deutschen Nation, dem eine opponierende Jugend alles weggestrichen hatte bis auf die deutsche Landschaft, deren Dichter zu sein sie ihm konzedierte. Da war ferner der Dichter, der den leisen krankenschwesterlichen Ton permanenter Rekonvaleszenz gefunden und perenniert hatte. Ferner der Romancier der großen Liebespassionen und erotischen Exotismen des Schreibtisches, ein etwas dicker, gelblicher Herr verquollenen Gesichtes. Da war das rustikale Ingenium der erschütternden Monumentalität im Ausdruck der banalen Leidenschaften. Ferner – doch es soll nicht die Neugierde auf Porträts nach dem Leben erweckt und befriedigt werden, weshalb genüge, daß neben diesen und anderen älteren Herren des deutschen Parnasses auch ein linker, jüngerer Flügel da war, der zumeist das Wort führte. Neben den Berühmten unter diesen gab es auch weniger Berühmte. Und schließlich die üblichen Notwendigkeiten: hohe Militärs und Dekolletées. Die Herren waren etwas erstaunt über den Eindringling, waren sich mit einer ganz klein wenig gespielten Liebenswürdigkeit aber doch auch der Ehre bewußt, die sie Klemens damit erwiesen, daß er bei ihnen Zutritt gefunden hatte. Selbstverständlich erfüllte sie gegen ihn jene Verachtung, die bekannte Leute gegen unbekannte empfinden. Ich folge dem Berichte des anwesenden Herrn J. Benda, der genau sein dürfte.

Die Unterhaltung ging über das Neueste und Letzte in einem gewissen stenographischen Jargon, über den Disenberg nicht weiter erstaunte, da ja auch, wie er sich sagte, die Schlosser ihr Vokabular haben, auf das sie stolz sind. Was bei den Reden der Jüngeren auffiel, waren die wissenschaftlich-philosophischen Prätensionen dieser Belletristen, die von Integration der Phänomene, von spezifischen Mentalitäten, vom Elan vital und von Minimis und Maximis sprachen, allerdings mit einer verdächtigen Leichtigkeit des Wortes, ein Effekt des obligatorischen Schulunterrichtes. Übrigens konstatierte Disenberg, was er in ihren Schriften gefunden hatte auch in ihrem Sprechen: die stärksten Worte wurden in ihrem Munde ganz schwächlich und matt. Die ganz und gar berühmten älteren Nationaldichter begnügten sich damit, bei der lebhafteren Unterhaltung der jüngeren nur als schönes Beispiel für das von denen Gesagte zu wirken, indem sie manchmal ein Wort in das Gespräch hineinnickten, welches Wort so geschickt gewählt wurde, daß es immer passen konnte. Der Gebrauch aller der vielen philosophischen Worte ließ Disenberg erkennen, daß sie dazu dienten, die wenigen Ideen der Herren zu verbergen. Die Worte schlotterten wie zu weite Kleider. Darum haben diese Autoren auch einen so frühzeitigen Stillstand ihres Geistes. Sie können außerordentlich leicht die Worte ihrer einen Idee ändern, aber sie halten diese Wortänderung der einen Idee für neue Ideen.

Noch ein Seltsames fiel auf. Diese ganz deutlich zu dem Buche, dem diskursiven Denken und der Wahrnehmung durch Berichte verdammten Menschen, deren Arbeit ganz beamtenhaft geordnet, deren Lebensführung ganz bürgerlich mit Weib und Kindern geregelt war, bekannten bei jeder Gelegenheit, wie sie nichts so sehr verachteten als den Intellektualismus, und wie sie nichts so sehr verehrten als »Die Leidenschaft«, »Das Unmittelbare«, »Die Bewegung«, überhaupt alles, was sich die Intelligenz noch nicht integriert habe. Bekannten in ausgesprochenen Worten und zwischen den Zeilen ihres Redens nichts mehr zu lieben als »Das Leben«, wie die Frauen dieser Männer das Wort aussprechen und einem dabei in die Augen schauen mit den Augen angewandter Bacchantinnen. Diese Verehrung des Lebens ging so weit, daß man völlig gedankenlose Sachen zu sagen riskierte, Sachen, wie sie alle Welt sagt; und Disenbergs vierzigjährige Tischdame erklärte mit bedeutungsvoller Kühnheit im Blick, eine gute Zirkusnummer sei mehr wert als alles, was man denken könne. Die Gesellschaft tanzte trunken in und auf dem Leben. Daraus kam auch ihre Haltung ihrem Metier gegenüber. Man lobte sich nicht, man tadelte sich nicht. Und wohl weniger aus gutem Geschmack, als weil man schafft und nicht bewundert, wofür es eine andere Welt gibt. Übrigens erlaubten sie sich von Zeit zu Zeit das Wesen einer bewundernden Kraft und schufen einen großen Mann, wobei sie sorgfältig genug waren, ihn nicht allzu erniedrigend auszuwählen. Doch zog man es dann doch lieber vor, solche bewundernde Kraft und solche Größe einem Denker zu schenken, Einstein zum Beispiel oder Husserl. Das Gespräch wandte sich der Politik zu, und jemand sprach patriotisch vom Patriotismus. Disenberg fühlte in der Gesellschaft eine Opposition gegen den Sprecher und seine Partei und riskierte darum die Bemerkung, daß ein sieghafter Monarch weniger daran denke, den Sieg seines Volkes zu proklamieren, als die Würde seiner Klasse zu retten, denn er wird zu dem geschlagenen Monarchen sagen: »Mein lieber Cousin, Sie sind mein Gast.« Die Opposition griff das lebhaft auf, und eine junge Dame erklärte, daß sie sich einer Französin, die ein Badezimmer habe, weit verwandter fühle als einer Bulgarin, die keins besitze. Und Disenbergs Nachbarin sagte ihm, daß das Vaterlandsgefühl als ein wenig natürliches Gefühl unausgesetzt der Stimulierung bedürfe, die man doch in der Liebe zum Beispiel durchaus nicht brauche – wenigstens nicht bei den Frauen. Ein älterer Romancier perorierte nun, daß, wenn auch das Klassengefühl unmittelbarer sei als das des Vaterlandes, so bestünde eben die moralische Erhebung oder Steigerung darin, dieses unmittelbare Gefühl zum Schweigen zu bringen zugunsten eines anderen, komplexeren Gefühls. Worauf man ihm wieder sagte, daß das Fehlen dieser Steigerung die Stärke der Arbeiterklasse sei, und daß übrigens die Glorifizierung der komplexen Gefühle, das heißt also der intellektualisierten, ein Verrat am starken Leben sei. Die andern ripostierten durch den Mund eines höheren Militärs, der, wie man sagte, Simmel gelesen haben sollte, daß die Klasse das Bewußte sei, das Vaterland aber das Unbewußte. Und der Romancier: Das komplexe Gefühl bedeute Gefühl eines dem Sein verwurzelteren Ichs, eines fundamentaleren Ichs. Was jemanden zu der Bemerkung veranlaßte, daß ein fundamentaler gefühltes Ich nichts mit der moralischen Elevation zu tun habe, sondern diese nur mit einer besseren Kenntnis seiner selbst verbunden sei. Man versuchte nun den Sprecher in Verwirrung dadurch zu bringen, daß man das Bewußte mit dem freien Willen vermengte und ihn anklagte, er behaupte, der Mensch tue das, was er wolle; aber der Sprecher ließ sich nicht verwirren, indem er erklärte, daß in normalen und flachen Zeiten das Bewußte unsere Handlungen determiniere, während das Unbewußte in Zeiten der Krise aktiv werde, so bei Individuen wie bei Völkern. Und da es im Leben eines Menschen höchstens zwei oder drei Krisen gäbe und im Jahrhundert eines Volkes auch nicht mehr, so könne man schließlich, auch wenn es die Romantiker nicht zugeben, sagen, daß das Bewußtsein die Menschen in ihrem Tun leite.

Beim Aufbruch in den Salon sprachen nur mehr die Militärs vom Patriotismus, und zwar vom militärischen Standpunkt aus; die Herren in Zivil wurden, weil jemand auf dem Klavier einen Schönbergschen Akkord angeschlagen hatte, in ein Gespräch über die Musik geworfen. Und da einige gleichzeitig, vor dem Bild eines deutschen Picasso stehend, von Malerei sprachen, entstand eine Debatte über die Hierarchie der Künste. Die einen fanden die Malerei ausdrucksstärker, die andern die Musik. Am Thema wie an dessen Behandlung machte sich die Wirkung der genossenen Liköre leise bemerklich. Eine Dame sagte, daß sie nach den ersten Tönen des »Tristan« drei Tage im Bett zubringen mußte; eine andere sagte, bei Matisse hätte sie das gleiche tun müssen. Jemand meinte, daß dies vielleicht auf einen Unfall im Atelier des Malers zurückzuführen sei, man verstauche sich so leicht den Fuß. Alle sprachen gleichzeitig. Da sagte jemand, man würde durch Präzision leicht zu einer gemeinsamen Meinung kommen. Diese Anmaßung schuf Schweigen. Worauf Disenberg, einer dogmatisierenden Neigung folgend, ausführte: »Wir verwechseln und vermengen zwei durchaus verschiedene Sachen: das Kunstwerk und die Materien der Künste, Farbe und Ton; das heißt einerseits Gegenstände, welche unsere sublimierteste Empfindung, nämlich die ästhetische, berühren wollen, und anderseits Gegenstände, die nichts als unser nervöses System erregen wollen. Über den Unterschied unserer ästhetischen Emotionen vor einer Symphonie oder vor einem Bilde kann man diskutieren; aber über die Verschiedenheit unserer nervösen Erregungen vor einem Ton oder vor einer Farbe sind wir, glaube ich, alle darin einig, daß ein Ton weit erregender ist als eine Farbe.« Darauf hörte man Zustimmungen wie diese, daß den Neurasthenikern wohl die Musik, aber nicht die Museen verboten seien. Daß man eine Frau wohl durch die Musik, aber nicht durch die Farbe zu Fall bringen könne. Daß es Menschen gäbe, die einen physischen Widerwillen gegen den Ton hätten, aber nichts ähnliches hinsichtlich der Farbe bekannt sei. »Ich kann über einen Geigenstrich weinen, bitte, machen Sie mich mit dem Indischgelb Ihrer Palette weinen.« Ein Verteidiger der absoluten amusikalischen Superiorität rief: »Jetzt brauchen Sie mir nur noch den Hund zu zitieren, der bei Musik heult, was er bei Bildern nie tut.« Man akzeptierte sofort auf der Gegenseite den Hund als Beweis. »Also«, fuhr einer los, »Sie erklären die Musik für die materiellste, sinnlichste, niedrigste Kunst?« – »Jedenfalls ist es die Musik, welche die Dinge enthält, welche am besten unsere niedrigsten Instinkte befriedigen. Ihre heutige Verbreitung und Beliebtheit hängt damit zusammen. Sie ist anzunähern der Theaterwut, der Skandalwut, der Schnelligkeitswut, der Liebes- und Frauenwut. Damit hängt ihre Beliebtheit weit stärker zusammen als mit irgendeinem Bedürfnis nach künstlerischer Emotion.«

Hier hatte der Sprecher alle gegen sich. Was er da für einen Unterschied zwischen der Sensation und der künstlerischen Emotion mache? Ob denn die Sensation nicht der Beweis der künstlerischen Emotion wäre? Einer entwickelt ganz rasch den Ursprung des Wortes ästhetisch. Und ein anderer erklärte, wer seine Sensationen zu raffinieren verstünde, sei ebenso ein Künstler wie der große Maler oder Musiker. Worauf Herr Klemens sagte, der Betreffende sei nur ein geschickt empfindender Mensch und nichts weiter, denn die Kunst der Sensation sei nie eine Sensation der Kunst. Der Beweis der künstlerischen Emotion sei eine Idee, eine Idee des Gleichgewichts, der Konvenienz, der Vollendung, der Wahrheit und welche sonst in ihnen das Kunstwerk hervorruft, und die bei besonderen Menschen, die sehr selten sind, eine besondere Emotion erzeugt, welche man die künstlerische Emotion nennt.

Diese aristokratische Doktrin rief einiges Unbehagen hervor, das aber rasch von der Sicherheit vertrieben wurde, zu diesen besonderen und seltenen Menschen zu gehören. »Und da nun«, fuhr Disenberg fort, »die Musik durch ihre Allmacht über die Nerven sehr leicht die Bildung jeder Idee verhindern kann, so kann man von diesem Standpunkt sehr gut in ihr eine untergeordnete Kunst sehen.« Ein Aufschrei: »Also dann wäre Wagner, der uns mit seiner Musik jedes Urteil nimmt, der niedrigste Künstler?« »Der größte vielleicht«, sagte Disenberg, »weil er, die verwirrendste Materie handhabend, nie die Ideen des Gleichgewichts und der Ordnung aus dem Gesicht verliert. Was jene betrifft, die seine Musik lieben, so ist das allerdings eine andere Affäre.«

Ein kurzes Schweigen, das dem Satz folgte, unterbrach einer: »Die Musik ruft in uns Ideen hervor, welche die andern Künste nicht hervorrufen, nicht?« »Ganz sicher«, sagte Klemens«, es fragt sich nur, ob diese Ideen höhere sind. Die der Musik eigentümliche Idee scheint mir die der metaphysischen Existenzen zu sein. Ein musikalischer Satz scheint ein metaphysisches Wesen zu sein, ich meine, frei zu sein von den Hauptbedingungen der materiellen Existenz; er scheint nicht im Raum zu sein und scheint diese ungewöhnliche Bedingung zu erfüllen, ein Wesen zu sein, ohne ein Gegenstand zu sein, genau wie die Gegenstände der Mathematik. Deshalb wohl lieben die sogenannten positiven, die ›seriösen‹ Leute die Musik nicht, Goethe und die großen Liebhaber der sichtbaren äußeren Welt haben wenig oder nichts für die Musik übrig. Auch die Stolzen nicht, was immer sie auch sagen, so Napoleon nicht, und die großen Tenore nicht; einer solchen irrealen Sache allzulang hingegebene Neigung scheint ihnen eine Negation der konkreten Existenz zu sein, im Grunde nämlich ihrer eigenen: sie fürchten durch die Musik ihr Vergessenwerden, den Verlust ihrer Bedeutung. Auch die berühmten Liebenden, ich meine die Liebespaare, machen sich nichts aus der Musik, jene wenigstens, welche in der Liebe einen Gegenstand greifen wollen und nicht einen Zustand suchen, welch letztem mehr die Wollüstigen als die Liebenden leben. Es gibt nämlich plastische Liebhaber, welche den Akt lieben, und musikalische Liebhaber, welche den Zustand lieben. Die Frauen finden sehr viel Geschmack an den musikalischen Liebhabern. Aber sie wären untröstlich, wenn es keine andern gäbe. Tristan hat sicher die Musik geliebt, um es an einem Beispiel klar zu machen. Und Valmont und Julien Sorel liebten sicher die Musik nicht. Da nun die Musik selber ein metaphysisches Wesen scheint, kann sie metaphysische Wesenheiten auch besser und eher ausdrücken, ich meine Arten, welche die andern Künste nur ausdrücken können durch Fixierung in einem Objekt. Musik sagt Traurigkeit, Ruhe, Bewegung, während die Malerei nur sagt Traurigkeit einer Figur, Ruhe eines Waldes, Bewegung eines Baches.«

»Die Musik sagt das Unbedingte«, rief ein junger Kenner ästhetischer Handbücher. »Sie kann das Bedingte überhaupt nicht ausdrücken«, sagt ein anderer. Ein dritter: »Das ist ihre Überlegenheit.« Ein vierter: »Das ist ihre Inferiorität.« Die meisten aber: »Das ist ihre Superiorität.« Klemens sagte: »Es ist weder das eine noch das andere, es ist ihre Besonderheit.« Eine junge Dame sagte: »Bergson hat festgestellt, daß, sowie man einmal die Bewegung ergriffen habe, man durch einfache Diminution die fixen Punkte fände.« Darauf Disenberg: »Ja, er sagt es, aber er macht es nicht. Sowie er einmal die Bewegung ergriffen hat, die Bewegung des ›Lebens‹ zum Beispiel, den ›Elan vital‹, so geschieht es durchaus nicht durch eine ›Dimunition‹ oder sonst irgendeine Änderung, daß er die lebendigen Formen findet, sondern dadurch, daß er entschlossen aus dieser Wahrnehmung der Bewegung heraustritt und in jene Form eintritt. Das Gesetz der Formation der Zahlen kennen, bringt nie dazu, die Form einer Zahl zu kennen, zum Beispiel 3 oder 4 mit ihren Besonderheiten. Übrigens sagt Ihnen Bergson auch, daß zwischen Aufhalt und Bewegung kein gemeinsames Maß besteht. Wie soll also eines zwischen Bewegung und Aufhalt bestehen? Der Pfeil ist nicht in Bewegung, weil er sich in jedem Zeitteil auf einem determinierten Punkt befindet.«

Man stimmte Klemens zu. Der aber schloß: »Und sehen Sie, genau das Gegenteil ist der Fall: der Pfeil ist auf keinem Punkte determiniert, weil er in Bewegung ist.« Er sagte statt das Reziproke ›Gegenteil‹, um ihre Jugend zu schonen.

Einige begaben sich in den zweiten Salon. In diesem Augenblick waren die Meinungen über Disenberg fertig. Die ganz Berühmten oder fest Arrivierten waren gegen ihn: er hatte zu sehr das Gespräch geführt. Die weniger Berühmten überlegten, ob sie mit ihm zu reden haben würden oder nicht. Die noch unberühmten jungen Leute und die Frauen waren für ihn. Er selber vermied für den Rest des Abends jede Ideation, unterhielt sich im liebenswürdig Beiläufigen zufälliger Worte und Dinge. Nachdem er gegangen war, richtete man ihn. Alle Parteien fällten das gleiche Urteil unter verschiedenen Formulierungen. Die einen fanden ihn pedantisch. Die andern instruktiv. Die erstern streitsüchtig und rechthaberisch. Die letztern analytisch und subtil. Einem der Herren fiel gar nichts über ihn zu sagen ein, weshalb er mit Entsetzen im Gesicht erklärte, daß er ihn nie mehr zu sehen wünsche.

*

Es war spät nachts desselben Tages und in der Bar, als Don Juan zu Herrn von Disenberg sagte: »Mit Ihrer Aufstellung betreffend mein Verhältnis zur Musik hatten Sie nicht unrecht, mein lieber Freund. Ich habe Ihnen ja auch zustimmend zugenickt, als Sie die Bemerkung machten, aber Sie haben weder das noch mich gesehen während des ganzen Abends, denn ich habe diesmal wirklich ausgehalten, so schwer es mir auch wurde, und mich nicht gleich zu der Zofe geschlichen, wie dieser verkommene Zeitabschnitt meiner Natur zu tun heißt. Ich habe um Ihretwillen ausgehalten und mich damit beschäftigt, Ihrem etwas theoretischen Verhalten das nötige Relief zu geben, damit Sie bei den anwesenden Damen nicht verlieren, die Sie so nicht mehr für einen Privatdozenten der Liebe, sondern für, nun ja, für einen Don Juan halten werden, der es nicht sein möchte, aber sein muß. Einen zu sich selber widerspenstigen Don Juan. Und das ist das beste Fliegenpapier für das weibliche Flatterzeug dieser Zeit. Meine Ganzgewöhnlichkeit macht das Übernatürliche meiner Existenz unwahrscheinlich, ich weiß. Mephistos Künste in Auerbachs Keller kann ich Ihnen nicht vorführen, wenn Sie darauf Wert legen sollten als Beweis meiner außermenschlichen Natur. Aber ich kann dort sein, wo Sie sind, und Sie merken mich nicht, ich kann denken, was Sie denken, und Sie wissen es nicht. Das Wunderbare ist wie alles andere in den Erscheinungsformen variabel. Sie haben Eindruck bei den Damen gemacht. Ich stellte es fest, als Sie fort waren und ich Ihre Stelle vertrat. Sie können mir glauben, daß ich Ihren Ton traf. Er ist mir geläufiger als Sie denken. Man sprach natürlich von der Liebe, natürlich von der heutigen, die sich zum sexuellen Bedürfnis verhält wie etwa die Gourmandise zur Ernährung. Natürlich glaubten die Damen, es hätte immer das gegeben, was man heute Liebhaber nennt, wie andere meinen, daß es Bankiers seit jeher gebe. Dann sprach man von bestimmten Linien, welche zur Liebe einladen. Man einigte sich auf die Kurve, insofern sie die Negation des Winkels ist, welcher Trennung der Richtungen, also Abneigung ausdrückt. Ging ich im Gespräch nicht Ihre Spur? Aber fürchten Sie nicht, daß ich auf dem Gegenstande der Unterhaltung bestand oder auf dessen seriöser Behandlung. Objektiv vor Frauen von der Liebe sprechen ist unpassend. Besonders die Frauen in den Vierzigern geniert das. Und die meisten Damen Ihrer Gesellschaft oszillierten um diese Quarantäne. Auch die Hausfrau, allerdings nicht dem Kalender nach.«

»Haben Sie mit ihr gesprochen?«

»Sie besitzt wenig Geschicklichkeit, oder sie will berühmt werden. Vielleicht kompensiert sie das erste mit dem andern. Unsere kurze und von ihr etwas unvorsichtig geführte Unterhaltung fand ihr Ende damit, daß Sie übermorgen mit ihrem Gatten sich auf Pistolen schießen werden, mein guter Disenberg. Aber ich werde wie bei der Dame so auch vor dem Herrn Ihre Person vertreten, betrauen Sie also nicht mich mit dem Amte eines Zeugen. Wie wünschen Sie ihn erledigt? Ein Stich durch den Arm wird der Dame Ihres Herzens sicher genügen.«

Herrn von Disenberg fiel eine andere Erledigung ein, aber schon sprach der Don es aus:

»Sie wollen für tot auf dem Kampfplatz bleiben, unbekümmert um die Unannehmlichkeiten, die dem Herrn Gegner daraus entstehen? Und blieben aber dennoch am Leben, nicht wahr, denn der Stich wäre nur durch ein Gespenst gegangen.« Der Don verzog das Gesicht.

»Auf irgendeine Weise müssen Sie doch wieder zur Hölle fahren«, sagte Disenberg lächelnd«, und ich denke, dies ist ein nobler Weg, der Ihnen und der zu Ihnen passen würde.«

»Sie vermuten noch zuviel Spanien in mir, lieber Freund, aber das hat sich abgekühlt. Wenn ich darauf eingehe, mich als Klemens von Disenberg von diesem armseligen Gatten totstechen zu lassen, so wird, was tot daliegt, als totgestochener Baron Disenberg begraben und aus den Büchern des Lebens, als da sind Polizeimeldungen, Steuerregister, Impfämter, Paßämter, Wählerlisten, gestrichen. Und Sie sind dann so tot, als ob Sie tot wären. Sie sind amtlich nicht auf der Welt, also nicht vorhanden. Sie kämen in eine fatale Situation, nämlich gar keine.«

»Vielleicht wünsche ich das gerade«, sagte Klemens und dann wie zu sich selber redend: »Wer von uns beiden der Spuk ist, kaum könnte es in diesem Augenblick ein Dritter entscheiden. Wissen wir es selber? Man liegt in langem Tode wie ein Maulwurf unter der Erde, der manchmal einen Hügel aufwirft, der dann das Leben heißt. Nicht das ewige Leben, sondern den ewigen Tod haben wir. Das Leben ist Aufschrei in diesem Schlaf. Aber Sie werden morgen mit den Vorbereitungen Ihres Duells zu tun haben, Don, und übermorgen früh –«

»Werde ich in Ihrem Namen und mit ihm sterben.«

Und der Don verging, verrann in ein blasses Nebelgespinst. Der Barkeeper staunte nicht im mindesten darüber.

*

Disenberg schrak aus tiefem Schlaf. Im bleichen Morgen stand des Don Juan schwarze Gestalt zwischen Bett und Wand.

»Ich komme, mich von Ihnen zu verabschieden. In einer halben Stunde werden mich hier meine Zeugen abholen. Leben Sie wohl.«

Disenberg richtete sich auf.

»Ja, ja, es ist schon so. Wir haben es ja gestern nacht abgemacht. Sie erinnern sich doch. Das Duell wird für Sie weiter keine Folgen haben, mein Lieber, wenn man mich auch für den toten Herrn Klemens vom Platze schafft. Es scheint schon einmal so beschlossen, daß der brav bürgerliche Tod im Bette, umstanden von den trauernden Angehörigen, mir nicht zukommt und ich immer einen fatalen Abgang haben muß, wenn ich von einem Schauplatz abtrete, nur davon, nur vom Orte, nicht aus der Zeit. Denn die ewige Zeitlichkeit, dies ist, wenn Sie wollen, meine Höllenstrafe.«

»Darf ich Sie zum Frühstück bitten«, fragte Disenberg und langte nach der elektrischen Klingel.

Der Don hielt den Arm auf. »Lassen Sie. Es ist nicht mehr Zeit dafür. Ich muß Ihnen ja noch den Faden Ihres Lebens wiedergeben, den ich mir für diese Tage angeeignet habe. Sie werden ihn kaum erkennen. Er hat eine andere Farbe bekommen. Aber dem menschlichen Witz stehen so viele Philosophien zur Verfügung, sich das Mysterium des Lebens plausibel zu machen, daß es Ihnen nicht schwer sein wird, weiter zu leben, auch wenn Sie einmal tot sind. Oder nehmen Sie es in dem ganz banalen Sinn des Abtuns eines Lebens, um ein anderes zu beginnen. Oder in dem andern, daß, was Sie bisher gelebt haben, gar nicht Sie waren, sondern wer anderer, ich zum Beispiel, und daß Sie jetzt sozusagen zu sich kommen in dem Augenblick, da ich Ihnen die verschlißne Maske abnehme, die Sie tragen und die nicht die Ihre, sondern mein Gesicht war. Oder begeben Sie sich in eine andere Vorstellung, etwa die religiöse, und kombinieren Sie Sünde, Strafe und Lossprechung. Es fällt Ihnen wie Schuppen von den Augen. Sie erkennen das Licht, das in der Finsternis leuchtet. Sie erwachen in einen neuen Tag. Und es ist Ihr Geburtstag. Es könnte doch sein, daß an dem Tage, an dem Sie sterben, Sie in das Leben eingehn. Erscheine ich Ihnen nicht wie ein Erlöser? Nehme ich nicht Ihre Schuld auf mich? Erleide ich nicht um Ihretwillen das, was Sie den Tod nennen?«

An die Tür schlug ein leises Pochen. »Es sind die beiden Zeugen«, sagte der Don. Und als ob den Widerstrebenden und in sich Zusammenkrampfenden eine erbarmungslose Faust zwänge und ihm die Hand führte, streckte er diese über Disenbergs Stirne und machte darüber das Zeichen des Kreuzes. Und fuhr alsbald wie von Feuer gebrannt zurück und hin zur Tür, die er weit öffnete wie zum Abgang für eine Majestät. Und da war es dem aufgerissenen Auge Klemens, als ob im Raum vor der Tür zwei hohe Gestalten stünden im Schatten ihrer mächtigen Flügel. Und es war wie der hohe silberne Ton der Trompete im auffliegenden, zum unermeßlichen Firmament sich dehnenden Raum, der sich mit betäubend duftenden Wolken langsam füllte. Klemens sank besinnungslos zurück in die Kissen.

*

Also führte sich Herr von Disenberg, der, wie man gemerkt haben wird, nichts als ein Begriff ist, ad absurdum, nämlich zum Glauben zurück, woher er kam. Alles streng Begriffliche ist doch dogmatisch, nicht wahr? Belletristisch entgegenkommend könnte ich sagen, Klemens trat ins Kloster ein.

Man mag tun was immer. Man mag seine Gedanken noch so fleißig auf die Bleiche tragen, unter die Sonne der sogenannten reinen Vernunft – diese Sonne selber ist ja schon gefärbt. Springen unsere Ideen auch noch so faunisch: sie haben die Taufe empfangen, und ihre Musik geht auf den gregorianischen Noten. Jede Untersuchung über den Begriff der Sünde führt zu deren Stammort, zum Glauben. Das beste Philosophieren, das scholastische, ist diesen natürlichen Zirkel gegangen. Auch das Neu-Scholastische der Phänomenologen macht nur einen größeren Umweg dahin, was einmal durch die Erweiterung des Beobachtungsfeldes bedingt ist und dann durch das erhöhte Reizbedürfnis des philosophierenden Subjektes. Darum: ein Philosophieren, das nicht zum Glauben führt, ist keines. Begrifflich ist Herr von Disenberg nie woanders gewesen als im Kloster. Denn der Begriff der Sünde ist christlich per se. Daran ändert auch die Kantische Gendarmerei des kategorischen Imperativs zur Pflicht als Antidotum gegen die Sünde nichts – denn Pflicht gegen was? In der Aufstellung: die Pflicht ist, ist es ja gerade die Pflicht, welche zu bestimmen wäre. Und die im Rational-Sittlichen überhaupt nicht zu bestimmen ist, sondern nur im Religiös-Mythologischen.

Der Mensch hat das Verlangen, daß die anderen Menschen so denken und fühlen wie er, oder daß zwischen ihrem und seinem Denken und Fühlen, Wünschen und Zielsetzungen eine Übereinstimmung sei. Tiefer aber noch als dies Verlangen nach geistiger Übereinstimmung mit den andern ist dieses andere Bestreben: mit dem »Richtigen«, einem idealen typischen Verstande, Gefühle und Willen übereinzustimmen oder uns ihm sich anzunähern, einem Allgemeinen auf Kosten unseres Besonderen, das wir mehr für Irrtum und Exzentrizität zu halten geneigt sind als für Originalität und tiefere Einsichtshaltung. Von da aus geht ein lächerlich leichter und verdächtiger Weg zu des Immanuels Idee von der Autonomie und deren Rechtfertigung: das Gesetz, das ich verletze, ist ein selbstauferlegtes Gesetz. Das gebietende und überschreitende Individuum ist das gleiche, aber das eine ist verschieden vom andern. Im Sündigen sind das verbietende und übertretende Ich koexistent und zeitlich simultan. Ein enger begrenztes Stück des Ich verletzt das weiter begrenzte Ich. Ein Spiel.

Die irdische Strafe folgt der bösen Tat nicht immer auf dem Fuße, oft folgt sie ihr gar nicht, oft steht sie in keinem Verhältnis zur Schuld. Darum muß sich das individuelle Leben in ein supranaturales überweltliches verlängern, in dem die manifesten Ungerechtigkeiten in Ordnung gebracht werden, Schuld ihr volles Maß von Strafe bekommt, Sünde ganz gesühnt wird. So die Lehre.

Vermöchte man es aber, Gott ganz in diese irdische Welt zu ziehen, daß er darin aufginge wie Luft, die wir atmen, Licht, das wir sehen, vermöchten die Menschen das Leben des wahrhaft und nichts als frommen Mönches –: es könnte den strafenden Gott nicht mehr geben und mit ihm verschwände alle unsere religiöse Sprache über die Sünde, die wir aus dem Alten Testament haben, wo ein Volk und nicht der einzelne das in Betracht Gezogene war, die relative Unsterblichkeit eines Volkes, wo die Sünden der Väter sich an den Kindern und Enkeln strafen und der Ausgleich zur Gerechtigkeit im Großen statthat. Ach, wir sollten nicht mehr nach dem Jordan pilgern! Sollten nicht mehr nötig glauben, den Kataklysmus eines jüngsten Gerichts anzurufen, dem ein Neuer Himmel und eine Neue Erde folge, damit alles Übel dieser Erde zurechtgerichtet werde! Die jüdische Himmel-Hölle mit ihrem katholischen Zwischenstock des Fegefeuers ist eine etwas plumpe Devise, liebe Freunde.

Der euch, liebe Freunde, diesen Umweg zu so engem Ziel geführt hat, er tat es, um mit einem heitern Divertissement des Vordergrundes sich anzupassen an die späte Stunde dieser Nacht, die wir viel getrunken haben und die gefälligen Frauen so ermüdet, daß sie mit halbgeschlossenen Augen liegen zwischen Schlafen, Wachen und Träumen. Die Lichter sind abgebrannt, die Diener sollen frische Kerzen aufstecken.


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