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siehe Bildunterschrift

Walter Rathenau.
Nach einer Photographie von Gerstenberg, Berlin

Walter Rathenau

Rathenau kam einmal, es war vor dem Kriege, als später Gast ins Haus unseres vortrefflichen Verlegers Fischer, zur Stunde, da die Gäste in des Hausherrn behaglichem Büchersalon den Kaffee tranken. Er war ins Schloß geladen gewesen und trug auf der Brust den klirrenden Schmuck seiner Orden, ein gut Dutzend Stück. »Ich habe zu Hause im Kasten noch mehr so Blecher«, sagte er auf einen lächelnd-erstaunten Blick, solchen Ehrungen gegenüber eine Gleichgültigkeit andeutend, die er als ein seines Wertes sehr bewußter Mensch besaß, zumal er die Orden auch nicht für seine Schriften bekommen hatte. Aber er war doch stolz darauf, daß ihn, den Juden, dem als Einjährigen das Leutnantspatent verweigert, und der als Vizewachtmeister entlassen wurde, die von ihm so bewunderte preußische Herrensippe hatte anerkennen müssen. Rathenau war klug genug, zu wissen, daß mit Adelung und Orden jener, der beides verleiht, sich nur die nötige Brücke über einen trennenden Abstand legt, ohne die ein öfterer Verkehr nicht möglich. Mit einem bloßen Herrn Rathenau gab's für Majestät keine wiederholte Unterhaltung; er mußte als ein für Auszeichnung Dankender kommen. Aber daß die Sippe ihn dafür vorschlagen hatte müssen, freute ihn. Denn er, der braune Beduine, der von seinen spanisch-jüdischen, mit Berberblut vermischten Ahnen sprach, liebte aus Gegensätzlichkeit diese blonden, rosigen, knochigen Preußen mit den blauen Augen, die Offiziere dieses kleinen Adels, die Dichter dieser dürftig-spröden Landschaft, die Beamten dieses sparsamen Haushalts.

Die körperliche und geistige Armseligkeit eines assimilierten kleinen Judentums aus dem Osten, das sich selber mit dem jüdischen Witz ins Gesicht spuckt und so seinen eigenen Antisemiten spielt, fand er verächtlich, und es verführte ihn sein Stolz zu dem Glauben an ein Judentum der Rasse, dem er in andern Rassen die Gegenspieler gab. Als Gegengabe für den Roman »Wiltfeber« schickte er dessen Verfasser Burte eines seiner Bücher; er zeigte mir die Widmung, die er hineingeschrieben hatte: »Dem ewigen Deutschen der ewige Jude.« Rathenaus Stolz auf sein Judentum litt unter keinerlei Antisemitismus, die Fremdheit des preußischen Junkers ihm gegenüber respektierte er, da er auch seinerseits Fremdheit diesem Junker gegenüber empfand, die er in Bewunderung äußerte. Selber in Geschäften stehend, litt er als Jude unter den nichts als Geschäfte machenden Juden, die es nicht sein wollten und es doch im Übelsten waren. Er gab sich da gern Vorstellungen hin, die im Judentum ein religiöses, ein Priestervolk kat exochen sahen, und er beklagte den Verfall des Volkes aus dem Spekulativen ins Spekulierende. Er verstand den tiefen Sinn, den das Wort hatte, das ich ihm einmal von Mendel Singer vor dem Kaiser Franz Josef erzählte. Mendel Singer, Nestor der österreichischen Parlamentsjournalisten, mußte, wie seine beiden Brüder vor ihm, auf seine alten Tage geadelt werden. Es war dem Kaiser als unumgänglich vorgestellt worden. Die Kaiserverehrung dieses Singer grenzte an Gottverehrung in ihrer Naivität; er sah in ihm den Vater seiner Völker, den Mehrer und Schützer des Reiches usw., genau wie es in den Stücken der Lesebücher für die Volksschulen steht. Unmittelbar nach der Audienz erzählte er selber, mit Tränen im Halse, wie sie verlaufen war, das kaiserliche Visavis und ihre Umgebung durchaus wie Heldensage, in die er, das Nichts von Mendel Singer, gebeugten Rückens hineintrat, er wußte nicht wie, und vor der Majestät in dem außerordentlichen Gefühle seiner gräßlichen Nichtigkeit vor solcher Konfrontierung nichts sagte als: »Majestät, ich bin e alter Jud.«

Ich glaube, Rathenau hatte es, unter dem Druck eines, wie man sagt, bedeutenden und eigenwilligen Vaters, bis zu seinem dreißigsten Jahre nicht leicht gehabt, seinen eigenen Weg zu finden und zu gehen. Mannigfaltig begabt, mochte er sich, als Sohn aus reichem Hause, eine Freiheit des Lebens für sein Leben als erlaubt denken, das ihn bloß aufs Erben, nicht aufs Mehren wies. Zumal es ihm klar war, daß die Kapazität des Vaters ganz einzig und nicht zu übertreffen war auf seinem Gebiete. Aber der nüchterne Emil Rathenau war stärker als sein brillanter Sohn; er zwang ihn in den Rahmen seiner bestimmten Arbeit. Ganz reibungslos ist das nicht verlaufen. Alle Liebe ging so zur Mutter. Das blieb bestimmend sein Leben lang. Die Frau, das hatte Wert für ihn nur als Mutter. So blieb ihm zur fremden Frau nur der eine, von nichts als dem gröbsten der Sinne gebahnte Weg, den er funktionell ging, wenn es und weil es sein mußte, aber ohne daß ihn da irgendwelche Illusionen begleiteten. Eher die Vorahnung der bereits wartenden Ernüchterung. Er konnte, kam, wie es nur sehr selten der Fall war, das Gespräch auf Liebe und Frauen, von einer zynischen Brutalität werden, die selbst den guten Geschmack, das mindeste in dieser Materie, vermissen ließ. Aber er hätte, so starr war das in ihm geworden, nie zugegeben, daß in diesem psychischen Unvermögen zur Liebe eine Fehlerquelle seines ganzen Wesens lag und der Grund seiner melancholischen Resignation, die er immer wieder auf eine höhere metaphysische Ebene zu bringen sich bemühte. Der fehlende Eros war auch der tiefste Grund seiner inneren Vereinsamung, deren steinernes Antlitz zu fliehen er so vieles unternahm, die liebevolle Pflege seiner Dilettantismen, aber auch seine wichtige organisatorische Arbeit. Er besaß hierin mehr als theoretisches Wissen und mehr als bloß praktische Erfahrungen, nämlich einen leidenschaftlichen Glauben, daß sich der inerten chaotischen Masse alles Wirtschaftlichen Form und Geist eines richtigen Funktionierens geben ließe, ein tadellos arbeitendes, von den Menschen begeistert akzeptiertes Schema. Er bedauerte den modernen mechanisierten Menschen nicht, sondern begrüßte ihn als den brauchbarsten für das geliebte Schema. Als er es bei ungeheurer persönlicher Arbeit an der Ordnung der Dinge im Kriege erleben mußte, daß die Menschheit lieber sinnlos verbluten als das erprobte Schema einer A.E.G. annehmen wollte, war Rathenau zu tiefst erschüttert. Er hatte so außerordentliche Energien an die gedankliche Sauberkeit seiner Pläne gesetzt, sein Leben danach geformt, oder davon formen lassen, und nun besudelte ganz sinnlos hingeschüttetes Blut die schöne Arbeit. Zum Minister berufen, zog er, mit wenig Glauben mehr daran, die verwischten Linien der alten Pläne nach, vertraute aber mehr seiner rein menschlichen, persönlichen Kraft, seinem integren Wort als einem nicht mehr geglaubten System, das ihm der seiner Geschichtsbildung inkommensurable Mensch zernichtet hatte.

Ja, auch die Pflege seiner Dilettantismen. Rathenau sammelte schönen alten Hausrat, um den er dann die Schale eines nach seinen Plänen gebauten Hauses im Grunewald legte, dem nicht nur die Amateure, sondern auch die Architekten ihren Beifall gaben. Es war bequem, ohne jede Protzigkeit, die dem frugal, fast asketisch lebenden Manne ganz fremd, und so geschmackvoll wie die darin aufgestellten mit gutem Auge gefundenen Möbel und Dinge. Was in dem Luisenschlößchen Freienwalde fehlte, für dessen stille Anmut das theatralische Pomposo des Kaisers nichts übrig hatte, von Pietät ganz abgesehen, so daß er es für einen Pappenstiel an Rathenau verkaufte, das ergänzte der neue Besitzer mit bestem Geschmack. Rathenau spielte Klavier, er malte Bilder, er machte Gedichte und hielt daran wie eine gute Hausfrau, die nichts umkommen lassen will. Die kritische Fähigkeit, das Gute zu erkennen, und ein sicherer Geschmack, der eine geübte Geschicklichkeit nicht direkt entgleisen ließ, gaben ihm wohl die nötige Täuschung, diese künstlerischen Übungen mit Ernst zu treiben und zu zeigen. Lobte man seine nach der Natur avec du cœur und in einem landläufigen Impressionismus gemalten Freienwalder Landschaften, so lehnte er das Lob mit einer Unterwertung nicht gerade seiner Bilder, aber der Malerei überhaupt, ab, indem er sagte: »Mit der Malerei wird ja viel zu viel hergemacht.« Ich bin ja auch etwas der Meinung, aber aus einem andern Grunde. Die Summe des heute durch Malen Mitteilbaren ist, verglichen mit in ihrer Selbstwirkung bescheideneren Zeiten der bemalten Wände, so gering geworden, aber bei wachsendem Anspruch auf Bedeutung. Behauptet sich schon das auf der Bühne gesprochene Wort schwer gegen die alles überrauschende Musik jedes Genres, wie soll es dem gerahmten Bilde gelingen, gegen das mit Musik unterstrichene bewegte Bild im Film und Ballett mit einigem Erfolg sich zu stellen!

Früher als Max Scheler, der andere Gast, zum Abendessen kommend, traf ich einmal Rathenau am Klaviere, über eine aufgeschlagene Sonate Beethovens modulierend und arpeggierend. Der Teufel ritt mich, harmlos zu fragen, ob er es nicht versucht hätte, zu komponieren, und ich bekam die etwas, aber doch nicht ganz so eindeutig erwartete Antwort: »Mein Kram läßt mir ja keine Zeit dazu.« Der Kram war damals die A.E.G. Rathenau betrachtete die Künste etwa wie Fertigkeiten, die bis zur großen Leistung auszubilden nur Zeit nötig sei, eine angeborene kleine Begabung natürlich vorausgesetzt, aber wer hat die heute nicht? In einem, wie Rathenau zugab, ziemlich niedrigen Niveau der Künste machte die größere oder geringere Erhebung der bergspielenden Maulwurfshügel keinen besonders zu bezeichnenden Höhenunterschied. Er konnte in den Gedichten Rudolf Borchards nichts finden, sie waren ihm durchaus erreichbare, wie er überzeugt war, auch ihm erreichbare Höhe. Fleißaufgabe eines Erlernbaren, wie er meinte. Also auch sein Fall, verfügbare Zeit dafür vorausgesetzt. Aber er bewunderte als ihm nicht erreichbare Tiefe oder nicht mehr zugängliche Niederung der Einfalt Gerhart Hauptmann dort, wo Gefühliges sich äußerte. Dieses im Trüben des Gefühligen fischen schien ihm einziger Nährboden eines Dichterischen schlechthin, aber in dieser Zeit nur atavistisch mehr Vorhandenen, nicht mehr recht Zulässigen, außer des Sonntags. Er bewunderte, was er nicht besaß, aber in der Gesamtökonomie heutigen Lebens nicht mehr sehr wesentlich achtete. Daß es einen so reinen Toren wie Hauptmann noch heute gäbe, entzückte ihn wie blondes Haar und blaue Augen inmitten von Schwarzhaar und Brillen. Aber die Tore des Paradieses seien längst zugefallen, und wer Heimweh habe, stoße sich an den Gittern das Herz wund. In Rathenaus Konzeption des Dichterischen und des Dichters spielte das Dumpfe, Unartikulierte, Gefühlige die entscheidende Rolle so sehr, daß er aus dem ihm Undeutlichen bestritt, was er selber an Versen machte, und glaubte, es seien Gedichte. Daß sie das Äußerste nicht seien, läge nur in der fehlenden Übung, und weil man noch anderes zu tun aufgebürdet bekommen habe. Für eine oft mit ihm diskutierte Anschauung, daß diese Gefühle als Komplexe zerlegbar seien und gar keine bedingende Voraussetzung für das Dichterische bildeten, weil Torheit selbst im Religiösen, wo man es gern hinstopfte, nichts bedeute – dafür war Rathenau, der das Moderne nur im Technisch-Mechanischen sah, nicht zu haben. Es machte mir immer den Eindruck, als sei seine apodiktische Annahme nur solchen Dichtens und solchen Betens letzter Zufluchtsort eines im Verständigen, das ihn beherrschte, sonst Verzweifelnden. Er mußte die Dummheit und die Heiligkeit identifizieren. Daß ein Romanwerk, um bedeutungsvoll zu sein, auf dem gleichen Niveau stehen müsse wie die wissenschaftliche Leistung der Zeit, dagegen zitierte Rathenau »Füllest wieder Busch und Tal ...« Er wollte von der Dichtung nur den Balsam der therapeutischen Wirkung. Verstehbar bei einem Manne, der wie Rathenau sich nicht mit den festgefügten Kaders des von ihm bis ins einzelne beherrschten Gebietes des Wirtschaftlichen und Wirtschaftspolitischen zum Auf- und Ausbau einer geistigen Welt begnügen konnte, und dessen Philosophieren, wie er selber sagte, laienhaft war, aber um so anspruchsvoller der Wunsch, mit dem Ganzen der denk- und vorstellbaren Welt metaphysisch fertigzuwerden. Da ließ er dann die nicht gebaute Spitze der Pyramide in die Wolken ragen, hinter der sie die Wolkenanbeter auch vorhanden vermuteten. Sich seiner Fähigkeiten auf dem von ihm beherrschten Gebiete, welche durchaus des ordnenden Verstandes waren, sehr bewußt, ging er künstlerischen Neigungen nach, hier die Gnade erwartend oder sie ihm erteilt vielleicht auch glaubend, aber, um solches zu glauben, sich in eine nebulose Romantik von Kunst und Künstler verkapselnd, aus der nicht einzugestehenden, weil schmerzlichen Einsicht, daß, brächte er ein Denken in seine solchen Konzeptionen, diese sich als ganz unzulänglich herausstellen müßten. Darum fraternisierte sein Geschmack mit den Dumpfen, denen es Gott im Schlafe schenkt. Oder stellte mit der Variation des gut liberalen Satzes »Dichte, Dichter, denke nicht« den Behafteten auf die Plattform der Simonssäule und sich selber aus dem Wege, auf dem der Dichter, dächte er, ein zu unbequemer Mahner wäre.

Fragte man Rathenau, wie er so vieles und so vielerlei in einem Tage von vierundzwanzig Stunden bewältigen und zu einem Ende führen könnte, gab er als solchen Rätsels Lösung die Einteilung der Zeit. Und schien dabei doch immer Zeit zu haben, die verlorengehen konnte. Man traf ihn oft zu Gaste. Und viele waren oft zu Gaste in seinem Hause. Aber zum Zwiegespräch, nicht zu geselliger Festlichkeit. Solches Festieren gab es nur zweimal im Jahre, ein Frühstück, wobei Borchard die Küche besorgte für die dreißig oder vierzig Geladenen, denn der einfache Junggesellenhaushalt war nur für ein einfaches Abendessen zu zweit oder dritt eingerichtet. Die große geladene Gesellschaft gab in ihrem Ensemble eine Musterkarte von Rathenaus vielfachen Interessen und Beschäftigungen – wenn ich von den ebenfalls geladenen Damen, den Gattinnen, absehe, deren Anwesenheit unumgänglich war, sollte es nicht bloße Männergesellschaft mit der sich da immer einstellenden interessierten Unterhaltung sein, die keine mehr ist, sondern Diskussion. Das Non tacet der Damen hob für diese Male die spirituelle Kirche auf, die Rathenau liebte, um mit Assistenz die Messe zu lesen. Mit der Assistenz eines, nie mehr als zweier Ministranten. Das Abendbrot, das es da gab, war in Quantum und Quale so bescheiden, daß wohl auch andere als Max Scheler, der gern gut und viel aß, nach der ersten Erfahrung von Flunder, Hammelkotelett und zitterndem Eierstich – es gab nie was anderes – nur so taten, als ob sie äßen, weil sie das schon zuvor besorgt hatten. Aber nach dem Spitzglas Champagner, das der Diener nicht mehr nachfüllte, kam aus unerschöpflichen Kannen schwarzer Kaffee, die Gäste wachzuhalten bis in den frühen Morgen für die Unterhaltung, wenn dies Wort erlaubt ist für diese sehr konkretierten Gespräche, aus und in denen sich Rathenau sowohl informierte als – er hatte ein starkes Bedürfnis danach – sich erklärte und erläuterte. Dies meist mit einem gesperrten Druck und Verbeispielungen einfacher Gedanken, die den Partner gelind verzweifeln ließen. Es war eine gewisse Verliebtheit in seine gepflegte gedankliche Welt, die ihn, sie immer wieder erklärend, so weitschweifend werden ließ, was ihre fehlende Tiefe ersetzen sollte. Denn ein tiefer Denker war Rathenau nicht. So mochte er allenfalls seinen engeren Berufskollegen vorkommen, auch später den politischen Kollegen, die er natürlich an Kenntnissen und Einsichten weit übertraf. In der Haager Konferenz hätte er gewiß nicht, wie es die deutsche Delegation tat, Lloyd George und die anderen damit gelangweilt, zu erzählen, daß sich die betreffenden Gattinnen der Herren schon seit zwei Jahren keinen neuen Hut gekauft hätten, so schlecht ginge es einem in Deutschland, und so bescheiden sei man geworden. Rathenau machte sich nichts aus Frauen, nichts aus Geld, nichts aus Ehren, so mußte er eine soziale Gefahr werden als der schlechthin Unverständliche, dem zu mißtrauen ist. »Meine Kollegen«, so sagte er damals, »lassen mich als anständigen Menschen gelten. Was für ein lamentables Regime, wo es als das höchste Lob eines Staatsmannes gilt, daß er ein anständiger Mensch ist.«

Im Oktober 1913 hatte ich in meinem »Losen Vogel« geschrieben: »Der deutsch-englische Krieg, man wird sich an diese Überschrift in den Zeitungen gewöhnen müssen«, und kurz Gründe und Anlässe dieses Krieges angegeben, der ja in der Tat ein deutsch-englischer wurde, und zwar mit den Schlachtfeldern auf dem Kontinente. Als ich bald darauf Rathenau besuchte, legte er, wie er es gern tat, mir seinen Arm um den Nacken: »Sie sind ein Phantast, lieber Blei, einen solchen Krieg wird es nicht geben und überhaupt keinen, und ich will Ihnen auch sagen, warum. Weil er kein Geschäft, und weil er ein außerordentlich schlechtes Geschäft wäre.« Mit der Schlechtigkeit des Geschäftes hat sein geübterer Blick auf solches ja recht behalten. Aber der Irrtum, daß die Menschen sich Vorteil und Gewinn in Ziffern und Zahlen ausrechnen auch in solchen mit Blut gespeisten Affären, bloß deshalb, weil sie finanziert werden müssen, das war ein für Rathenau charakteristischer Irrtum. So oft er auch vom ganz intuitiven Wesen seines Vaters in geschäftlichen Dingen erzählte, oder vielleicht daß er davon erzählte, bestätigt, was die geschäftlichen Kollegen Rathenaus von ihm sagten: daß er eigentlich von Geschäften nichts verstand, weil er sie nur verstand. Er war, als der Krieg ausbrach, von der geschäftlichen Tollheit dieses Unternehmens erschüttert und suchte mit seinem organisatorischen Genius zu retten, was zu retten war. Er litt viel unmittelbarer unter der Dummheit, mit welcher die Menschen ihre Geschäftsbücher führten, als unter dem Pathos eines Schicksals. Er konnte im ersten Jahre, wenn auch geringschätzig, von dem Gewinn sprechen, der in Longwy und noch ein paar so nötigen Erzgruben für das damals noch siegreich geglaubte Deutschland, die Firma Deutschland, bestände, um zwei Jahre später, als es schlechter ging, Ludendorff aufs dringendste zu raten, die belgische Arbeiterbevölkerung nach Deutschland zu schaffen, auch auf die Gefahr hin, daß die U.S.A. mit Krieg drohten. Rathenau war kein politischer Kopf. Dafür dachte er von den Menschen zu schlecht und zu gut, aber beides am falschen Ort. Er überschätzte den Menschen verstandesmäßig und unterschätzte seine affektive Brauchbarkeit. Er nahm es übrigens mit Laune auf, als ich ihm von einem tapferen jüdischen Artillerieoffizier erzählte, der mitten im feindlichen Feuer melancholisch bemerkte: »Ist's möglich, so das Geld zu verschleudern!« Aber die nachfolgende Zeit gab ihm recht, als er meinte: »Sie werden sehen, es wird ihnen das verschleuderte Geld mehr leid tun als das vergossene Blut. Der jüdische Artillerist sprach auch aus der Seele der heutigen Gojim.« Es war in München, einige Monate vor seinem Tode, daß ich Rathenau zum letzten Male sah und sprach, beim Tee im Hotel Continental. Wir waren zu viert mit Rathenaus »Adjutanten«, Simon, einem ehemaligen Generalstäbler voller Leben, Intelligenz und Liebe zu seinem Chef. Ein blonder Mann von der besten preußischen Qualität und mit viel von dem, was Rathenau völlig fehlte: Wärme. Der vierte war der Nuntius Pacelli, der diplomatisch vorsichtige, sehr geschickte Römer, von der Kurie auf den wichtigsten Posten gestellt, den deutschen, wo Konkordate zu effektuieren waren, und wissend, daß ihre Angelegenheiten bei Pacelli in den besten, geschicktesten Händen lagen. Rathenau kam von Herrn von Kaar, dem kleinen Beamten, der sich auf dem Wege zum großen Staatsmann glaubte, und über den er sagte: »Er hat nicht eine einzige Idee, aber er verteidigt sie mit Leidenschaft.«

Rathenau war müde und resigniert. Die U.S.P. hatte ihm mitteilen lassen, daß sie von einem Attentatsplane gegen ihn gehört hätte, und bot ihm zwei ihrer Leute als ständige Schutzbegleitung an. Rathenau lehnte ab, mit einer in alles sich ergebenden Fatalität, der er wohl nur mit Rücksicht auf den Nuntius so etwas wie eine christliche Farbe gab. »Die Henker«, sagte er, »dieser Zeit sind so armselig, daß sie einen um die Freude des Martyriums bringen können.« Als Monsignore hier etwas von der christlichen Liebe bemerkte, meinte Rathenau: »Liebet einander, das ist vielleicht ein bißchen zu viel von den Menschen verlangt, Monsignore, – ertragt einander, das ließe sich allenfalls noch leisten.« Er war müde, nur Feinde zu haben und keine Gegner. Er fand sich als am falschen Ort stehend, ohne einen besseren angeben zu können als den in abgeschlossener Einsamkeit. Es machte den Eindruck, als wartete er auf den Schuß aus dem Hinterhalt als eine Synthese.

*

Ein Wert seiner Persönlichkeit: Rathenau war kein Politiker. Nach meines Freundes Paul Scheffer Definition einer, der die Kunst versteht, eine träge Menge zur rechten Zeit aufzuregen, eine aufgeregte Menge zur rechten Zeit zu beruhigen. Rathenau konnte verhandeln. Er konnte nicht führen. Er besaß keinerlei demagogische Fähigkeiten. Er entsprach in nichts dem »Tatmenschen«, wie sich die Hintertreppenphantasie um 1920 so was vorstellte und verehrte. Als Solf nach jahrelanger Abwesenheit auf kolonialen Posten im Frühjahr 1914 nach Berlin kam und man ihn zum Kolonialdirektor machen wollte, dauerte es nicht lange, daß er Heimweh nach seiner letzten Station in der Südsee bekam. Er hatte im Wandelgang des Parlamentes Erzberger eine ganz vertrauliche Mitteilung gemacht – »und denken Sie, der Mensch benutzt das zehn Minuten später in einer Rede!« Rathenau, mehr an die politischen Sitten gewohnt als der aus feinster Substanz gearbeitete Solf, war nur vorsichtiger. Er wußte um die geringen Ansprüche, die heute an den Politiker gestellt werden, und daß der Nächstbeste genügen kann. »Noch weitere solche zehn Jahre, und Politiker ist, wie das in den Staaten durch Jahrzehnte der Fall war und in den besten Kreisen heute noch ist, die verächtliche Bezeichnung eines verachteten Berufes.«

Die Summe seiner irgendwelchen Interessen nennt der Politiker nicht eine Meinung, sondern seine Überzeugung mit allen den bekannten Beiworten, wie sie die Ethik eines bourgeoisen Stoizismus liefert, wünscht und billigt, wie ernst, heilig, tief, ehrlich, unumstößlich. Er entgeht damit der Verlegenheit eines guten gültigen Beweises seiner Meinung, erstickt die mögliche Forderung eines solchen Beweises im Keime. Aus der ungeheuren Mannigfaltigkeit dieser Abwehr besteht die politische Diatribe. Zwei Nachbarn konnten sich nicht einigen. Sie riefen einen Dritten zur Schlichtung des Streites. Damit ist die Keimzelle des Politischen in die Welt gesetzt. Ein simpler Rechtsspruch des Dritten bildet nun ein System aus, hinreichend kompliziert, Beamtete und deren Anhang nötig zu machen. Das Übel zeugte weiteres Übel, da bald die Beamten selber sich für ein System halten, um dessentwillen das Leben da ist. Die Selbstvergottung des Staates beginnt, und eine Philosophie bemüht sich um seine Metaphysik. Dieser Prozeß der beamtlichen Polizierung wird beim Zerfall der mittelalterlichen Ideale sichtbar, dem Zerfall dank der Kirche selber, die durch den Besitz Staat im Staate wurde, erst sich mit ihm messend, dann mit ihm kämpfend, schließlich ihm unterliegend, wobei sie dem Sieger auslieferte, was sie bisnun geistlich verwaltet hatte: Beziehung der Geschlechter, Schule, Bildung, ja sogar den Glauben, was alles des Staates wurde, was alles ganz gegen sein inneres Wesen poliziert wurde, und es blieb bis heute. Und zwar zunehmend nach dem undistinkten Schema der gemeinen polizierten Notwendigkeiten des Tages: Recht, Schutz vor Überfall, Verkehr und Wirtschaft. Im wachsenden Maße wurde der Wirkungswert der polizierten Menschengüter vermindert: die Ehe wurde ein vermögensrechtliches Problem, der Glaube als begünstigter Sazerdotalismus Stütze der weltlichen Macht, die Schule Vor- und Zubereitung zu einer Beamtenprüfung, die Bildung ein Savoir vivre der Reichen, die Kunst ein Genußmittel derselben Reichen, die Sittlichkeit ein von einer Paragraphensammlung begrenztes, auf das Geschlechtliche reduziertes Konvenü. Die Polizierung hat in unserem Zeitalter nur dessen wirtschaftliche Nuance erhalten. Inhalt der Parteien, Anlaß ihrer Bildung ist, ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse mit oder gegen eine Regierung durchzusetzen, welche ein Budget vorlegt und Steuern ausschreibt. Sagten nun die Parteien eindeutig und klar ihr zweimal zwei ist fünf auf, so plauderten sie das Kostbarste aus, was sie in dieser Welt des Beschummelns besitzen, nämlich ihr Geschäftsgeheimnis, zu dem man nur über ihre Leiche kommt. Darum reden die Parteien nur in einer tönenden Zeichensprache zum »Volke«, die man kennt, und in der alle Werte der Menschheit zu Vorwänden benutzt werden. Das Geschäft könnte politisch nur Jargon reden, und dazu entschließt man sich erst, wenn der Ruf: Geld oder Leben! ertönt. Aber die gutmütige Atmosphäre der Parlamente erspart einem diese letzte Not, die den Angstschrei erpreßt, und so redet man in Zeichen, welche sind: höchste Güter der Nation, lieber Gott, Kulturbesitz, Bildung, um alles dessen willen die Agrarier von Hochschutzzöllen nicht absehen können. Die Staatspolitiker haben diese Besitztümer des Menschen in die staatliche Verwaltung, die Parteipolitiker haben sie ins Gerede gebracht. Es handelt sich aber immer nur um Geld. Darum droht der protestantisch-fromme Agrarier, daß er seinen religiösen Pflichten nicht nachkommen könne, wenn man amerikanischen Weizen nicht mit einem hohen Zoll belege.

Ehmals war der »wahre« Glaube die Heuchelei der Parteien, die den Häretiker ins Feuer schickten. Heute ist es die Heuchelei des Geldes. Sie ist die Waffe des Schwachen und wechselt mit der Macht, deren Art sie kennenlernt. Um den Gegner ans Messer zu bringen, wird der Politiker immer so tun, als wüßte er den Preis, den der Gegner verlangt, sich vom Messer loszukaufen. Denn in einer Welt, in der alles käuflich ist, kommt es ja nur auf den Preis an. Jede Partei bildet ihre unkorrumpierbare Ehre daraus, die Zweifelhaftigkeit der gegnerischen Partei zu proklamieren. Die Politik wird immer nur von Menschen gemacht, die mit sich reden lassen, und kann nur von solchen gemacht werden. Denn im Unbedingten ist alle Politik ausgeschlossen. Sie ist die Nachgiebigkeit scheinbar unnachgiebiger Überzeugungen. Ist der Granit, der sich immer als elastisch herausstellen muß. Ist ein lautes Entweder, das sich leise schon längst auf das Oder eingestellt hat. Die Politik mindert, wie alles, was aus dem Bedingten kommt – und das ist ihr Wesen, denn sie hat keine Substanz – jene Werte des Menschen, für deren Erhaltung und Mehrung er allein aufzukommen hat. Sie trübt die Wertquelle der Güter. Sie ruft für eine bedingte Meinung menschliche Kräfte auf, die sie dem Unbedingten des menschlichen Glaubens entzieht, diesen ärmer macht und der Meinung dadurch doch nur zu einem aufgeschwollenen, immer bald wieder platzenden Scheinumfang verhilft für Tag und Stunde.

Zu einer Debatte über die Abschaffung der Todesstrafe schrieb der Scharfrichter an eine Zeitung, er sei selber durchaus dafür, aber er sei Scharfrichter und man müsse doch leben. Christus fand den gesuchten und nie gesuchten rechten Menschen als einen Dieb am Kreuz und versprach ihm das Paradies. »Er sah in des Menschen Seele. In des Diebes Seele.«

Es soll die wirkliche Gegensätzlichkeit der menschlichen Personen durch die fiktive Gegensätzlichkeit der politisierten Individuen ersetzt werden, so will es der Zug der Zeit, wie wir ihn politisch vorgestellt bekommen. Man nennt das Demokratie und vermeint es als ein politisches Ideal. Es ist dort entsprungen, wo die Anzahl der auf einem beschränkten Terrain wohnenden Menschen Legion wurde, jeder gegen jeden austauschbar, eines Gesichtes, einer Geste, einer Haltung. »Das Menschenmaterial«, ein Begriff aus dem Kriege, ist das Urteil darüber. Man wiegt dies Material tonnenweise. Befördert es in Riesenkranen. Das Mörderische der Zahl! Rathenau wandelte einen christlichen Gedanken ab, wenn er sagte: »Weil man ein Mensch ist, kann man die Menschen nicht verachten. Und muß sie verachten aus dem gleichen Grunde.« Aber in diesem Satz hat das Gebiß der Zahl seine Spur gelassen. Der kommunistische Politiker, der an die »bessere« Zukunft der Menschheit glaubt, weil er von dem »Besseren« seiner Meinung überzeugt ist, hält, ganz in der Zahl eingefangen, von den Menschen nicht mehr als der reaktionäre, der an keine bessere Zukunft glaubt. Wenn sie zum Handeln kommen, handeln sie identisch. Es steht da ein guter Satz bei de Maistre: »Jedes Kabinett ist von einem gewissen Geist beherrscht, der durchaus nichts mit der Moral oder irgendeiner menschlichen Empfindung zu tun hat. Wenn ein Kabinett in einem Zeitpunkt gerechter erscheint als ein anderes, so ist es, weil bekannte oder unbekannte Umstände es am Handeln hindern. Es ist gerecht, wie der Eunuch keusch ist.«

Eine alte verlorengegangene Wissenschaft, die Semantik, wieder zu beleben, war eine oft mit Remy de Gourmont durchgesprochene Lieblingsidee dieses Gelehrten, Dichters und Amoralisten. Sie ist ein Stück aus der Linguistik, nämlich die Geschichte vom Bedeutungswandel der Worte. Darein ist die ganze Politik begriffen. Es gibt nur sehr wenige Worte, die einen konstanten Sinn behalten. Es sind jene, die konstant bleibende Gegenstände bezeichnen, oder aus Tradition mit einem konstanten Gebrauch korrespondieren. Sonne, Pferd, Hand gehören zur einen Gattung, Brot zur andern. Daneben gibt's eine große Menge von Begriffen, die keine absolute Fixiertheit haben, und denen der Mensch im Ablauf der Epochen ganz verschiedene Bezeichnungen gibt. Und es gibt ganz fixierte Begriffe, die aber immer wieder ein neues Wort verlangen, sei es, weil es sich abgenutzt hat, sei es durch die Vulgarisierung der Idee. Das alte Wort stirbt aber nicht daran. Aus der einen Domäne gejagt, begibt es sich in eine andere, jagt da ein Wort fort und nimmt dessen Platz ein usw. Nur mit großer Geduld findet man sich in dieser Konfusion zurecht. Da gibt es zum Beispiel dieses alte Wort »liberal«. Zur Zeit der Restauration bezeichnete es etwa das, was man heute radikal nennt. Es knüpft an das Jakobinertum an. Bedeutete eine bestimmte Freiheit links, die sich gegen eine bestimmte Freiheit rechts stellte. Da begab sich in einem bestimmten Zeitmoment die Majorität eines Volkes nach der Freiheit links, und das Oppositionswort liberal konnte weiterhin nicht mehr eine Idee der Regierung ausdrücken. Da griff die Minorität derer von rechts das Wort auf und machte es zu ihrem. Der französische Liberale von ehemals war antiklerikal. Der Liberale von heute ist klerikal. Der alte Liberale meinte Freiheit gegen die Geistlichen. Der von heute meint: Freiheit der Geistlichen. Die Farben des politischen Spektrums wechseln nicht, wohl aber die Bezeichnungen. In der französischen Politik hat sich der konservative Geist unter folgenden wechselnden Namen verborgen: Monarchisten, Liberale, Railiierte, Progressisten, Republikaner, Radikale. Solcher Wechsel amüsiert das Volk und gibt ihm die Illusion eines Fortschrittes zu ihm hin. Zumal ja auch keine Partei es versäumt, ihrer Wortbezeichnung das Wort »Volk« hinzuzufügen, ein Standardwort der politischen Semantik. Gourmont wollte immer ein kleines Lehrbuch dieser Wissenschaft schreiben, nach dem sie in den letzten Klassen der Gymnasien gelehrt würde. Statt der Vaterlandskunde, die nur eine verkappte politische Dressur ist. Aber da kam der Krieg, und Gourmont erkannte, daß es aussichtslos wäre. Er votierte ohne sonderliche Begeisterung »Vaterland« und starb. Vielleicht auch daran.


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