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siehe Bildunterschrift

Oscar Wilde.
Nach einer Zeichnung von Sidney P. Hall. Photo: »The Graphic« und National Portrait Gallery, London

Oscar Wilde

Das Werk Oscar Wildes hätte es wohl kaum vermocht, seinem Namen die Popularität zu geben, die erst einsetzte, als ein erstaunlich hartes Urteil den Mann traf, der sich gegen ein Gesetz vergangen hatte, das die gleichgeschlechtliche Liebe mit Zuchthaus bestraft. Die lyrischen Gedichte, auch ihr bestes, die Zuchthausballade, sind sozusagen aus zweiter Hand, leben von Swinburne, vom früheren Maeterlinck, ohne dieses Übernommene durch einen spezifisch persönlichen Ton zu steigern. Die Theaterstücke sind witzige Hinnahme eines Typus von Stücken, wie ihn in England Pinero gab, mit ein wenig Parodierung dieses Typus durch einen geistreichen Mann. Die erzählende Prosa lebt von Baudelaire, von Huysmans, von de Quincey, von Flaubert. Die kritische Prosa von Walter Paters Ästhetizismus mit einem Schuß von französischem art pour art. Das alles konnte sich miteinander aufs beste vertragen, denn ein seines Geschmackes sicherer Koch regierte den Quirl. Jede fremde Seele wurde von diesem »Meister der künstlerischen Attitüde« aufgenommen, gebraucht und fallengelassen, denn »Wahrheit in der Kunst ist jene, deren Gegenteil ebenso wahr ist.« Sein letztes Wort war: »Ich sterbe über meinen Mitteln.«

Ein englischer Kritiker sagte von Wilde: »Er war kein Denker, aber er tat so; er war kein Dichter, aber er tat so; er war kein Künstler, aber er tat so. Und gerade in diesen Attitüden war er am ehrlichsten. Sie standen für seine Absichten, für den bessern, unverwirklichten Teil seines Selbst. Deshalb war seine Attitüde dem Beben und der Kunst gegenüber völlig unberührt von seines eigenen Lebens Führungsart.«

Wilde schrieb: »Das Leben läßt in erschreckendem Grade die Form vermissen. Seine Katastrophen treten am falschen Ort ein und treffen die Unrechten. Um seine Komödien spielt groteskes Grauen, und seine Tragödien enden mit einer Farce. Es verwundet immer, wenn man ihm naht; alles währt zu lange oder zu kurz.«

Man fände für diesen Satz kein besseres Beispiel als das Leben dessen, der ihn aufschrieb, bevor er es am eignen erfahren hatte. Jedes dieser Worte ist an ihm wahr geworden, bis auf dieses eine, daß die Kunst, und allein die Kunst uns gegen die schmutzigen Gefahren des Lebens schützen könne. Denn die sehr weite Definition, die er seinem Begriff der Kunst gab, bezog darein so viele Elemente des Lebens, daß ihn auch die Kunst nicht vor dessen schmutzigen Gefahren schützte. Zu erfahren, was etwa die Schönheit mit der Wahrheit verbinde, diese Neugierde führte ihn auf etwas verrufene, von der Wohlanständigkeit gemiedne Wege des Lebens. Er glaubte, sie sicher gehen zu können mit dieser strahlenden Monstranz, die er vor sich her trug als Leuchte: seinen Begriff der Schönheit. Als ihn der Weg ins Zuchthaus führte, gab es keinen andern Ausweg, die Formel seiner Schönheit zu retten, als daß er, der Heide bisher, auch noch das Leiden, das Mitleiden und Gott selber in diese Formel einbezog. Der vorher nur den Virgil in der Hand trug, nahm in die andere das Evangelium. Zuvor hatte er wie sein Dorian Momente, in denen er das Böse nur als ein Mittel ansah, seine Vorstellung des Schönen wirklich zu machen. Darum sah man ihn mit dem Bösen umgehen. Er glaubte die Sünde als das einzige zu erkennen, das in unserer grauen Zeit noch Farbe und Leben bewahrt hat, und daß wir zum Heiligen nicht mehr zurück und weit mehr vom Sünder lernen können und zu erwarten haben. Etwa in der gleichen Zeit konzipierte der wieder in sein Dionysisches gefallene Nietzsche die blonde Bestie als Gegenspieler einer Moral der heilsbedürftigen Schwachen, und es ging dabei etwas blutrünstig her in der Feier des grandiosen Verbrechers. Es war nichts als ein ästhetisches Ideal, eine deutliche Form gesetzt gegen das Formlose der Zeit, die sich entgottet ausredete, ethisch verinnerlicht zu sein und darum auf jeden formenden Willen verzichten zu können. Wie einer, dem die Beine fehlen, darauf verzichtet, Seiltänzer zu werden.

Wilde hatte viele und nicht geringe Meinungen von sich. Er hielt sich für einen Führer und Lehrer der Menschheit, einen Propheten, einen Dichter, einen Denker, einen Dandy. Daß er so häufig Anlaß nimmt, uns dieser seiner Kräfte ohne die Spur eines ironischen Zweifels zu versichern – er sagt, daß sie ihm eigen sind –, das läßt zweifeln, ob er wirklich Herr über diese Kräfte war, ob er nicht alles das nur sein wollte, was er wirklich und wahrhaft zu sein meinte, und ob dieses Bewußtsein nicht seiner suchenden Seele im Wege stand. Aber auch Ambitionen und Attitüden können das Wesen eines Menschen ausmachen, und Wilde verstand es mit höchst subtil arbeitendem, nur selten entgleisendem geschmacksichern Verstande, für seine Ambitionen ein treffendes Wort, für seine Attitüden eine deutliche Pose zu improvisieren, denn sein literarisches Temperament war so stark wie sein gesetzloser Egoismus, mit dem er sich über alles Leben stellen zu können glaubte. Wo er die Improvisationen weitertreibt, wo er ihnen Dauer geben will über den Augenblick hinaus, da werden feinere Ohren das Geräusch einer pedantischen Feile hören. Darum verzichten viele, die ihn persönlich gekannt haben, darauf, seine Schriften zu lesen, weil sie ihnen allzu hergerichtet und falsch aufgeputzt vorkommen, nicht wie Bäume mit gewachsenen Blüten, sondern wie Christbäume, deren Schmuck da und dort hängt, aber vertauscht werden kann. Er gehörte zu denen, qui passent leur vie à se parler, die ihre Wirkung unmittelbar sehen müssen und sich daran zu ihrem Besten erregen. Die Exaltation bei solchen auf die Wirkung Ungeduldigen ist beim Schreiben nicht die gleiche. Darum sprach er gern ironisch davon.

Ähnlich wie sein bedeutenderer Zeitgenosse Beardsley die Formtraditionen der Präraffaeliten, brachte Wilde die ästhetischen Traditionen, die von Walter Pater ausgingen, zu einem Ende, das der Auflösung gleich ist, durch eine heftige und oft pedantische Forcierung des Prinzipes vom Leben in Schönheit, das ihm so zu einem Paradox wird, mit dem zu spielen ihn sein leichter irischer Witz gern verleitet. Kein Dichter hat je die Kunst als gültige Lebensform absoluter über das Leben gestellt als Wilde; sie war ihm weder ein heimliches Laster noch ein Trost, weder ein Rauschmittel noch eine naive Selbsttäuschung; sie sollte weder dem Menschen noch ihm das Leben erträglich machen; sie sollte ihm vielmehr das Leben selber, das Leben überhaupt sein, als dessen »König« er sich fühlte, und als dessen erste Pflicht er erkannt zu haben glaubte, so künstlich als möglich zu sein, und von dessen zweiter Pflicht er sagte, sie sei noch nicht entdeckt. Die eigene unruhige, unberuhigte Art, die vielleicht gar keine Substanz hatte, die zur Mitteilung, zur Teilnahme drängte, und die Verblüffung der Welt, seiner Welt, über seine stark unterstrichene, gesperrt gedruckte Andersheit ließen ihn alle Gedanken, die er hatte, bis an jenes Ende verfolgen, wo sie paradox werden und ihre Richtung zurücklaufen – und »was mir das Paradoxe in der Sphäre des Denkens war, wurde mir das Perverse in der Sphäre der Leidenschaft.« Da waren noch dunkle Gründe und obskure Bezirke im Bereich des Lebens, die er in das Reich seines Lebens bringen mußte, das er ja ohne Grenzen nur fassen konnte als ungeformtes Teil des Größeren, der Kunst. Nicht des darum Wissens willen lud er die »Schädlinge des Lebens« an seine Tafel, nicht aus einer angeborenen Anomalie seiner sexuellen Instinkte oder Organe suchte der Gatte und Vater zweier Kinder die Strichjungen auf, nicht um irgendwelcher erotischer Genüsse willen gelüstete es ihn, von den Früchten aller Bäume im Garten des Lebens zu essen, sondern weil er fühlte, ja weil er zu wissen glaubte: die Vollendung durchläuft den ganzen Kreis, die Tag- wie die Nachtseite. Und er wollte sich das Ganze der Welt in seine Brust drücken um dieses verzweifelten Kunstwerkes seiner selbst willen, dessen Maß er größer fand als alles Leben. Alles Leben in sich ziehen, um es, ein Gott, aufs neue zu schaffen, sich selbst, den Schöpfer darin als Erschaffer, schaffend, schauend, genießend, und sich selber höchster Genuß.

Da nahmen dem in solchem Traume eines zum Kunstwerke gehobnen Lebens Liegenden, der »Schmerzen und Sorgen aus dem Wege gegangen war, da sie ihm beide zuwider«, nahmen ihm die beweissüchtigen Menschen den goldnen Becher aus der Hand, der seiner Seele Perle im Weine enthielt, und gaben ihm ein verbeultes Blechgeschirr dafür, gefüllt mit Ekel und Elend, und nahmen diesem Wandelnden im Blendlicht, der sich im Feuerwerk seines süperben Daseins ein Gott zu sein träumte, alle erfahrenen Möglichkeiten seines Traumes, indem sie sein Leben zum tiefsten erniedrigten. Es war eine Probe auf sein Königtum über das Leben, und er hat sie bestanden im Geiste, der sich, elastisch wie er ist, dieses Schmachvolle einfügte als das, was ihm noch gefehlt hatte zur Vollendung. Nicht im Fleische: das war Beute seines Schicksales geworden, das seine Krallen nicht davon ließ. Denn das im Zuchthaus Geschriebene ist nicht Bekenntnis. Wer es so läse, den würden Verlogenheiten, Unehrlichkeiten abstoßen. Wilde will nichts geben, was er seinem Wesen nach gar nicht geben kann. Er findet das Pathos seiner Situation, das ihm nötige Piedestal, und improvisiert darüber. Er erinnert sich seines früheren Lebens und findet eines darin nicht, das ihm nun zuteil ward um seiner Vollendung willen: den Schmerz. Und er erfindet für das »purpurne Schauspiels seines Wehs« die ergreifendsten Worte der Schönheit und richtet seinen Schmerz an der mitleidigen Liebe auf. Schmerz und mitleidige Liebe sind nun sein Piedestal, ohne das seine pathetische Art nicht sein kann. In Christus schafft er sich ein Symbol seiner Sehnsüchte und Erfahrungen, in einem Christus, der »des Shelley und Sophokles Bruder, ganz ein Kunstwerk ist« und der »sich die ganze Welt des Unausgesprochenen, die Welt des Schmerzes, die keine Stimme hat, zu seinem Königreich erkor und sich selbst zu ihrem eigenen Sprachrohr machte.« Aus der Not seines Herzens und allen Wünschen seines ästhetischen Lebensbegriffes deutet er sich die Mythologie Christi: »Und da er vermöge der künstlerischen Natur eines, dem Leiden und Kummer Formen waren, durch die er seinen Schönheitsbegriff verwirklichen konnte, inne ward, daß seine Idee wertlos ist, bis sie Fleisch wird und zum Bilde, so machte er aus sich das Bild des Leidenden, und als Leidender hat er die Kunst angeregt und beherrscht, wie es niemals einem griechischen Gotte vergönnt war. Jesus von Nazareth erschuf sich völlig aus seiner eigenen Phantasie ... Sein vornehmster Zweck war nicht, die Leute zu bessern, so wenig wie die Leiden zu lindern. Er erachtete in einer von der Welt noch nicht begriffenen Weise die Sünde und das Leiden als etwas an sich Schönes und Heiliges, als Gnade der Vollendung.« Wilde, dessen Geste ganz Ausdruck der heidnischen alten Welt ist, gibt Christus im Kreise der alten Götter den Platz, den die Antike leer gelassen hat für den Gott des Schmerzes und der erbarmenden Liebe.

Im Fleische aber lebte ein gebrochener, entlassener gepeinigter Sträfling seinen Rest Leben zu Ende. Die skurrile Banalität des Tages rächte sich mit zynischem Witz an einem Unterlegenen, der aus maßloser Liebe zum Leben dessen Gegner werden mußte.

Ein Leben, in dem Vorsatz, Wunsch und Absicht so stark waren wie in dem Leben Wildes, ein solches Leben erfährt von den Zufälligkeiten weder Richtung noch Ziel. Jene Katastrophe des Falles Wilde möchte das zu widerlegen scheinen; jene Richter möchten vielleicht glauben, daß sie eine Art rächendes Schicksal gewesen seien, aber das dürfte nur ihre grausame Eitelkeit glauben. Denn niemand vermag etwas über unser Leben als wir selber. Wenn der einzelne sein Leben zu Fall bringt, dann bilden sich die Nachbarn immer ein, er wäre über das Bein gestürzt, das sie ihm gestellt haben. Auch deshalb, weil dem Gemeinen das Leben auseinanderfällt in Glück und Unglück, in Erfolg und Mißerfolg, in Tränen und Lachen, in Denken und Handeln, und wie solche Scheidung weitergeht, die dem wesentlichen Menschen fremd ist, dessen linke Hand weiß, was die rechte tut. Wilde gab solcher populären Meinung vom Leben etwas nach – wenn man müde ist, redet man den Jargon der andern –, er sagte, er sei so lange unter der Sonne gegangen, daß er nur eine weise Absicht seines Geschickes darin sehen müsse, das ihn nun auch auf die Schattenseite des Lebens geführt habe. Aber schon kehrt er zu seinem eigenen Willen und zu der Verachtung fremden Wollens über ihn zurück und trinkt mit einiger Leidenschaft für den Bios theoretikos den bittern Rest, als ob der gerade die Süße hätte, die er je nur gesucht.

Was man gestern als ein Paradox erfand, ist heute eine Wahrheit und wird morgen ein Gemeinplatz sein, auf dem sich alle Welt ergeht. Die Gesellschaft macht sich das Paradox damit unschädlich, daß sie es als Wahrheit akzeptiert, die es nicht ist. Das Paradox war auf eine besondere Art in das Leben Wildes beschlossen und zwiefach: ihm selber in allem einzelnen seines Tuns und den andern Menschen dieses Leben in seiner Gänze. Er war mit allen, mit den großen und den kleinen Mitteln darauf aus, daß sein Leben uns nicht anders als ästhetisch beeindrucke, und – wir vermerken die Künste und Künstlichkeiten Wildes nur als Teil des moralischen Problemes Wilde. Was er vorausstellte, das rückt in einen undeutlichen Hintergrund oder wird Illustration und Beispiel. Was er ausschalten, was er beseitigen wollte, das steht ganz vorne und interessierend da. Aber so ist nur der Anschein. Denn es war diese überaus heftige Leidenschaft zur Formung des Lebens in ihrem Grunde nichts als moralische Äußerung, besser: eine Äußerung gegen die Moral der andern Leute und somit von moralischer Farbe. Was Wilde durch Leben und Schreiben aufzuheben meinte: die Bedeutung des Moralischen, das ist das Problem seines Lebens geworden, ist der Fall Wilde, merkwürdiger als das oft Unbedeutende, Zerstreute, nie Große seines Werkes. Wie er der Spieler seines Lebens war, wie er der neugierige Zuschauer der Agonie dieses Lebens war, das ist origineller als alle seine Bücher. Die waren nur Mittel für ein anderes. Nie war die Kunst der Moral dienstbarer gemacht worden als durch Wilde, den Ästheten. Über die Bücher ist leicht zu sagen, daß der Reichtum ihrer von Pater stammenden Prosa aufdringlich und überladen ist, daß die Verse schon weit endgültiger von Swinburne und Shelley gedichtet sind, daß der Dorian Huysmans kopiert wie die Herzogin von Padua den Hugo, daß die Ideen der Intentions das Echo von Mallarmé und Villiers de l'Isle Adam tönen, das alles, wie auch daß hier kein Weg ist, sondern vielerlei Wege sind, keine neue Botschaft, sondern viele alte, und daß der Inferno des Dante wegen seiner Dekoration aufgesucht wird, wie die Gärten des Akademos wegen der Eurhythmie der Gesten – dieses und noch mehr Richtiges, wenn man sich mit der Idee vom einsamen Kunstwerk vor diese Bücher stellt und so die Absicht auf ein ganz anderes übersieht. Ein solcher Beurteiler des Werkes wird sich von ihm zu dem Menschen wenden, bitter werden und sagen: Wilde lehrte die Unpersönlichkeit der Schönheit, und keiner tat dies je so persönlich wie Wilde; er schloß von den Künsten die Fragen nach Gut und Böse aus und sprach von nichts sonst als davon; er konnte sich an der Schönheit von Ruskins Prosa nicht freuen, wie allein es seine Pflicht als Ästhet war, und sprach von Ruskins Moralismus; er war nie gütig sorglos und konnte sich nie vergessen; sein Leben war ein Arrangement vor Dummköpfen, die er die allertraurigste Kunst, die »Kunst des Lebens«, lehren wollte; er lachte nur, um dem Lachen der andern über ihn zuvorzukommen, aber in seiner Natur war das Lachen nicht, denn er besaß weder die Demut des Einfachen, noch die vornehme Skepsis des Kultivierten, noch die Indifferenz des Weisen; er dachte zu viel über sich, und das ist klein; er konnte die Kunst nie vergessen und posierte den Künstler, wie ihn sich das gemeine Volk denkt ...

Es ist nichts gegen die Richtigkeit dieser Vorwürfe zu sagen. Aber was über die Anmerkung der Vorzüge oder Defekte weg zum Ganzen dieses Menschen? Die Kraft zu positiver Wertung ist in dieser Zeit gering. Sie spricht vom Negativen und überläßt es dem Positiven, sich von sich selber daraus zu ergeben. Alle unsere sittlichen Werte sind wie alle unsere ästhetischen negativer Art, seitdem sich die positiven als Willkürlichkeiten erwiesen haben, seitdem die Feigheit geläufiger wurde als die Tapferkeit, die stumpfe Häßlichkeit vertrauter als die strahlende Schönheit und die kleinen Laster bekannter als die große Tugend. Diese Zeit spricht vom Bösen, ohne im Guten, vom Häßlichen, ohne im Schönen einen Standpunkt zu haben. Der christlichen Glaubenswelt zweifelhaftestes Produkt, die christliche Moral, hat man aus billigem Opportunismus beibehalten. Das Umstehen der positiven Werte macht mißtrauisch gegen die negativen. Vielleicht sind beide Arten überhaupt nur ein Mittel der Verständigung für jene, die in ihres engen Lebens Notdurft schnell sich entschließen müssen. Aber das eine Leben, über das sie sich so ökonomisch verständigen, vermag das nicht, denn dieses lebt seinen Sinn zu Ende nach Kraft und Willen und hat den Amor fati, von dem Nietzsche spricht. Wilde versuchte, das Gesetz des Lebens aus seinem eigenen Leben zu bestimmen.

L'étrange rage, cette manie moderne de donner une façon commune à tous les esprits et de briser l'individu! Gegen diese Rage setzte Wilde sein Leben um des Lebens willen. Ein heroischer Egotismus versuchte, mit seinem Gehirn und Blute eine nur theoretisch bekannte Konzeption wahr und wirklich zu machen und damit auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Daß Wilde immer wieder den Künstler als die stärkste Äußerung der Humanität feiert, so weit, daß er sich Christus zum Künstler umschafft, um sich ihn näherzubringen – das sollte nicht verführen, ihn in diesem seinen kleinsten Spiegel sehen zu wollen.

Wilde nahm das Prinzip des Art pour art so leidenschaftlich auf, daß das Gegenteil dieser Wahrheit zum Vorschein kommen mußte. Denn in jeder Wahrheit liegt ihr Gegenteil beschlossen. Wilde machte mit dem Programm des englischen Ästhetizismus Ernst und brachte ihn damit zu einem vorläufigen Ende. Er ließ die delikaten Sätze des pessimistischen Freudensuchers Pater nicht in der intellektuellen Sphäre der Bücher, er wollte sie auf das Leben probieren, von dem sie ja reden, und gab sein eigenes Leben als Einsatz auf die Probe. Sei auch schon das Todesurteil über uns gesprochen, und bleibe uns auch nichts sonst als die Freude am schönen Augenblick, so müssen wir also nichts anderes tun, als dem Leben den Ablauf in solchen schönen Augenblicken geben, die währende Kontinuität solcher Augenblicke. Burn with a hard, gemlike flame: die Flamme soll kühl brennen, nicht rauchen und sich nicht verzehren, das wollte Wilde nicht bloß geschrieben sehen und nicht bloß gedacht wissen, er wollte es leben. Und alles, was er tat, das tat er für diesen einen Gedanken. Den finde man wie man will; worauf es allein ankommt, ist, daß Wilde die Antinomie von Denken und Tun aufzuheben suchte, nicht mit dem Witz der Logik, sondern mit der Wirklichkeit des Lebens. Der Erfolg ist gleichgültig; die Richtigkeit der Lösung ist gleichgültig; der Mut und die Anstrengung sind alles. Vielleicht ist diese Antinomie überhaupt nur da, damit stark sich Glaubende an ihrer versuchten Überwindung die Kräfte messen; oder damit sie auf das Letzte ihres Wesens kommen, daran rühren; oder damit sie erkennen, daß das erste Wort der Dinge und das letzte Wort ein und dasselbe ist. Aber die Lösung ist absolut nur für sich selber, und die Frage nach ihrem objektiven Wert stellen nur die Ahnungslosen und Ungläubigen.

Seit Wilde gibt es einen Feuilletonistenbegriff des Ästheten als eines Menschen, der zum Leben keine andere Stellung einnimmt als eine ästhetische, indem er es nur »künstlerisch« wertet. Angenommen, es gäbe ein solches monströses Individuum. Dieser Ästhet findet nun eines Tages, daß hart an den Grenzen seiner nur künstlerisch erfahrenen Welt die ethischen Probleme und Tatsachen sich anzusiedeln beginnen. Erst staunt er, daß so etwas möglich sein konnte. Dann versperren diese Probleme ihm die schöne Aussicht von seinem elfenbeinernen Turm. Er wird unwillig. Dann neugierig und zweifelnd. Sollte die ästhetische Beherrschung des Lebens einen Rechenfehler haben? Er verläßt sein Reich, um in jenem andern, dem ethischen, als Privatmann zu leben: der ästhetische Egotist begibt sich in die ethische Kategorie. Und macht da die Entdeckung, daß, was er für ein eigenes Reich, das Reich des nichts als Sittlichen gehalten hatte, nur das mittelschaffende Hinterland seines ästhetischen Reiches ist, das so auf einmal bis an die Grenzen des Lebens reicht. Da mag er sich das Folgende in sein Reisebuch eines Ästheten notieren:

Etwas veranlaßt uns, den Sinn und Wert unseres Lebens im Sittlichen zu suchen und das Sittliche als das Wesentliche des Lebens zu charakterisieren. Aber das Sittliche ist ein Mittel und kein Zweck. Auch keine Lösung. Das Sittliche ist das, was die Intrige im Theaterstück, der Gegenstand im Bilde ist: das Mittel zur Variation der Form. Ohne das Sittliche würde die Form, das ist das Leben, keine Variation erfahren und absterben. Denn die Form ist die Definition der Dinge. Seiner Nützlichkeit als formänderndes Mittel verdankt das Sittliche seine Existenz. Was aber ist der Anlaß, daß dem Sittlichen ein Zweckcharakter und die Rolle der Dominanten im Leben zugesprochen wird? Solches verlangt das Interesse des Spieles. Denn wir spielen. Und kennen uns nur in Spiel und Maske. Aber das Spiel verlangt, daß wir unsere Verkleidung ernst nehmen. Nur deshalb spielen wir so vollendet, so »natürlich«.

Diese Illusion ist der Effekt des sittlichen Mittels, das wir als Zweck hinstellen und behaupten. Der im Interesse des vollkommenen Spieles, das ist der Formvariation, aufgestellte Gegensatz von »wahr« und »schön« ist ein ästhetisches Mittel. Aber wir haben Gründe, Spielgründe, das sittliche Mittel als Zweck und Sinn unserer Existenz auszugeben. Wir müssen so tun, als spielten wir der Intrige wegen, denn anders bekäme das Spiel einen Riß, wie wenn der Darsteller des Posa mitten in seiner Rede an den König ein Bedürfnis bekäme und plötzlich die Szene verließe. Das brächte aus der Illusion. Genau das gleiche im Leben, wenn einer die Illusion, daß das Sittliche Zweck sei, nicht respektierte.

Die ästhetische Freude – der passionelle Intellekt – an einer griechischen Tragödie wird nicht zum moralischen Schmerz, wenn der Vorhang gefallen ist und das Leben mit einer ganz gleichen Tragödie kommt. Der Schmerz wird, zuerst in Unruhe danach suchend, Form: Fluch oder Gebet oder Gedanke oder Kunstwerk, und damit gelöst. Die Verzweiflung ist eine Geste: mehr als diese formale Äußerung weiß von ihr auch der Verzweifelte nicht, der die Pistole an die Stirn setzt.

Das ethische Mittel variiert die Form eines Borgia und eines Franz von Assisi: Wir haben nichts sonst als diese formalen Lösungen, die definitiv sind. Das sittliche Mittel gehört darum dem Wechsel der Zeiten, der Moden, des Geschmackes; es erhält seine Brauchbarkeit in diesem Wechsel, aber die Illusion gibt ihm jeweils den Ewigkeitscharakter eines Zweckes in sich und eines in sich geendeten Zieles, da sonst kein Spiel des Lebens, keine Intrige im Stück, kein farbtragendes Objekt da wäre. Wer jeweils die Intrige bestimmt, ob Volk, Gruppe, einzelner, dies ist gleichgültig.

Das ethische Mittel spaltet sich in die Einzelmittel der Moralen aus dem Bedürfnis der Form nach stärkerer Variation. Solche Moralen werden immer dann häufig sein, wenn es keinen eigentlich herrschenden Clan gibt, und die Gesellschaft sich aus einem Vielfachen zusammensetzt, das, ohne eigentliche Bindung, immer auseinanderzufallen droht. Wenn aber in einer Zeit dieses Spaltholz der Moralen zuviel wird, und ein Zerfall des ethischen Mittels in viele moralische Mittel droht, die jedes zu Zweck umzuillusionieren dadurch erschwert, daß diese Moralen sich gegenseitig oft aufheben, dann wird man immer einen stärkeren Rekurs auf das Ethische bemerken können. So setzte sich das Ethos des Christentums gegen die vielen Moralen der späten Antike. So stellte sich das Ethos der Reformation gegen die Moralen der katholischen Kirche. So »rettet« man aus den Religionen und Philosophien den »wahren Kern«, gründet Bünde, ihn zu schützen, oder sucht durch neue, zum Beispiel naturwissenschaftliche Erkenntnisse das ethische Mittel zu stärken. Alles das bedeutet: man wehrt sich gegen die Moralen für das Ethos, um dessen Illusion, Zweck zu sein, besser zu fundieren. Es ist klar, daß die Intrige eines fünfzigaktigen Stückes schwer deutlich zu machen ist, daß die Mitspieler diesen langen Faden verlieren, der ins Endlose läuft, und daß sie daher Stücke im Stück spielen, weil sie mit der handlichen und übersichtlicheren Moral besser loslegen können als mit dem Ethos.

So ist eine permanente Neigung vorhanden, das ethische Mittel durch Spaltung in Moralen formgebender zu machen. So ist eine permanente Gefahr, durch solche Spaltung das ethische Mittel als illusionären Zweck des Lebens zu verlieren. So ist eine permanente Bemühung, den Ewigkeits- und Zweckcharakter des Ethischen – das »Allgemeinmenschliche«, das »Humane«, das »Reinethische« – immer wieder festzustellen, weil sonst kein ordentliches Spiel aller mit allen ist und das Leben einem Stücke gliche, in dem jeder improvisiert, was er will.

In diesem Spiel des Lebens haben Mitspieler die Rolle der Regisseure, der Aufpasser bekommen, die darauf achten müssen, daß wir Spieler dieses ethische Mittel als den Zweck ansehen und verehren, damit das Spiel den Ernst behält, den es haben muß, damit wir noch mitspielen können. Mehr oder weniger paßt aber auch einer auf den andern auf und muß es des Zusammenspieles wegen. Die angestellten Aufpasser reichen vom Polizisten bis zum Oberpräsidenten des Monistenbundes. Die Spielregeln, die gebieten, das sittliche Mittel für den Zweck des Lebens zu halten, sind festgelegt in Glaubensbekenntnissen, Gesetzbüchern, ethischen Traktaten, in Festreden, Parteiprogrammen, und gehen zudem in ungeschriebener, mündlicher Verbreitung und Einschärfung. Wer das Zusammenspiel stört, der wird im Spiel bestraft: mit übler Nachrede, mit Beschimpfung, mit Gefängnis, mit Mord. Er wird im Spiel bestraft, denn auch diese Störung liegt im Interesse des Spieles. Manchmal provoziert man sie sogar, wie eben jetzt mit dem Aufschreiben dieser Sätze. Aber das Mittel des Ethischen, das die Illusion zum Zweck machen muß, erträgt alles: der Formvariation wegen.

Wir erlauben uns ein Lächeln über ein altes Repertoire und die veralteten Intrigen, die ihren formändernden Dienst getan haben, aber immer mit Betonung des absoluten Charakters des Ethischen. Wir geben die moralischen Späne auf und hallen uns an den Baum des Ethischen. Wir sagen: andere Zeiten, andere Sitten, halten aber am Prinzip des Sittlichen fest. Weil wir unser Repertoire, in dem wir gerade spielen, sehr ernst nehmen müssen. Weil wir die ethische Illusion nicht aufheben dürfen, denn sonst würden wir hinfallen und kein Glied mehr rühren, und die Form zerbräche. Nur einer kann diese Illusion aufheben, weil er stärker ist als wir: der Tod, das ist die Formentbundenheit, durch Zerstörung des Formträgers.

Das Spiel erkennen und es billigen, das ist ein sehr produktiver Fatalismus. Denn ich könnte aus der Einsicht in diese Vertauschung von Mittel zu Zweck auch eine Lehre ziehen, die lautet: differenziere dein Mittel, das Ethische, auf daß deine Form mindestens um diese eine Form vermehrt wird, die Freude daran. Aber es gibt nur endliche Lösungen, nämlich formale, und allein diese endlichen Lösungen bedingen unsere Vorstellung von der Unendlichkeit.

Ohne daß wir das ethische Mittel als Zweck ansehen, erreichen wir den Zweck des Lebens nicht: Form und ihre Änderung. Und fänden keine Lösung. Und ohne Lösung schiene uns alles nicht nur sinnlos, sondern wir würden sofort tot sein. Alles was wir sonst Mittel nennen, ist uns problematisch, weil wir es von Anfang an als Mittel kennen. Die Macht des ethischen Mittels über die andern Mittel ist absolut, denn wir selber sind es, die sich dieses Mittel zum Zweck täuschen, damit wir es als Mittel und damit unser Spiel, das Leben, nicht verlieren.

Denn es gibt noch andere Mittel, welche die Form des Lebens variieren. Aber wir wissen sie immer als Mittel. Die Erfindung ist eines; die Kunst ist eines; der Geldbesitz ist eines; die Liebe ist eines. Und andere noch. Aber wir wissen immer, daß es Mittel sind, die wir gebrauchen und verwerfen können. Sie haben keine absolute Gewalt über uns, abgesehen von dem eingeschränkten Potential dieser Mittel, formändernd zu wirken.

Alles, was ist, werten wir nach der Eindringlichkeit, Macht und Besonderheit seiner Formgestaltung, wenn wir auch Macht und Besonderheit und den »Sinn des Ganzen« im Ethischen allein suchen und so tun müssen, als sei das Ganze des Lebens des Ethischen wegen aufgestellt. Wir sind da ganz wie der Naive, der im Theater das Stück so wahrnimmt, daß er von der Galerie herunter die Unschuld vor dem Bösewicht warnt. Nur wenn etwas oder einer schon länger nicht mehr mitspielt, Historie geworden ist, sind wir geneigt, ihn »nur mehr ästhetisch« zu sehen, oder den Nachruf an einen, der ausgespielt hat, mit den Worten »de mortuis nil nise bene« zu beginnen. Wir würden den einen törichten Pedanten nennen, der in einem Buche über Cesare Borgia nichts sonst beibrächte als seine sittliche Entrüstung über »das Scheusal«. Alte und veraltete moralische Mittel sinken, weil sie ihre Virulenz verloren haben, ins nichts als Ästhetische eines Schulbuches, einer harmlosen Heldenverehrung des ehemaligen Verbrechers, ins ungefährlich Psychologische, ins schlechthin Poetische, und gerade dieser Umstand enthüllt deutlich den immanenten Zweckcharakter des ethischen Mittels.

Zwischen dem Leben und der Kunst besteht nur ein Unterschied der Konventionen. Die Kunst als das wissentlich Gestaltete ist die ständige Mahnung, zu sehen, daß die Form der Sinn des Lebens ist. Im ethischen Spiel gesprochen kann man sagen, die Kunst ist der Appell an das schlechte Gewissen der Menschheit. Sie ist die immer Fragende und rührt an die ethische Illusion. Wovon man sich gern damit befreit, daß man sie nicht »ernst« oder unerträglich ernst nimmt, ihr ein Feiertagsdasein gibt, Schmuck und schöner Schein zu sein. Und ihr jeden dem gerade gelebten Leben allzu stark angenäherten Realismus verübelt als Aufhebung ihres Wesens. In diesem Zusammenhang hört man da oft das Wort Dekadenz. Dekadenz ist Erschöpfung des Mittels. Der Gebrauch erschöpft es. Man sieht dies an dem Monotonwerden der Form, die dann ihre Änderungen nur mehr aus sich selber entnimmt, »künstlich« wird, »rein artistisch«, und »des Lebens entbehrt«, wie man sagt. Heftig wird dann der Kunst wieder das Leben gepredigt, wird dann das ethische Mittel als Zweck betont. Das Wort Dekadenz wird zum Schmähwort für jene, welche nicht mitspielen, sondern ihr eigenes Stück spielen wollen. Die Neubelebung der antiken Form durch den Katholizismus – die Einführung der metaphysischen Tugenden – ist ein schönes Beispiel für die Zweckbehauptung des Mittels aus Formerhaltung. Deutlichere Beispiele gibt es in den Künsten, diesen Segmenten aus dem Kreise des Lebens, zum Beispiel die »leerlaufenden« Formen des Euphuismus, der Schäferei, der Rosaromantik. Oder die starke Zweckbetonung des Mittels zum Ausgange des achtzehnten Jahrhunderts: das Ethos Schillers; oder im Anfange der Moderne: das Elend. Aber Beispiele aufzählen wäre eine Geschichte des Lebens schreiben. Und es sollten diese Gedanken, die sich nur mit Brechen unter den Zweck beugen, den jedes System haben muß, um als Mittel brauchbar zu werden, nur erinnert werden, weil der Versuch Wildes sie nahelegte. Die Theoretiker des Brahmaismus sprechen von der Illusion und ihrer Notwendigkeit, Richard Avenarius hat die ideologischen Konzeptionen von Zeit, Raum und Kausalität aufgewiesen, und Nietzsche sagte: »Werde was du bist«, und hob damit die ethische Kategorie des Werdens auf. Wer nach den Beweisen dieser Sätze fragt, beweist sie am stärksten mit dieser seiner Forderung. Die den ethischen Zweck als ein formgebendes Mittel aufweisen, machen sich den Spielern des Lebens verdächtig als Mitspieler: man erlaubt ihnen höchstens, die Lampen aufzudrehen oder die Türen zu öffnen.

Als Wilde durch den Erfolg seiner Theaterstücke das erreicht hatte, um dessentwillen er sie schrieb: ein jährliches Einkommen von einigen tausend Pfund, sah der bis dahin in ziemlicher Dürftigkeit von Vorträgen und Zeitungsartikeln lebende Dandy – denn dieser war gerade seine erstrebte Lebensform – endlich die Möglichkeit das zu leben, was er bisher nur als Wunsch so zu leben geschrieben hatte. Er konnte »verwirklichen«. Nicht nur das Äußere einer luxuriösen Lebensführung, etwa so, daß er nun das Hansom-Cab, das er auch früher benutzte, den ganzen Tag lang warten ließ, oder daß die ständige Blume im Knopfloch nun eine kostbare Orchidee wurde und die Zigaretten nun Mundspitzen von Gold hatten, so sehr viel Vergnügen seinem kindischen Wesen das auch machte. Damit vergeudete er nur sein Geld. Daß der Reichtum ihn, wie manche meinten, »auf den Weg jenes Lasters« geführt hätte, daß Catull als Glück besang unter dem Beifall seiner Zeitgenossen, ist ebenso unsinnige Annahme wie die andere Apologie, daß er über seiner Liebe zur Antike vergaß, daß er in England und 1890 lebte. So schülerhaft aus Büchern, die er probieren wollte, kam er nicht dazu, Knaben und junge Männer zu lieben.

Aus einer legalen Situation und einer zeitgemäßen Idolatrie der Wissenschaftlichkeit ist erklärlich, daß man der Abweichung der Liebe auf ein anderes, als das übliche und gewohnte Objekt, das auch das allein erlaubte daher ist, eine anatomisch-somatische Veranlagung als bedingende Ursache gibt, der man folgen müsse, wenn anders nicht schwere Schädigungen des Betreffenden eintreten sollen. Es ist nun, Liebesvermögen als vorhanden vorausgesetzt, ganz gleichgültig, auf welches Objekt sich dieses Liebesvermögen richtet, ob es Gott, anderes, gleiches Geschlecht ist, Tier oder man selber. Denn die Liebe kommt nicht durch den Zufall des Objektes zustande, sondern ist vor jeder Objektwahl vorhandene Tatsache. Sexuelle Beziehung und Aktivität kann ganz ohne jede Liebe zustande kommen, wie man weiß, sowohl beim Manne wie bei der Frau. Bei allen Paaren und Paarungen Liebe anzunehmen, ist nichts als ein Akt verschämter Höflichkeit, auch der betreffenden Paare gegen sich selber. Die erotische Kolportage in Romanen und Operettentexten hat die Aufgabe, solchen Paaren, die ohne den Anlaß der Liebe sexuell funktionieren, das Substrat einer vorgestellten Liebe zu verschaffen, weil sie einer solchen Illusion höchst allgemeiner Art zu bedürfen scheinen und mangels eigenen Liebesvermögens nicht imstande sind, diese Illusion aus sich selber zu erzeugen, daß sie das, was sie tun, aus Liebe tun. Vielleicht schämen sie sich ihres nichts als sinnlichen Vergnügens – es gibt tausend Anlässe und Gründe für solche Scham –, vielleicht vermögen sie nach einer gewissen Dauer dieses Vergnügen sich nicht mehr zu geben ohne diese aus der Kolportage entlehnte, höchst allgemeine, vage und aus weitmaschigsten Gemeinplätzen gewobene Illusion einer »Liebe«, wie der Unliebende sie in einer idealischen Welt beheimatet wähnt, deren er wenigstens als Zuschauer oder Zuhörer teilhaftig zu werden wünscht, um so etwas wie Seelisches zu spüren.

Die angeborene somatische Eigentümlichkeit vieler Homosexuellen ist nicht zu bestreiten; daß sie auch bei Heterosexuellen vorkommt, wird man aber zugeben müssen. Die medizinische Kausierung vermag nicht alle Fälle einzufangen, und darum prinzipiell keinen. Der Anspruch, daß Staat und Gesellschaft die Liebe und ihre Äußerungen als eine private Angelegenheit des Menschen respektieren, wie Staat und Gesellschaft das dort tun, wo sich die Liebe Gott zum Gegenstande wählt oder ein Wesen des andern Geschlechtes, dieser Anspruch ist nicht mit medizinischen Gründen zu stützen, die das Individuum, das in seiner Liebe ein Wesen gleichen Geschlechtes zum Objekte wählt, zu einer körperlichen Anomalie machen, dann das hieße, die Liebe auf ein geschlechtliches Funktionieren zum Zwecke der Kindererzeugung herunterbringen und jene Personen, welche sich in Klöstern Gott zum Objekte ihrer Liebe wählen, verächtlich finden, weil ihre Liebe dieser auf eine Sexualfunktion heruntergebrachten Norm nicht entspricht. Aus der seltenen Liebe läßt sich nicht auf das Objekt dieser Liebe schließen, und das Objekt bestimmt sie nicht. Aus den außerordentlich häufigen geschlechtlichen Beziehungen und Vergnügungen der Menschen läßt sich nicht schon auf die Liebe dieser Menschen schließen, die sie wahrscheinlich in den allermeisten Fällen gar nicht produzieren. Nur diese geschlechtlichen Funktionen können Staat und Gesellschaft kümmern, nicht die Liebe: daß sie nicht erzwungen werden, daß sie nicht mit dem durch Jugend oder Krankheit untauglichen Objekt ausgeführt werden, daß sie die zu verlangende Dezenz wahren. Hier auch hätte der Staat, der die Pferdezucht unterstützt und das schwerste Schwein prämiiert, das Recht, auf die Kinderzeugung bei jenen Paaren Einfluß zu nehmen, die sich zu diesem Zwecke zusammentun, und es den Kranken, Krüppeln und Trinkern zu verbieten durch die Sterilisierung ihrer Geschlechtsdrüsen. Aber die Liebe, die weder mit dem Kinderbekommen noch mit dem Geschlechtlichen primär zu tun hat, kann ihn nicht kümmern. So wenig wie er eine Nonne verhindern kann, steril zu bleiben und ihrer Liebe Gott zum Gegenstande zu geben, kann er den Mann verhindern, steril zu bleiben und seiner Liebe den andern Mann zum Gegenstande zu geben. Oder der manischen Liebe zu Briefmarken oder zur Menschheit.

Wilde war in seinen jungen Jahren erfolgreich hinter den Mädchen her. Er hat geheiratet und zwei Kindern das Leben gegeben. Als ein Mann verlor er das Interesse an Frauen, die ihn begehrten, als er im Lichte seines Ruhmes stand. Er machte sich nichts aus ihnen, was Anlaß war, daß ihm nur noch mehr Frauen nachliefen. Jene zwittrigen Mädchen, jene Frauen mit der Vorliebe für den Ehebruch, die der berühmte Mann immer auf seinem Weg findet. Er war des weiblichen Geschlechtes und des Aufbietens ihrer Reize durchaus müde. Die Flucht des Mannes vor diesem mit allerlei Plunder kaschierten mehr mondänen Getue als erotischen Bedürfens zur simplen eindeutigen Prostituierten ist nicht mehr so ungewöhnlich, als daß man sie nicht für charakteristisch halten könnte. Aber auch die völlige Befreiung von der verlangten götzenhaften Anbetung des Weibes und der flüchtigen Möglichkeiten, die es enthält, der falschen Verpflichtungen, die es verlangt in Wort und Gestus, wird immer häufigere Erscheinung. Das männliche Hirn scheint nicht mehr fähig, jene Illusion aufzubringen, die nötig ist, um über das vielleicht Umgehbare oder Vermeidliche des sexuellen Rapportes jenen Kontakt zu erreichen, der eine Liebesbeziehung höherer Ordnung charakterisiert. Es waren schon um 1890 Anzeichen dafür da, daß das vom Manne in die Frau investierte erotische Kapital, dessen Zinsen sie verausgabte, erschöpft war in seinen alten Formen, nicht nur keine Anziehung mehr ausübte, sondern das Gegenteil. Stürmisch setzte dann nach dem Kriege bei der Frau der Wunsch nach Umformung eines erotischen Ideales durch den Mann ein, der, anders beschäftigt, ermüdet, noch keine neue Formel für die Neugestaltung des weiblichen Objektes seines appetitiven Verhaltens gefunden hat, was die Frau, auch sonst befreit, veranlaßt, sich aus eignen Gnaden eine zu geben in mannigfachen Schattierungen, sich in der Zwischenzeit so an ihrer Geschlechtsgenossin tröstend wie der Mann an seinem Geschlechtsgenossen. Die ein Jahrhundert währende Verkuppelung von Liebe, Geschlechtsfunktion, zwiegeschlechtlicher Ehe beginnt in ihre Einzelteile auseinanderzufallen. Der bipolare Eros wird von einem multipolaren abgelöst. Die Überlastung der Frau mit ausschließlich erotischen Inhalten, die sie verkrüppeln ließ, scheint zu Ende zu gehen, zumal eine möglichst vermiedne Mutterschaft diese Überlastung in keiner Weise mehr rechtfertigt. So wurde der Mann dem Manne bemerkenswert als erotische Möglichkeit.

Dieses ist der Fall Wilde, der nicht im medizinischen Laboratorium zu diskutieren ist, sondern im sozial-psychologischen. Er fiel, vorbereitet darauf durch eine hohe ästhetische Hyperästhesie, als erster Abtrünniger von der bisherigen erotischen Idolatrie des Weibes, von dieser Verehrung ab, weil er, männlich wie er war, nicht mehr ins Männchenhafte fallen konnte.


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