Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V

Es donnerte frühmorgens in Cabañal. War es das Grollen eines aufziehenden Gewitters?

Leicht gekleidet, mit wirrem Haar und schlaftrunkenen Augen liefen die Frauen zur Tür, um die grotesken Gestalten zu bewundern, die sich unter dem Dröhnen der Kesselpauken überall versammelten, als wäre durch eine Verwirrung im Kalender Karneval auf Karfreitag gefallen. Und dabei diente dieser ganze fromme Mummenschanz nur dazu, die vergessliche und sündhafte Menschheit von Cabañal daran zu erinnern, dass noch vor Ablauf einer Stunde Jesus und seine Mutter sich in der Mitte der San Antonio-Strasse, beinahe an der Tür der Taverne vom alten Chulla, treffen würden.

Zuerst sah man, in weite Kutten gehüllt, eine hohe, spitze Astrologenmütze über der aufgerollten Gesichtsmaske, die »Vestas«. Über dem linken Arm hing die lange Schleppe ihres düsteren Gewandes, während sie sich mit der rechten Hand auf einen langen Ebenholzstab stützten. Einige besonders Eitle trugen noch weisse, plissierte Unterröcke, unter denen die umgekrempelten Hosen und grausam engen Zugstiefel zum Vorschein kamen.

Ihnen folgten die Juden, in schrecklichen Kostümen, die aus der ärmlichen Garderobenkammer einer Provinzschmiere entnommen zu sein schienen. Ihre Ausstaffierung war das, was der Volksmund mit dem vagen Ausdruck »Kriegertracht« bezeichnet: von Goldflittern, Stickerei und Fransen strotzender Waffenrock; ein Helm, den ein Busch von Hahnenfedern krönte, und ein dickes Maschengewebe, das, so gut es eben ging, ein Panzerhemd nachahmte. Die Komik dieser Maskerade konnte nicht mehr übertroffen werden, als zwischen den düsteren Vestas und den kriegerischen Juden die »Grenadiere der Heiligen Jungfrau« auftauchten, stramme Burschen mit ungeheuren Mützen wie die Blechhauben der Soldaten Friedrich des Grossen und einer schwarzen Uniform, deren silberne Tressen Sargbeschlägen ähnelten.

Diese sonderbaren Gestalten forderten zum Lachen heraus, aber wer hätte den Mut dazu gehabt, angesichts der Inbrunst, die das Bewusstsein, ein Ehrenamt auszuüben, diesen ernsten, braunen Gesichtern verlieh! … Ausserdem lacht man nicht ungestraft über Schwerbewaffnete – denn in den Händen von Juden und von Grenadieren blitzten zum Schutze des Erlösers und seiner heiligen Mutter blanke Waffen aller Art und aller Dimensionen, Waffen aller Zeiten, vom Altertum bis zur Gegenwart.

Hinter ihnen her lief die gesamte Dorf Jugend, geblendet durch den Glanz der Uniformen. Und Mütter und Schwestern, Bräute und Freundinnen standen in den Haustüren und flüsterten:

»Reina y Siñora, wie schön sie sind!«

Je mehr die Dämmerung der Morgenröte wich, desto lauter wirbelten die Trommeln, desto gellender bliesen die Hörner, just, als zöge eine ganze Armee in das Dorf ein.

Die verschiedenen Abteilungen rückten jetzt in Reihen zu viert zum Einholen der Fahnen ab, die an den Häusern ihrer Anführer wehten – grosse, mit den schaurigen Attributen der Passion bestickte Standarten aus schwarzem Samt.

Der Rektor, durch erbliches Recht Hauptmann der Juden, war schon lange vor Tagesanbruch aus dem Bett gesprungen, um in die prachtvolle Uniform zu schlüpfen, die, zwölf Monate in einer Truhe eingemottet, von der Familie als grösster Schatz behütet wurde.

O weh! Welche Qualen musste der Ärmste, der jedes Jahr an Beleibtheit zunahm, beim Anlegen des engen, baumwollenen Kettenpanzers ausstehen! Seine Frau, noch im Nachthemd, zerrte hier, presste dort, um die kurzen Beine und den dicken Bauch hineinzuzwängen, während Pascualet aufrecht im Bett sass und mit erstaunten Augen nach seinem Vater schaute, der ihm ganz fremd vorkam mit diesem wallenden Helmbusch und dem schrecklichen Reitersäbel, der mit einem Höllenlärm gegen die Möbel klirrte.

Endlich war das mühevolle Werk geglückt. Die Rüstung sass zwar nicht ganz so, wie sie sollte, – die Unterwäsche ballte sich an den Schenkeln in Wülsten zusammen, als hätte der Jude grosse Geschwüre an den Beinen – aber man musste Schluss machen. Armer Rektor! Der verflixte Panzer schnürte seinen Bauch so fest ein, dass er nach Luft schnappte; der schwere, innen zu stark eingefettete Helm rutschte ihm über die Stirn und beschädigte sein Nasenbein. Doch jetzt: Haltung! Er zog den ungeheuren Säbel, ahmte mit sonorer Stimme den Trommelwirbel nach und schritt martialisch vor dem Bett auf und ab, als wäre sein Sonn ein Prinz, bei dem er Posten stand.

Dolores' Blicke folgten ihm. Seine krummen Beine reizten sie zum Lachen, aber immerhin gefiel er ihr besser so, als in dem nach Teer riechenden Zeug, das er wochentags trug.

Vom Ende der Strasse ertönte schmetternde Musik: die Juden kamen. Hastig kleidete sich Dolores an, während der Hauptmann seiner Truppe bis an die Grenze seiner Domäne entgegenging.

Trommelwirbel vor der Tür, und die blitzende Abteilung bewegte auf der Stelle taktmässig Füsse, Körper und Kopf, bis Tonet und zwei andere Krieger mit unerschütterlichem Ernst die Standarte vom Balkon herabgeholt hatten.

Dolores, die neugierig durch die Gardinen spähte, stellte unwillkürlich einen Vergleich an zwischen den beiden Brüdern. Tonet in seiner militärischen Haltung ganz wie ein wirklicher Offizier! Und waren seine Beine nicht ebenso schlank, ebenso wohlgeformt wie die von Don Juan Tenorio, dessen Verse und Degenstiche im Teatro de la Marina sie nicht vergessen konnte? …

Die feierliche Handlung begann. Von verschiedenen Seiten kamen zwei Prozessionen. In der einen nahte, umringt von ihrer Grenadiergarde, die schmerzensreiche Madonna – in der anderen, auf einem Felsen von bemaltem Kork, der aus allen Poren blutschwitzende Jesus, halb zusammengebrochen unter dem Gewicht des schweren Kreuzes. Um seine Flucht zu verhindern, wurde er auf allen Seiten von den entmenschten Juden bewacht, die – mit feiner Betonung ihres Charakters – drohende Mienen zur Schau trugen. Ihnen folgten die Vestas, deren Schleppen jetzt durch alle Pfützen fegten – so finster und schauerlich mit ihren heruntergelassenen Masken, dass die Kinder in Tränen ausbrachen und hinter den Röcken ihrer Mütter Schutz suchten.

Inmitten der bewaffneten Scharen gingen dralle Mädchen mit bemalten Wangen, ein kleines Krüglein unter dem Arm als Kennzeichen, dass sie die biblischen Samariterinnen darstellten. Ohren und Hals schmückte blitzendes, von den Müttern leihweise besorgtes Geschmeide, und die knappen Röckchen liessen die dicken Beine in rot und weissgestreiften Strümpfen frei.

Aber diese kleinen Details störten nicht die Andacht der frommen Menge.

»Ay, Siñor, Deu meu!« seufzten die alten Fischhändlerinnen erschüttert, als sie den blutüberströmten Jesus in der Gewalt dieser vermaledeiten Bande erblickten.

Unter den Zuschauern sah man neben bleichen, erregten Gesichtern auch fröhliche Menschen, die von Valencia gekommen waren, um ein wenig zu lachen. Doch wehe, wenn sie sich zu offen über die komischen Figuren amüsierten! Sofort erhob irgendein Soldat des Pilatus mit drohender Gebärde das Schwert und brüllte entrüstet:

»Ihr Flegel, wollt ihr uns verspotten?«

Besonders stark war das Gedränge an dem Treffpunkt der beiden Prozessionen in der San Antonio-Strasse, gegenüber den aus Fliesen zusammengesetzten Gemälden, deren seltsame Figuren die Stationen des Leidensweges darstellen sollten. Hier stand auch Rosario, mit Ellenbogen und Knien verzweifelte Anstrengungen machend, um sich in der ersten Reihe am Rinnstein zu behaupten, und sprach zu aller Welt von ihrem Tonet.

»Habt ihr ihn gesehen? Gibt es in ganz Cabañal einen schöneren Juden?«

Plötzlich erhielt sie einen heftigen Stoss und wurde nach rückwärts gedrängt. Empört schaute die kleine Frau auf. Vor ihr stand ihre Schwägerin Dolores, die, den kleinen Pascualet an der Hand, mit ihrer gewohnten Herrschermiene die Menge nachlässig musterte.

»Diese Frechheit!« murmelte Rosario. »Und wie sie sich aufspielt!«

Zum grossen Ärger von Mütterchen Picores hatte sich die Versöhnung der beiden Schwägerinnen nicht als dauerhaft erwiesen. Wohl tauschten sie einen kühlen Gruss aus, doch der Ausdruck ihrer Augen liess neue Explosionen ahnen.

Der geringschätzige Blick, mit dem Dolores sie streifte, brachte Rosario noch mehr in Wut.

»Unverschämtes Weibsbild! Kommt und nimmt anderen Leuten den Platz weg … Wirklich, eine Anmassung sondergleichen! Platz für die Königin! … Und was ist sie im Grunde? Eine Person ohne jede Erziehung.«

Ihre Freundinnen in der Nähe lachten und zwinkerten ihr zu, um sie zu weiteren Ausfällen anzufeuern. Schon bewegte auch Dolores ihren blonden Kopf hin und her wie ein Löwin, die eine lästige Schmeissfliege summen hört, als plötzlich alles nach den Enden der Strasse schaute, wo die beiden Prozessionen erschienen.

Bisweilen verlangsamte die eine oder die andere ihren Schritt oder machte auch wohl halt, um im selben Augenblick den vorgesehenen Treffpunkt zu erreichen.

Über einem Wald von Federbüschen, Helmen und Schwertern flammte der violette Mantel von Jesus auf. Von der anderen Seite schwankte auf den Schultern ihrer Träger die Jungfrau heran, ganz in schwarzem Samt, das Gesicht von einem Trauerschleier umhüllt, durch den die Wachstränen auf ihren Wangen matt glänzten. Und zweifellos um diese Tränen trocknen zu können, trug sie in der Hand ein Spitzentaschentuch.

Auf die Madonna richtete sich die ganze Aufmerksamkeit der Frauen. Viele schluchzten.

»Ach, Himmelskönigin! Ach, liebste Herrin!«

Diese Begegnung musste ja das Herz zerreissen: eine Mutter, die ihren Sohn in solchem Zustande erblickte! War es nicht dasselbe, als wenn sie ihre guten, kreuzbraven Jungens auf dem Wege zum Gefängnis sehen würden? … Und die Fischerfrauen fuhren fort, vor der schmerzhaften Mutter Gottes zu jammern und zu stöhnen, gleichzeitig aber scharf darauf zu achten, ob das schwarze Samtkleid ein Schmuckstück mehr trug als im vergangenen Jahr.

Der grosse Augenblick war gekommen. Der ohrenbetäubende Lärm von Trommeln und Trompeten verstummte. Unbeweglich hielten die beiden Statuen einander gegenüber, während eine klagende Stimme ein Lied sang, das den ergreifenden Vorgang beschrieb.

Andächtig lauschte das Volk dem alten Graucha, einem bejahrten Seidenweber, der, von frommem Eifer getrieben, jedes Jahr von Valencia kam, um bei dem Feste mitzuwirken. Diese ergreifende Stimme! Wie sie ins Herz drang! … Nur einige Zecher in Chullas Kneipe lachten so laut, dass sich ein Sturm der Entrüstung in der devoten Menge erhob:

»Das Maul gehalten, zum Teufel!«

Feierlich hoben und senkten sich jetzt die beiden Statuen, schmerzliche, verzweifelte Grüsse austauschend …

Dolores sah nichts von diesen Zeremonien. Unverwandt hingen ihre Augen an dem schlanken Juden, und trotzdem sie ihrer Schwägerin den Rücken kehrte, erriet diese, wohin sich die Blicke der schönen Frau richteten.

»Seht ihr's?« tobte Rosario los. »Als ob sie ihn mit ihren Augen auffressen wollte … Diese Schamlosigkeit! Und das in Gegenwart ihres Mannes!«

Während die beiden Prozessionen sich nun vereinigten und gemeinsam zur Kirche zogen, setzte die eifersüchtige kleine Frau ihr Gezeter gegen die runden Schultern fort, die diesen stolzen blonden Kopf trugen.

Endlich drehte sich Dolores mit hochmütigem Blick um.

»Willst du mir vielleicht vorschreiben, wohin ich zu sehen habe?« Die goldenen Pünktchen in ihren schönen, grünen Augen leuchteten in bösem Glanz. »Behalte ihn nur, deinen Edelstein. Aber vergiss eins nicht: wenn man einen Mann hat, muss man auch verstehen, ihm zu genügen – doch mancher gelingt das eben nicht. Und dann merk dir: wer mich beleidigt kriegt was auf den Schnabel.«

»Mutter! Mutter!« weinte der kleine Pascualet, aber Dolores beugte sich schon vor, um über Rosario herzufallen.

»Was ist hier los? Immer das alte Lied?« brüllte da eine grobe Stimme, und die enorme Masse von Mütterchen Picores schob sich zwischen die beiden jungen Frauen. »Marsch, nach Hause, Dolores! … Und du Rosario, du giftige Zunge, hältst jetzt sofort den Mund.«

Ein paar rücksichtslose Stösse verschafften ihr Gehorsam.

»Allmächtiger, was für rabiate Menschen!« gab sie ihrer Empörung Ausdruck. »Sogar am Karfreitag während der Prozession müssen diese verdammten Kröten Skandal machen.«

Eine halbe Stunde später wusste das ganze Dorf von dem Auftritt.

In Tonets Hütte kam es zu einer lärmenden Szene, und noch bevor er sein Kostüm ablegte, gab er seiner Frau eine derbe Tracht Prügel, um sie von ihrer Eifersucht zu heilen.

Auch der Rektor sprach von dem Vorfall, als Dolores sich bemühte, ihn aus seiner Rüstung zu schälen.

»Dass Tonet ein Tunichtgut ist und den verfluchten Alkohol zu sehr liebt, wissen wir. Doch wegen dieses borstigen Stachelschweins kann man ihn nur bedauern … Familie bleibt Familie, und weil Rosario sich wie eine Närrin benimmt, werde ich meinem Bruder nicht die Tür verschliessen. Gerade jetzt nicht, denn wenn wir Glück haben, bietet sich ihm Gelegenheit, ein anderes Leben anzufangen.«

Dolores, noch immer blass von der Aufregung, nickte beifällig.

»Schliesslich,« fuhr ihr Mann fort, »genügt es, Rosario ganz aus dem Wege zu gehen, um Frieden zu haben. Und jetzt ans Geschäft!«

Als alle Glocken das Osterfest einläuteten, Raketen zischten und Schüsse knallten, entfaltete die Garbosa, als Fischkutter aufgemacht, ihr grosses, lateinisches Segel und entfernte sich langsam vom Strande von Cabañal – eine ruinierte Schönheit, die ihr Alter verbarg, um den Versuch einer letzten Eroberung zu machen.


 << zurück weiter >>