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Henri Beyle hatte nicht das, was man Erfolg nennt: nicht in der Liebe, nicht in den Geschäften, nicht in der Literatur. Jung kommt er aus der Provinz nach Paris, voller Erwartungen, für die ein großes Selbstgefühl ihn rüstet. Man übersieht ihn in der Gesellschaft, wenn man ihn überhaupt sieht. Er fällt weder durch Schönheit auf, noch durch Witz, noch durch Namen, noch durch Ruf. Er aber möchte faszinieren, geliebt werden, bestaunt, beneidet sein. Das zu sagende Wort fällt ihm immer erst zu spät ein. Er kommt in die kritische Situation, entweder sich zu überwerten, oder seine Umgebung zu unterwerten. Er entscheidet sich für das letztere und beginnt Paris und die Franzosen zu verachten. Das napoleonische Abenteuer bringt Erlösung. Es führt ihn nach Italien, nach Wien, Deutschland, Rußland: die Fremde gibt dem Fremden die Möglichkeit, sich zu geben, wie er ist, und wie er sein will. Kein Convenu bindet ihn. Er genießt. Das Abenteuer schließt sich – es hat ihm die innere Freiheit eingetragen. Aber er bleibt bis an sein Lebensende ein vagabundierender Mensch, der auf Koffern lebt, ohne so leben zu wollen. Kümmerlich verbraucht er seine um ein geringes Einkommen vermehrte kleine Rente als Konsul in dem Rattennest Civita Vecchia, dem päpstlichen Bagno. Seine Bücher liest kaum wer. Sehr spät genießt er lächelnd Balzacs Begeisterungen und Mißverständnisse. Von den zehn geliebten Frauen seines Lebens besitzt er, dessen Reiterdevise der Frau gegenüber ist »Nimm sie«, sechs, von denen ihn drei betrügen. Was er, als echter imaginativer Liebhaber, der er ist, hinnimmt nach der gespielten Szene des Bruches, die er für schicklich hält. Schließlich bekommt er einen Bauch. Den kahlen Vorderkopf deckt eine Perücke. Eine galante Krankheit schafft Beschwerden. Er hat keinen Freund. Er ist einsam. Das heißt, er lebt den Reichtum seiner hundert Leben, denen er hundert Pseudonyme gibt. Er spricht mit sich selber, er schreibt zu sich selber von sich: »Wer war ich? Wer bin ich? Ich wäre in großer Verlegenheit, es zu sagen.« Und: »Ich gelte für einen Menschen von viel Geist und ohne jede Empfindung. Und sehe, daß ich immer nur mit unglücklichen Lieben beschäftigt gewesen bin.« Er stellt fest: »Ich habe sehr wenig Erfolg gehabt.« Und schließt: »Hab' ich danach einen traurigen Charakter?« Aber man muß dazu diesen Bekenntnissatz halten: »Nie habe ich den Gedanken gehabt, daß die Menschen ungerecht gegen mich waren. Nie habe ich geglaubt, daß mir die Gesellschaft das geringste schuldet. Die Gesellschaft zahlt die Dienste, welche sie sieht.«
Die Ehrlichkeit Stendhals zu sich selber, die ohne jedes Pathos eher eine ironische Farbe hat, übersteigt jedes bekannte Maß. Sie ist nicht fanatisches Prinzip, sondern Notwendigkeit vitaler Erhaltung, korrigiert von starker Intelligenz und großer Lebenskundigkeit. Alle Öffnungen dieses Lebens hin zu irgend materiellen Erfolgen waren bei ungeheurer Ambitionierung solchen Glückes verschlossen. Beyle konnte nicht leben, wie er wollte, und so schuf sich die eingeborene Energie das imaginierte Glück und: Stendhal. Was immer er schrieb: Brief, Aufsatz, Roman, Geschichte, Reisen, Konsulatsberichte – es ist autobiographisch.
Stendhal war ein junger Mann von sechzig, als er starb. Als er zweiundfünfzig war, sagte er, er sei zweimal sechsundzwanzig Jahre alt, und es stimmte. Frühreif in den Sinnen, im Geiste und im Charakter, alterte er nicht. Mit den Jahren bekamen die Eindrücke der Jugend theoretische Vertiefung, aber nie die übliche schlimme Korrektur durch das, was der alternde Mensch Erfahrung nennt, diesen fatalen Ersatz für schwindende Kraft, der desavouierend den Abschied von der Jugend erleichtern soll.
Stendhals Romanwerk ist dramatisierte, gesteigerte, reflektierte Jugenderinnerung eines Mannes, der mit sich identisch geblieben ist. Und daraus entsteht die Einzigartigkeit dieses Werkes, daß es sowohl die Kraft der augenblicklichen Sensation besitzt wie die Leichtigkeit der Beobachtung, sowohl die Vehemenz des Blutes wie die Intelligenz des Analytikers. Er mußte sich seiner Jugend erinnern, um sein Werk zu schreiben. Was er als junger Mensch schrieb, ist wertlose Schreiberei, meist gar nicht von ihm.
Alle Helden dieser großen Romane sind Jünglinge: Julien Sorel tritt mit zwanzig Jahren vor die Richter. Lucien Leuwen ist nicht viel älter. Octave de Malivert zählt fünfundzwanzig, als er sich vergiftet. Fabrice del Dongo verläßt im gleichen Alter die Zitadelle, womit der Roman ja schließt, die weiteren Schicksale macht Stendhal mit kurzen Bemerkungen ab, als ob sie ihn nichts mehr angingen. Die Geschichte der Lamile, diese kuriose Autobiographie Stendhals in weiblicher Übersetzung, schließt, da diese Sinnliche aufhört, ein Kind zu sein. Er schrieb immer sein Leben als junger Mensch, denn er wurde nie »vernünftig«. Die bourgeoise Verkalkung durch den Beruf blieb ihm fremd. Er hat sich nie in den Begriff Schriftsteller objektiviert, er, der immer schrieb und nichts anderes im Grunde wollte als schreiben, das heißt die Sensibilität einer Jugend genießen, die erst mit seinem Tode aufhörte, und als welche die Substanz seines Schreibens ist.
Vom Ruhme des Schriftstellers träumte er wie von allem andern Ruhm als Knabe. Ohne jede Materie, die mitzuteilen notwendig wäre, erfindet er sich da etwas, ein fünfaktiges Lustspiel etwa, nach Lektüre einer Anleitung, wie solches herzustellen. Oder eine Geschichte, die nur ein Klischee ist. Oder er plagiiert fremdes Gut. Aber er entdeckt bei dieser ab- und zusammenschreibenden Tätigkeit seine emotionelle Kraft, kommt auf seine eigene Materie. Sainte-Beuve, als Verfasser der Volupté, sein übelwollender und unverständiger Kritiker, erklärt, Stendhal sei bar jeder Erfindung. Wobei er an Balzac, als den Erfinder von Typen, Aktionen, Peripetien denkt. Als ob es nur diese eine Äußerung der imaginativen Fähigkeit gäbe. Gewiß, Stendhal hat nie eine Situation erfunden. Fabeln und Figuren nahm er, wie und wo er sie fand. Will man diesen Prozeß so nennen, so ist Stendhals Erfindung, daß er sich in die Situation jenes in Grenoble verurteilten jungen Mörders setzt und die Figur mit dem füllt, was er in dieser Situation tun, denken, fühlen würde. Kaum in den Novellen gelingt ihm, was er hier sogar beabsichtigt: das historisch Einmalige. Er hat nur eine Gegebenheit: sich selber, den außerordentlich komplexen Begriff einer leidenschaftlichen Persönlichkeit.
Komplex war Stendhal von Natur aus, und war er mit Willen: ihn auf eine einfache Formel bringen, hieße ihn fälschen. Wer es versucht, kann es nur mit großem Vorbehalt, und auch dann werden sie nur jene diskutieren, die eher Antipathie als Sympathie für Stendhal haben. Es ist nichts damit gesagt, daß viele seiner Äußerungen auf Cabanis oder sonst einen zurückzuführen sind. Denn im Formal-Denkerischen eines ideologischen Systematikers liegt weder Ursprung noch Absicht Stendhals. Die affektiven Elemente geben seinem Denkerischen Haltung und Eigenart, Rang und Bedeutung. Auf der polytechnischen Schule war der junge Beyle ein glänzender Mathematiker, aber er sagte sich den Satz der Julie zu Jean Jacques in Umkehrung: Lassen Sie die Mathematik, und weihen Sie sich den Frauen. Er hat zu Bekannten oft dieses Wort wiederholt, als den Start seines Lebens, dem er später die Formel gab: »Nie gegen eine Frau etwas tun, das gemein oder brutal aussehen könnte, gegen eine Frau wohlverstanden, die wirklich und das heißt gefährlich eine Frau ist.« Das bestimmte alle seine Vorlieben und Einstellungen; auch seine Vorurteile.
Die Frauen, namentlich aufzählbar, die Stendhal liebte, waren immer nur Vorwände, die eigene Liebe wahrzunehmen, und in ihr sich selber zu erfahren. Die Liebe befreit. Sie hebt das Akzidentelle auf, treibt den wesentlichen Charakter des Mannes hervor. Daran wuchs die introspektive Kraft Stendhals. Sein Leben (und Schreiben, was in diesem Falle ganz genau dasselbe ist) war Selbsterziehung durch ein außerordentliches Regime, dem er sich unterwarf: das der Liebe. Ich stelle zwei Sätze nebeneinander: »Um ein guter Philosoph zu sein, muß man trocken, klar, ohne Illusionen sein. Ein erfolgreicher Bankier besitzt einen Teil jenes Charakters, der zu philosophischen Entdeckungen vorausgesetzt werden muß.« Und der andere Satz: »Ich mache die höchstmöglichen Anstrengungen, trocken und nüchtern zu sein. Ich will meinem Herzen Schweigen gebieten, das glaubt, viel zu sagen zu haben. Ich zittere immer, nur einen Seufzer aufgeschrieben zu haben, wenn ich glaube, eine Wahrheit festgelegt zu haben.« Man versteht, was hier mit dem Herzen gemeint ist. Nicht das Gemüt oder derlei. Sondern die leichtbewegliche Prädisposition des denkenden Verstandes für das Gefühlte, die Nuancen, das Schwebende, das Ratioide, wie Musil es nennt.
Stendhal einen Analytiker nennen, heißt ihn eng fassen. Depressive Gefühle durch ihr Denken ins Unbeschwerende bringen, aus Trübsinn in Heiterkeit changieren durch den Witz des Verstandes – das wäre ein Billiges und hätte kein besonderes Gesicht, das Stendhal zu heißen brauchte. Hier war einer als erster und einziger dabei, eine völlig integrale Transformation seiner Persönlichkeit seinem psychologischen Verstande darzubieten. Bloße Selbsterkenntnis ist steril, im besten Falle bitter. Amiel, der Genfer Kalvinist, blieb darin gefangen und verbrauchte sich. Wie Nietzsche. Da bogen sich Mauern nach innen und stürzten zusammen. Stendhals Analyse seiner innern Welt ist ihm feinstes Werkzeug seines Willens zur äußern Welt, sagen wir: zur Form, zur Oberfläche, zur Kraft, zur Virtu. Seine Analyse führt ihn weder zur Sonderung noch zur Anklage, wofür beides er praktische Anlässe genug gehabt hätte. Sondern zu einem fast dionysischen Gegenteil der Haltung: er umarmt rätselhaft lächelnd ein erweitertes Leben. In bezug auf Liebeseroberungen sagt er von sich: La chose réussit une fois sur dix, et eile vaut bien la peine de subir neuf rebouffades. Die genaueste Kenntnis seiner selbst vermochte dies nicht über ihn, daß er erkannte Unzulänglichkeiten an sich damit rächte, böse gegen andere zu werden. Diese Gegensätzlichkeiten in einer Person: Scharfsichtigkeit des analytischen Verstandes, der das Dunkel der verborgensten Höhlen seelisch-emotionalen Lebens ans Licht der obern Welt bringt, und ein zur Frenesie gesteigertes Leben in der Liebe – diese Gegensätzlichkeiten kann nur eines synthetisieren: das Schreiben. Die Ironie schafft den Modus vivendi. Ich meine jene Ironie, die z. B. Goethen durchaus fehlte und seiner dem Tragischen abholden Natur fehlen mußte, und die bedeutet, das Endliche des Schreibens am Unendlichen des Lebens problematisch zu finden. Daß sich aus dem Gesamtwerke Stendhals Einzelwerke abschnüren, ist zufällig. Denn er schreibt eigentlich ein Kontinuum. Daß sich in diesem Gesamtwerke Gattungsunterschiede durchsetzen, ist zufällig. Denn es ist gattungsgleich. In einem höhern als dem gebräuchlichen Sinn ist dieses Werk an seinem Verfasser zu identifizieren. Es ist hartnäckig einseitig, nämlich ich-seitig. Welche Pein tut sich ein vermeinter Nachfahre wie Flaubert an, sein Auge zu einem optischen Instrument ohne die Fehler des organischen Auges zu machen, und fast gelang es ihm, mechanisch zu werden: schon schrieb er so schön! Fast gelang es ihm, Buvard zu sein und Pecuchet. Er wurde ganz der Schriftsteller im Dienste des vorgestellten Werkes. Auch zu diesem Falle hat Stendhal den Satz gesagt: »Ma foi, l'esprit manque, chacun reserve toutes ses forçes pour un métier qui lui donne un rang dans le monde.« Daß Goethe unlädiert durch die romantische Gefahr kam – und er mußte zuweilen grausam werden in der Abwehr –, das kann nicht nur das Alter erklären, das er hatte, als sie sich merklich machte. Diese Gefahr erhöhte, steigerte und vollendete die Ordnung, die er, sicher mit Opfern, seinem Leben zu geben für notwendig fand, dessen Sinn ihm die Persönlichkeit war, der harmonische Mensch, und nicht der genialische Einzelfall, das Ganze des Lebens und nicht das Einzelne der Kunst. Er war unzerstörbar klassisch in einer uns Heutigen oft seltsam erscheinenden Selbstgewißheit solcher Klassizität und Unzerstörbarkeit, weil sie sich nicht im leisesten bezweifelt. Ein riesenhafter hygienischer Wille war hier tätig, die tragischen Zusammenbrüche dieses Lebens, Versagen und Entsagen zu überwinden. Ein sprengendes, auflösendes Element war Goethen fremd: der Witz zu sich selber, der Esprit, die Ironie. Goethe war von 1800 ab seinen Zeitgenossen, und nicht nur den deutschen, ein fixierter Wert durch Werk, Rang, Stellung. Stendhal, in ganz peripheren Beziehungen zu seinen Zeitgenossen, war diesen ein eher komisch als ernst zu nehmender Herr von zweifelhaftem Ruf, der schrieb, was niemand las, weder ein Milieu schuf, noch sich in eines einpaßte, da und dort und nirgendwo lebte, teilnahmslos schweigend in einer Ecke saß, oder wie ein Toller in Reden exzedierte, den Narren spielte und ein Feuerwerk abbrannte. Dieser Mann, über die mittleren Jahre hinaus, gab sich nicht das in Gesellschaft Wichtige: Würde. Er machte weder gefällige Konversation, noch orakelte er Weisheitssprüche aus Erfahrungen eines Lebens. Daß Stendhal um seinen hohen Wert wußte, ist nicht zu bezweifeln. Sowenig wie seine Erkenntnis, daß niemand sonst um diesen Wert wußte. Es verdüsterte ihn nicht, verbitterte ihn nicht. Die Widmung seiner Bücher to the happy few ist die ganze Reaktion dagegen, daß man seinen Wert nicht erkannte. Aber das Leben mit den Menschen forderte einen Kompromiß, einen Modus vivendi. Er fand ihn in der Maskerade, diesem Ausdrucksmittel der Ironie. Er spricht von der Zeit, da er aus Mailand nach Paris zurückkehrt, dort seine größte Liebe, Mathilde, zurücklassend: »Le pire des malheurs, m'écriai-je – serait que ces hommes si secs, mes amis, au milieu desquels je vais vivre, devinassent ma passion et pour une femme que je n'ai pas eu!! je me dis cela en juin 1821, et je vois en juin 1832, pour la première fois en écrivant ceci, que cette peur, mille fois répétée, a été dans le fait le principe dirigeant de ma vie pendant dix ans. C'est par là que je suis venu à avoir de l'esprit, chose qui était le bloc, la butte de mes mépris à Milan en 1818, quand j'aimais Métilde ... J'entrai à Paris, que je trouvai pire que laid, insultant pour ma douleur, avec une seule idée, n'être pas deviné.« Und zwei Jahre zuvor an einen Freund: »Ma sensibilité est devenue trop vive. Ce qui ne fait qu'effleurer les autres me blesse jusq'au sang. Tel j'étais en 1789, tel je suis encore en i84o. Mais j'ai appris à cacher cela sous de l'ironie imperceptible au vulgaire ... Par ma douleur j'ai appris le goût de la mascerade.« Die Haltung ist Waffe und Abwehr, selber ungesehen zu sehen, von sich selber nicht düpiert zu werden, bei andern keinen Verdacht zu erregen, in der Schwebe zu bleiben zwischen dem moralisch Guten und Bösen. Die Leidenschaft kann den Verlust bringen: Stendhal hat immer zuhöchst darauf gesetzt. Sie ist ihm die letzte entscheidende Instanz. Aber stürzt er ab, dann, dann mit dem Kopf voran, die Flugbahn zu wissen und zu sehen. Das ist sein wohlerworbenes Erbe, das ihn von aller Romantik grundsätzlich trennt, daß er, soll er den Kopf unter das Beil legen, den Kopf klar hält, bis der Stahl die Rückenhaut berührt. Wie Julien Sorel sagt er zehnmal im Tage: Kanaille! Kanaille! sich Luft machend vor dem erstickenden Kleinen des wohlassortierten moralisch-öffentlichen Lebens der Bürger, Würdenträger, Akademiker, Dichter, Politiker, Patrioten, Geschäftemacher, Könige, aus Ekel vor dem stinkend Gefühligen dieser unbeneideten Leute-Menschen. (On me croira envieux, ceci me désole.) Aber dieser Ekel, dieses Staunen nährt keinen Haß in ihm, den er ja als Liebe in den großen Leidenschaften weiß. Er lächelt und verachtet. Und macht Maskerade. Gibt sich zweihundert Namen. Hundert Gesichter. Je passe pour un fou. Und der Ausweg: das Schreiben. Der Ausweg des Leidenschaftlichen. Die Kunst beginnt dort, wo zu leben nicht oder nicht mehr genügt, das Leben auszudrücken.
Goethe: diese ungeheure Anstrengung und Leistung eines das groß geschriebene Leben formenden Willens, der nichts ganz ausschaltend, alles sich integriert, sogar Deutschestes bei einer gegen das Deutscheigentümliche – das Romantische – gerichteten Grundhaltung (indem er Pedanterie zu Ordnung sublimiert, Niaiserie zu Laune verbreitert, Leidenschaft zu belebender Wärme am Herde verdampft) – Goethe, der ins geringste Wasser noch seine Mühle stellt, um nichts umkommen zu lassen und vergeblich sein zu lassen, dieser gewaltige Regisseur einer fast zum eignen Puppentheater gewordenen Welt, so klein wurde diese für die Kapazität dieses bedenkenden Willens – Goethe, der dem Willen des korsischen Leutnants seine Reverenz erzeigte, aber gegen Beethoven sich so taub stellen mußte, wie dieser war, dem Zelter mehr behagte als Mozart, und der den Blücher nackend-antikisch im Monumente sehen wollte, – und dann Goethe, diese posthume heutige olympische Vorstellung, nicht mehr, außer ketzerisch, vom Originale wegzubringen, nicht mehr herunterzuwaschen diese Gipsauflagen auf den penthelischen Kern, dieser nichts als belastende, aber nicht belebende Parademarsch des Sonntags der heutigen deutschen bürgerlichen Intelligenz, wie sie die Würdenträger aller Sorten und Borten konstituieren, um sich ob solcher einzigartiger deutscher Leistung den ein für allemalen Freibrief sowohl des Kulturvolkes wie des Nichts-mehr-tun-Brauchens und Nichts-mehr-Anerkennens ausstellen zu können – dieser Goethe, Schwurgott heutiger Deutschheit, die kaum mehr weiß, daß es ein eigengemachter Götze ist, dem sie ihre Meineide schwört, Goethe, Gote, ja auch schon ein wenig sächsisch-weimarisch Geede war und nun schon ganz Götze wurde, Inbegriff jeder Art Vollendetheit in Leben, Werk, Glauben, Moral: der Abstand von Stendhal ist in jeder Dimension zugegeben, auch von dem, der wie ich Stendhals vier Romane für bedeutender, wichtiger, schöner und ewiger hält als den Meister und die Wahlverwandtschaften, ja selbst den Werther. Die Majestät dieses in erstarrenden Zeiten feuerspeienden riesigen Berges steht in der deutschen Landschaft von 1820 – wo aus etwas tieferen Lagen als der Scheitel dieses einen Berges heiße Quellen kommen, züngelnde Flammen – ragt, die zu währender Wärme gebändigten Feuer nutzend, daß um alle mächtigen Flanken des Berges ein grüner, bunter Mantel liegt, Garten, Acker, Weide, und nirgends nackter Fels. Sprühen die kleinen Vulkane auf, rumort's im Innern des alten Riesenberges, unwillig klingt's. Ein fernerer hochschießender Geysir, Stendhal, wird wohlwollender, ja mit Interesse begrüßt. Der große Berg erinnert sich. Nie verpflichtende Weisheit des Alters vergessend, aber doch einmal noch das glückhafte Simulacrum der Jugend genießend und gebend: den Westöstlichen Diwan, das größte Werk in deutschen Versen. Fremder Kern in eigner Erde gehegt, ausgetragen, und zu göttlicher Frucht gebracht.
Aus Umfang, Tiefe und Anlage einer Lebensform Goethe ein einzelnes zu lösen und für sich zu sehen, fälscht den Begriff dieses Lebens. Ich weiß das wohl und notiere diese Einschränkung. Italien war weder für Goethe noch für Stendhal ein Zufall. Es war eingeborne Natur, die den einen nur nach Italien und nach Frankreich, nur bis an dessen Grenze brachte, den andern, den ersten europäischen Menschen, durch ganz Europa. Goethe liebte ein Italien aus einem Kunsturteil, Stendhal liebte es aus einem Vorurteil und aus einer gewissen Bequemlichkeit, als Landesfremder hier à son aise zu leben. Auch jenes Kunsturteil war ein Vorurteil. Griechisches, was Goethe immer zu sehen meinte, war immer Römisches, denn römisch war seine Natur, oder besser, war die Ideologie, der seine Anstrengung galt. Mit Goethe reist immer Weimar; es ist auch in den venezianischen Epigrammen so sehr dabei, daß man fast zweifelnd der Meinung zuneigt, die Liebschaften mit den kleinen Mädeln, denen auf den nackten Popo der Hexameter geklopft wird, sind poetische Lizenzen. Die Iphigenie ist nicht sophokleisch, sie ist, wenn antikisch, aus der Kaiserzeit, wie der Phidias, den Goethe denkt, der Künstler ist, von dem der Junokopf aus dem Palazzo Ludovisi stammt. Im Sturm des Temperamentes erwarb sich der junge Goethe Shakespeare und die Gotik, dieses im Blute Vorhandene, nur vom Zeitgeschmack und der rationalen Erziehung vergessene Erbgut des Westdeutschen. Erwarb es sich, um es später wohl abzulehnen, aber doch nie mehr zu verlieren. Abzulehnen um des Römisch-Rationalen willen, das sich im Manne wieder verstärkte. Mit dieser Antike der Kaiserzeit und ihr zu dankenden Liebe für Italien gehörte Goethe ins 18. Jahrhundert, wie auch Stendhal, aber in einem hier andern Zusammenhange, dieser Zeit um 1770 angehört, wenn er den Aufenthalt in Italien jedem andern vorzieht, denn man lebte da um 1820 nach der Fasson von 1770: in den Tag hinein, gesellig, faul, liebenswürdig, verliebt. Stendhals italienisches Vorurteil war, daß er in diesem Lande mehr als in irgendeinem andern die Amour-Passion behaust zu finden wähnte, wie er auch die italienische Renaissance so sah und aus ihren Chroniken Geschichten solcher Liebe zu ziehen vermeinte, die seltsamerweise alle nichts von seiner Amour-Passion enthalten, sondern Eigennutz, Berechnung, Habgier, Mord und Totschlag aus allen andern Gründen eher, als denen der Liebesleidenschaft. Aber es steht im Henry Brulard der Satz: Je proteste de nouveau que je ne prétends pas peindre les choses en elles mêmes, mais seulement leur effet sur moi. Das Ich Goethes, das Ich Stendhals bestimmte Italien, und dessen Wirkungen ergaben sich aus nichts als diesem Ich.
»Oft denke ich eine Viertelstunde darüber nach, ob ich ein Adjektiv vor oder nach einem Substantiv setzen soll. Ich suche klar und wahr zu erzählen, was in meinem Herzen vorgeht. Ich kenne nur ein Gesetz: klar zu sein. Wenn ich unklar bin, ist es um meine ganze Welt geschehen... Ich nehme eine mir wohlbekannte Person, ich lasse ihr die zur Gewohnheit gewordene Eigenschaft, jeden Morgen auf die Jagd nach dem Glück zu gehen, nur gebe ich ihr mehr Geist.« So in einem Briefe an Balzac, dem er darin auch Dinge sagt, die sich mehr auf den Empfänger des Briefes beziehen als auf den Schreiber, wie: »Ich möchte die Leser nicht mit unrechten Mitteln gewinnen.« Oder: »Mode verlangt heute, der Autor müsse seine Figuren erst, sie beschreibend, einführen.« Oder: »Ohne Zweifel bin ich aus übertriebener Liebe zur Logik ein so schlechter Schriftsteller.« Oder: »Ich verabscheue den geschraubten Stil.« Das war gegen Balzac gerichtet, der Stendhal ganz gegen den Geschmack ging. Er erschien ihm modisch, nicht romantisch, mit welchem Worte er modern meinte und nichts weiter. Da er in den zwanziger Jahren zwei kleine Schriften veröffentlicht hatte, in denen er gegen Racine für Shakespeare Partei ergriff, sprachen ihn die Romantiker als den ihren an. Wie sie ja auch Goethe zu ihrem Papst machten. Aber dieser Schulstreit fand Stendhal auf keiner Seite. Urteile nach beiden Seiten hin: »De nos jours, le vers alexandrin n'est le plus souvent qu'un cache-sottise.« Aber er fand auch das Theater Victor Hugos absurd. Chateaubriand war ihm ein schönrednerischer Spaßmacher und die George Sand eine dumme Gans. »Le seul écrivain lisible pour moi était Shakespeare, le plus grand poète qui ait existé.« Alles erklärt der stolze Satz: »Die Kritiker haben mir gesagt, ich würde niemals der Ehre teilhaftig sein, ein Schriftsteller zu heißen. On a si bien arrangé ce titre, que tel galant homme peut s'estimer fort heureux de n'y arriver jamais ... Je ne suis pas mouton, ce qui fait que je ne suis rien.«
War Henri Beyle unzeitgemäß? Die Autobiographien, Jugenderinnerungen, die er unter dem Namen Stendhal schrieb, konnten nicht gelesen, oder mußten mißverstanden werden, wenn man sie las. Die zeitgenössische Kritik spricht immer von den Unmöglichkeiten und Widersprüchen im Charakter der Helden, und Näherstehende, wie Colomb, leiten davon ab, wie ganz falsch es wäre, Stendhal die Äußerung zu glauben, daß Julien Sorel ein Selbstbildnis sei. Man erinnere sich, daß Balzac keine andere Psychologie hat als die George Sand: so komplexe Begriffe wie Liebe, Haß, Leidenschaft, Eifersucht werden als gegeben und nicht dissoziierbar hingenommen, und die Figuren damit in Berührung gebracht, zu zeigen, wie sie auf jene festen Begriffe reagieren. Bei Stendhal kommt erst durch das Verhalten der Menschen das zustande, was sich dann als ein Begriff der Liebe, der Eifersucht usw. ablösen läßt. Seine Psychologie ist pathologisch, die der Zeitgenossen aber schematisch. Und bleibt so bis über Zola hinaus. Gelernt von ihm hat erst Dostojewski und die neuere Zeit. An die Stendhal immer dachte: »Ich dachte nicht vor 1890 gelesen zu werden. Auf diese Zeit hatte ich die Autorfreuden verlegt.«
Beyle war der Zeitgenosse der ersten Romantik, fünfzehn Jahre jünger als Chateaubriand, sieben älter als Lamartine. Er hat nichts mit dem Kanon der Schule zu tun, und die Schüler sind ihm fremd oder antipathisch. Für die romantische Liebe des Pagen Musset zur mütterlichen George Sand hat er eine Grimasse. Aber er lebte doch, wenn auch nicht in der immer wieder von ihm erinnerten Jugend, so doch in der Zeit, da er sich schreibend ihrer erinnerte, in der sentimentalen Atmosphäre dieser Zeit, die sich unmittelbar in jenen romantischen Schriftstellern ausdrückte. Man wird es mit allem Vorbehalt sagen müssen: Stendhals Sensibilität hatte eine romantische Färbung. Der Beylismus – er gibt seinem System selber diese Bezeichnung – ist formal und methodisch von den Enzyklopädisten und ihren sensualistischen Nachfolgern bestimmt: »Il faut en tout se laisser guider par la Lo-Gique«, sagte er immer wieder, das Wort durch Trennung der Silben besonders betonend. Logisch muß sich, so wiederholt er, das Glück erreichen lassen, Schritt um Schritt, hat man nur auf die Fakten acht, welche die Welt entgegenstellt, und die taktisch zu umgehen sind. Der junge Beyle notiert den Fehler im Systeme des so verehrten Helvetius: »Er malte richtig für die kalten Herzen und ganz falsch für die brennenden.« Aber zu brennen ist rigorose Bedingung des Glückes, die Leidenschaft ist einziges Unterscheidungsmittel zwischen den Menschen. Aufgabe wurde, das System, das die Materialisten auf ihren groben Glücksbegriff »plaisir« mit Erfolg angewandt haben, auch für den höheren Glücksbegriff, wie ihn Beyle konzipierte, durchzuführen. Also den Passionierten eine Logik vorzuschlagen, die ehemals für bloße Wollüstige, Ehrgeizige, Libertiner erfunden wurde. In Stendhals Glücksbegriff ist nichts Materielles oder Sinnliches mehr; er enthält den Elan der Seele, die Gefahr, den Einsatz der ganzen Person. Er hat weder mit der Tat etwas zu tun – er liebte den Napoleon von Marengo, nicht den Kaiser – noch mit dem Erfolg. Er ist eine spirituelle Ekstase, in der alles Materielle hinschmilzt, und an dieser Ekstase partizipieren Urteil, Phantasie und Willen. Wer um dieses Glückes willen lebt, muß auf das, was die Welt Vergnügen nennt, verzichten. Nur das intensive Leben ist ein Wert und wert, mit dem bezahlt zu werden, was gemeinhin Unglück, Erfolglosigkeit, Einsamkeit genannt wird. Hier ist, wie man sieht, der Feind jener alten Logiker der Lehrer: Jean Jacques und die Revolution. So leben diese Gegensätzlichkeiten in diesem Manne als refraktäre Elemente: die Ambition, dem Denken alles zu unterwerfen, und die Ambition, das Gefühl triumphieren zu lassen. Es gelingt ihm das Wunder: das methodische Denken schädigt nicht die Passion, und die Passion entmutigt nicht den intellektuellen Glauben. Nur die Doktrin hat ein Loch. Nicht das Kunstwerk Stendhals. In ihm sind die Antinomien aufgehoben. Weil das Werk seine Person ist. Und das Lebendige jeder Person ist der Widerspruch.
»J'avais et j'ai encore les gouts les plus aristocratiques. Je ferais tout pour le bonheur du peuple, mais j'aimerais mieux, je crois, passer quinze jours de chaque mois en prison que de vivre avec les habitants de boutique.« Die Intelligenz des Jakobiners erkennt die Demokratie als beste Regierungsform, aber Seele und Nerven verlangen zum Leben eine Elite. Im Ästhetischen ist ihm das Kunstwerk ein determiniertes Phänomen, von Gesetzen bestimmt, von historischen Bedingungen vorausgesetzt, von Temperamenten gestaltet. Aber die Ekstase vor dem Werke ist ihm reinste Emanation des Lebens. Der Künstler muß »eine Seele« haben. Das Werk ist ein Gnadenakt. Taine, der morose Anatom, sprach als die Faculté maîtresse Stendhals deren analytischen Geist an: das ist einseitig-tainisch gesehn, denn es entzücken diesen sterilen Geist Notizen, zum Berge geschichtet gegen den Berg eines Lebens. Die ständige Diskussion Stendhals mit sich selber entspringt seinem »Espagnolism«, seinem Ehrbegriff. Nicht um sich kennenzulernen, seziert sich Beyle, sezieren sich seine Helden, sondern um sich zu kontrollieren, um ihr Gewissen zu erforschen, um sich zu sichern, denn von dem Ergebnis ihrer Gewissenserforschung hängt ihre Würde, ihre Ehre und ihr Glück ab. Daß diese Analyse nicht morbide Pedanterie sondern vitale Notwendigkeit ist, hat sogar Zola gefunden, der die sautes d'analyse, die danses du personnage feststellt, das plötzliche Tun, das unerwartete Verhalten der Personen Stendhals, das Intuitive. Nichts als die Analyse, die deduktive Ordnung der charakterologischen Elemente, hätte zu Verallgemeinerungen geführt, nicht zu Sorel und Fabrice, welche Sympathien und Antipathien je nach dem Leser auslösen, so, als ob sie natürliche Menschen des Lebens wären. Neben diesem Bekenntnis Stendhals: »Je fais tous les efforts possibles pour être sec. Je veux imposer silence à mon coeur qui croit avoir beaucoup à dire. Je tremble toujours de n'avoir écrit qu'on soupir quand je crois avoir noté une verité«, steht der andere Satz auf gleichem Plan: »On gâte des sentiments si tendres à les raconter en détail ...« Er hat die Details erzählt, ohne die Sentiments zu verderben, er allein unter seinen romantischen Zeitgenossen, die, Balzac und Spätere noch inbegriffen, eloquent und schönrednerisch werden, wenn sie Bewegtheit des Gefühles notieren. Stendhal ist außerordentlich sparsam mit persönlichen Kommentaren zu dargestellten Erregungen. Er schreibt weder schön noch leidenschaftlich, was ihm Balzac als seinen »schlechten Stil« vorwarf, Balzac, der immer an seinen Stil denkt und daher außerordentlich schlecht schreibt. Stendhal kennt das glänzende, das gefühlige Beiwort nicht, das insinuiert, Stimmung schafft. Er bildert nicht. Er bleibt trocken, klar, durchsichtig, genau angepaßt dem psychologischen Phänomen, das er zu beschreiben hat: seine Beiworte schmücken nicht, sondern definieren. Nur so war es ihm möglich, oft so ungeheuerlich Romantisches natürlich erscheinen zu lassen. Kein Leser wird merken, was alles für romantische Requisiten in Le Rouge et le Noir vorkommen – die psychologische Wahrheit dieser logisch gebauten Sätze überwindet das alles mit spielender Kraft. Es ist hier mit höchster Kunst die Kunst überwunden, Leben gewonnen.
Croce sagte es kurz und treffend: Stendhal war kein Theoretiker der Energie und Leidenschaft, sondern deren Liebhaber. Er war von ihnen besessen und darum von Natur aus ausgerüstet zu künstlerischer Schöpfung. Er war in seiner seelischen Substanz weder energetisch noch utilitarisch noch leidenschaftlich, sondern verliebt in diese Attitüden und Dispositionen als leere undeterminierte Formen. Daher begleitet er seine donquichotischen Helden mit einer leisen Ironie, wenn sie von ihrem Ideal schwärmen: Julien und Fabrice von Napoleon wie der spanische Ritter von Amadis und dem Ritter Esplandian. Daß sich diese Ironie nicht derb vergröbert, dies, weil Stendhal selber der Don Quichote ist, der von sich zu erzählen unternimmt, von seinem sublimen und absurden Impetus nach Leidenschaft und Energie, nach Fieber und Liebe. Aber er konnte sich den Puls messen. Er hatte die andere Person in sich, die zusah. Er war Patient und Arzt. Moderner Terminologie gefällig, könnte man von ihm als einem schweren Neurastheniker sprechen, der seine Krankheit aufschrieb und damit sein Leben vor dem Zusammenbruch rettete. Aber wir sind so eingestellt, daß wir die pathologische Bedingtheit dort ignorieren oder sublimierend von Opfer sprechen, wo das Werk den individuellen Zufall überdauert: beim Religionsstifter, beim Helden, beim Dichter.