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Schon am Tage vor der Ankunft des Briefes und des Telegramms hatte Anton Dösen von Fürst einen Brief erhalten. Er war offenbar so abgefaßt, daß andere ihn lesen konnten – und so machte er denn sofort die Runde.
In seiner Darstellung des Sachverhalts legte er seiner Begegnung mit Thora im Landhause der Frau Gröndal große Bedeutung bei. Er hatte sie früher nur einmal flüchtig gesehen und nicht geahnt, daß er ihr auf dem Lande begegnen würde. Bis zu seiner Ankunft war sie unterhaltend und liebenswürdig gewesen, hatte ihm Frau Gröndal gesagt. Aber bei seinem Erscheinen ward sie sofort unnatürlich. Sie konnte es nicht ertragen, daß er sich mit Frau Gröndal unterhielt. Sie versteckte sich, ließ sich im Walde aufsuchen – und nahm dann die Flucht. Natürlich folgte er ihr, um zu sehen, was denn das zu bedeuten habe. Kaum näherte er sich ihr auf dem Dampfer, so begann sie zu weinen! Als sie ans Land stieg, lehnte sie jede Hilfe ab; aber Tag für Tag lief sie an seiner Wohnung vorbei und guckte verstohlen hinein, ob er zu Hause sei! Dann machte sie weite Wanderungen im Walde – ganz allein.
Er erinnerte an gewisse Vorlesungen und Verhandlungen in der Schule. Seiner Ansicht nach konnte ein junges Mädchen, das in einer solchen die Sinne erhitzenden Luft gelebt, sich kaum anders benehmen. Nach seiner Meinung waren dies »magnetische Einflüsse« genug, anderer Einflüsse bedurfte es nicht.
Er wollte es nicht als eine Entschuldigung für sich anführen, daß er sich schließlich dazu hatte verleiten lassen, ihr zu folgen hinaus in den Wald, wo sie sich damit amüsiert hatte, Versteckens mit ihm zu spielen – in dieser Weise fingen ja die kleinen Mädchen alle an. Aber er fragte, ob irgendein Mann, der sich selbst achte, ein Mädchen heiraten könnte, das täglich an seinen Fenstern vorbeilaufe, um ihn hinaus in den Wald zu locken.
Frau Rendalen denke anders darüber. Sie sei nach Stockholm gekommen, um eine Ehe zu stiften. Das müsse eine Ehe werden nach dem Muster ihrer eigenen.
Er seinerseits habe eine zu hohe Vorstellung von der Ehe, um sie in solcher Weise zu entheiligen.
Er habe sich erboten, für sie zu sorgen – jedenfalls so lange, als das Kind der Mutter bedürfe; auch habe er sich bereit erklärt, das Kind als das seine anzuerkennen. Soweit geboten ihm Ehre und Pflicht zu gehen. Aber weiter! – Das hieße eine törichte Handlung mit einer noch törichteren wieder gutmachen wollen.
Und darin gaben ihm alle die recht, welchen Dösen den Brief vorlas. Und das geschah im Laden, auf der Straße, im Klub. Verschiedene liehen ihn sich. Obgleich der Briefschreiber so vorsichtig gewesen, sehr starkes Papier zu wählen, wanderte der Brief doch so lange in der Stadt umher, bis er nur noch ein unleserlicher Fetzen war.
Zwei Abschriften wurden davon angefertigt: die eine für Thomas Rendalen (auf seinen eigenen Wunsch) und die andere für – ja Dösen trug einen Augenblick Bedenken, es zu verraten; aber auf wiederholte Bitten konnte er es nicht länger verschweigen – für Thora Holms Mutter.
Diese letztere Abschrift bereitete ihm eine besondere Freude. Thoras Mutter war eine heftige, durch den Lebenskampf verbitterte Frau. Für fast alles, Menschen und Dinge, hatte sie nur höhnische Zweifel. Geriet sie in Zorn, so kannte sie keine Rücksicht.
Und eines Morgens, mitten während des Unterrichts, stand sie in schwerem, abgetragenem Düffelmantel, einem Hut mit kampflustiger Feder und mit bloßen Händen und einem alten Muff, mit dem sie herumfuchtelte, weinend und schreiend in den Gängen der Schule. Sie verlangte ihre Tochter zurück! Sie hatten sie ihr gestohlen und verführt! Sie kam als braves Mädchen in die Schule, aber in diesem verwünschten Hause, auf dem ein Fluch ruhte, war sie verdorben worden. Und jetzt war sie im Munde der Leute und mit Schande bedeckt – Gott verzeih es ihnen! Aber das sollten sie ihr büßen! Sie werde sie vors Gericht bringen – ihnen die Polizei auf den Hals schicken!
Ihr Zorn kannte keine Grenzen; aber ihr Schmerz war echt. Alles wich ihr aus. Aber sie stürmte in eines der Zimmer – die Klasse hatte sich aufgelöst, da die Lehrerin die Flucht ergriffen. Auf diese Weise glückte es ihr, drei Klassen zu sprengen. Sie brachte eine ungeheure Verwirrung hervor. Die Schülerinnen gerieten in einen solchen Schreck, daß sie auf den Boden hinauf flüchteten, wo sie eine Weile standen, vor Kälte zitterten und lauschten, ob sie sich wieder hinunterwagen dürften.
Einige der älteren Schülerinnen, welche sich aus der Weltgeschichte erinnerten, bei gewissen Gelegenheiten müsse man Mut an den Tag legen, hielten stand, um ihr mit Reden zu Leibe zu gehen. Aber da geriet sie außer sich. Offenbar lebte sie in der Vorstellung, in dieser Schule würden die Mädchen zur Unanständigkeit angeleitet. Es empörte sie, daß »anständiger Leute Kinder« so etwas verteidigen wollten ... Auch diese Schülerinnen nahmen die Flucht, einige mit den Händen vor den Ohren.
Nur die Kleinen hatten ihre helle Freude an ihr. Sie umringten sie und zogen jubelnd hinter ihr her. Der ganze Schwarm kam schließlich zur Küche hereingestürmt. Dort hatte man Mitleid mit ihr; aber man hütete sich, ein Wort zu sagen. Dann ging's wieder hinaus in den Flur vor Rendalens Tür – sie war verschlossen. Darauf vor Karl Wangens Tür – verschlossen. Zurück nach Frau Rendalens Tür, welche offenstand. Dort zogen sie hinein; sie wollte sehen, ob denn Rendalen gar nicht zu finden sei.
Thomas war in der Stadt und wurde erst in einer Stunde erwartet.
Aber da erschien Karl Wangen. Mit großem Ernst gebot er Ruhe, entfernte die Kinder und nahm die arme Mutter mit sich in sein Zimmer. Dort saß sie etwa eine Stunde und schüttete ihr Herz aus. In ihrer Verzweiflung jammerte sie bald über Thora, bald über ihren trunksüchtigen Mann, bald über ihre bittere Not ... Mit hundert Kronen in der Tasche und still weinend kehrte sie endlich nach Hause zurück.
In der Schule sah es aus, wie in einem Hühnerhof, in den irgendein Feind eingebrochen ist. Wer hätte ein solches Schauspiel nicht schon erlebt! Erst fliegen die Hühner unter entsetzlichem Geschrei an Fenstern und Wänden und Leitern hinauf, bis sie ganz betäubt und ermattet sind und nicht mehr fliegen können. Dann rennen sie laut gackernd am Boden durcheinander und gegeneinander. Und ist die Gefahr vorüber, so sitzt sie ihnen doch noch in den Gliedern: sie gackern und jammern und schreien mit ungeschwächten Kräften und alle zugleich; und das nimmt gar kein Ende; denn wenn die einen aufhören, setzen die anderen um so nachdrücklicher wieder ein; und so lebt der Schrecken von neuem in ihnen auf, und die ganze Schar gackert ärger denn je. Endlich putzt man sich die Federn, schüttelt die Schwingen und sträubt das Gefieder – man ist wieder im alten Gleise ...
Aber die Schule konnte diesen ganzen Tag nicht wieder ins alte Gleis kommen. Die Erschütterung war zu heftig gewesen; sie drohte sogar gefährlich zu werden.
Welch eine Schadenfreude herrschte in der Stadt! War das ein Spotten und Lachen, – in den Kontors, auf den Straßen, auf den Schiffsbrücken. Von etwas anderem wurde gar nicht mehr gesprochen.
Als Frau Rendalen ein paar Tage später zurückkehrte, war der ganze Hafen dicht gedrängt voll Menschen – meist männliche Jugend – um sie zu empfangen. Man hatte in der Schule am Sonnabend erfahren, daß sie am Sonntagnachmittag mit dem Dampfer zurückkam. Zu etwas Besserem konnte man seine Mußestunden nicht benutzen, als zu sehen, wie eine solche Größe aus einer verlorenen Schlacht heimkehre. Der Skandal, den sie mit ihrer Reise hatte verheimlichen wollen, war jetzt nicht bloß stadt-, sondern landeskundig geworden.
Als Thomas mit dem Wagen zum Hafen fuhr, vermochte er durch die Menge nicht hindurchzudringen. Nora, Tinka, Anna und einige andere Freundinnen, welche sich verabredet hatten, Frau Rendalen zu empfangen, wurden stutzig, als sie die Menge erblickten – und kehrten dann wieder um, indem sie St. Peters Beispiel folgten, natürlich mit der Abweichung, welche unsere moderne Zeit gestattet. Nur das kleine Fräulein Hall trotzte den dräuenden Kriegsrüstungen. Sie drängte sich so weit vor, bis sie neben den nervösen Thomas gelangte, gerade in dem Augenblick, als er an Bord gehen wollte.
Frau Rendalen sah angegriffen aus. Die Blicke, welche sie hastig mit ihrem Sohn und Fräulein Hall wechselte, sagten deutlich, daß sie sehr wohl begriff, warum dieser Volkshaufen sich hier drängte, und daß sie sich keineswegs sicher fühlte. Sie nahm ihren Sohn sehr fest unter den Arm.
Aber die Achtung, die man vor ihr hegte, vielleicht auch das Mitleid, das man mit ihr empfand, nun man sich Aug' in Auge gegenüberstand, bewirkten, daß niemand etwas unternahm. Man machte ihr Platz. Natürlich war es in aller Augen und Mienen zu lesen, daß man hier nicht als Ehrenwache stand. Sogar einige ältere Bekannte waren zugegen. Unter anderen der Bürgermeister nebst Frau. Kaum daß sie grüßten. Von der Höhe eines strengen, sittlichen Standpunktes herab sahen sie die Sünder vorbeigehen.
Die, welche nahe an der Schiffsbrücke standen, suchten sich zum Wagen vorzudrängen. Nach und nach folgten alle die ihrem Beispiel, an denen die drei vorübergekommen waren. Der Wagen war vollständig umringt, als Frau Rendalen sich hineinsetzte. Natürlich mußte sie ganz langsam, Schritt für Schritt die Menge noch einmal passieren. Kaum aber waren sie aus dem Schwarm heraus, da schlug Thomas heftig auf die Pferde ein – er war ganz erbittert.
Da sah er vom Ende der Straße her Anton Dösen nebst einer ganzen Schar Freunde auf den Wagen zueilen. Sie hatten alle erhitzte Gesichter; offenbar kamen sie direkt von einem Mittagsgelage. Alle grüßten außerordentlich ehrerbietig. Ob nun Dösen unartig grüßte oder ob das Thomas in seiner Hitze nur so schien – im Nu hatte er die Pferde zum Stehen gebracht, warf Fräulein Hall die Zügel zu, stand im nächsten Augenblick Dösen gegenüber und gab ihm eine Ohrfeige, daß er auf die Seite flog. Wie der Blitz war er wieder im Wagen – und dieser rollte schon oben über die Straße dahin, als die anderen recht zur Besinnung kamen.
Droben in der Schule standen die drei Ausreißer, Tinka, Anna und Nora im Flur. Fräulein Hall eilte zuerst die Treppe hinan und erzählte mit strahlendem Gesicht, was geschehen. Aber Frau Rendalen war nicht davon entzückt. Auch Thomas verschwand, sobald er seine Mutter in ihr Zimmer geleitet hatte. Es dauerte geraume Zeit, ehe er wieder zum Vorschein kam; und da war er verstimmt.
Das Gespräch drehte sich ausschließlich um den dunklen Punkt in Thoras Geschichte, auf den sie selbst kein Gewicht gelegt, ja, den sie selbst kaum erwähnt hatte – um ihre Begegnung mit Fürst in Frau Gröndals Landhause. Hieran waren in der Stadt alle Versuche, die Schuld auf Nils Fürst zu schieben, völlig gescheitert. Frau Gröndal hatte Fürsts Auffassung in allen Punkten bestätigt. »Thora Holm war vor Verliebtheit ganz närrisch; sie kehrte nur nach der Stadt zurück, um Fürst mit sich zu locken.«
Frau Rendalen konnte versichern, daß das einzige, was Thora »närrisch« gemacht, die vertrauliche Art gewesen, in welcher Frau Gröndal und Fürst damals miteinander verkehrten; die habe sie empört. Vielleicht war dabei der Umstand im Spiel, daß sie auf dem Wege war, sich für ihn zu interessieren; erst später war ihr das klar geworden.
Man kam überein, Thora selbst diese Episode erzählen zu lassen. Noch an diesem Abend schrieb ihr Tinka.
Inzwischen war Thomas gekommen, und jetzt wurde davon gesprochen, wie Thora sich während der letzten Zeit verhalten habe. Gerade als Frau Rendalen zu erzählen anfangen wollte und alle sich in höchster Spannung befanden, trat Karl Wangen ein. Er war in der Kirche gewesen. Das Wiedersehen zwischen ihm und seiner Pflegemutter war überaus herzlich. Nach einigen Augenblicken entfernte sie sich mit ihm. Den ganzen Abend ließ sie sich nicht wieder sehen.
Niemand hatte Thoras Unglück tiefer ergriffen als Karl Wangen; aber außer Frau Rendalen hatte keiner davon eine Ahnung.
Er war der glücklichste Mensch gewesen auf Gottes weiter Erde, und ganz still für sich. Und sie wurde offenbar so froh, wenn sie sich begegneten. Allein das wagte er nicht etwa so zu deuten, als liebte sie ihn – Gott behüte! Aber er liebte sie und meinte, wenn Frau Rendalen ihm einmal ein wenig helfen wollte, so könnte vielleicht die anmutige Thora doch dahin kommen, ein wenig Teilnahme für das zu empfinden, was ihn interessierte. Und konnte sie das erst, so verschmähte sie vielleicht nicht seine große Liebe zu ihr. Und dann fühlte sie es vielleicht, daß er etwas tun konnte, damit auch sie glücklich würde.
Frau Rendalen hatte ihn oft genug mit Thora reden sehen, ihn oft genug über Thora reden hören; aber nicht eher etwas geahnt, als bis sie ihm an jenem Morgen erzählte, was geschehen. Da war er totenbleich geworden; und statt ein Wort des Mitleids zu äußern, war er verstummt. Auch dieser Vorfall war ihr noch nicht entscheidend gewesen; ihr neues Verhältnis zu ihrem Sohn nahm sie ja ganz in Anspruch; aber sie begann doch die Wahrheit zu ahnen. Als dann das Geld, dessen sie zur Reise bedurfte, nicht gleich zu beschaffen war und Karl sie mit sich in sein Zimmer zog und ihr seine Sparpfennige und eine kleine Erbschaft anbot – da las er in ihren Augen, daß sie alles begriff. Und da vermochte er nicht mehr an sich zu halten, er verhüllte das Antlitz mit beiden Händen und sagte schluchzend:
»Meine liebe Nora!
Ich weiß nicht, was Du von mir denkst, weil ich so lange nicht geschrieben habe.
Aber Deine letzten Mitteilungen über unsere teure Thora haben mich in eine solche Aufregung versetzt, daß ich wirklich nicht wußte, was ich schreiben sollte. Wie verlegen und hilflos und – laß es mich gleich hinzufügen – wie schamerfüllt steht man angesichts solcher Dinge, liebe Nora! Wenn ich bedenke, daß so etwas einem Mädchen widerfahren konnte, mit dem wir Umgang gehabt! –
Niemals vergesse ich, was mein Vater sagte an dem Tage, da er sie zum erstenmal bei mir sah. Damals war ich sehr empört darüber; wir dachten ja so gut voneinander.
Bist Du Dir auch sicher, meine liebe Nora, daß es sich ganz so zugetragen, wie Thora es erzählt hat? Du weißt ja, sie nahm es nicht immer sehr genau. Und namentlich bei einem solchen Ereignis, denk' ich mir, ist man später geneigt, andere Farben beizumischen. Meinst Du nicht auch?
Ich will nicht von dem sprechen, was ich gehört habe. Auch das mag auf Irrtum oder Übertreibung beruhen. Aber Du weißt selbst, liebe Nora, vorsichtig ist sie nie gewesen. Erinnerst Du Dich noch, daß Du ihr wiederholt ins Wort fallen mußtest, wenn sie etwas erzählte? Nun, sie war ja in Frankreich gewesen, – sie wußte mehr als wir anderen. Wenn ich jetzt an das zurückdenke, was sie mir bisweilen erzählt hat, so muß ich sagen, es war – gar mancherlei ... Ob ihr nicht etwas davon im Blute steckte?
Damit will ich natürlich keinen Vorwurf ausgesprochen haben! Das kann mir jetzt, da sie unglücklich ist, am wenigsten in den Sinn kommen. Aber vielleicht wird dadurch das eine oder andere erklärlich. Sie dauert mich in innerster Seele, und Du würdest mir einen sehr großen Gefallen erweisen, wenn Du mir zu sagen vermöchtest, auf welche Weise ich, ohne sie zu verletzen oder sie verlegen zu machen, ihr nützlich sein könnte.
Heut komme ich noch nicht dazu, unserer guten Freundin Tinka zu antworten. Grüße sie freundlichst von mir und sage ihr, der Ausdruck: »Thoras beste Freundin« – den sie in ihrem letzten Briefe gebraucht – passe jedenfalls nicht auf mich.
Es konnte zwar damals so aussehen; das leugne ich nicht; aber es war ganz und gar Thoras Schuld. Sie drängte sich mir nicht auf, – ich müßte lügen, wenn ich das sagte –; aber wer mit ihr verkehrte, konnte es nicht vermeiden, etwas zu weit zu gehen. Ich mußte mich mehr mit ihr einlassen, als mir angenehm war; und das währte bis zur letzten Stunde des letzten Tages. Weißt Du, ich war noch keine drei Tage allein gewesen, da empfand ich geradezu eine Art Entrüstung gegen sie. Das war vielleicht recht häßlich von mir.
Ihr Einfluß auf mich machte sich übrigens auch nach unserer Trennung noch geltend. Dessen ward ich mir nicht sofort bewußt; aber ich habe dafür einen Beweis hier vor mir liegen – den Brief, den Du so freundlich warst mir auf meine Bitten zurückzuschicken, und in welchem ich in aller Hast einige meiner Eindrücke aus Sofiero niedergekritzelt hatte. Ich werd' ihn mir aufbewahren; darin soll meine Strafe bestehen. Soeben erst hab' ich ihn wieder durchgelesen. Da Du ihn leider ebenfalls gelesen (was ich mir nie verzeihe), so kannst Du selbst beurteilen, ob ein Brief mir weniger ähnlich sehen kann als dieser. Ich weiß nicht, woher es kommt, aber fortwährend seh ich Thora in diesem Briefe. Seitdem hab' ich nicht mehr an sie schreiben können. Hier, wo alles seine Form hat, wo kein Raum ist für sentimentale Vertraulichkeit, verletzt es einen schon im höchsten Grade, an so etwas sich auch nur erinnern zu müssen. Es ist fast ebenso schlimm, als wollte man hier ohne eine ordentliche Coiffüre und – in bloßen Unterbeinkleidern auf die Straße gehen.
Aber vielleicht urteile ich zu streng. Denn vieles rührt von dem gesellschaftlichen Ton her, der bei uns zu Hause herrscht. Daran ward ich erst kürzlich wieder erinnert, als ich mit einigen Deutschen bekannt wurde; die sind geradeso. Allein Thora war die schlimmste, die mir je begegnet ist.
Aber wie talentvoll war sie! Ich kann kein neues Kleid anziehen, kein Muster studieren, ja keine neue Mode sehen, die mich interessiert, ohne daß ich ihrer gedenke. Könnte sie nicht Modistin werden? Sollte ich in dieser Beziehung etwas für sie tun können, ich wäre mit großem Vergnügen bereit. Was soll sie auch sonst anfangen? Sie dauert mich wirklich von Herzen!
Ich hätte Dir, liebe Nora, noch viel zu erzählen; fast Tag für Tag erleb' ich ja etwas Neues. Aber dies mit Thora hat mich in eine schrecklich trübe Stimmung versetzt; es fehlt mir an Lust, Dir etwas Heiteres zu berichten.
Die arme Thora! Ich bitte Dich dringend, grüß sie von mir; teile ihr aber nichts von dem mit, was ich Dir hier in aller Vertraulichkeit geschrieben habe; es würde sie verletzen, ohne daß es einer von uns etwas nützen könnte. Das Schicksal hat ja jetzt eine Scheidewand zwischen uns errichtet.
Grüße Tinka, Frau Rendalen und alle die, welche sich erkundigen nach Deiner treuen – und im übrigen sehr glücklichen – Freundin