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Pascualo, der nachmittags verschiedene Einkäufe in Valencia erledigt hatte, befand sich auf dem Heimwege. Als er auf der Glorieta ankam, machte er vor dem früheren Zollpalast halt.
Es schlug sechs Uhr. Die schrägen Strahlen der Sonne gaben den gotischen Ornamenten einen warmen, gelben Ton, und wunderbar klar zeichnete sich die oben auf dem riesigen Gebäude stehende Statue Karls III. in der blauen, durchsichtigen Luft ab. Durch die vergitterten Balkone drangen allerlei Geräusche: halblaut gesummte Lieder, helle Rufe und das metallische Geklapper von Scheren.
Kaum verklang der letzte Glockenschlag, so quoll aus dem weiten Portal die ungeberdige Herde der Arbeiterinnen, den Platz mit ihren bunten Kattunröckchen überschwemmend. Wie Bachstelzen trippelten sie hierhin und dorthin oder standen in Grüppchen bei dem Limonadenkiosk, vor dem die Soldaten der Wache auf und ab gingen.
Der Rektor war gegenüber dem Tor, mitten zwischen den Zeitungsverkäufern, stehen geblieben. Es machte ihm Spass, die Ausgelassenheit der »Cigarreras« zu beobachten, die, mit ihren tief in die Stirn gezogenen weissen Kopftüchern den Eindruck unkeuscher Nonnen erweckten. Manche massen die Passanten dreist vom Scheitel bis zur Sohle, und der Blick ihrer schwarzen Augen schien die Männer zu entkleiden.
Als Rosario ihren Bruder bemerkte, trennte sie sich von ihren Begleiterinnen.
»Gehst du jetzt nach Hause? Gut, dann komme ich gleich mit. Es dauert doch noch eine ganze Weile, ehe sich meine Freundinnen auf den Weg machen. Und ich warte nicht gern.«
Kurz hinter der Glorieta nahmen sie die Landstrasse zum Hafen, und der Rektor, an seinen bedächtigen Seemannsgang gewöhnt, hatte Mühe, mit dem graziösen, flinken Mädchen, dessen kurzer Rock wie eine Regattaflagge hin und her wippte, Schritt zu halten.
»Soll ich dir das Körbchen tragen?« fragte er seine Schwester gutmütig.
»Schönen Dank,« wehrte sie ab, »ich bin so daran gewöhnt, es am Arme zu haben, dass ich ohne das Körbchen gar nicht gehen kann.«
Noch ehe der Puente del Mar vor ihnen auftauchte, sprach der Rektor schon wieder von seiner Flor de Mayo.
»Morgen beginnt die Schleppnetzfischerei; da wird sich ja zeigen, was meine Bark leisten kann. Seit gestern liegt sie im Wasser, und nun sieht man erst so recht den Unterschied zwischen ihr und den anderen. Ich sage dir: eine Señorita unter Dorfmädchen …«
Da aber alles mal ein Ende nimmt, erschöpfte sich trotz seiner Begeisterung allmählich auch das von den Vorzügen der Flor de Mayo handelnde Kapitel, und als sie an der Ziegelei von Figuetes vorbeikamen, hörte er seinerseits zu, wie sich Roseta bitter über die endlosen Schikanen der Meisterinnen beschwerte.
»Sie schmälern einem den Verdienst derartig, dass man ihnen am liebsten die Frisur zerraufen möchte. Es ist noch ein Glück, dass Mutter und ich mit wenig auskommen können. Doch diese Unglücklichen, die wie Schwarze arbeiten müssen, um eine Brut ewig hungriger Kleiner zu versorgen! Man sollte meinen, dass ihnen dabei die Lust zu Dummheiten vergeht … Aber das Gegenteil ist der Fall!«
Und mit ernster, absolut keuscher Miene erzählte Roseta ihrem Bruder eine üble Geschichte, wobei sie – ganz naiv in ihrer Unschuld – die krassesten Ausdrücke ihrer Kameradinnen wiederholte.
Eine verheiratete Arbeiterin aus ihrem Saal war in den Armen eines ihrer zahlreichen Freunde von ihrem Manne überrascht worden, der ihr bei der entsetzlichen Prügelei, die folgte, einen Arm gebrochen hatte.
»Welche Schande! Und obendrein hat diese Sau noch vier Kinder!«
Der Rektor lachte grimmig. »Ein gebrochener Arm? … Nicht schlecht! Aber immer noch zu wenig für ein liederliches Weib. Das Leben in solch einer Ehe muss eine Hölle sein. Gott sei Dank, dass ich eine anständige Frau bekommen habe!«
»Ja, du hast allen Grund zur Dankbarkeit …«
Die Ironie ihrer Worte war zu fein, um Pascualo aufzufallen, der sich über den Leichtsinn einer Frau und das Unglück eines Mannes erregte, die er beide nicht kannte.
»Solche Schweinereien machen mich rasend. Ich verstehe vollkommen, dass ein Mann, der seine Frau mit einem Liebhaber überrascht, ein Verbrechen begehen kann, das ihn für Lebenszeit ins Zuchthaus bringt. Wie oft habe ich nicht gesagt: wer hat die Schuld, Señores? Die Frauen, diese verfluchten Frauen, die zu nichts anderem gut sind, als die Männer unglücklich zu machen.«
Im selben Augenblick korrigierte er seine Worte und beeilte sich, zu Dolores' und Rosetas Gunsten eine Ausnahme zu machen. Aber seine Erklärung nützte ihm wenig. Roseta griff mit Heftigkeit ihr und ihrer Mutter Lieblingsthema auf.
»Schweig von den Männern,« sagte sie gereizt. »Eine nette Sippschaft! Schon als ganz junges Mädchen wird man ständig durch ihre süssen Worte und Beteurungen in Versuchung geführt. Ich kann davon ein Lied singen. Gott weiss, wie ich jetzt dastände, hätte ich ihnen Glauben geschenkt! … Entweder sind es Schufte, die darauf ausgehen, eine ehrbare Frau zu verführen, oder blinde Dummköpfe, die nicht aufpassen. Und wenn verheiratete Frauen leichtsinnig werden, so kannst du es immer auf das Konto der Männer setzen. Sieh Tonet an! Ich fände es ganz entschuldbar, wenn Rosario liederlich würde – wäre es auch nur, um sich für die Schurkereien ihres Mannes zu rächen. Beispiele für die anderen, die Trottel, will ich dir lieber nicht nennen. Aber glaube mir, in Cabañal gibt es mehr als einen Ehemann, der es seiner eigenen Dummheit zuzuschreiben hat, dass seine Frau auf Abwegen geht!«
Von ihrer Erregung fortgerissen, schaute sie ihren Bruder unwillkürlich so bedeutsam an, dass er trotz seiner Harmlosigkeit stutzig wurde und ihr einen fragenden Blick zuwarf. Doch sein ungeheures Vertrauen war nicht zu erschüttern.
»Pah! Die Leute schwatzen viel,« protestierte er in ruhigem Ton gegen die Anschauungen seiner Schwester. »Bei uns im Dorf gibt es überhaupt eine Menge Klatschbasen, die über jeden herziehen. Aber richtig betrachtet, sind es doch nur schlechte Witze über eheliche Treue, an denen nichts Wahres ist.
Ich selbst könnte nicht in Frieden leben, wollte ich solche Redereien beachten. Hat man sich nicht sogar erdreistet, Dolores zu verleumden? Und mit wem? Was glaubst du wohl, Roseta? Denk' dir, mit meinem eigenen Bruder! Zum Lachen, was? … Allein schon der Gedanke, diese Frau wäre fähig, mich zu betrügen, und noch dazu mit Tonet, der sie wie eine Mutter verehrt, ist sündhaft.«
Und obgleich es ihn innerlich kränkte, dass sich der Klatsch auch an Dolores heranwagte, lachte der Rektor mit der Gläubigkeit eines frommen Katholiken, dem gegenüber man die Macht der wundertätigen Madonnenbilder anzuzweifeln wagt.
Roseta sah ihn prüfend an, als glaubte sie nicht an die Aufrichtigkeit dieses Lachens. Aber es war echt … Der Tropf war gefeit gegen jeden Verdacht! Dieses blinde Vertrauen brachte sie auf, und ohne zu bedenken, welchen Schaden ihre Worte anrichten könnten, sprudelte sie heraus, was ihr auf der Zunge schwebte:
»Ja, ja, es stimmt: alle Männer sind Lumpen oder … Trottel.« Und ihr Blick verriet deutlich, dass sie ihn dieser letzten Kategorie zuzählte.
Endlich ging diesem Einfaltspinsel ein Licht auf.
»Wen meinst du damit? Mich? … Wenn du etwas Bestimmtes weisst, so sprich, aber ohne Umschweife!«
Sie waren bei dem Kreuz auf halbem Wege angelangt und blieben vor seinen Stufen stehen. Der Rektor, leichenblass, biss auf seine Finger – dicke, kurze, schwielige Seemannsfinger mit abgebrochenen Nägeln. Der Ausdruck seines Gesichts war so gequält, dass Roseta Mitleid hatte.
»Nein, Pascualo, ich weiss nichts Bestimmtes – nur das, was man sich im Dorf erzählt. Wenn du diesem Gerede ein Ende machen willst, musst du eben Tonet dein Haus verbieten.«
Schwerfällig bückte sich ihr Bruder über den kleinen, neben dem Kreuz stehenden Brunnen und liess den dicken Wasserstrahl aus der Röhre in seinen Mund laufen, als hätte diese Erregung einen unerträglichen Brand in seinem Innern entfacht …
Sie setzten ihren Weg fort, und während er noch den von Wasser triefenden Mund mit seinen klobigen Händen abwischte, sagte er energisch:
»Nein, ich werde mich niemals so herzlos gegen Tonet benehmen. Welche Schuld trifft den armen Jungen? … Verschliesse ich ihm meine Tür, so geht er zugrunde.«
Nachdenklich blickte er vor sich hin.
»Lass sie schwatzen, bis ihnen das Maul weh tut,« begann er von neuem. »Ich weiss, woran ich bin, und schere mich nicht um ihren Quark. Tonet ist mir lieb wie mein eigenes Kind. Jahrelang habe ich den Kleinen wie eine Kinderfrau behütet, und so etwas haftet im Gedächtnis. Der arme Kerl! Er tut mir leid, und ich werde alles tun, damit er wieder in die Höhe kommt.«
Mehr als zehn Minuten vergingen, ohne dass die Geschwister ein Wort miteinander wechselten. Roseta bereute, diese peinliche Diskussion herbeigeführt zu haben, und Pascualo schritt mit gerunzelter Stirn neben ihr her, die Fäuste geballt, als ginge er in Gedanken auf die Verleumder seiner Frau los.
Kurz vor Cabañal blieb er stehen.
»Im Dorf halten sie mich für zahm, weil ich allem Streit aus dem Wege gehe. Aber sollte jemand mal antasten, was mir gehört – Hölle und Tod! In der Beziehung kennt man mich noch nicht. Manchmal habe ich Angst vor mir selbst. Hätte damals der Zollkutter die Garbosa eingeholt, so war ich fest entschlossen, jeden niederzustechen, der auf mein Boot kam.
Und wenn ich denke, dass jemand mir Dolores nehmen könnte, ah! … dann spüre ich Lust, zu morden, um mich zu beissen wie ein toller Hund.«
Die Gesellschaft seiner Schwester schien ihm lästig geworden zu sein, denn ohne ihr die Hand zu geben, sagte er:
»Ich gehe hier ab. Adiós Roseta. Grüss die Mutter.«
Während der Nacht wirkte der Eindruck dieser Auseinandersetzung in Pascualo nach, doch als Tonet am nächsten Morgen vor ihm stand, um Befehle für die Ausfahrt einzuholen, hatte er sich von den peinigenden Gedanken frei gemacht und fühlte beim Anblick des Bruders nicht die geringste Unruhe. Sein Herz sagte ihm nichts. War das nicht der beste Beweis? …
Bedachtsam traf er alle Anordnungen für die beiden Boote; denn um ganz auf eigene Rechnung zu arbeiten, hatte er eine zweite Bark gemietet, die zusammen mit Flor de Mayo das Schleppnetz ziehen sollte.
Unter der angeheuerten Mannschaft befand sich auch Väterchen Batiste, der älteste und beste Seemann von Cabañal. In einer Pelle von gegerbtem Leder steckte eine im Lauf von siebzig Jahren auf der See gesammelte Erfahrung, und aus dem schwarzen, nach Tabak riechenden Munde kamen die klügsten Ratschläge und untrügliche Wetterprophezeiungen.
Im weiten Golf von Valencia gab es vom Kap San Antonio bis zum Kap Canet keine Untiefe, keine Klippe, die der Alte nicht kannte. Wäre er, plötzlich in einen Stint verwandelt, unter Wasser geschwommen, so hätte er sich auch überall zurechtgefunden, und die Oberfläche des Meeres, für andere nichtssagend, war ihm ein aufgeschlagenes Buch, in dem er mit Leichtigkeit las.
An Deck einer Bark sitzend, schien er alle Hebungen und Senkungen des Meeresbodens zu fühlen. Ein Blick genügte ihm, um zu wissen, ob man sich über den grossen Tiefen des Fanc befand oder über den Pedrusquets, mächtigen Erhebungen, wo die Netze der Fischer unversehens hängen blieben und zerrissen. Sogar in den vielgewundenen, tief unter der Oberfläche liegenden Kanälen zwischen den Muralls de Confit, der Barreta de Casaret und der Ròca de Espiòca brachte er es fertig, zu fischen und führte die Boote sicher durch dieses gefährliche Labyrinth, ohne dass sich die Netze verwickelten oder auf den unsichtbaren Bänken mit Tang und wertlosen Muscheln bis zum Brechen füllten. Wenn man in dunklen Nächten nicht vier Meter weit sehen konnte, wenn das Licht der Laterne spurlos von dem schwarzen Wasserspiegel verschluckt wurde, genügte es ihm, den an den Netzen klebenden Schlamm mit der Zunge zu prüfen, um genau die Stelle ausfindig zu machen, an der man sich befand. Ein verteufelter Seemann, der alte Batiste! Als hätte er seine siebzig Jahre dort unten in Gesellschaft von Lachsen und Polypen verbracht!
Auch sonst konnte man viel Nützliches von ihm lernen, zum Beispiel: wer am Allerseelentage fischt, läuft Gefahr, einen Toten heraufzuholen; wer jedes Jahr das heilige Kreuz von Grao bei der Prozession tragen hilft, kann nicht ertrinken, und dergleichen mehr.
Seine Erfahrung beschränkte sich jedoch nicht auf die Fischerei. Er hatte ein vollgezähltes Dutzend Fahrten nach Havanna mitgemacht; aber nicht wie die jungen Laffen von heute, die sich für Seeleute halten, weil sie an Bord irgendeines grossen Überseedampfers als Steward oder Hilfskoch fahren, sondern auf matrikulierten Feluken, verwegenen Seglern, die Wein nach Cuba brachten und dort Zucker luden, befehligt von soliden, achtbaren Patronen in Regenmänteln und steifem Filzhut.
Eher wäre die Welt untergegangen, als dass damals in der Kajüte die vor dem Bilde des heiligen Christus von Grao brennende »ewige Lampe« gefehlt oder dass man unterlassen hätte, bei Sonnenuntergang gemeinsam den Rosenkranz zu beten.
Wenn Väterchen Batiste auf diese guten Zeiten zu sprechen kam, wackelte sein ehrwürdiger Bocksbart, die Runzeln und tausend Krähenfüsse in seinem Gesicht bekamen Leben, und zornig wetterte er gegen die Gottlosigkeit und Überhebung der heutigen Welt, wobei er seinen Worten mit kräftigen, vor dem Mast üblichen Flüchen und seinem Lieblingsausdruck »darauf sch… ich« besonderen Nachdruck verlieh.
Der Rektor hörte dem Alten, der ihn an seinen Lehrmeister Borrasca erinnerte, gern zu. Doch der Mannschaft machte es Spass, ihn zu necken.
»Batiste, du bist ja viel zu alt, um noch mitzusegeln. Bleib lieber in Cabañal! Don Santiago will dich als Sakristan anstellen.«
»Chentòla!« brauste der Alte auf. »Es wird sich ja ausweisen, was jeder wert ist, wenn wir draussen sind. Abwarten, ob ich nicht Gelegenheit haben werde, euch alle zusammen Angsthasen zu nennen!«
Der grosse Tag – abends sollte die gesamte Fischerflotille ausfahren – brachte Cabañal grossen Trubel. Trotzdem diese Auswanderung der Männer sich jedes Jahr wiederholte, bemächtigte sich der Frauen doch immer von neuem eine starke Erregung bei dem Gedanken, bis zum Frühjahr endlose Monate voll Unruhe und Angst verbringen zu müssen.
Die Patrone waren mit den letzten Vorbereitungen beschäftigt. Sie liessen die Rollen laufen, prüften das Takelwerk, hissten die Segel und zogen sie wieder ein, beklopften den Boden des Raums, machten ein Inventar von den Reservestücken an Leinwand und Tauen, zählten die Körbe und sahen die Netze noch einmal nach. Dann gingen sie zum Hafenamt, wo sie geduldig warten mussten, bis sich diese hochmütigen Herren Sekretäre mit mürrischer Miene herabliessen, ihre Papiere entgegenzunehmen.
Als der Rektor mittags nach Hause kam, traf er seine Mutter, die ein grosses Bündel im Schoss hielt und erregt auf Dolores einsprach.
»Du willst ein guter Vater sein?« fuhr sie sofort auf ihren Sohn los. »Wirklich unerhört, was man mir heute Morgen erzählte! Ist es wahr, dass mein Enkel Pascualet mitfährt? … Also doch! Reina y Siñora, ein Kind von acht Jahren! Wer weiss, was ihm draussen passieren kann! Und wenn die eigene Mutter es zulässt – ich erlaube es nicht und nehme den Kleinen jetzt sofort mit … Pascualet, komm zur Grossmutter!«
Aber dieser Bengel stolzierte in seiner neuen Bluse, einer Leibbinde, die ihm bis zur Brust hochgerutscht war, und einer niedlichen Matrosenmütze wie ein aufgeblasener Truthahn durch die Küche.
»Ich komme nicht mit, Grossmutter; du kannst jetzt allein spielen. Ich bin ein Mann und gehe als zweiter Schiffsjunge auf die Flor de Mayo.«
Die Eltern lachten laut über ihren kecken Sprössling, während Siña Tona weinte, als wäre ihr Enkel dem Tode nahe, bis der Rektor ärgerlich rief:
»Lass das Heulen, Mutter! Es hat keinen Zweck. Ich freue mich, dass der Bengel keine Scheu vor dem Wasser kennt, und je eher er an Bord Bescheid weiss, desto besser.«
Doch Siña Tona liess sich nicht einschüchtern.
»Ihr habt alle den Teufel im Leibe! Das verfluchte Meer hat es euch angetan und wird noch mit der ganzen Familie ein Ende machen. Ich kann keine Nacht mehr schlafen, die schrecklichsten Träume verfolgen mich.«
Gleichgültig gegen ihr Jammern, setzte sich ihr Sohn vor die dampfende Kasserole.
»Gespenster alter Frauen, weiter nichts! Komm essen, Pascualet!«
Und um seine Mutter abzulenken, fragte er sie nach dem Inhalt des grossen Bündels.
»Ein trauriges Geschenk,« antwortete Siña Tona. »Vergangene Nacht überlegte ich, was ich mit meinen kleinen Ersparnissen für dich wohl anschaffen sollte, und da habe ich heute Morgen durch Vermittlung einer Freundin von dem Steward eines französischen Dampfers einen Rettungsgürtel gekauft. Hier ist er.«
»Fein gemacht, Mutter,« rief der Rektor. »Ich schwimme zwar wie ein Thunfisch, aber trotzdem freut es mich, so ein Ding an Bord zu haben.«
Wie ein Kind, das über ein Geschenk alles stehen und liegen lässt, vergass er sein Essen, schnallte den Gurt an und lachte laut über diesen dicken Wulst, in dem er mühsam Atem holte.
»Schönen Dank, Mutter! Ertrinken kann man in dem Gürtel nicht, eher schon ersticken. Na, jetzt wirst du wohl ruhig schlafen!«
Er warf ihn auf den Boden, wo sich sofort Pascualet seiner bemächtigte. Mit grosser Anstrengung gelang es ihm, hineinzukriechen. Der Junge sah aus wie eine Schildkröte, die Kopf und Extremitäten aus ihrer Schale hervorstreckt, und dieser komische Anblick brachte sogar die Grossmutter zum Lachen.
Nach dem Essen trat Tonet ein, die rechte Hand in einem dicken Verband.
»Heute Vormittag habe ich einen bösen Hieb bekommen,« erzählte er. Aber er sagte dies in einer Art und Weise, dass Pascualo nicht nach Näherem fragen mochte. Wahrscheinlich ein Denkzettel von irgendeiner Rauferei!
»Da stehe ich dir auf der Bark nur im Wege,« fuhr Tonet fort, »und bleibe wohl besser an Land. In einigen Tagen wird die Hand wieder zu gebrauchen sein; dann komme ich an Bord. Wenn der Fang einigermassen gut ausläuft, bleibst du ja auch nicht lange draussen.«
Sonderbar, wie er vermied, seine Schwägerin anzusehen …
Nachmittags wurden die Boote klar gemacht.
Mehr als hundert Barken, mit wippenden Masten wie die Lanzen einer trabenden Schwadron, lagen fahrtbereit in zwei Reihen gegenüber der Mole. Die Mannschaften kamen truppweise an, und bei der Einschiffung dieser Massen auf den plumpen Fahrzeugen mit dem rohen Profil antiker Galeeren dachte man unwillkürlich an die Flotte des Mittelalters, die Schiffe Aragoniens, deren dreieckige Segel von den Mauren Andalusiens gefürchtet wurden und die sich so häufig an dem lachenden Himmel Griechenlands drohend abhoben.
Die ganze Bevölkerung war am Hafen. Frauen und Kinder rannten umher und suchten in dem Gewirr von Masten, Takelagen und aneinander geschobenen Schiffsrümpfen die Bark der ihrigen. Auf den schrägen Brettern, die man als Steg vom Deck auf die Mole gelegt hatte, bewegten sich nackte Füsse, gelbe Hosen und braune Gesichter – die ganze anspruchslose Herde, die am Strande lebt und stirbt, ohne eine andere Welt als die ungeheure, blaue Fläche draussen kennen zu lernen.
Der Abend rückte näher. Die letzten dicken, vom Sommer übrig gebliebenen Brummer summten durch die warme Luft. In der Ferne, wo Himmel und Meer zusammenflossen, zeichnete sich – der einzige schwarze Fleck – der Gipfel des Mongo ab.
Die Flotille verschluckte die Männer, immer mehr Männer, während die Schiffsjungen Mole auf, Mole ab liefen, die Luft mit ihrem Teergeruch verpesteten und die letzten Zwiebackpakete und Weinfässchen herbeischleppten.
Es war dunkel geworden. Alle Mannschaften befanden sich jetzt an Bord, über tausend Mann. Nur die Papiere mussten noch ausgehändigt werden – die Herren in den Büros beeilten sich nie. Und schon wurde die aufgeregte Menge ungeduldig, wie das Publikum einer Theatervorstellung, die nicht pünktlich anfängt.
Bei der Abfahrt wurde einem alten Brauch gehuldigt. Seit undenklichen Zeiten gab man den Schleppnetzfischern die gröblichsten Worte mit auf den Weg. Es hagelte derbe Witze und Zoten von Seiten der Zurückbleibenden, doch alles vollkommen harmlos, ohne irgendeinen schlechten Hintergedanken – nur, weil die Sitte es so verlangte und es auch Vergnügen machte, diesen Männern, die seelenruhig ihre Frauen allein zu Hause liessen, ein Wörtchen zu sagen.
So eingewurzelt war diese Gewohnheit, dass die meisten Fischer sich auf den Abschied vorbereiteten und Körbe mit Steinen an Deck aufstellten, um mit diesen Geschossen zu antworten.
Ein brutales Vergnügen, ganz nach dem Geschmack der levantinischen Küsten, deren Witze sich immer um die Einfalt der Männer und die Untreue der Frauen drehen.
Längs der Kais flammten die Gaslaternen auf, warfen zitternde, gelbe Reflexe auf das stille Wasser im Hafen. An den Masten leuchteten grüne und rote Sterne. Und Hafen, Häuser und Schiffe schienen mit schwarzer Tusche auf einen ungeheuren grauen Papierbogen gemalt zu sein.
»Sie kommen! Sie kommen!«
Überall wurden Segel gehisst, die wie Flügel von Nachtfaltern die Lichter des Hafens durchschimmern liessen.
In langsamer Fahrt – noch lagen sie nicht am Winde – zogen die ersten beiden Barken vorbei.
»Adiós,« riefen die Frauen der Matrosen. »Gute Reise!«
Und schon brach die Horde in ein ohrenbetäubendes Geschrei aus. Nette Schandmäuler, fürwahr! Aber die hinter ihnen stehenden Frauen, die doch ihr Teil abbekamen, lachten wie toll, wenn ein besonders gepfefferter Ausdruck fiel … Wie in der ausgelassenen Freiheit des Karnevals mischten sich Wahrheiten mit Lügen.
»Ihr Esel! Ihr Geleimten! Eine Empfehlung vom Herrn Kaplan, er will euren Frauen Gesellschaft leisten!«
Es war der reinste Hexensabbat. Jedesmal, wenn ein »Paar« durch die äussersten Wellenbrecher des Hafenbeckens hindurchfuhr, erschallte auf beiden Seiten infernalischer Lärm, sausten Steine als Antwort durch die Luft und knallten gegen die Felsen, hinter denen die freche Bande sich duckte.
Verstummten die heiser gewordenen Stimmen mal, so kam prompt eine Provokation von Bord. Kein Paar wollte sang- und klanglos abfahren, und irgendein Spassvogel fragte vom Wasser her mit sanfter Stimme:
»Uns habt ihr gar nichts zu sagen?«
Ob sie noch etwas zu sagen hatten! Und die Zoten schwollen zu einem Geheul an, das den Lärm der grossen Seemuscheln übertönte, auf denen die Schiffsjungen mysteriöse Signale bliesen, um mit ihrer Partnerbarke in Fühlung zu bleiben.
Dolores stand allein neben der tobenden Bande, da ihre Freundinnen sich aus Angst vor den Steinwürfen nicht so weit vorwagten. Ein Mann näherte sich ihr, stellte sich dicht hinter sie – so dicht, dass sie seinen heissen Atem auf ihrem Nacken spürte.
Tonet … Sie drehte den Kopf, suchte seine Augen und lächelte glücklich über deren stumme Anbetung. Eine unruhige, bebende Hand glitt um ihre Taille, diese vor wenigen Stunden noch verbundene Hand.
Die Blicke der Beiden drückten dasselbe aus: endlich winkte ihnen eine Nacht der Freiheit, nicht mehr wie bisher ein kurzes Zusammensein voller Angst und Gefahr. Zusammen, die ganze lange Nacht zusammen! Und die nächste auch und dann noch eine … bis der Rektor zurückkehrte.
Schauer der Wollust pressten ihre Körper noch enger aneinander, und ihr Fleisch bebte in wildem Verlangen, als würde der Genuss durch das Infame ihres Wollens noch vergrössert.
Ein Name liess sie aus ihrer Versunkenheit auffahren.
»Der Rektor! Dort kommt der Rektor! Achtung, die Flor de Mayo!«
Für den armen Pascualo hatte man die stärksten Pillen aufbewahrt. Dieses Mal stimmte auch der ganze Weibertross in das wüste Gebrüll ein.
»Hahnrei! Mach' Platz für neue Hörner! Hahnrei, kannst du sie noch zählen? Hörner und Hörner wie Igelstacheln!«
Mit ganz besonderer Freude heulte die Menge solche und noch ärgere Worte, denn hier handelte es sich nicht mehr um einen Scherz. Man sagte ihm die Wahrheit, die reine Wahrheit!
Tonet wurde unruhig. Er fürchtete, dass diese Wilden noch weiter gehen würden. Aber Dolores, schamlos und keck, lachte von ganzem Herzen und freute sich über die gemeinen Worte, mit denen man ihren Dickbauch überschüttete. Nicht umsonst war sie die Tochter des alten Paella.
Als die Flor de Mayo jetzt langsam die Wellenbrecher passierte, hörte man vom Heck die fröhliche Stimme ihres Patrons.
»Hallo! Ist das alles?«
Aber damit hatte er die Menge gereizt.
»Er will noch mehr hören?« rief irgend jemand. »Gut, das kann er haben … Fahr' du nur ruhig zum Fischen, Rektor! Tonet wird derweile Dolores' Bett wärmen …«
Der Rektor liess das Steuer fahren und sprang wütend auf.
»Dreckmäuler! Schweinehunde!«
Nein, das ging zu weit. Ihm selbst mochten sie sagen, was sie wollten; doch seine Frau hineinzumischen, war unanständig, sehr unanständig.