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Um neun Uhr segelte die Flor de Mayo gegenüber von Sagunt, »zwischen der Ròca del Puig und dem Algar de Murviedro«, wie der alte Batiste nach seiner Gewohnheit, sich mehr nach den unterseeischen Höhen und Tiefen als nach den bekannten Punkten der Küste zu orientieren, die Stelle bezeichnete.
Kein anderes Paar hatte sich so weit vorgewagt. Die übrigen Barken zogen sich wie eine Reihe weisser Punkte von Valencia bis Cullera längs der Küste hin.
Der Himmel war fahlgrau, das Meer von einem solch tiefen Violett, dass die Wellentäler wie Ebenholz glänzten. Scharfe, kalte Böen fegten über das Wasser und rissen an dem Takelwerk der Flor de Mayo.
Mit vollen Segeln am Winde zogen die beiden Boote das schwerer und schwerer werdende Netz hinter sich her.
Der Rektor sass am Heck. Aber kaum, dass er dann und wann einen Blick auf das Meer warf. Auch die Hand an der Steuerpinne bewegte sich rein mechanisch, um den Kurs innezuhalten. Seine Augen hingen an Tonet, der ihn seit der Abfahrt zu meiden schien. Manchmal schweifte sein Blick dann zu Pascualet, dessen winzige Gestalt sich am Fuss des Mastes aufreckte, als wollte er diesem Meere Trotz bieten, das auf seiner zweiten Reise Gelüste zeigte, sich aufrührerisch zu benehmen.
Heftiger stampfte die Bark bei dem stärker werdenden Seegang, doch die an rauhes Wetter gewöhnten Matrosen gingen gleichmütig über das schwankende Deck, als drohte nicht die Gefahr, bei jedem Schritt über Bord zu fallen.
Das braungebrannte Gesicht des Rektors war bleich. Tiefe Ränder zogen sich um die Augen, und über die zusammengekniffenen Lippen kam kein Wort.
Rosario war im Recht! Wie hatte ihm nur diese auffallende Ähnlichkeit entgehen können?
Er warf hasserfüllte Blicke auf das Meer, auf seine Bark und sogar auf die Mannschaft, die ihn voller Unruhe verstohlen beobachtete, im Glauben, das drohende Unwetter verursachte seine grimmige Laune.
Warum noch weiter arbeiten? … Diese Hündin, die ihn zum Gespött der Leute gemacht hatte, würde er auf die Strasse setzen. Und fort mit allen Träumen, aus Pascualet den ersten Patron von Cabañal zu machen. Was ging ihn dieses Kuckucksei noch an?
Jetzt hasste er auch die Flor de Mayo, sein hölzernes Kind, zu dem er beim Bau so oft von seinen frohen Zukunftsträumen gesprochen hatte.
Das Netz zog immer mehr, und von der anderen Bark wurde angefragt, ob man nicht aufholen sollte.
»Gut, holt auf!« sagte der Rektor mit bitterem Lächeln. Ob jetzt, ob später, war ihm so gleichgültig.
Sofort begannen alle Mann an dem dicken, straffgespannten Tau zu ziehen.
»Das heisst Glück haben! Die Fische müssen zentnerweise im Netz sein,« meinten sie schmunzelnd.
Am Bug kauerte, von den Spritzern durchnässt, der alte Batiste, unentwegt den Horizont im Osten beobachtend, wo die bleigrauen Wolken sich zu einem dunklen Klumpen zusammenballten. Er rief dem Patron zu, hinüberzusehen, doch der starrte auf die Mannschaft an der Reling. Durch Zufall stand der kleine Pascualet neben seinem Onkel, so dass die Ähnlichkeit der beiden Gesichter noch mehr in die Augen fiel.
»Pascualo! … Pascualo!« schrie Batiste aufgeregt.
»Da ist er!«
Der Sturm, den der Alte seit der Frühe erwartete, kam. Durch die schwarze Wolkenmasse, die sich mit rasender Schnelligkeit näherte und dabei ständig vergrösserte, fuhr ein bläulich flammender Blitz. Dann knatterte ein Donner, als wäre der Himmel ein unendlich grosses Stück Leinwand, das mit einem Ruck durchriss.
Wie von einer Riesenfaust am Kiel gepackt, legte sich die Flor de Mayo auf die Seite. Die See brach über das Verdeck, das gewaltige Segel sank auf die Wogen, flatterte und fiel nieder wie ein tödlich getroffener Vogel.
Nur Sekunden dauerte diese kritische Situation.
Schon krochen Batiste und der Rektor am Deck entlang, um die Hisstaue loszumachen. Das Segel kam herunter.
Aber die Bark, die sich wohl wieder aufrichten konnte, drehte sich jetzt, da das Steuer verlassen war, wie ein Kreisel auf den schäumenden Wellen.
Pascualo stürzte nach hinten und ergriff die Pinne die enorme Last des Schleppnetzes jedoch hinderte das Boot, dem Steuer zu gehorchen.
Plötzlich sah er, dass das Partnerboot ihm das Heck zudrehte. Die Mannschaft hatte das Schlepptau gekappt; die Bark flüchtete nach Valencia, verfolgt von dem rasenden Sturmwind, der ungeheure Wogen vor sich her jagte. Wie steile Mauern rollten sie vom Osten heran, krümmten sich jäh und fielen mit ohrenbetäubendem Getöse zusammen.
Es war hohe Zeit, sich, dem Beispiele des anderen Bootes folgend, von der hindernden Bürde zu befreien. Der Patron befahl, auch auf der Flor de Mayo das Tau zu kappen. Die schwere Masse sank in die Tiefe, und williger folgte die Bark dem Steuer. Fast das ganze Segel lag auf dem Deck, trotzdem schoss sie mit der wenigen Leinwand, die noch stand, in schwindelerregender Fahrt durch das Wasser.
Jetzt zeigte aber der Rektor seine ganze, schon so oft in der Gefahr bewiesene Kaltblütigkeit.
Der Augenblick zu wenden war gekommen – dieser gefährliche Augenblick, denn fasste eine der haushohen Wogen sie beim Manöver von der Seite, so konnten sie vom Leben Abschied nehmen.
Aufrecht stehend, die Pinne festumklammert, beobachtete Pascualo die gigantischen, rapide weiter gleitenden Wellenberge und wartete auf den einen günstigen Moment, um zwischen zweien dieser Monstren das Steuer umzulegen.
Jetzt! …
Das Manöver gelang. Und rechtzeitig! Kaum hatte die Flor de Mayo gewendet, als sie von einer riesigen Woge achtern gefasst und fast senkrecht aufwärts getragen wurde, wobei ihr Bug im Gischt vollkommen verschwand. Weiter rollte die enorme, grüne Masse und liess das bebende, schaukelnde Boot hinter sich in ruhigerem Wasser.
Erschreckt folgten ihr die Blicke der Matrosen. Sie sahen, wie sie sich krümmte, einen Bogen von dunklem Smaragd über der fliehenden Partnerbarke bildete und in einem Chaos von wallendem Schaum und zischenden Wirbeln zusammenbrach, aus dem allmählich – als einzigster Rest – ein Stück von dem gebrochenen Mast und die bauchige Wand einer Tonne hervorkam.
»Requiescant in pace,« bekreuzigte sich Väterchen Batiste.
Die Leute, die sonst stets über ihn spotteten, waren blass geworden und antworteten mit beklommener Stimme: »Amen.«
Im gleichen Moment schrie Pascualet entsetzt:
»Vater! Vater!«
Seine Hand zeigte zum Bug, wo sich kurz vor dem Wenden der Schiffsjunge angeklammert hatte. Ohne dass es jemand bemerkte, hatte ihn die mörderische Woge fortgetragen …
Auf der Flor de Mayo herrschten Schrecken und Bestürzung wie immer in den ersten Minuten, wenn man sich der Grösse einer Gefahr in vollem Umfange bewusst wird. Unaufhörlich durchschnitt den bleifarbenen Himmel das Zickzack der Blitze, feurige Schlangen, die zum Wasser niederschossen, um ihre glühenden Eingeweide zu kühlen. Noch stärker als das Getöse des rasenden Meeres war das Krachen des Donners; bald kurze, harte Schläge wie Artilleriefeuer, deren Echo endlos widerhallte, bald das scharfe, schneidende Geräusch, mit dem Stoff zerreisst. Und ein heftiger Platzregen rauschte nieder – Wassermassen, als wollten sie das Meer zum Überfluten bringen.
Der Rektor gab sich Mühe, seine Mannschaft zu beruhigen.
»Was soll das bedeuten? Zum Teufel, ihr wollt Fischer von Cabañal sein und zittert? Es sieht ja aus, als ob ihr zum ersten Male draussen wäret. Kennt ihr vielleicht nicht die Scherze, die der Ostwind treibt? Das wird schon vorübergehen, und wenn nicht – was gewinnt ihr mit eurer Angst? Denkt an das Sprichwort:
Besser verspeist von den Muränen,
Als betrauert von den Kaplänen.
Mut, Carajo! Und jeder bindet sich jetzt an!«
Batiste und die beiden Matrosen knüpften sich mit Tauen an den Mast, während Tonet seinen kleinen Neffen achtern an einem Ring festband. Als er sah, dass sein Bruder für sich selbst auf jede Vorsichtsmassregel verzichtete, wollte er ihm an Kaltblütigkeit nicht nachstehen und klammerte sich, niedergehockt, mit beiden Händen am Bordrand fest.
Niemand sprach mehr auf der Flor de Mayo. Von Regen und Seewasser triefend, hatte jeder Mühe, sich bei den schrecklichen Stössen auf den Beinen zu halten. Wenn die Bark auf dem Rücken einer Woge in die Höhe glitt, – einen Moment mit dem halben Kiel in die Luft ragend, als wollte sie davonfliegen – konnten sie am düsteren Horizont die anderen Boote von Cabañal sehen, die mit kleinem Sturmsegel vom Orkan zum Hafen gejagt wurden.
Pascualo glaubte, aus einem qualvollen Schlafe zu erwachen. Wie an ein schweres Alpdrücken erinnerte er sich an die in den Dorfstrassen verbrachte Nacht, sein unmässiges Trinken und die törichte Ausfahrt. Elender Narr! Er schämte sich … War er nicht noch schlechter als das ehebrecherische Paar? Wenn er das Leben satt hatte, konnte er sich einen Stein an den Hals binden und von der Mole ins Meer stürzen. Wer aber gab ihm das Recht, so viele brave Familienväter in den Tod zu hetzen? Welche Empörung musste in Cabañal herrschen, da sich durch seine Schuld die halbe Bevölkerung in diesem Sturme befand! Er dachte an seine Partnerbark, die vor seinen Augen vom Meer verschlungen wurde. Wie viele Fahrzeuge mochten ausser ihr zu dieser Stunde schon untergegangen sein? … Und voller Verzweiflung schaute er auf seine angebundenen, von Sturzseen gepeitschten Leute, die dem Tode ins Auge sahen, nur weil sie ihm gehorcht hatten.
Was lag an seinem Bruder, an seinem Sohn! … Aber die anderen? Die beiden Matrosen, die ihre Mütter ernährten? Und der alte Batiste, der Freund seines Vaters, der so vielen Gefahren wie durch ein Wunder entronnen war?
Bei dem Anblick dieser drei Männer, denen die Stricke das Fleisch wundscheuerten, die sich jämmerlich duckten unter der Wucht der unaufhörlich wie Hammerschläge auf sie niederfallenden Brecher, vergass er ganz, dass er ihre Gefahr teilte, fühlte nicht die Seen, die über ihn hinwegpeitschten, ohne seinen robusten Körper erschüttern zu können, der an das Steuer festgenagelt zu sein schien.
Er musste, musste seine Leute retten …
Und jeder Gedanke des Rektors galt nur noch der Führung der Flor de Mayo. Die augenblickliche Situation beunruhigte ihn nicht so sehr – die Bark war stark und der Sturm kam von hinten. Aber ihm graute vor der engen Einfahrt zum Hafen, die schon so manchem das Leben gekostet hatte.
In der nebligen Ferne tauchte die gefürchtete Mole auf wie die Flanke eines vom Sturm auf die Küste geworfenen Wals. Grosser Gott, wenn es ihm gelänge, herumzukommen …
Jedesmal, wenn das Boot von einer Woge emporgetragen wurde, schaute der Patron nach diesen Felsen, auf denen unzählige schwarze Punkte kribbelten – die Einwohnerschaft von Cabañal, die mit tödlicher Angst im Herzen dem furchtbaren Ringen zwischen Sturm und Menschen zusah.
Seit den ersten Donnerschlägen drängte sich diese Menge am Fusse des Leuchtturms, als könnte ihre Gegenwart den Angehörigen in diesem entsetzlichen Kampfe helfen.
Am äussersten Ende stand, totenblass, Dolores und klammerte sich an Siña Tona, die dem Wahnsinn nahe war. Sie hielten die Hände gefaltet, gelobten Messen, ungeheure Kerzen und sprachen in flehendem Ton zur Jungfrau vom Rosenkranz und zum Heiligen von Grao, als ständen die beiden dicht neben ihnen.
Von Gischt übersprüht, kauerte Tonets Frau hinter einem Stein und betrachtete unbeweglich wie eine Sphinx das entfesselte Meer. Auf dem höchsten Punkt der Mole aber reckte Mütterchen Picores ihren massigen Körper. Ihr runzliger Mund zitterte vor Zorn, ihre geballte Faust drohte dem Wasser. Und trotz ihrer grotesken Erscheinung lag in ihrer Haltung etwas Erhabenes.
»Aas!« schrie sie dem Meere zu. »Du bist gemein wie eine Frau!«
Stärker prasselte der Regen. Die Kleider klebten an der Haut, und wer sich nicht festhielt, wurde vom Sturmwind wie ein Rohr hin- und hergeschüttelt.
Verfluchter Rektor! Er allein war schuld. Wenn ihn doch das Meer verschlingen wollte! Und die Frauen seiner Familie senkten stumm den Kopf, erdrückt von der Wucht dieser allgemeinen Anklage.
Immer mehr Barken gelang es, in den Hafen hineinzukommen, doch der enge Kanal wurde ständig gefährlicher. Nur noch drei Boote waren zu sehen. Eine Stunde lang kämpften sie verzweifelt, bis ihnen endlich die Durchfahrt glückte.
Minuten später zeichnete sich am Horizont eine einsame Bark ab, die rapide näherkam, trotzdem sie fast gar keine Leinwand führte.
Die Männer, die vorn zwischen den Felsen auf dem Bauch lagen, um von den überbrechenden Wogen nicht fortgespült zu werden, blickten sich verstört an.
»Die muss daran glauben! Sie kommt zu spät. An eine Durchfahrt ist nicht mehr zu denken.«
Allmählich erkannten ihre scharfen Augen das Boot. Es war die Flor de Mayo.
Wohl führte dort draussen der Rektor weiter mit fester Hand das Steuer, ein Zittern überlief ihn jedoch beim Gedanken an den bevorstehenden Kampf. Er sah kein Boot mehr vor sich. Wie viele mochten im Hafen sein? Wie viele hatten ihr Grab draussen gefunden?
In seiner quälenden Unruhe fühlte er ein Bedürfnis nach Ermutigung.
»Batiste, du kennst den Golf wie kein anderer,« wandte er sich an den Alten. »Was glaubst du, werden wir hineinkommen?«
Batiste schüttelte traurig den Kopf. Ein Ausdruck tapferer Ergebung verschönte sein verwittertes Bocksgesicht.
»In weniger als einer Stunde ist alles zu Ende – Menschen und Barke. Die Einfahrt in den Hafen ist unmöglich. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie einen solch furchtbaren Oststurm mitgemacht.«
»Gut, dann werde ich an der Küste entlang segeln, bis er nachlässt.«
Wieder bewegte Batiste verneinend den Kopf.
»Auch das geht nicht. Dieser Sturm dauert wenigstens zwei Tage. Möglich, dass das Boot solange aushält, aber das nutzt nichts. Entweder laufen wir auf die Klippen von Cullera oder zerschellen am Kap San Antonio. Sterben müssen wir auf jeden Fall – und dann besser am selben Ort, wo so viele unserer Vorfahren umgekommen sind. Helfen könnte uns nur noch der wundertätige Christus von Grao.«
Und Väterchen Batistes rechte Hand holte unter seinem Hemd ein von Schweiss oxydiertes Kruzifix hervor, das er andächtig küsste.
»Zum Teufel auch! Eine Betschwester hat uns gerade noch gefehlt!« höhnte Tonet, und auch die beiden Matrosen fluchten lästerlich, als müssten sie ihrer Verzweiflung in gottlosen Reden Luft machen.
Der Rektor zuckte die Achseln. Er war gewiss ein guter Christ, – das konnte der Pfarrer von Cabañal bezeugen – aber hier durfte man sich nicht mehr auf den wundertätigen Christus verlassen.
Schon machte sich die Nähe der Mole auf der Flor de Mayo bemerkbar. Die Wogen kamen nicht wie bisher nur von hinten, sondern fassten sie, von der Felsenmauer zurückprallend, jetzt auch von vorn, und gegen zwei Gefahren musste die Bark kämpfen: den Sturm und die Brandung.
Trotz ihrer soliden Konstruktion ächzte die Flor de Mayo in allen Fugen. Kaum noch dem Steuer gehorchend, wurde sie bald vom Sturm ein Stück vorwärts getrieben, bald von den abflutenden Wassermassen wieder rückwärts geschleudert. Doch jedesmal, wenn eine Woge über sie hinwegbrauste, kam sie, dank den dichthaltenden Luken, wieder zum Vorschein und schwamm tapfer weiter.
Pascualo sah das Verzweifelte seines Vorhabens ein. Von der fürchterlichen Brandung gefasst, konnte er nicht mehr zurück. Erwies sich die Einfahrt unmöglich, so mussten sie hier untergehen.
Deutlich unterschied er auf der nahen Mole die Menschenmenge, deren Schreckensschreie manchmal bis zum Boot drangen.
Carajo! Ein trauriges Los, vor den Augen seiner Freunde, fast in Rufweite von ihnen, zu sterben, ohne dass sie Hilfe bringen konnten.
»Verdammtes Meer! … Verfluchter Oststurm! …« Und ausser sich vor Wut, spuckte Pascualo auf die Wogen, während die Flor de Mayo, wie ein Ball von den tosenden Wirbeln umhergeworfen, ihren Mast mal auf der linken, mal auf der rechten Seite tief ins Wasser tauchte.
»Achtung!«
Der letzte Kampf begann. Eine verräterische, fahle Woge kam von hinten, – ohne Schaum, ohne Geräusch – fiel auf das Heck und fegte das Deck mit eiserner Faust.
Der furchtbare Schlag, der Pascualo in den Rücken traf, drückte seinen Kopf bis auf die Knie, aber seine Hand liess das Steuer nicht los. Sekundenlang glaubte er zu ersticken, hörte ein entsetzliches Krachen, als bräche das Boot auseinander, und fühlte, endlich wieder aus dem Wasser auftauchend, dass etwas ihn berührte – etwas, das die Wogen wie ein Wurfgeschoss hin und herschleuderten.
Es war die Wassertonne, deren Taue gerissen waren, und die jetzt mit rasender Geschwindigkeit über das Deck rollte, alles auf ihrem Wege zertrümmernd. Sie streifte Pascualets Gesicht und liess blutige Spuren zurück. Weiter sauste sie wie ein Riesenhammer gegen den Fuss des Mastes, wo sich die beiden Matrosen und Batiste angebunden hatten …
Trotz seiner Kaltblütigkeit bedeckte Pascualo seine Augen mit der Hand, um dem grausigen Anblick zu entgehen. Die Tonne war auf den jüngeren Matrosen gefallen und hatte ihm den Kopf zermalmt. Dann sprang sie – wie ein vom Ort seiner Tat fliehender Mörder über Bord und verschwand im Schaum der Strudel.
Der Kopf des Toten bildete nur noch einen blutigen Brei, von dem das Wasser immer mehr Teile wegriss. Und der alte Batiste musste mit dem anderen Matrosen neben diesem verstümmelten Leichnam ausharren, der sich bei dem Schleudern der Bark an ihnen rieb und sie mit Blut besudelte.
»Allmächtiger Gott!« rief der Alte verzweifelt. »Mach' ein Ende! Warum setzest du ehrliche Männer solcher Marter aus?«
Seine kraftlose, gebrochene Stimme versuchte, das Toben von Sturm und Meer zu überschreien.
»Lass das Steuer fahren, Pascualo! Lieber an den Felsen zerschmettern, als diese Todesangst noch verlängern.«
Doch der Rektor hörte nichts. Ihn beschäftigte ausschliesslich ein Knistern und Krachen von Holz. Und die Gefahr erratend, hielt er die Augen auf den sich in beunruhigender Weise neigenden Mast gerichtet.
Nicht einmal den kleinen Pascualet beachtete er, der mit blutüberströmtem Gesicht leise jammerte:
»Vater! Vater!«
Ach, sein Vater konnte nur wenig helfen. Er bemühte sich, die wütendsten Sturzseen zu vermeiden und das Boot von den Felsen abzuhalten. Um die Aussenmole herumzukommen, war unmöglich.
Plötzlich befand sich die Flor de Mayo in einem Abgrund zwischen zwei glänzenden, dunklen Wassermauern, die auf einander zukamen und die Bark in ihre Mitte nehmen mussten. Jetzt stiess sogar der Rektor einen Schreckensruf aus.
Im selben Moment geschah der Zusammenprall. Mit einem fürchterlichen Krach versank die Bark in dem rasenden Strudel.
Als sie wieder auftauchte, war ihr Deck glatt rasiert – der Mast unmittelbar über den Planken abgebrochen und mit dem Segel und den angebundenen Männern verschwunden.
Auf der Mole hatte man den Zusammenstoss beobachtet, und als die Flor de Mayo ohne Mast, hilflos auf dem Wasser treibend, wieder sichtbar wurde, stellten sich einige mitleidige Fischer vor Siña Tona und Dolores, um ihnen den weiteren Anblick des verzweifelten Kampfes zu ersparen, dessen tragischer Ausgang gewiss war.
Die Bark gehorchte dem Steuer nicht mehr, und die Wogen rissen sie in tollem Jagen nach den Felsen … Durch einen Zufall wurde sie, statt gegen die der Mole vorgelagerten Klippen zu prallen, von einer mächtigen Woge hinübergetragen. Und für eine Sekunde konnte Pascualo die gewaltigen Blöcke sehen, auf ihnen die vielen vertrauten Gesichter.
Erbärmliches Schicksal! So nahe – und sterben müssen!
Schon im nächsten Moment war die Flor de Mayo wieder weit ab von der Mole und trieb geradenwegs nach den verhängnisvollen Sandbänken von Nazaret.
Tonet, der sich halbbetäubt am Heck festklammerte, fasste neuen Mut, als sie an der Mole vorbeiglitten. Eine Vision des Lebens verdrängte seine Verzweiflung. Nein, er wollte nicht sterben! Zwischen der Gewissheit, in einer halben Stunde auf den Sandbänken zu scheitern und der Möglichkeit, hier an der Mole bei einem Versuche, sich zu retten, zerschmettert zu werden, zog er das letztere vor. War er nicht überdies der beste Schwimmer von Cabañal?
Auf Händen und Füssen kroch er bis zu der eingedrückten Luke und stieg hinunter.
Pascualo beobachtete ihn mit stummer Verachtung. Er spürte keine Gewissensbisse mehr. Gott meinte es gut und hatte ihm erspart, ein Verbrechen auf sich zu laden. Noch Minuten – dann würde er mit seinem schurkischen Bruder untergehen. Und was die an Land betraf … mochte sie leben! Gab es eine grössere Qual, als auf der Welt zu bleiben? Jetzt kannte er die Lüge des Lebens. Die einzige Wahrheit war der Tod, der nie betrog.
Während diese Gedanken sich schnell in seinem Kopfe folgten, sah er seinen Bruder auf dem zerbrochenen Deck wieder auftauchen, in der Hand den Rettungsgürtel, Siña Tonas Geschenk, das vergessen im Raum gelegen hatte.
»Was hast du vor?« fragte der Rektor mit harter Stimme.
Aber Tonet liess sich nicht einschüchtern.
»Was ich vorhabe? Ins Wasser springen. Jetzt heisst es: rette sich, wer kann. Ich habe keine Lust, wie eine Ratte hier an Bord zu krepieren.«
Pascualo stiess einen fürchterlichen Fluch aus.
»Nein, du bleibst! Wir sterben zusammen, und du bezahlst mit deinem Tod, was du mir angetan hast.«
Mit der Gefahr erstand in Tonet wieder der alte Raufbold, der sich über alles hinwegsetzte. Herausfordernd blickte er seinen Bruder an, und in der Haltung der beiden Männer lag etwas, das grausiger war als der Orkan.
»Vater! … Vater!« rief das verlöschende Stimmchen Pascualets.
Da erst erinnerte sich der Rektor wieder an das Kind. Er liess das nutzlose Steuer fahren, zog sein Messer und zerschnitt die Stricke des Kleinen.
»Her mit dem Gürtel!« gebot er seinem Bruder.
Der hob, ohne zu antworten, den Gurt hoch, um die Arme durchzustecken.
»Kanaille!« schäumte Pascualo. »Glaubst du, ich sei noch immer blind? Du bist es, den ich in der vergangenen Nacht durch die Strassen hetzte, als du von dieser H… kamst. Du bleibst! Wir gehen gemeinsam zugrunde. Aber der Kleine ist unschuldig; er soll nicht sterben. Schnell, den Gürtel, für ihn, die Frucht der Schande – dein Kind. Gehorche … oder ich steche dich nieder wie einen tollen Hund.«
Doch Tonet lächelte zynisch.
»Vielleicht hast du Recht, dass Pascualet mein Kind ist. Aber jeder ist sich selbst der Nächste.«
Er kam nicht mehr dazu, den Gürtel überzustreifen. Wie ein Blitz fiel sein Bruder über ihn her.
Der Kampf auf dem glitschigen Deck dauerte nur Sekunden. Zweimal von Pascualos Messer getroffen, brach Tonet zusammen …
Sorgfältig schnürte der Rektor das Kind im Gürtel fest, warf es über Bord und sah es hinter dem Kamm einer Woge verschwinden.
Jetzt blieb ihm nichts mehr übrig als zu sterben auf seinem Deck zu sterben wie sein Vater.
Von dem Kampf an Bord hatte man auf der Mole nichts wahrnehmen können, wohl aber bemerkt, wie ein grosses Bündel ins Wasser flog.
Noch eine atemlose Pause – dann ertönte ein entsetzlicher Schrei auf den Felsen: die Flor de Mayo, seitwärts von einer mächtigen Woge erfasst, war gekentert, zeigte noch einmal ihren Kiel und versank.
Leer war die tobende Wasserfläche bis auf das Bündel, das näher und näher zur Mole gerissen wurde. Jetzt konnten die Fischer auch den Rettungsgürtel erkennen und errieten, dass der kleine Pascualet darin steckte. Der erste Anprall an die Felsen musste ihn zerschmettern …
Mutter und Grossmutter winselten vor Schmerz:
»Gibt es keine mitleidige Seele, die das Kind rettet?«
Ein verwegener Matrose, der den Jammer nicht ansehen konnte, liess sich anseilen und kletterte die halsbrecherische Wand bis zu den zackigen, von der Brandung umtosten Klippen hinunter.
Mehrere Male schlug der kleine Körper in seiner Nähe gegen die Felsen, aber dieselbe Woge, die ihn brachte, nahm ihn sofort wieder mit zurück. Wieder glitt der Ring vorwärts – da sprang der Mann, tollkühn, nur am Strick hängend, ihm entgegen.
Armer Pascualet! Mit starren, bläulichen, von den Felszacken zerrissenen Gliedern lag er auf der Mole.
Wortlos streichelte die Grossmutter das hübsche Köpfchen … Irre Blicke um sich werfend, raufte sich Dolores das schöne, blonde Haar.
»Mein Kind! Mein Kind!«
So verzweifelt klang dieses Stöhnen, dass sogar Rosario – die Verschmähte, die Unfruchtbare – weich wurde.
Oben aber stand, alle überragend, die alte Picores wie eine Rachegöttin.
Sie zeigte dem Meere nicht mehr die Faust. Voller Verachtung drehte sie ihm jetzt den Rücken und drohte landeinwärts in der Richtung zum Turm del Miguelete, der über der fernen Dächermasse von Valencia emporwuchs.
Dort war der Feind – der wahre Urheber dieser Katastrophe!
»Ah, einen Duro müsste jedes Pfund Fisch kosten!«
Und der Mund der alten Hexe floss über von Schmähungen gegen die Städter.